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Ja-Sager, Mitläufer und folgsame Menschen sind hier falsch. Denn Hans Krolls Roman "Selbstverliebte Halbhirne" macht sich zur Aufgabe, prinzipiell quer zu schießen. Sei es bei LGBTQIA+ oder Frauenthemen, der Migrationsfrage oder Straftaten. In einem kritischen und vor allem kritisierenden Text, der wirklich Jeden aufs Korn nimmt, behandelt er ein Potpourri an Protagonisten, die alle irgendwie verbunden sind, aber sich nicht verbinden lassen wollen – vor allem nicht mit der Damenwelt, die Jürgen, Peter und Will genauso kritisch gegenübersteht, wie Kroll der momentanen Politik. Ein Text, der Leser herausfordert, über Verwirrungen unserer Zeit zu reflektieren.
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Seitenzahl: 168
Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
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© 2025 novum publishing gmbh
Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt
ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0386-9
ISBN e-book: 978-3-7116-0387-6
Lektorat: Jasmin Fürbach
Umschlagfoto: Daniil Peshkov | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Vorwort
„Die perfekte Diktatur wird den Anschein einer Demokratie machen, ein Gefängnis ohne Mauern, in dem die Gefangenen nicht einmal davon träumen, auszubrechen. Sie werden ihre Knechtschaft lieben.“
Es war aufs Neue geschehen: Dieses im tiefen Grund seiner kalten verwirrten Seele obrigkeitsgläubige Volk hatte sich in seiner Gesamtheit entschieden, einer Sekte zu folgen, deren Führer versprachen, die ganze, leider noch nicht perfekte Welt umzugestalten und sie gleichzeitig vor einer drohenden Apokalypse zu retten. Emanuel Geibel war wiederauferstanden: „Und es mag am deutschen Wesen einmal noch die Welt genesen.“
Dermaßen von düsteren Prognosen verängstigt, wandten sich die Leute von jedweder Vernunft ab, griffen zur Droge, um den Tag erträglicher zu machen, diskutierten aufgeregt darüber, welchen Geschlechts sie wohl sein mochten, um sich im Alltag der hohlen Existenzen endlich selbst zu finden. Die männlich konstruierte dominante Kultur sollte dorthin verfrachtet werden, wohin sie schon lange gehörte: auf den Müllhaufen der Geschichte; ohne allerdings jemals recycelt zu werden!
Eine Regierung als Exekutivorgan eben dieser Sekte wurde an die Macht gehievt; ihre Anhänger fassten Mut und schöpften Hoffnung; formierten sich hinter den sprachlich bunt verkleideten, geistig ausgetrockneten Narren.
Das politische Programm der neuen Machthaber war einfach, überschaubar und in dieser Art noch nie versucht worden: Die einheimische Bevölkerung, vor allem der „Weiße Mann“, sollte nach und nach, aber so zügig wie möglich, ausgetauscht und durch Menschen ersetzt werden, die über das Meer kamen oder über andere Routen auch zu Fuß. Wohlstand und Sicherheit würden auf ein für alle erträgliches gerechtes Maß herabgewirtschaftet werden – außer, selbstredend, für die Mitglieder der herrschenden Kaste selbst, die Komfort bräuchten, um, die Last der Verantwortung tragend, Geschenke verteilend, um die Welt reisen zu können, sich dergestalt beliebt zu machen und zu einem leuchtenden Fanal für die Menschheit zu werden.
Drogen gäbe es, endlich legal, für alle. Der Konsum – noch – verbotener wurde praktisch kaum kontrolliert und so gut wie nie sanktioniert.
Auch hätte bei beliebig zufällig ausgewählten Bürgern durch Tests leicht festgestellt werden können, dass der Kantische Imperativ, faktisch im Genom dieses Volkes vorhanden, nun wieder in einer popularisierten Form aktiviert worden war, etwa: „Wenn du etwas für richtig hältst, dann tu es auch! – und zwar ohne Rücksicht auf Verluste“…
Dies geschah nun nicht etwa mit Verstand und Logik, gar Vernunft, sondern aus dem „Bauch heraus“, einer gruselig anmutenden Floskel aus dem Neusprech, die immer dann verwendet wurde, wenn es keine vernünftige Erklärung für – mitunter – etwas völlig Dummes, Absurdes zu geben schien.
