Semester of Love - Pit K - E-Book

Semester of Love E-Book

Pit K

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Beschreibung

Till ist jung und dynamisch. Am Abend des ersten Tages des Semesters, das sein letztes werden soll, kommt ihm die Erleuchtung, dass zu einer angehenden Führungskraft ein nettes weibliches Aushängeschild gehört. Kurz darauf tritt eine neue Kommilitonin in sein Leben. Er fasst den Entschluss: "Diese und sonst keine!" Plötzlich steht das minuziös geplante Unternehmen "Karrierestart" vor ungeahnten Dimensionen. Till, der in seiner Machoart meint jegliches Problem der Welt lösen zu kennen, steht vor ungeahnten Schwierigkeiten… An der ehrwürdigen Uni Münster im Fachbereich Wirtschaft wird das gute alte Studentenleben lebendig, geschildert in einer frechen Umgangssprache, die unterhalten will und sich gerne über Konventionen hinwegsetzt.

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Seitenzahl: 313

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Pit K

Semester of Love

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1 Auf ein Neues

Kapitel 2 Graue Herbsttage

Kapitel 3 Proll ist toll

Kapitel 4 Schwere Prüfungen

Kapitel 5 Urlaubstage und neue Feinde

Kapitel 6 Kann es Liebe sein

Kapitel 7 Gute Zeiten und schlechte Zeiten

Kapitel 8 Am Ende ist immer Alles ganz anders

Impressum neobooks

Kapitel 1 Auf ein Neues

Die folgende Geschichte handelt von einem banalen Stoff, nämlich dem Leben, und zwar von meinem. Mein Name ist Till, wobei ich meinen Nachnamen für mich behalten möchte. Ich möchte erzählen von den letzten Monaten und Tagen meines Studiums, wie ich zum akademischen Führungsnachwuchs wurde und mich ins Berufsleben stürzte. Manch einer wird sich fragen, was daran Besonderes ist. - Viele werden sich an eigene Erleb­nisse erinnert fühlen, die schon längst verdrängt worden sind, andere werden mit Spannung verfolgen, was auf sie zukommen könnte, und vielleicht werden sich eini­ge wiedererkennen. Es handelt sich um eine lustige Geschichte, die eigentlich gar nicht lu­stig ist. Es geht um lästige Dinge wie Prüfungen und Bewerbungsverfahren, aber auch um so faszinierende wie die große und manchmal doch nicht so große Liebe, um Erfolge und oft auch um Misserfolge. Kurz gesagt: Es geht um alles, was im Leben wichtig ist.

Meine Geschichte beginnt Mitte der 90iger Jahre an einem grauen Oktobertag. Ich bin VWL-Student der ehrwürdigen Universität in Münster. Es war der erste Vorlesungstag von dem Semester, das mein letztes werden sollte. Es war ein richtiger Scheißtag und dieses nicht nur wegen des Wetters. Vormit­tags hatte ich gearbeitet, leider wieder mal viel zu lange, so dass ich zu spät an der Uni er­schien. Mir war mehr nach einer Dusche als nach einer Vorlesung zumute, aber so­lange sich niemand über mein nicht dem Klischee des dynamischen Wiwis (Wirtschaftswissenschaftlers) entsprechen­den Outfits beschwerte, sollte mir das egal sein. Glücklicherweise beschwerte sich tat­sächlich nie­mand, zumal in der Reihe vor mir Michaela Assmann saß. Obwohl ich froh war, einen Sitzplatz ergattert zu haben, saß ich nicht zufällig hinter ihr. Leider konnte ich ihre brau­nen Locken nur von hinten betrachten, lieber hätte ich direkt in ihre hübschen Kullerau­gen geschaut. Dies tat der Kommilitone Steinhoff, der obendrein ein Fisherman’s angebo­ten bekam. Mir schenkte sie ihr Lächeln, man hatte sich ja lange nicht mehr gese­hen.

Nun folgte eine höhepunktlose Stunde. Außer mehrfacher Aufforderung aus der Reihe vor mir, mich nicht zu laut mit meinem Nachbarn zu unterhalten, dem ich in meinen er­sten acht Semestern nie zuvor begegnet war (jedenfalls dachte ich das - Stichwort: Mas­sen­uni, An­onymität, Entfremdung...), passierte eine Sache, die mich äußerst skeptisch wer­den ließ. Meine beiden Kritiker auf den Plätzen vor mir tauschten rege bisher kopier­tes und vorbereitetes Material bezüglich des Examens aus. Meine Nachdenklichkeit er­klärte sich daraus, dass ich weder genau wusste, welche offensichtlich hochwichtigen Un­terlagen das waren, geschweige denn, dass ich selbst irgendwelche eigenen zusammen­ge­tragen hatte. Mein dato vorhandener An­stand verbot mir außerdem, mich näher kun­dig zu machen. Der eigentümliche Klang der eben erhaltenen Tadel war allzu präsent.

