Selbstliebe - Michael Tischinger - E-Book

Selbstliebe E-Book

Michael Tischinger

0,0

Beschreibung

Michael Tischinger war Arzt, Psychotherapeut und Theologe. Er wählte für dieses Buch einen besonderen Zugang: In 52 kurzen Geschichten zeigt er die Facetten der Selbstliebe für die seelische Gesundheit auf. Dabei berichtet er von vielem, was ihm selbst oder seinen Patienten widerfahren ist. So sind Geschichten entstanden, die authentisch und berührend sind – und gleichzeitig auf spielerisch leichte Art den Zugang zur Selbstliebe ermöglichen. Tischinger hat in den vielen Jahren seiner Praxis festgestellt: Der Weg der Genesung ist der Weg vom Sich-selbstentfremdet-Sein hin zum Sich-selbst-Kennenlernen, vom Sich-selbst-Kennenlernen zum Sich-selbst-Annehmen bis hin zum Sich-selbst-Lieben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 223

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Michael Tischinger

Selbstliebe

 

 

 

 

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2017

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

 

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: FWstudio/shutterstock

E-Book-Erstellung: Daniel Förster, Belgern

 

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-82668-9

ISBN Taschenbuch 978-3-451-03354-4

Inhalt

Vorwort
Selbstliebe verstehen
Das Beste, was du sein kannst, du selbst zu sein
Was genau ist mit Selbstliebe gemeint?
Mensch – erkenne dich selbst!
Warum es so schwer ist, sich selbst zu lieben
Woran erkennen wir fehlende Selbstliebe?
Der Leidende
Der Altruist
Der Selbstliebende
Was mit Selbstliebe nicht gemeint ist
Das Verhältnis von Selbst- und Nächstenliebe
Leben ist Geschichte – Geschichten sind Leben
Inspirierende Geschichten auf dem Weg zur Selbstliebe
Selbstliebe ist … sich mit seinem eigenen Leben aussöhnen
Grenzgänger • Paul • Mein Engelchen • Der verlorene Sohn • Protokoll einer Heilung • Richter Gnadenlos • Die Leidformel • Heilraum Natur
Selbstliebe ist … ein wirkliches Interesse für sich selbst entwickeln
Im Alltagsstress • Der Selbst-Entwickler • Begegnung auf dem Radweg • Freude sabotieren • Ja, aber … • Safety Last! • Die Macht der inneren Einstellung
Selbstliebe ist … sich selbst ganz und gar annehmen
Eine neue Beziehung • Die eigene Identität • Das Namens-Geschenk • Umtopfen • Jakobs Kampf • Akzeptanz und Widerstand • Tee mit Beate • Der Weg des Lichts
Selbstliebe ist … sich in schweren Zeiten mit Selbstmitgefühl begegnen
Das Weihnachtsgeschenk • Blind vor Wut • Der Geldautomat • Schwitzhütte • Gedanken Müll • Unschuldig • Klapperstorch • Die Farbe Gelb
Selbstliebe ist … die eigene Liebesfähigkeit und Liebenswürdigkeit spüren
Geschenk des Himmels • Das Schreckgespenst • Stille heilt • Das Aikido-Prinzip • Verletzungen und Fähigkeiten • Selbstachtung • Grüner Käfer in grünem Gras
Selbstliebe ist … Fürsorge für sich selbst übernehmen
FreiZeit • Die Erlebnisdusche • Selbstoptimierung • Papa – wo bist du? • Gehirn-Erschütterung • Nein sagen dürfen • Gescheiter(t)
Selbstliebe ist … Liebe empfangen und Liebe weiterschenken
Der Segen des Großvaters • Segnen und Fluchen • Der Erinnerungsbaum • Dankbarkeit • Das Leben nehmen • LiebesLeben • Telefon-WG
Schöpferisch die eigene Lebensgeschichte gestalten
Dank
Literatur
Das Buch
Der Autor

Vorwort

Wenn man alles, was einem begegnet, als Möglichkeit zu innerem Wachstum ansieht, gewinnt man innere Stärke.