Der Name ‚Kant‘ selbst war, so wie die Namen vieler Männer, die einmal Philosophen geheißen wurden, vergessen; zu Recht, wie es schien, denn dieser Kant war ein alter weißer Mann gewesen, der vor langer Zeit viel zu komplizierte Sätze zu Papier gebracht hatte; dessen Werke nicht einmal illustriert waren, wie Kinderbücher zum Beispiel. Das Denken war durch Ideologie ersetzt worden: „Wenn die Wirklichkeit nicht so ist wie die Theorie, umso schlimmer für die Wirklichkeit!“ – dieser böse Spuk hatte bereits Generationen verdorben.
Denken stellt Verbindungen her zwischen je einzelnen Gedanken und reflektiert sie in diesem Licht. Ideologie zwängt jede Wirklichkeit in ein Korsett; dies vor allem auch in Wahrnehmung und Interpretation besagter Wirklichkeit …
Ein äußerer wie ein innerer Feind mussten gefunden und determiniert werden. Dies gelang leicht, da dieses Volk ja genetisch ebenfalls programmiert zu sein schien, Befehlen zu folgen: „… ein Volk, ein Land, eine Führung!“; dies funktionierte immer noch.
Gegen den äußeren Feind wappnete, ja bewaffnete sich das Volk, als gälte es, endlich einmal einen Weltkrieg zu gewinnen; der innere wurde übel verleumdet und verfolgt, denn aus Sicht der guten fortschrittlichen Mehrheit galt es ja, die Welt zu retten, und dann kann, ja muss!, der übergeordnete ideologische Anspruch bei Bedarf auch über Gesetz und Recht stehen. Es geht schließlich um alles …
Mit Elan und Enthusiasmus hatte sich die Menge in einen immer konkreter werdenden Raum irgendwo zwischen Orwell und Huxley manövriert und sah nun der Zukunft mit etwas mehr Zuversicht entgegen. Kritik an Entscheidungen der – ja gewählten! – Herrschenden wurde entlarvt, verfolgt und zunehmend unter Strafe gestellt: Wer kritisiert, ist ein Radikaler, beschwört schlimme, nie vergessene Zeiten herauf; will Untergang, Versklavung, in letzter Konsequenz den Tod für alle. Am liebsten hätte man Zauderer, Zweifler, vor allem Kritiker, wie in biblischen Zeiten mit Verfehlungen und Missetaten aller beladen und als Sündenböcke in die Wüste gejagt …
Nun kam es aber so, dass Unsicherheit sich breit machte. Vergewaltigungen, Messerattacken, Drogendelikte, Raub und Totschlag waren an der Tagesordnung. Und obwohl die Gerichte diese Verbrechen, wenn sie von Ankommenden, so nannte man euphemistisch Zuwanderer aus meist kaum entwickelten Regionen und Staaten, begangen wurden, kaum oder meist gar nicht sanktionierten, wollten sich nicht mehr alle Menschen mit den Erklärungen der Regierenden und ihrer Handlanger, auf allen Ebenen der Gesellschaft, zumal in den mächtigen gleichgeschalteten Medien, zufriedengeben. Die Mär, es handle sich bei den Missetätern im Grunde halt um nette Kerle, entwurzelt, ungeliebt, die sich irgendwie die Zeit vertreiben mussten, verlor zunehmend an Glaubwürdigkeit. Und könnte man nicht auch, so publizierte es ein bei der Mehrheit sehr populärer beliebter Psychologe wieder und wieder, Gruppenvergewaltigungen als eine ‚interkulturelle Begegnung‘ definieren, so die Vergewaltigte dies nur, nach einigen Séancen mit einer Psychologin, zu begreifen in die Lage versetzt werden könne?