So kam in mir die bange Frage auf, ob ich denn eine Chance hätte, das große Finale zu schaffen. Man hörte soviel von Leuten, die trotz größter Bemü­hun­gen den Anforde­rungen nicht gewachsen waren. Von fünf überdimensionalen Klau­suren wurde berichtet. Diese waren nur über zwei Termine ver­teilt zu bezwingen (außer natürlich für Genies). Die vielen Nichtbezwinger der ersten Runde hatten eine Strafrunde in Form mündlicher Ergänzungsprüfungen zu absolvieren. Was sollte dabei aus je­mandem wie mir werden, der es nicht einmal nötig hatte, sich in seinen Semesterferien vorzu­berei­ten? - Angst kam in mir hoch. Allerdings nur für kurze Zeit, da der vorne stehende, im Laufe der Zeit et­was grauhaarig gewordene Entertainer das Einsehen hatte und seine vermutlich die Wis­senschaft revolutionierenden Ausführungen beendete, die mir wieder ­mal fremd geblieben waren.

Auf jeden Fall hatte ich nun wichtigere Dinge zu tun als mir Sorgen über weit in der Ferne liegende Prüfungen zu machen. Einmal war da der mir im Moment recht ange­neh­me Kommilitone Christoph Mattern aus der Weite des Hörsaales erschienen, mit dem ein Smalltalk zu halten war. Ich spekulierte nämlich auf dessen Kooperationsbereitschaft bei weite­ren Examensangelegenheiten. Zum anderen hielt ich es für notwendig, nach einer gewissen Anja Ausschau zu halten, die ich einige Tage vorher auf einem Sektemp­fang ken­nengelernt hatte und von der ich lediglich wusste, außer dass sie sehr hübsch war, dass sie sich in ihrem Wagemut ebenfalls im Schlussakt befand. Leider war keine Anja auszu­ma­chen, dafür mit Christoph eine Tasse Kaffee bei Bölling zu trinken, dem monopo­listi­schen Bäcker vor unserem Hörsaalgebäude. Im Mittelpunkt des Kaffeeklatsches standen die unwesentlicheren Geschehnisse der letzten Wochen, deren Pseudowichtigkeit so wichtig war, dass sie erneute Verspätung im nächsten Seminar legitimierte.

So begab es sich, dass der begehrte Platz neben Michaela Assmann wieder belegt war. Zwischen ihr und mir machte sich eine Bettina breit, die ich nur mit Vornamen kannte. Diese war recht klein, hatte kurze, rote Haare und richtig blaue Augen, und ihr Gesicht war mit den typischen Sommersprossen überzogen. Eigentlich sah sie recht knuffelig aus, war mir aber vorher nie sonderlich aufgefallen, weil sie ebenso unscheinbar wie klein war. Zu meiner Überra­schung drückte sie mir, den sie für eine Arbeitsgemeinschaft aus­erkoren hatte, eine rosa Karteikarte mit ihrer Adresse in die Hand. Ich hatte auf eine Zu­sammenarbeit mit Michaela ge­hofft, musste jedoch vernehmen, dass sie das betreffende Fach (öffentliche Verwaltung, abgekürzt ÖV) erst im Sommersemester schreiben wollte. So beugte ich mich meinem Schick­sal und wil­ligte in eine Zusammenarbeit mit Bettina Claas ein, wie mir die eben erhaltene Karte verriet.

Zum Seminar war zu sagen, dass ein gewisser Dr. Fecht die Leitung innehatte. Ge­rüchten zu Folge handelte es sich bei diesem um einen der viel­verspre­chendsten Mitarbei­ter des Lehrstuhles für Verkehrswissenschaften, wenn nicht der ge­samten Fakultät. Von seinem Charme, jedenfalls wie er ihn im besagten Seminar darbot, war leider nicht auf diese fachlichen Qualitäten zu schließen. Unter herablassenden Bemer­kungen über Wis­sensstand, Motivation und allerlei mehr der Studentenschaft wurden Gruppen für die Bearbeitung einzelner Fallstudien formiert. Es war zu erfahren: "Wer sich nicht bereit erklärt, hier mitzuarbeiten, hat nichts in diesem Seminar verloren und eigentlich auch nichts im Examen."

...und eigentlich nichts an der Universität, welch Wunder, dass ein solcher überhaupt die Anmeldung geschafft hatte! Die Würfel warfen mich glücklicherweise mit Christoph Mattern und Volker Steinhoff zusammen. Anschließend bekamen wir einen weiteren Mitstreiter, Martin Haim, der, wie Volker, im ersten Termin steckte. Zu unserer faszinie­renden Aufgabe wurde es, sich in den nächsten Wochen mit den evolutionistischen Ver­fassungstheorien der bei­den No­belpreisträger van Hayek und Buchanan auseinanderzu­setzen. Immer wieder was Neues!