Milarepa, tibetischer Meditationsmeister

Ich empfinde tiefe Dankbarkeit, dass ich in meinem Leben immer wieder zur rechten Zeit neue Inspirationen erhalten durfte. Manchmal war es eine Begegnung mit einem Menschen oder eine Erfahrung in der Natur, die mir eine ganz neue Einsicht ermöglichte. Manchmal bin ich einfach wieder an etwas erinnert worden, was ich bereits wusste, jedoch vergessen hatte und was ich an diesem Punkt meines Lebens gut gebrauchen konnte. Es scheint mir tatsächlich so zu sein, dass alles, was uns begegnet, ob es altbekannt ist oder ganz neu und unerwartet zu uns findet, eine Möglichkeit zum inneren Wachstum darstellt.

Oftmals sind die wichtigsten Botschaften des Lebens in Form von Geschichten zu mir gekommen. Geschichten, die andere mir erzählt haben. Geschichten, die ich selbst erlebt habe. Das Leben schenkt uns immer wieder neue Geschichten, und es braucht unsere Bereitschaft, unser Herz zu öffnen, um diesen Geschichten zu lauschen und sie auf neue Weise zu verstehen.

In diesem Buch habe ich 52 Geschichten niedergeschrieben, die sich in meinem eigenen Leben ereignet haben oder mir zugetragen worden sind. Wenn Sie wollen, können Sie nach Lust und Laune mehrere dieser Geschichten am Stück lesen, oder Sie verteilen diese über ein Jahr und lassen sich jede Woche von einer Geschichte und von dem, was das Leben Ihnen dadurch zuflüstern mag, überraschen. Fühlen Sie sich frei, die Geschichten in der Reihenfolge zu lesen, wie es Ihnen gerade beliebt. Vielleicht erspüren Sie intuitiv, welche Geschichte womöglich gerade jetzt den Weg zu Ihrem Herzen finden möchte.

Stellen wir uns das Leben wie eine Schule vor, in der wir zeitlebens immer wieder etwas Neues dazulernen und wachsen dürfen, so können auch Krankheiten und Krisen als Teil dieser Lebensschule verstanden werden. Sie enthalten vielleicht besonders wichtige Lektionen, um etwas Entscheidendes über unser Leben zu verstehen. Letztlich können wir aber jederzeit Wichtiges erfahren, wenn wir mit einem offenen Herzen jedem neuen Tag – und damit dem Leben selbst, so wie es sich vor uns Moment für Moment entfaltet – begegnen.

Es geht in der Lebensschule nicht darum, dass wir uns anstrengen und abmühen, sondern dass wir unser Herz öffnen und uns beschenken lassen. So kann jede Begegnung, jede Episode unseres Lebens, jede noch so kleine Lebens-Geschichte zu unserem inneren Wachstum beitragen. Einfach so – ohne dass wir uns besonders anstrengen müssten. Lernen wir zu leben, so ist Leben selbst die Belohnung.

Die Geschichten, die Sie im Hauptteil dieses Buches finden, haben sich so oder so ähnlich tatsächlich ereignet. Sind sie mir in meiner Tätigkeit als ärztlicher Psychotherapeut anvertraut worden, habe ich die betreffende Person um Erlaubnis gebeten, ob ich die Weisheit, die in dieser Geschichte verborgen liegt, weitererzählen darf. Damit keine Rückschlüsse auf die jeweilige Person möglich sind, habe ich die Namen und den Kontext der Geschichte verändert, doch der eigentliche Inhalt der Geschichte blieb erhalten.

Ich danke an dieser Stelle all jenen, die mir ihre Geschichten anvertraut und die Erlaubnis gegeben haben, die darin enthaltene Weisheit weiterzuerzählen. Ich danke dem Leben selbst für all die Wunder-vollen Geschichten, die es uns allen tagtäglich schenkt. Geschichten, die uns nicht beim Einschlafen, sondern beim Aufwachen helfen! Ich wünsche Ihnen die Bereitschaft, sich auf die Geschichten dieses Buches mit offenen Herzen einlassen zu können, um daraus Ermutigendes für Ihre eigene Lebensgeschichte und Inspirierendes für Ihren Weg der Selbstliebe zu entdecken.

 

 

 

Selbstliebe verstehen

 

 

 

Das Beste, was du sein kannst, du selbst zu sein

Als Chefarzt einer psychosomatischen Fachklinik begleite ich täglich Menschen, die in ihrem Leben an einen Punkt gekommen sind, wo es so wie bisher nicht gut weitergehen kann. Zu Beginn frage ich stets danach, was genau es sei, das sie in die Klinik geführt habe.

Oftmals höre ich als Antwort Sätze wie »Ich fühle mich erschöpft und ausgelaugt« oder »Ich befinde mich in einer Depression und leide an starken Ängsten« oder »Ich bin permanent im Stress und mein Körper sendet mir Signale, dass alles zu viel geworden ist«.