Nein! Es handle sich bei diesen Gewaltakten nicht um Verbrechen, sondern um die Suche nach Identität, Anerkennung, ja Liebe. Die Gesellschaft selbst sei schuldig. Diese Ankommenden bräuchten mehr Liebe, mehr Geld …
Da in Zeiten allgemeiner seelischer Verunsicherung und geistiger Verwirrung die Leute sich mit denen identifizieren, die einfache Lösungen versprechen, Macht fordern, rechtliche oder physische Gewalt ausüben, konnte es nicht ausbleiben, dass im Rechtswesen eine zunehmende Verkehrung der Opfer-Täterrolle beobachtet werden musste: Verbrecher wurden Opfer genannt; die Opfer der Verbrechen mehr oder weniger ignoriert, denn ängstliche Herdentiere scharen sich lieber um die Starken – ein böser Irrtum –, weil diese mehr Schutz versprechen, als hilflose Opfer je bieten könnten …
Aber, wie bereits angedeutet, gab es Menschen, die überholte, ja vielleicht sogar gefährliche reaktionäre Vorstellung mit sich trugen, sich entschlossen, nicht mehr mit den Wölfen zu blöken, den Schafen zu heulen. Sie entwarfen keine neuen Konzepte für eine bessere Gesellschaft; wollten nicht belehren; fanden sich nur, vielleicht aus einem übersteigerten Sinn für Gerechtigkeit, selbst nicht mehr in einer ideologisch verbrämten Welt wieder, stellten sich immer häufiger die Frage: „Sind die das oder bin ich das?“ – und kamen dann zu Antworten.
In diesem skizzierten – rein fiktiven – gesellschaftlichen Kontext ist nun die vorliegende, literarisch bescheiden gewollte Erzählung angesiedelt und berichtet einfach beobachtete Dinge, Geschehnisse des Alltags in einer Welt, die von außen betrachtet wie organisierter Wahnsinn, von innen aber, für die einen, wie eine Prophezeiung mit garantierter Erlösung, für andere wie eine Wirklichkeit gewordener Albtraum erscheinen mochte.
Möge der Leser sich ein Bild machen …
***
Selbstverliebte Halbhirne
Sie wissen nicht, ob sie Affen sind, die nicht Menschen werden können oder Menschen, die nicht Engel werden wollen.
„Wussten Sie eigentlich, dass man auch die Fürze von Vampiren in einem Spiegel nicht sehen kann?“
Patrick, der seinen Abschluss als Jurist in seiner Heimatstadt Toulouse gemacht hatte und von seinem Chef und väterlichen Freund für ein Jahr nach Deutschland geschickt worden war, um außerhalb der immer noch in vielen Köpfen deutlich markierten Grenzen des Gallier-Reiches Erfahrungen sammeln zu können, Erfahrungen beruflicher wie persönlicher Art, war von der Frage seiner neuen Vorgesetzten in zweifacher Hinsicht überrascht: Reichten seine Kenntnisse dieser deutschen Sprache nicht, um den Sinn der Frage zu erfassen, oder blieb ihm eine versteckte, tiefere Bedeutung im Zusammenhang mit der unmittelbar anstehenden Gerichtsverhandlung verborgen?