Alles in allem war somit dieser Tag vom studentischen Standpunkt her er­folg­reich geworden. Ohne eigenes Engagement zu entwickeln, war ich in zwei Arbeitsge­mein­schaften gerutscht. Darüber hinaus war es mir gelungen, zwei von fünf der rele­van­ten Li­tera­turlisten meiner drei zu schreibenden Klausuren in die Hände zu bekom­men. Diese Er­folge waren Grund genug, mir zu erlauben, ein weiteres Mal bei Bölling einzu­kehren, wobei diesmal der Kaffee gegen ein Bier getauscht wurde. Der Nachmittag war ja schon weit fortgeschritten.

Gut gestärkt, wesentlich entspannter als am Vormittag und einigermaßen gelaunt, mach­te ich mich auf den verdienten Heimweg. Nach einer fast halbstündigen Busfahrt stand ich vor meinem trauten Heim in Münster Gievenbeck, das von seiner Größe her durchaus mit einer Burg hätte mithal­ten können, vom Baustil allerdings eher mit der so­zialistischen Platten­bauweise konkurrierte. Es war eben ein Wohnheim für gemeine Stu­denten, in dem ich meine letzten beiden Semester zwangsweise verbringen musste.

Im Foyer des Palais öffnete ich meinen Briefkasten, einen von weit über Hunderten, in dem mich ausnahmsweise beide meiner zwei Zeitungen anlächelten. Weiter erfreute mich der Anblick meiner zartgrauen Telefonrechnung. Mit der Post bewaffnet, nahm ich den Anstieg zum fünften Stock in Angriff. Wegen meiner klaustrophilien Bedenken und mei­ner Gesundheit, die ich entsprechend Churchills Motto "no sports" pflegte, hatte ich es mir abge­wöhnt, den sich nicht mehr im jugendlichen Alter präsentierenden Aufzug zu be­nutzen. Das grün und orange gestrichene Dekor des Treppenhauses erinnerte mich etwas an ein Kran­kenhaus, und in der Tat fühlte ich mich nach dessen Benutzung meistens ziemlich niederge­schlagen. Ich war immer froh, in dem anzukommen, was ich mein Ap­par­tement nannte.

Von diesem trennte mich nach geglücktem Aufstieg ein Flur mit et­wa 20 Türen, de­ren farbliches Design sich dem Grün und Orange des Treppenhau­ses anglich. Zu meiner Lin­ken wohnte dort eine Silke, die ich innerhalb eines halben Jahres ein einziges Mal ge­se­hen hatte, und zwar im Nachthemd. Meine Schrittgeräusche hatte sie wohl mit denen ihres Freundes verwechselt, der mit einer Brötchentüte in der Hand einige Meter hinter mir war. Einfach reizvoll, wie sie mir etwas verlegen die Tür öffnete! Ihr gegenüber wohnte Miriam, besser Miri, ein bezauberndes Mädchen mit langen roten Haaren. Philo­so­phiestudentin, außerdem Germanistik und einiges mehr. Nebenbei spielte sie am Thea­ter, was mich besonders an ihr faszinierte. Neben ihr, mir direkt gegenüber, war Nikos Ap­par­tement. Er hatte geschafft, was mir unmittelbar bevorstand, das Examen in unse­rem Fachbereich. Zwar nur als BWLer, aber immerhin. Leider hatte ihm das ganze bis auf ein nach zwei Monaten abgebrochenes Traineeprogramm nichts eingebracht. Mit meinen rechts­seitigen Nachbarn hatte ich bescheiden wenig zu tun. Neben mir, wusste ich, lebte eine angehende Zahnmedizinerin, braune Haare und meistens attraktiv geklei­det, ob ihr gegenüber überhaupt jemand wohnte, war mir nicht bekannt.

In meinen fast 15 Quadratmeter großen vier Wänden angekommen, fühlte ich mich richtig zu Hause. Ich zwängte mich zwischen meiner Kücheneinrichtung und meinem Einbauschrank hindurch, schob mich an der Tür zu meiner Nasszelle vorbei, die die Mehrzahl meiner Besu­cher für eine Schiffstoilette hielten, und stand im Zentrum meines Reiches. Hier war ich umzingelt von einer Regalwand, auf der die Unmengen meiner Bü­cher lasteten, von zwei Schreibtischen, wie sie in der Inventarli­ste hießen, und meinem prit­schenähnlichen Bett, um das mich wahrscheinlich je­der Häftling beneidet hätte. Wei­tere essentielle Einrichtungsgegenstände waren mein Telefon, mein Fernseher und meine Hausbar.

Ich entledigte mich meiner Post, tätigte den obligatorischen Blick in dem Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen und überflog die Titelseite der münsterschen Lokalzei­tung. Mir wurde dabei klar, dass ich ein weiteres Bier brauchte, um heute überhaupt weiteres tun zu können. Im Kühlschrank standen drei Krombacher griffbereit, von denen eine nun geköpft wurde. Gleich ging es mir besser, und ich begann, die Mitbringsel des Tages aus meiner Ta­sche zu ziehen. Da war die Visitenkarte dieser Betti, die ich erst einmal beiseite legte, ferner waren da meine beiden Literaturlisten, die es als nächstes zu studieren galt. Es handelte sich um die allgemeine Volkswirtschaftslehre (AVWL) und die Wirtschafts- und Finanzpolitik (Wifipo).