Dies ist jedoch nur die äußere Symptomebene, die quasi an der Oberfläche sichtbar wird. Wenn wir gemeinsam genauer nachforschen und die Frage, was den Einzelnen wirklich hierher geführt hat, erkunden, kommt darunter noch etwas anderes zum Vorschein: Ich höre dann Aussagen wie »Ich bin mir selbst fremd geworden. Ich kenne meine wirklichen Bedürfnisse nicht mehr. Ich nehme meine Gefühle nicht mehr wahr. Ich spüre mich selbst gar nicht mehr. Ehrlich gesagt bin ich mit mir selbst nicht gut umgegangen, oder habe es zugelassen, dass andere mich nicht gut behandelt haben.«

Und wenn wir gemeinsam noch genauer hinschauen, höre ich auf die Frage »Was hat Sie letztlich wirklich, wirklich hierher geführt?« ganz häufig, dass Menschen im Innersten an sich zweifeln, ob sie gut genug sind, ob sie ihren eigenen Ansprüchen genügen oder vor den Augen anderer bestehen können. Bin ich, so wie ich bin, wirklich ganz in Ordnung? Bin ich, so wie ich bin, wirklich liebenswert?

Oftmals stoßen wir dann auf ein Thema, mit dem jemand noch nicht ganz im Reinen ist, wo innerlich nicht wirklich Frieden herrscht. Oder jemand lehnt an sich oder seiner Lebensgeschichte etwas ab und kann sich selbst nicht wirklich wertschätzen, geschweige denn lieben.

Im Wesentlichen scheint es bei Heilungsprozessen immer wieder um Folgendes zu gehen:

Der Weg der Genesung ist der Weg vom Sich-selbst-entfremdet-Sein hin zum Sich-selbst-Kennenlernen, vom Sich-selbst-Kennenlernen zum Sich-selbst-Annehmen bis hin zum Sich-selbst-Lieben.

Wer sich selbst nicht liebt, läuft Gefahr, ständig das Bedürfnis zu haben, von anderen bestätigt werden zu müssen. Gleichzeitig kann er in einem Zustand der fehlenden Selbstliebe auch die Liebe der anderen nicht wirklich annehmen. Er oder sie sehnt sich zwar danach, von anderen geliebt zu werden, doch die anderen spiegeln nur das, was ohnehin in ihr oder ihm ist: die Überzeugung, nicht wirklich liebenswert zu sein.

Wer sich selbst nicht lieben kann, wird es zudem schwer haben, andere zu lieben. Wer sich selbst nicht mit Mitgefühl begegnet, kann auch kein wirkliches Mitgefühl für andere haben. Wer mit sich selbst nicht großzügig ist, kann auch anderen nichts gönnen. Wir können nicht wahrhaft etwas anderes geben als das, was in uns selbst ist. Wer sich selbst für wertlos hält, wird auch die Wertschätzung eines anderen nur schwer annehmen können, weil es seinen tiefsten inneren Überzeugungen widerspricht. Dabei sind wir so sehr auf die Erfahrung angewiesen, uns von anderen geliebt zu wissen! Halten wir es für möglich, dass wir tatsächlich liebenswert, der Liebe wert, sind, so können wir uns auch mehr und mehr in den Augen anderer geliebt wissen.

Sich selbst lieben, meint ein ganzes Ja für sich selbst zu haben. Kein »Ja, aber«, kein »Jein« oder »vielleicht« – sondern ein von Herzen kommendes Ja zu mir selbst. Ja, ich bin in Ordnung, so wie ich bin. Ja, ich bin auf dieser Welt willkommen und ich bin ein wunderbares, liebenswertes Wesen, so wie alle anderen in Wirklichkeit auch.

Halten wir uns selbst für nicht in Ordnung oder für nicht sonderlich liebenswert, dann meinen wir, irgendetwas tun oder leisten zu müssen, um uns des eigenen Selbstwertes zu versichern und der Liebe anderer als würdig zu erweisen.

Diese Verunsicherung führt zu einer oftmals subtilen, aber permanenten Grundspannung, weil wir tief in uns drinnen immer noch an unserem Gutsein zweifeln. So strengen wir uns immer weiter an, um über Tun und Leisten Anerkennung und Bestätigung von außen zu erhalten.