Tine Rosner, ein groß gewachsenes, kräftiges Mädchen Mitte dreißig, grinste, während sie selbst glaubte, verschmitzt zu lächeln, bemerkte den Ausdruck leichter Verwirrung im Gesicht ihres ‚kleinen Frenchis‘, wie sie ihren Praktikanten für sich selbst nannte und dachte: ‚Jetzt noch ein oder zwei Flaschen Wein zu einem guten Essen und der Kleine wird geknipst!‘
Sie gingen den Flur entlang, der zum Gerichtssaal führte. „Also wir machen das heute so: Die Richterin ist eine nette Ex-Linke und irgendwie sozial eingestellt. Wir werden hervorheben, dass die Mutter des Angeklagten Alkoholikerin war, die ihren Sohn regelmäßig durchprügelte und sein Vater eine Gelegenheitsnutte, der für seine Drogen den, na ja, Sie wissen schon, seinen popotin hinhielt … Dann haben wir ja da noch unsere Psychologin, die genau erklärt, wie das alles im Kopf unseres Schutzbefohlenen durcheinandergeriet, und warum er im Endeffekt keine andere Wahl hatte, als kleine Mädchen zu vergewaltigen und ihnen anschließend das Genick zu brechen. Ach ja, noch eins: Es ist sehr wichtig vor deutschen Gerichten, dass, in seinem Schlusswort, der Angeklagte so überzeugend wie möglich betont, seine Taten zu bereuen, es ihm echt, also wirklich echt, leidtut. So kriegen wir das hin und er kommt in eine psychiatrische Anstalt, wo er nett behandelt wird oder, sollte es schieflaufen, in den Knast, ist aber so oder so in ein paar Jahren wieder draußen!“
Es kam aber nicht zum Prozess. Ein Engel des Herrn war in der Zelle des dreiunddreißigjährigen Kinderschänders erschienen und hatte ihn überzeugen können, sich an einem Hosengürtel zu erhängen, den der Engel eigens für ihn mitgebracht hatte. ‚Dies sei so am besten für alle‘, hatte er ruhig vorgebracht. Mit dem Abgesandten des Teufels, der sich nach dem Ableben dieser bête humaine gleich vor Ort eingestellt hatte, verhandelte der Engel über dessen Seele – wie es eigentlich in einem Vertrag, der zu Zeiten der Inquisition zwischen Himmel und Hölle festgelegt worden war und seitdem auch generell eingehalten wurde – nicht einmal und sagte nur lakonisch: „Du kannst sie haben! Nimm sie einfach mit …“
Tine war sauer, als sie vom Selbstmord ihres Klienten erfuhr: „Wieso können diese Penner von der Vollzugsanstalt nicht aufpassen? So was darf doch nicht passieren! Dabei schwört der verantwortliche Wärter Stein und Bein, dem Angeklagten den Hosengürtel abgenommen zu haben, bevor er ihn in die Zelle sperrte. Hatte er etwa einen zweiten bei sich oder hat ihm vielleicht der Teufel einen gebracht? Und wer bezahlt mich denn jetzt, wo dieser Kotzbrocken sich auf eine so feige Art aus dem Staub gemacht hat? Weißt Du, seine wohlhabende alte Tante, so eine Schrulle – eigen im Kopf – “, Tine tippte sich mit dem rechten Finger gegen ihre Stirn, „mochte ihren Neffen ganz gern und wollte ihn wieder bei sich aufnehmen. Aber ob die jetzt noch zahlen will …? Ach, was soll’s! Wir werden das sehen. Gehen wir doch heute Abend schön was essen. Ich kenne da ein romantisches Bistro …“
Patrick nickte zustimmend, verspürte aber ein unbehagliches Ziehen in der Magengegend, als sie „romantisch“ sagte.
***
Der Ort, an dem vieles zusammenläuft
Im „Stiletto“ servierte man den besten Espresso der Stadt. Stets wurden die sorgfältig selektionierten, täglich frisch gerösteten Bohnen erst unmittelbar vor dem Zubereiten des gewünschten Getränks gemahlen. Es wurde empfohlen, auch Espresso ohne Zucker getrunken, umzurühren, da sich einige Aromastoffe beim Einlaufen der duftenden schwarzen Flüssigkeit unten in der Tasse absetzen und sich so ohne Umrühren nicht gleichmäßig verteilten, wie dies geschmacklich wünschenswert wäre.
Tine hatte, nachdem die Gerichtsverhandlung abgesagt worden war, Patrick auf einen Kaffee eingeladen; wollte ihn gleichzeitig auf dieses Bistro aufmerksam machen.