Vor mir befand sich ein enzyklopädisches Sammelsurium von Fachaufsätzen und Lehrbü­chern zu diesen Themen, grob geschätzt jeweils 600 bis 800 Seiten geballtes Fachwissen, wo­von der Strebsame keine einzige auszulassen hatte. Das bewährte Er­folgskonzept in unse­rem Fach bestand nämlich in der Kunst, möglichst viel des angege­benen Repertoires auswen­dig zu ­lernen, denn das erhöhte die Wahrscheinlichkeit, auf nicht antizipierte Fragen eine Antwort zu finden. Das Fatale war, dass unser Jahrgang als erster in den Genuss einer ge­än­derten Prü­fungsordnung gelangte. Zu jedem dieser beiden Prüfungsfächer gehörten ab uns zwei Prüfer, denen es unmöglich war, sich auf eine ge­meinsame Literaturabgrenzung zu eini­gen, was bedeu­tete, dass sich die 1200 bis 1600 Seiten verdoppeln würden. Dagegen er­schienen mir die drohenden 800 Seiten ÖV fast lächerlich.

Die Lage war ernst, aber natürlich nicht hoffnungslos. Im Sommer war mir immerhin die Lösung von zwei Klausuren gelungen, deren Ausgang mir allerdings momentan unbe­kannt war, da im Prüfungsamt die Sitte herrschte, sich auf die Verkündung von Gesamt­ergeb­nissen zu beschränken. Hier fiel mir ein, dass übermorgen die Note meiner Diplom­hausarbeit ausgehängt wurde, von der ich bisher nur sicher wusste, bestanden zu haben, da man mir sonst die Anmeldung zu den Klausuren verweigert hätte.

Ich beschloss, Christoph Mattern zwecks Vergleichs der Semesteranfangsimpressionen anzu­ru­fen. Eventuell hatte er ja Lust auf ein (weiteres) Bier. Zu meiner Überraschung melde­te sich etwas schüchtern eine Andrea Reimann auf schwäbisch. Mir wurde mitge­teilt, dass Herr Mattern an der Uni sei und bis spät abends in der Bibliothek zu tun habe. Ich sagte: "Danke", und legte auf. Mein plötzlich ganz schlechtes Gewissen wurde von der Neugier verdrängt, mit wem ich da gerade gesprochen hatte. Ich erinnerte mich dun­kel an Christophs alte Freundin, mit der er vor zwei Monaten in Münster zu­sam­men­lebte. Zwei Monate waren natürlich eine lange Zeit, und am Nachmittag bei Bölling war merk­würdigerweise das Thema "Frauen" ausgelassen worden, was meine Spekulations­lust enorm anregte.

Trotz aller Ablenkungen meldete sich in mir mein Pflichtbewusstsein, und ich machte mich daran, mein weiteres Vorgehen strategisch zu planen: Morgen würde ich die feh­lenden Literaturlisten inklusive der darauf stehenden Werke beschaffen. Mehr konnte ich heute beim besten Willen nicht tun. Also stellte ich meinen Fernseher an und ließ den Abend mit "heute", den "Tagesthemen" und den Klängen von MTV ausklingen.

Dabei lag ich auf meiner Pritsche und resümierte die letzten Tage und Wochen. Meine Ge­dan­ken wanderten nach Budapest, zu Tatja, der zierlichen Bedienung der Interdisco "Halligalli", in der ich mich von einem anstrengenden Urlaubstag erholte. Tatja versorgte mich über einen Abend mit Getränken. Nach drei, viel­leicht auch erst nach vier Stunden ließ sie sich das erste ausgeben, einen mittel­großen Pina colada für 17 500 Forint (ungefähr 20 DM). Danach wurde sie richtig nett, wo­gegen ich nichts einzuwenden hatte, weil ich sie äußerst anziehend fand. Ihr kleiner Busen erschien durch ihr schwarzes Bustier wesentlich größer. Besonders stimulierend fand ich ihren Kugelschrei­ber, den sie dort jedes Mal hineinschob, wenn sie et­was aufgeschrieben hatte. Zwischen ihrem Oberteil und ihrer Radlerhose, ein Stück ihrer bronzenen Haut und ihr Nabel, ir­gendwo darüber ein breiter weißer Gürtel, der neon­farben im Scheinwerferlicht leuch­tete.