Oftmals halten wir diese Anstrengung für ganz normal, weil wir immer noch davon überzeugt sind, uns vor anderen und uns selbst beweisen zu müssen. Dies geschieht letztlich aus der Angst heraus, nicht gut genug zu sein, nicht richtig zu sein, abgelehnt zu werden oder von anderen nicht anerkannt zu werden.

Dahinter steckt ein gravierendes Missverständnis: Wir verwechseln Anerkennung mit Liebe.

Anerkennung bekommen wir für das, was wir getan, geleistet haben. Liebe wird uns hingegen geschenkt, weil wir sind, für unser So-Sein und Da-Sein als Mensch.

Womöglich ist die einzig wichtige Aufgabe unseres menschlichen Lebens, in unserer Fähigkeit uns selbst und andere zu lieben zeitlebens zu wachsen und zu reifen.

Diese lebenslange Reise beginnt damit, dass wir ein wohlwollendes Interesse für uns selbst aufbringen, dass wir wirklich an uns selbst und dem, was in uns lebendig ist, interessiert sind.

Was glauben Sie, was geschehen würde, wenn Sie mehr und mehr ein wirkliches Interesse für sich selbst entwickeln würden? Wie würde sich Ihre Selbstwahrnehmung verändern? Und wie würde es wohl die Qualität Ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen beeinflussen?

Wenn Sie den Eindruck haben, dass Sie womöglich noch ganz am Beginn dieser Reise zu sich selbst stehen oder bisher nur in ganz, ganz winzigen Schritten vorangekommen sind, dann akzeptieren Sie dies, so wie es gerade ist. Vielleicht ist es hilfreich, sich Reisebegleiter zu suchen, die Sie dabei unterstützen, ermutigen und Ihnen auf dieser Reise das Gefühl geben, willkommen zu sein.

Haben Sie Geduld. Machen Sie sich bewusst, dass ein Säugling, der groß und stark werden möchte, auch nicht damit beginnt, eine große Familienpizza zu verschlingen. Im Gegenteil: Er nimmt zunächst flüssige Nahrung zu sich und wird dann nach und nach an Brei und pürierte Kost herangeführt. Erst viel später lernt er die Fülle der unterschiedlichen Lebensmittel kennen und beginnt kleine Portionen davon zu kosten. Lassen auch Sie sich genug Zeit, nach und nach die Fülle der Erfahrungen, die sich aus einem Leben in Selbstliebe ergeben, zu erforschen. Bleiben Sie neugierig. Haben Sie ein wirkliches Interesse an sich selbst. Ebenso wünsche ich Ihnen ein echtes Interesse für Ihre Mitmenschen. Seien Sie neugierig und bleiben Sie bereit, immer wieder Ihr Herz zu öffnen.

Was genau ist mit Selbstliebe gemeint?

Selbstliebe ist zunächst eine Haltung, die wir uns selbst entgegenbringen. Sie besteht aus einem achtsamen, offenen, freundlichen und fürsorglichen Umgang mit uns selbst.

Sie zeigt sich in der Beziehung, die wir zu uns selbst haben. Es ist eine Art und Weise, wie wir mit uns selbst verbunden sind. Selbstliebe meint in dieser Hinsicht eine wohlwollende, wertschätzende und liebevolle Weise des in der Welt Seins. Es bedeutet, ein wirkliches Interesse für uns selbst aufzubringen. Selbstliebe fordert uns heraus, uns immer wieder nach innen zu wenden, um wahrzunehmen, was in diesem Moment in uns lebendig ist. Selbstliebe nimmt die Stimme unseres eigenen Herzens wahr und sehnt sich danach, sich von dieser Stimme leiten zu lassen.

Aber Selbstliebe ist noch viel mehr. Es ist eine tiefe Form der Verbundenheit mit dem Mysterium unseres eigenen Lebens. Wer sich selbst zu lieben beginnt, erahnt, welch riesiges und unendliches Wunder das Leben ist. Wer sich selbst liebt, beginnt, sein eigenes Sein mit Verehrung zu empfangen. Er beginnt zu staunen, welch großartiges Wunder die eigene menschliche Schöpfung ist. Er kann tiefe Dankbarkeit für das Geschenk seiner Existenz empfinden.