Der Patron lächelte die beiden freundlich fragend an. Patrick bestellte. „Ich nehme auch einen Espresso, manchmal allerdings ziehe ich einen ‚Schmutzigen Lümmel‘ vor …“
Patrick schaute Tine verständnislos an. Zwar hatte er bei seinen Studien des Deutschen in einem auf Fremdsprachen spezialisierten Institut in Toulouse hervorragende Resultate erzielt, aber seine Kenntnisse bezogen sich natürlich in erster Linie auf sein Fachgebiet, die Rechtswissenschaft. Auch war ihm bei einigen privaten Auslandsaufenthalten schnell bewusst geworden, dass es eine enorme Differenz gab zwischen einer korrekt erworbenen Sprache, die korrekt gesprochen wurde, und ihrer Verwendung durch die Ureinwohner des bereisten Landes oder gar einer Region, die dem Neuankömmling das Erfassen der Bedeutung des Gesagten erschwerte, wenn nicht unmöglich machte. Und hier stand er wieder in einer solchen wüsten Leere zwischen dem Schall der Wörter und ihrer Bedeutung in einem für den Sprecher offensichtlich erkennbaren gegebenen Zusammenhang.
Tine kannte bereits diesen Ausdruck im Gesicht ihres Assistenten und deutete ihn richtig: „Ach ja! Also ich meine einen ‚Latte macchiato‘. Auf Deutsch könnte man es übersetzen mit ‚Schmutziger Steifer‘, aber ich finde ‚Lümmel‘ klanglich einfach besser, flüssiger. ‚Latte‘ ist im Deutschen ein umgangssprachlicher Ausdruck für ein erigiertes männliches – Quatsch! – einfach ein erigiertes Glied, ja? Und das übersetze ich nun statt mit ‚Milch‘, ‚latte‘ im Italienischen, mit ‚Latte‘ wie ‚Zaunlatte‘ oder eben ‚Steifen‘ …“
„Das ist witzig“, sagte Patrick lächelnd nach kurzem Zögern, das Nachdenken und dann Verstehen simulieren sollte, und notierte, dass die Deutschen eben doch Humor hatten, wenn auch einen ihnen sehr eigenen und auch, dass er diese sprachliche Nuance noch nacharbeiten müsse, um sie entschlüsseln zu können.
„Dann gehen wir also heute Abend essen. Ich lade Dich ein. Es wird bestimmt sehr anregend, mon petit français …“
Wieder schwang in diesen an sich nett vorgebrachten Worten etwas Drohendes mit.
***
Die Spinne spinnt ihr Netz
Mit einer etwas anderen personellen Besetzung hätte man das von Tine ausgesuchte Restaurant für einen Multi-Kulti-Plüschpuff halten können: Die drei Serviererinnen waren diskret geschminkt und hatten ihre hübschen voluminösen ‚Mädchen‘ auf die Balkone gesetzt. Die Kellner bemühten sich um affektierte, einstudierte Gesten und versuchten, durch leichtes Schwingen ihre flachen Gesäße ins Blickfeld zu rücken, ein Detail, das Patrick – vorerst – zu einer wenn auch nicht rettenden, so doch Aufschub leistenden Idee inspirieren würde. Wohltemperierte instrumentale Hintergrundmusik erinnerte in beruhigender Weise an Melodien italienischer Opern.
Sie wurden professionell empfangen und zu ihrem Tisch geführt: „Frau Rosner und der französische Herr? Darf ich Sie bitten, mir zu folgen …“
„Ja. Das ist ein schöner Platz!“, folgte Tine der Empfehlung des Garçon und wandte sich an Patrick: „Man ist weit genug von jeder Türe entfernt, vor allem der Toilette, hat aber eigentlich alles im Blickfeld. Und sollte mal ein Feuer ausbrechen oder so etwas, kann man die Eingangstüre vor den meisten anderen Gästen erreichen.“ Patrick schoss die Frage durch den Kopf, ob in deutschen Restaurants regelmäßig oder zumindest signifikant häufig Brände zu beklagen wären …
Alle Tische waren besetzt und es ging los.