Drei Stunden später saßen wir nebeneinander im Taxi. Vorher hatte ich fast eine halbe Stunde draußen gewartet, bis sie ihre Bar aufgeräumt hatte. Als letzter wollte ich nicht gehen, weil mir das zu auffällig war. Bis wir in meiner abgelegenen Pension ankamen, war es fast hell. Bis dahin wusste ich, dass sie einen schwarzen Slip trug und ohne BH war. Ihr Haar duftete angenehm nach Lavendel und ihre Haut nach einem mir unbekannten, aber dafür sehr erotischen Parfüm. An das, was danach passierte, konnte ich mich kaum erin­nern, auf jeden Fall bin ich verhältnismäßig schnell eingeschlafen. Wenigstens wachte ich mittags nicht alleine auf. Der Mensch, der uns weckte, weil mein Auto angeblich in der Einfahrt im Weg stand, schien sich sehr zu amüsieren, was mir aufgrund meiner Kopf­schmerzen ziemlich egal war. Unser erstes und letztes gemeinsames Frühstück servierte mein Wirt ausnahmsweise nach 12 Uhr. Er war schließlich auch mal jung, meinte er. Da­nach fuhr ich Tatja in die Stadt. Urplötzlich wollte sie irgendwo im Nirgendwo ausstei­gen. Ich habe sie nie wieder gesehen, nicht einmal unsere Adressen hatten wir getauscht.

Zwei Tage zuvor war ich in Prag gewesen. Fast wäre ich meinem Prinzip untreu ge­worden, mich nicht mit einer Prostituierten einzulassen. Das langhaarige, blonde Mäd­chen saß auf ei­ner der Bänke am Wenzelsplatz, ungefähr gegenüber der Gedenkstätte des Prager Frühlings, wo nach wie vor frische Blumen niedergelegt werden. Mir kam es vor, als ob mich eine Kommilito­nin anspräche, so natürlich fragte sie das Unnatürliche: "Kommst du aus Deutschland? Bist du alleine? Willst du mit mir mitkommen?" Ich wollte schon, denn ich war in der Tat alleine, tat es aber trotzdem nicht.

Dies alles kam mir nicht aus dem Sinn.

Das war im August. Eine Woche Kurzurlaub im wilden Osteuropa. Natür­lich ohne Begleitung, da Intellektuelle alleine reisen. Nachmittags Kultur, abends, besser nachts, Neon- und Rotlicht.

Danach Arbeit bei meiner Autovermietung, da das Abenteuer ein ordentliches Loch in mein schmales Budget gerissen hatte.

Letzte Woche diese schwarzhaarige Anja Steinbach auf dem Kongress des Vereins für Social­politik. Das Zeremoniell wurde dieses Jahr in Münster abgehalten, und der ehren­volle Organi­sator war unser Institut für Finanzwissenschaften, das u. a. für mein Schwer­punktfach ÖV verantwortlich war. (Meine Diplomarbeit schlummerte im Moment auch dort.) Anja, einige andere und ich waren so eifrig und engagiert, freiwillig diese Veran­staltung zu un­ter­stützen. Als am zweiten Abend alles vorbei war und wir fleißigen Helfer uns über den üb­riggebliebenen Sekt hermachten, fiel mir Anja als sympathische Ge­sprächspartnerin auf. Lei­der verabschiedete sie sich zu schnell, und jetzt fragte ich mich, warum sie heute nicht an der Uni gewesen war.

Bisher hatte ich mein loses Studentenleben genossen, doch in letzter Zeit kam in mir vermehrt die Assoziation der Annehmlichkeit eines geregelten Lebens empor. Warum nicht auch mal eine längere Beziehung? Schließlich wird der Mensch nicht jünger. Und dann die Nachexamenszeit. Bei einem Diplom-Volkswirt sollte das Privatleben geordnet sein. So nahm ich mir als letztes an diesem Tag vor, verstärkt nach einer adäquaten Part­nerin Aus­schau zu halten.

Gewöhnlich weckten mich die Sonnenstrahlen, heute weckte mich das Telefon. Ein geziel­ter Blick durch den Nebel vor meinen Augen Richtung Wecker verriet mir, dass es 7.38 Uhr war. Für einen Studenten eine denkbar undankbare Zeit, für meinen Arbeitge­ber die achte Dienstminute. Grund genug, das lästige Geräusch aus der Gegend meines Telefons zu ignorie­ren. Dieses war aber nicht ignorierbar, jedenfalls nicht nach der 14. Wiederholung. Mögli­cherweise etwas Wichtiges: "Hoffentlich ist niemand gestorben", dachte ich und nahm ab.

"Bist ja doch zu Hause, warst bestimmt noch am schlafen, deshalb habe ich auch so­lange schellen lassen", meldete sich Paule, der Disponent meiner Autovermietung.

"Ich bin gerade vom Bäcker reingekommen und hab im Flur das Schellen gehört. Eben noch rechtzeitig dran gewesen. Was kann ich denn für euch tun?"

"Zeit?"