Der Kirchenlehrer Augustinus von Hippo brachte das Dilemma unseres unerwachten Menschseins bereits im 4. Jahrhundert auf den Punkt: »Die Menschen machen weite Reisen, um zu staunen über die Höhe der Berge, über die riesigen Wellen des Meeres, über die Länge der Flüsse, über die Weite des Ozeans und über die Kreisbewegungen der Sterne. An sich selbst gehen sie vorbei, ohne zu staunen.«

Unser menschlicher Organismus ist ein großartiges Wunderwerk. Wenn wir begreifen, welch phantastisches Geschenk uns mit unserem Körper und unserem menschlichen Geist gegeben wurde, ist die einzig mögliche Antwort Dankbarkeit, Ehrfurcht und Staunen. Selbstliebe wird so zum Ausdruck eines inneren Erfülltseins. Wir können uns im Einklang mit der Schönheit der großen Schöpfung erfahren. Wir erleben unser eigenes Sein als kostbares und wertvolles Geschenk des Lebens an uns selbst.

Der Schriftsteller Erich Fried hat in seinem Essay »In der letzten Zeit vor meinem Tod« über die Liebe zu sich selbst Folgendes geschrieben:

 

»In der letzten Zeit vor meinem Tod ist meine Selbstliebe wieder größer geworden. Nicht auf Kosten der Liebe zu meinen Kindern oder zu meiner Frau …. Die Selbstliebe ist etwas ganz anderes, zum Teil eine Wiederentdeckung. Morgens nach dem Erwachen kann ich mit einer Fingerkuppe die Haut über meinen Rippen streicheln und ihre warme, weiche Berührung genießen wie als kleines Kind. Auch dass mein ganzer Körper, wo immer ich ihn anrühre, Beine, Bauch, Geschlecht, Arme, greifbar vorhanden ist, solid und sich gleichzeitig recht wohl fühlt, kann eine kleine Freude sein, die ich mir jetzt fast jeden Tag nach dem Erwachen und vor dem Einschlafen bereite. Manchmal fahre ich mir auch untertags mit der Hand liebevoll über den Nacken, über die Wange, oder mit der Rechten über den linken Oberarm, und finde das gut. Manchmal wird mir bei diesem Wissen und Fühlen meines Vorhandenseins ganz warm.«

Mir geht es weniger darum, eine allgemein gültige Definition, was Selbstliebe denn sei, vorzustellen. Vielmehr bewegt mich die Frage, woran wir denn erkennen können, ob jemand sich selbst liebt. Woran erkenne ich, dass ich mich selbst liebe? Woran erkennen Sie, dass Sie sich selbst lieben?

Für mich persönlich bedeutet es, in einer wirklichen Verbindung zu meinem Inneren zu stehen. Mich selbst wahrzunehmen, mich zu spüren, mich in meinem Körper zuhause zu fühlen. Ich bin im gegenwärtigen Moment ganz bei mir. Ich bejahe den ständigen Wechsel im Fluss des Lebens. Ich bleibe mir selbst gegenüber freundlich und wohlgesonnen, egal, ob ich mich gerade glücklich oder unglücklich fühle.

Gebrauchen wir das Wort »Liebe«, so denken wir in aller Regel an starke, angenehme Gefühle. Es wäre naheliegend zu glauben, dass es bei der Selbstliebe darum ginge, diese leidenschaftlichen, beseelten Gefühle mir selbst entgegenzubringen. Doch darum geht es in Wirklichkeit nicht. Es ist vielmehr eine Bereitschaft, mir selbst, in jeder Situation, mit allem, was zu mir gehört, mit Freundlichkeit und Wohlwollen zu begegnen.

 

Für mich trifft das indische Pali-Wort metta diese Seinsqualität, die ich mit Selbstliebe verbinde, am ehesten. Metta wird gewöhnlich mit »Liebe« oder »liebender Güte« übersetzt. Es stammt jedoch aus zwei Wurzeln. Zum einen steht es für »sanft« und wird gerne in der buddhistischen Tradition mit dem sanften Fallen eines Regens verglichen, der ohne Unterschied auf alle Felder und Wiesen niedergeht, ohne etwas zu bevorzugen oder abzulehnen. Die zweite Wurzel von metta ist »Freundschaft«. Zusammengenommen bedeutet metta also eine sanfte Freundschaft, die zunächst bei mir selbst beginnt und ausnahmslos allen Aspekten meines eigenen Menschseins zugutekommt.

Dies ist die Basis von Selbstliebe, so wie ich sie verstehe. Von da aus kann diese Qualität der sanften, freundschaftlichen Verbundenheit sich unterscheidungslos weiter verschenken.