„Die haben französisch inspirierte Speisen, also…ja: Hähnchenfilet an Rotweinsauce – so eine Art Coq au Vin. Ich hoffe, ich spreche das jetzt richtig aus?“
„Ja“, log der Franzose und lächelte, „das war perfekt!“
Er unterzog sein Gegenüber einer genaueren Inspektion und das Ergebnis befremdete ihn. Auch im gedämpften Licht des Raumes stellte sich die Frage ein, warum die Frau an seinem Tisch sich das angetan hatte; wen sie erschrecken wollte: Ihr kurzes dichtes Haar leuchtete bläulich und war mit einem fettartigen Mittel stachelig nach oben orientiert worden. Das Rouge war zu dick auf die leicht grobporige Haut der Wangen aufgetragen und dann diese Lippen: Sie waren so rot, dass nicht einmal ein Kurzsichtiger hätte übersehen können, dass sie anzeigten, ja geradezu schrien: ‚Schau mal: Ich habe Lippen!‘
„Gefallen sie Dir?“
Patrick kam schlagartig zu sich und sagte: „Pardon?“
„Meine Lippen, Du schaust meine Lippen – gefallen sie Dir?“
Hätte er spontan geantwortet, er hätte sachlich festgestellt, dass man sie nicht übersehen könnte, aber er war gut erzogen: „Ja, sie sind sehr … wie sagt man …?“
„Sinnlich …?“
„Ja, das wollte ich sagen: sinnlich … und rot.“
Tine lächelte, weil sich die Konversation in ihrem Sinne zu entwickeln schien und so spann sie die Fäden ihres feinen Netzes geschickt fort: „Im Deutschen sagt man: ‚Wie die Nase eines Mannes, so ist sein Johannes.‘ Gibt es dafür eine Entsprechung in der französischen Sprache bezogen auf die weiblichen Lippen?“
Zum Glück kam der Kellner mit dem Wein und verschaffte Patrick einen kurzen Aufschub, etwas Zeit, um eine Antwort – irgendwo – zu finden. Er scannte kurz das Gesäß des Kellners.
„Es macht nichts, wenn Du schwul bist! Wir in Deutschland nehmen das für etwas völlig Normales. Hauptsache Liebe … oder wenigstens Sex! Übrigens, wo wir schon einmal dabei sind: Wir könnten uns eigentlich duzen, oder?“
„Aber wir duzen uns doch bereits …?“
„Ach, wo habe ich nur meine Gedanken! Natürlich duzen wir uns schon! Ich glaube, ich habe das so gesagt, weil ich Dir irgendwie näherkommen wollte … Sag’ mal: Bist du eigentlich immer schwul…?“
„Ich bin doch nicht schwul …“, erwiderte Patrick ruhig; doch entschieden.
„Ach komm’ doch! Ich habe schließlich Augen im Kopf …“
‚Wo denn sonst?‘, fragte er sich.
***
Nichts ist so unwirklich wie die Wirklichkeit
Als Patrick aus dem Restaurant auf das regenfeuchte Trottoir trat und nach einigen Schritten rechts in eine enge Nebengasse einbog, von der er annahm, sie würde ihn in Richtung seiner Wohnung leiten, kam er nicht umhin zu erkennen, dass Tines kurze Einführung in die gesprochene deutsche Sprache mehrere deutliche Hinweise auf einen früher oder später – wahrscheinlich früher – möglichen, ja nicht zu vermeidenden, Geschlechtsverkehr enthalten hatten. Ein guter Freund, der einige Jahre in Tübingen Kunstgeschichte und Medienwissenschaften studiert hatte, vermittelte ihm vor Patricks Abreise ins Land der „Weltverbesserer und Prinzipienreiter“, wie sein Vater, ein internationaler Weinhändler, dieses Land charakterisierte. Auch stellte er ihm einige Kärtchen mit Lauten und Ausrufen zur Verfügung, die deutsche Frauen beim Geschlechtsverkehr von sich geben, um ihre Gefühle deutlich auszudrücken und um gleichzeitig zu signalisieren, dass sie selbstbewusst und sexuell erfahren sind: „Jajanein-ja-da-höher-warte-schneller-weiter links-das machst du gut- nein, da nicht … jetztjajaaa …“ – zum Beispiel …
Die leicht befremdliche Vorstellung einer intimen Interaktion mit der insgesamt eigentlich nicht so unattraktiven Tine verwirrte ihn. On verrat bien, schloss er vorläufig dieses Kapitel.