Literaturlisten, Bibliotheken, Copyshops, Übungsaufgaben, Arbeitsgemeinschaften und die guten Vorsätze vom Vortag dominierten die Koordination meiner Gedanken. Ich hatte keine Zeit, ich musste zur Uni.

Leider sagte man mir des Öfteren (und dieses nicht immer ohne Grund), dass ich nicht "nein" sagen könne. Ich konnte aber doch, und das würde ich jetzt beweisen.

"Um was geht es denn?" fragte ich lediglich aus Neugier.

"Der 55er muss heute nach Leipzig. Wenn du in einer halben Stunde da bist, ist das deine Tour."

Ich konnte doch nicht "nein" sagen. Die Nummer 55 war nämlich die firmeninterne Be­zeichnung für den Mercedes 300 SEL, und eine Fahrt nach Leipzig würde bei der vor­aussicht­lich etwas kürzeren Fahrtdauer eine nette Pauschale einbringen.

"Ok! Ich bin in 25 Minuten da."

Dank meines Renault 5 Alpine Turbos, dem etwas studentenuntypischen Fahrzeu­ges, das mir sehr ans Herz gewachsen war, befand ich mich nach einer Viertelstunde vor Ort. Vergessen waren die Literaturlisten und anderen Lästigkeiten. Paule, der ei­gentlich Paul Brinkkötter hieß, drückte mir meinen Fahrauftrag und die Wagenschlüssel in die Hand. Da­zu die Bemerkung, mich beeilen zu müssen, da die Herrschaften in Leipzig das gute Stück bis 14.00 Uhr benötigten.

Ich hatte weder eine konkrete Vorstellung von der mich von der dortigen Station tren­nenden Entfernung, geschweige denn, dass ich wusste, auf optimalem Wege dahin zu ge­langen. Zweiteres ließ sich schnell durch die firmeneigene Deutschlandkarte klären, auf der sämtliche Autobahnen und Bundesstraßen eingezeichnet sind. Das erste Pro­blem blieb Problem, insofern ich erfuhr, dass meine Rückreise mit einem 7,5 Tonner stattfinden würde und zwischen Abfahrt und Ankunft fast 1000 km lagen. Ich erinnerte mich daran, am Abend bei Esther auf ihrer Geburtstagsparty eingeladen zu sein.

Also Grund, sich zu beeilen. Ich verzichtete, die an einen Zahnarztstuhl erin­nernde elektronische Sitzeinstellung auszuschöpfen und fuhr los, obwohl die Kopf­stütze in ei­nem relativ unbequemen Winkel stand. Nach zweimaligem Abbiegen befand ich mich auf der A 43, von der ich nach vier Kilometern am Kreuz Münster Süd auf die A 1 wech­selte. Meine 148 kW nützten mir bis zum Kreuz Dortmund/Unna genauso wenig wie mein linker Blinker und die Lichthupe, über 170 stieg die Tachonadel nicht. Zeit für Esther und das Autote­lefon, das ich unter der mit Wurzelholz verzierten Mittelkonsole fand und norma­lerweise wegen der Kundenabrechnung gar nicht benutzen sollte. Ich wählte ihre Num­mer und wartete. Sie nahm tatsächlich ab, obwohl es erst viertel nach acht war. Sie kam gerade aus der Dusche, war nur mit einem Handtuch bekleidet und hatte tropfnasses Haar, was ich gerne selbst gesehen hätte.

Vorsichtshalber entschuldigte ich mich für mein vermutlich späteres Eintreffen am Abend. Ich sei beruflich unterwegs und hätte keine Ahnung, wie lange das dauerte. Ich käme auf jeden Fall vorbei.

Außerdem fiel mir ein, Harald Köhler absagen zu müssen, der bei mir im Nachbar­wohn­heim wohnte und mit mir mitfahren wollte. Ich fragte, ob sie so lieb sei, mir das ab­zunehmen, da ich im Dienstwagen säße, weder seine Nummer auswendig wüsste, noch Zettel und Stift in greifbarer Nähe wären, und ich das Telefon normal von Rechts wegen her gar nicht privat benutzen dürfte.

Sie grunzte.

Ich sagte: "Danke, bis nachher", und legte auf.

Esther konnte ich gut leiden, obwohl sie mich überall als ihren Cousin vorstellte, ohne in Wirklichkeit meine Cousine zu sein. Mein Onkel hatte sie vor etlichen Jahren adop­tiert. Sie studierte BWL und steckte in der Vorbereitung ihrer mündlichen Prüfungen. Ich fand es verwunderlich, dass sie dabei Zeit fand, ihren Geburtstag zu feiern.

Harri war VWLer, und im Sommer hatten wir uns bei meinen ersten bzw. seinen letzten Klausuren ergänzt. Über mir nie vollkommen klar gewordene Kanäle war er mit Es­ther gut bekannt. Anfangs, bis er seine Corinna kennengelernt hatte, hatte ich sogar den Ein­druck, dass er gerne noch näher mit ihr bekannt gewesen wäre.