Übe ich mich in der Haltung der Selbstliebe, kann ich mir, egal wie ich mich im gegenwärtigen Moment auch fühlen mag, meiner eigenen Liebenswürdigkeit gewiss sein. Auf dieser Basis sehne ich mich danach, dass auch alle Menschen um mich herum sich ihrer eigenen Liebesnatur bewusst sein können.

Tatsächlich können wir, wenn wir uns selbst lieben, auch leichter die Liebe anderer annehmen, ohne sie zu fordern. Ebenso sind wir dann in der Lage, die Liebe, die wir für uns selbst empfinden, auch an andere weiterzugeben. In dem Maße, wie wir Zuneigung für uns selbst empfinden, ist Zuneigung vorhanden, die auch verschenkt werden kann.

Selbstliebende Menschen öffnen sich für die wahre Bestimmung ihres Lebens, für das, was sich durch sie realisieren möchte. Sie schauen mit weichen Augen auf sich und auf andere. Sie sehen das Wertvolle in sich und in den anderen. Menschen, die sich selbst lieben, sind innerlich frei. Sie brauchen ihr Inneres nicht mit dem Äußeren der anderen zu vergleichen. Sie sind ganz bei sich. Sie müssen mit ihrem Können, ihrer Leistung nicht prahlen und bringen doch ihre ganze Schönheit zum Ausdruck.

Ein selbstliebender Mensch bejaht auch die Polaritäten, die Widersprüchlichkeiten seines Lebens. Er ist bereit, seinen Schattenseiten mit einer annehmenden Haltung zu begegnen. Er ist sich bewusst, dass er Fehler machen wird. Auch wenn er etwas gut meint, so gelingt es nicht immer gut. Er kann sich selbst verzeihen. Wer sich selbst wohlwollend begegnet, strahlt auch für andere eine geistige Großzügigkeit aus. Er strahlt von innen her ein Licht, eine Schönheit aus, wie sie kein noch so aufwendiges Make-up und kein noch so schöner Schmuck hervorbringen könnte. Es ist sein wahres Selbst, das strahlt und immer mehr strahlen möchte.

Mensch – erkenne dich selbst!

Viele Menschen nehmen sich auf eine sehr reduzierte Weise wahr. Sie verbinden etwa ihren Selbstwert ausschließlich mit dem, was sie leisten. Sie nehmen sich selbst eingeschränkt wahr – und nehmen dadurch auch andere und ihr eigenes Leben in einer reduzierten Form wahr. Sie neigen dazu, ihre Aufmerksamkeit zu sehr nach außen zu richten, und bekommen dadurch zu wenig von ihrem Inneren mit, von den Schätzen, die in ihnen da sind.

Erkenne dich selbst! So stand es wohl am Eingang des Apollo-Tempels in Delphi zu lesen. Diese Aufforderung lädt den suchenden Menschen ein, innezuhalten, bei sich selbst anzukommen:

Spüre dich! Spüre dein wahres Selbst! Du bist mehr als das, was du von dir weißt! Du bist mehr als das, was andere von dir denken! Spüre deine Mitte, den Ort in dir, an dem du deine innere Stimme wahrnehmen kannst. Die zarte, weiche Stimme in dir, die dich leiten will. Deine innere Stimme, die dich fühlen lässt, was für dein Leben wirklich stimmt, was für dich stimmig ist. Den Ort der inneren Weisheit, an dem du um dein Gutsein weißt, darum, dass du als Mensch hinter all deinen Verstrickungen, Komplexen, Fixierungen grundsätzlich heil bist. Spüre die Verbindung zu deiner Mitte, von wo aus du dich mit all deinen Potentialen kraftvoll und zuversichtlich wahrnehmen kannst.

Können wir unser Inneres, unsere eigene Mitte gut spüren, so kann uns dies helfen, in stimmiger Weise Entscheidungen zu treffen. Wir können innehalten, um mit unserer eigenen Mitte in Kontakt zu treten. Wir können in uns hineinspüren und wahrnehmen, was alles aus unserem Inneren auftaucht. Je mehr wir uns darin üben, all das, was in uns ist, wahrzunehmen, desto vertrauter werden wir mit diesem Prozess der Selbsterforschung und der Selbsterkenntnis.