Einige Schritte weiter hinein in die Gasse bemerkte er in einem dunklen Hauseingang einen schmuddeligen jungen Kerl. Der sprach ihn mit leiser, leicht nuschelnder Stimme an und bot ihm, so Patrick dies richtig verstand, entweder schnellen Sex und/oder Drogen jeder Art an. Patrick winkte dankend ab, wie er es gewohnt war, dies auch in schmuddeligen Straßen französischer Städte zu tun. Nach den Einschätzungen seines Freundes, der übrigens nicht sehr weit von Toulouse entfernt im malerischen Dörfchen Couillies-Pend-aux-Dames lebte, hatte der massive Fortschritt der Emanzipation der deutschen Frauen zum Vertrotteln – devenir gaga – vieler, vor allem jüngerer deutscher Männer geführt und einer fast flächendeckenden Verbreitung mehr oder minder demonstrativ dargestellter männlicher Homosexualität und einer ebenso offensiv bis aggressiv geforderten generellen Akzeptanz durch alle und jeden geführt und Drogenkonsum gehörte auf eine intellektuell verwirrte Weise zur Panoplie dieses Teils der sogenannten progressiven Gesellschaft. Eigentlich, so meinte sein Freund, eine Post-68 er-Variante des grün-liberalen, neu-deutschen, ewig-gestrigen Kleinbürgertums. In Deutschland gab und gibt es immer nur eine richtige ‚offizielle‘ Meinung. Alle müssen folgen und die, die anderer Meinung sind, verspüren nicht selten ein gewisses Unbehagen, auch wenn sie im Grunde klar anderer Meinung sind. Patrick selbst kannte genug von der deutschen Geschichte, um zu wissen, dass in diesem Volk die Lauten und Aggressiven gute Chancen besitzen, die Macht zu ergreifen, zu konservieren und alle und alles irgendwo ins Unbekannte zu dirigieren.
Die Straßen der City waren erstaunlich schmutzig. Auch in dieser Hinsicht hatten sich die Deutschen in der Gestaltung ihres urbanen Umfeldes dem charme désuet ihrer lateinisch geprägten Miteuropäer angenähert: L’on arrète pas le progrès!
Als er endlich aus der düsteren Atmosphäre der Gasse in den breiten Raum des zentralen Platzes dieses Viertels trat, konstatierte er leicht verärgert, dass er sich wieder verlaufen hatte. Seine Aufmerksamkeit, sich nun auf den richtigen Weg zu seiner Wohnung zu konzentrieren, wurde von dem großen Bildschirm, auf dem normalerweise rund um die Uhr immer für irgendetwas, fast wie am Time Square, geworben wurde, so revolutionäre vegane Slipeinlagen oder Kontaktmöglichkeiten – gestaffelt nach hetero, homo/lesbo oder anders Interessierte – abgelenkt und gleich absorbiert: Die ehemalige Kanzlerin des Volkes wandte sich in einer kurzen Ansprache an ihre einstigen Untertanen. Sie wirkte wie eine zeitlos ältliche, ungeschickt gekleidete, kleinbürgerliche Nachbarin aus einer Reihenhausgegend, die im Falle einer nuklearen Katastrophe, ohne zu zögern, Schutzmasken häkelt oder beim durch Grillen entstehenden Rauch die Polizei ruft – auch wenn der Wind den Rauch aus Nachbars Garten von ihrem eigenen wegträgt. Patrick verstand nur, dass es irgendwie um den weltweiten Klimawandel und das damit verbundene