Mittlerweile war ich auf der A 44, die aufgrund des geringeren Verkehrsauf­kommens eine brauchbare Geschwindigkeit erlaubte. Kurz nach Unna durchbrach ich die 200-Mauer und flog, auf meine Ledergarnitur gepresst, an den Orten vorbei, die mir aus mei­ner Kindheit vertraut waren. Kurz hinter Soest, an der Auffahrt Geseke, wollte eine nicht mehr allzu junge Golffahrerin so nett sein und den Einbiegern ein leichtes Einfädeln er­mögli­chen, weshalb sie auf die Überholspur wechselte. Leider übersah sie mich dabei. Das war sehr schade, weil ich mich gerade über die Erreichung der vermeintlichen Höchstgeschwindig­keit von 245 km/h freute und diese Freude einige Zeit genießen wollte. Stattdessen wurde ich einem massiven Reaktionstest unterzogen. Dafür erlebten die unblockierbaren Bremssysteme meines Stuttgarters Raumschiffes ihre Sternstunde. Die Trägheit der Masse besorgte, dass die Schnauze meines Fahrzeuges sich ruckartig soweit nach unten neigte, dass ich dachte, das auf dem Kühler thronende Firmenemblem würde sich mit dem As­phalt vereinigen. Ich erahnte das Geräusch von aufeinanderpral­lenden Blechen und sah einen Luftballon zwischen mir und Lenkrad sich aufpusten. Mein Blick huschte nach rechts. Dort war alles frei. Ich ließ das Bremspedal los und zog das Lenkrad so gefühl­voll wie möglich herüber. Jetzt fingen die Reifen doch an zu quiet­schen, und ich fühlte mich in meinem Polstersessel auf einmal sehr unwohl. Sofort lenkte ich wieder gegen und blieb, derbe schaukelnd, geradeaus fahrend auf der rechten Spur. Hier erlaubte ich mir, die Golffahrerin mit einem nicht ganz freundlichen Seitenblick zu überholen.

Nach diesem Zwischenfall ging es wieder auf der Überholspur weiter. Als Vorsichts­maß­nahme schaltete ich die Scheinwerfer ein. Mit meinen eineinhalb Stunden bis zum Kasseler Kreuz war ich zufrieden. Danach genoss ich auf der meiner Meinung nach zu kurvenreichen A 7 das reizvolle hessische Bergland. Die mich direkt in den anderen Teil Deutschlands führende A 4 war eine für meine Nobelkarosse weniger geeignete, vorsint­flutliche Schlaglochstrecke. Auf den schmalen Spuren bekam ich regelrecht Platzangst.

Am Rasthof Herleshausen entschied ich mich für einen Boxenstop. Sicherheitshal­ber tankte ich 79 Liter nach, um nicht kurz vor Leipzig ein weiteres Mal pausieren zu müs­sen. Nach 362 km war mein Tank wieder voll. Außerdem hielt ich es für notwendig, an diesem Tag mit der Nahrungsaufnahme zu beginnen.

Das nach einem leichten Druck auf den Schlüssel rot leuchtende Lämpchen an der Türver­riegelung verriet mir, dass ein Öffnen für Unbefugte während meiner Brotzeit nicht möglich war. Schlösser, in die man Schlüssel steckte, waren ja mehr etwas für Mittel­klassewa­gen.

Als ich nach keinen 15 Minuten wieder kam, wartete ein in einer unmöglichen Farb­kombination gekleidetes Subjekt mit Dreitagebart auf mich. In einem fremdartigen Ak­zent (angeblich holländisch, meines Eindruckes nach mehr osteuropäisch) versuchte er mir ver­ständlich zu machen, dass ihn interessiere, ob es sich bei dem Mercedes um mei­nen handelte. Da die grünweiße Wagenmappe mit fett gedruckter Firmenbezeichnung auf dem Beifahrersitz lag, war es für einen Menschen mit einem Hauch von analytischem Denkvermögen nicht schwer zu erraten, dass es sich um einen Mietwagen handelte. Ich war mir zwar nicht sicher, ob mein Gegenüber diesen Rückschluss gezogen hatte, wollte ihn jedoch nicht unterschätzen. "Jedenfalls bin ich im Besitz des Schlüssels", antwortete ich überlegend grinsend.

Der bunt gekleidete Vogel machte mir darauf ein einmaliges An­gebot. Ich sei der Auserwählte für den Kauf eines echten Silberbesteckes, von allerhöchster Qualität, bei dem es sich sogar um ein Erbstück handele. Ich müsse lediglich eben zu seinem LKW mitkommen.

Mein Kopf verspürte wenig Lust auf Kontakte mit Wagenhebern oder ähnlichen In­strumen­ten, außerdem durchbohrte mich Paules strafender Blick beim Ausfüllen einer Dieb­stahlmeldung.

"Ich bin nicht allzu kultiviert und esse gewöhnlich mit den Fingern", tat ich ihm kund. Dabei öffnete ich unbemerkt mit meinem Zauberschlüssel aus der Tasche heraus die Tür.