 

Stehen Sie vor einer wichtigen Entscheidung, tun Sie gut daran, in sich hineinzulauschen: Ist da ein »Ja« oder ein »Nein« für eine bestimmte Option? Wie genau teilt sich Ihnen Ihre innere Stimme mit? Treffen Sie von innen her stimmige Entscheidungen, wird Ihr Leben leichter fließen, und Sie werden sich wohler und zuversichtlicher fühlen.

Stoßen wir in unserem Leben auf Probleme oder Schwierigkeiten, so sind dies letztlich nur Appelle an uns, wieder nach Hause zu kommen: an den Ort des zarten, weichen Kerns in uns selbst, um unsere eigene Seele, unsere Mitte, unsere Essenz wieder zu spüren und daraus zu schöpfen.

Ich lade Sie ein, sich doch einmal die folgende Frage zu stellen: Sind Sie in guter Beziehung mit sich selbst? Können Sie Ihre eigene Mitte spüren? Wie genau erfahren Sie Ihre Mitte? Was können Sie tun, um Ihre eigene innere Mitte noch besser wahrnehmen zu können? Wann haben Sie am stärksten das Gefühl, dass Sie ganz Sie selbst sind?

Es scheint mir so, dass es in unserem Leben immer wieder darum geht, unsere innere Mitte wahrzunehmen und aus dieser inneren Anbindung heraus zu handeln. Auf diese Weise können wir uns vertrauensvoll dem Leben hingeben, so wie es sich Moment für Moment vor uns entfaltet.

C. G. Jung bezeichnet unsere innere Mitte als »das Selbst«, als »Gott in uns«. Nach seiner Auffassung entspringt aus diesem Punkt heraus unser ganzes seelisches Leben, und alle höchsten und letzten Ziele unseres Lebens laufen auf diesen Punkt zu.

Eine Erzählung der Kabbala drückt dies so aus: Am Anfang war der Urknall, und das Göttliche wurde in unzählige Partikel zersplittert. In jedem Wesen, in jedem Menschen, ja in jeder menschlichen Erfahrung steckt ein solcher Splitter. Somit ist jeder Mensch, jede Begegnung mit einem Menschen, ja jede natürliche Erfahrung des Seins eine Gelegenheit, dem Göttlichen zu begegnen.

Viele Meditierende berichten, dass sie in Momenten der Stille, des Sich-nach-innen-Wendens, des bloßen Seins, ­eine Verbindung zu einer Präsenz verspüren, die größer als sie selbst ist. Wir alle können durch das Üben von Achtsamkeitspraktiken, wie dem bewussten Wahrnehmen unseres Atems, dem Nach-innen-Lauschen, dem Zur-Mitte-­Gehen, unsere Pforten der Wahrnehmung reinigen und Kontakt zu unserer eigenen Seele und deren größerem Beziehungsfeld bekommen.

Jedoch sagen nicht wenige Menschen von sich, dass sie permanent im Stress sind. Sie meinen damit, dass sie sich ständig mit all ihrer Aufmerksamkeit und ihrer Kraft in ihren Aufgaben, ihren vermeintlichen Pflichten aufhalten und sich selbst nicht mehr spüren. Sie bekommen nicht mehr mit, wie es Ihnen wirklich geht, was Sie eigentlich bräuchten. Sie halten sich außerhalb von sich selbst auf: Sie sind im Stress zuhause, aber nicht mehr in sich selbst daheim.

Auf dem Weg der Selbstliebe geht es immer wieder darum, die Beziehung zur eigenen Mitte zu spüren – denn ohne sie können wir nicht wirklich wir selbst sein. Diese Mitte in uns ist immer da. Sie möchte wahrgenommen werden. Wir selbst haben den Schlüssel in der Hand und können die Tür nach innen öffnen. Je mehr wir uns mit dieser Tür vertraut machen, desto leichter und sanfter lässt sie sich öffnen. Wir können dadurch zentrierter, ganzheitlicher leben und uns mit dem Mysterium Leben tiefer verbunden fühlen. So erleben wir uns als wertvoll und würdevoll. Wir können anderen Menschen mit Achtung und Respekt begegnen und lebendige, nährende Beziehungen eingehen. All unsere Gefühle und Körperregungen können wir willkommen heißen und sie als hilfreiche Wegweiser nützen. Wir können unser Leben auf eine schöpferische und inspirierte Weise gestalten. Wir sind in der Lage, ein Selbst-bestimmtes Leben zu führen, da wir die Stimme unseres Selbst kennen und achten.

Viele Menschen, die in unserer Klinik Hilfe suchen, sind in eine Art Sackgasse ihres Lebens, in eine Krise geraten. Oftmals sind es berufliche, partnerschaftliche oder gesundheitliche Krisen, die Menschen innehalten lassen. Egal, welcher Art die Krise ist, die zugrunde liegende Aussage ist immer, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann. Etwas muss sich ändern. Zunächst geht der Blick oft nach außen, die Arbeitssituation passt nicht mehr, eine partnerschaftliche Beziehung ist konfliktreich oder gesundheitliche Probleme haben überhandgenommen.

Das Problem scheint im Außen zu liegen: die Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, das Verhalten des Partners oder die krankmachende Lebenssituation. Jedoch liegt der Schlüssel zur Lösung in uns selbst.

Auch wenn wir die Krisen unseres Lebens nicht wollen, so benötigen wir diese doch für unser eigenes Wachstum. Wir brauchen Krisen, da sie uns zeigen, wie abgetrennt wir von uns selbst sind, wie sehr wir die Beziehung zu uns selbst verloren haben. Sie machen uns darauf aufmerksam, dass wir eine neue Art der Beziehung zu uns selbst brauchen.

Häufig wird in Krisensituationen auch deutlich, dass Menschen in süchtiges Verhalten geflohen sind, um sich selbst auszuweichen. Letztlich ist aber nicht die Droge, der Alkohol oder der Computer das eigentliche Problem, sondern es sind die ungelebten Träume, die eingefrorenen Gefühle, die unerfüllten Sehnsüchte. Wenn Menschen nicht mehr ihren Träumen, Sehnsüchten, Gefühlen – und damit sich selbst – begegnen, sind sie letztlich auf der Flucht vor sich selbst.

Durch das Innehalten erkennen wir, dass die Krise ein Rufen ist. Es ist das Rufen von ganz innen – etwas in uns will gesehen werden. Die Krise appelliert an uns, wieder in Kontakt mit uns selbst und unserer Mitte zu kommen. Die Krise ist die Chance, uns wieder – vielleicht zum ersten Mal überhaupt – selbst zu entdecken.

Wir können die Blickrichtung wechseln: Statt nach außen sollten wir lieber nach innen schauen. Statt auf den anderen (Partner, Chef, Nachbar) zu schielen, können wir die Aufmerksamkeit auf uns selbst richten. Wir können uns fragen: Was brauche ich jetzt? Was brauche ich wirklich? Was brauche ich wirklich, wirklich? Wir können uns für uns selbst interessieren, für das, was uns innerlich bewegt. Wir können endlich aufhören, uns selbst schlecht zu behandeln. Wir können beginnen, uns selbst Gutes zu tun. Wir können einen warmen, weichen Blick auf uns selbst richten.

Im Grunde sagen alle spirituellen Lehren dieser Welt etwas sehr Ähnliches: Werde still! Geh nach innen! Komm zur Ruhe! Höre die Stimme deines Herzens! Sei gut zu dir selbst!

Warum es so schwer ist, sich selbst zu lieben

An dieser Stelle möchte ich Sie zu einem kleinen Experiment einladen. Ich bitte Sie, sich fünf Minuten Zeit zu nehmen. Suchen Sie sich einen Ort, wo Sie für diese Zeitspanne ungestört sind und Sie es sich bequem machen können. Egal, ob Sie sitzen oder liegen, gehen Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit zu Ihrem Atem. Nehmen Sie sich die ersten zwei Minuten Zeit, um bei geschlossenen Augen Ihre Aufmerksamkeit nach innen zu richten. Wo in Ihrem Körper können Sie den Fluss Ihres Atems besonders gut wahrnehmen?

Anschließend bitte ich Sie, sich den Satz »Liebe dich selbst« leise drei Mal hintereinander zuzusprechen. Stellen Sie sich vor, dass dieser Satz wie eine feine Sonde ist und Sie nun die verbleibenden drei Minuten einfach nur wahrnehmen, was dieser Satz in Ihnen auslöst. Welche Gedanken tauchen auf? Wie sind Ihre Körperempfindungen? Welche Gefühle sind für Sie wahrnehmbar? Können Sie Impulse beobachten? Ich bitte Sie, alles was sich in Ihnen dabei bemerkbar macht, mit wohlwollendem Interesse wahrzunehmen, ohne irgendetwas verändern zu wollen. Alles willkommen zu heißen, was in Ihnen vor sich geht.