Als nächstes schob ich den etwas irritierten Menschen mit einem sanften Stoß beiseite. Bevor der Clown eine Reaktion zeigte, die über ein dümmeres Gesicht als bisher zu zie­hen nicht hinaus kam, trennte uns eine verriegelte Tür. Ich ließ den Motor starten, hob meine Hand zum Abschiedsgruß und beeilte mich, den Ort dieses Geschehens zu verlas­sen.

Gegen halb eins passierte ich das Leipziger Ortsschild. Unser Stationsver­zeichnis wies mich zum Übergabepunkt in die Bahnhofsgegend. Der Wagentausch sollte reine Formsa­che sein. Doch diesmal war ich viel zu spät. Der Kunde hatte laut Leipzig zu 13.00 Uhr reserviert. Paule war also ein Schwätzer, und viel schlimmer, die Wagenwäsche war nun unmöglich, aber woanders gab es so schnell keine S-Klasse, also egal.

Ich gönnte mir eine Mittagspause. Für Esther besorgte ich ein mit einer gel­ben Lilie verziertes Fläschchen Chanel No. 5. Darauf bestieg ich meinen nächsten guten Stern, der mit glatten 7,5 Tonnen wesentlich größer als der erste war. Ich legte eine Tachoscheibe ein und er­rechnete durch Division von 500 km durch 80 km/h, dass ich in 6,25 Stunden in Münster sein müsste. Also konnte ich Harri mitnehmen.

Nach einer Orientierung auf meiner Karte mit den Autobahnen und Bundesstraßen entschloss ich mich, den Weg über Hannover auszuprobieren. Dieser schien kürzer zu sein. Den Umstand, dass zwischen Halle und Magdeburg (fast 100 km) eine einfache, re­lativ dicke Linie mit der Bezeichnung B 71 eingezeichnet war, nahm ich gelas­sen hin. Gesetzliche Bestimmungen fixierten mich sowieso auf eine Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h.

Nach dem dritten Hinweisschild mit dem Text "Umleitung" wurde mir klar, dass ich eine Fehlentscheidung getroffen hatte. Ich lernte idyllische Dörfer mit Kopfstein gepfla­sterten Straßen kennen, in denen ich mir gut Meister Lempel als Dorfschullehrer und die Witwe Bolte mit ihren Hühnern vorstellen konnte. Leider begegneten mir fortlaufend postsozialistische Erntefahrzeuge, bei denen ich mich des Verdachtes nicht erwehren konnte, dass diese meine rasche Heimkehr sabotieren wollten. Recht schnell bildeten wir, ein Tanklastzug aus Ham­burg, ein Kleintransporter aus Halle und ein Schwertransporter aus Irgendwo, der die unüber­holbare Spitze innehatte, eine Kolonne, die nach geschlage­nen drei Stunden Magdeburg er­reichte. Als ich den blauen Pfeil mit der Aufschrift Han­nover an der Auffahrt zur A 2 sah, dachte ich zu wissen, was Columbus auf der Santa Maria 1492 empfand, als der wachhabende Matrose rief: "Land in Sicht."

Um viertel nach neun geschah das Unfassbare. Ich kam in Münster an. Auf meinen Fahrauftrag schrieb ich 0.15 und beeilte mich, mit meinem Turbo-Fahrzeug nach Hause zu kommen. Blitzartig verwandelte ich mich in einen dynamisch gestylten Repräsentanten der Fachschaft Wirtschaft, den es auf die Geburtstagsparty seiner Cousine zog.

Die elitäre Runde aus überwiegend angehenden oder seit kurzem diesen Titel füh­ren­den Diplom-Kaufmännern und Frauen hatte bereits ohne mich ihren Lauf genommen und hätte das auch problemlos weiter tun können.

Esther freute sich, dass ich es ge­schafft hatte, ich freute mich, dass ich nicht vergessen hatte, ein Geschenk mitzubringen, und Harald nörgelte, mit Corinna in seinen Armen, dass er seine Anreise von dem einen zum anderen Ende der Stadt selbständig managen musste. An meinen Vorsatz vom Vortag mich erinnernd (den mit der adäquaten Partne­rin), schaute ich mich um. Pech gehabt. Die meinen op­tischen Präferenzen genügenden Da­men hatten alle jemanden gefunden, zumindest für diesen Abend. Also beschäftigte ich mich primär mit den alkoholischen Getränken. Eine frischgebackene Unternehmensbera­terin mit über 80 Bewerbungen klärte mich über die Hoffnungslosigkeit des Arbeitsmark­tes und die Ver­zwicktheit der ersten Woche im Unternehmen auf. Leider entsprach sie nicht meinen Präferenzen.

Nachdem sich die Dauer meines Aufenthaltes auf über vier Stunden ausgedehnt hatte und die Palette der Getränke durchprobiert war, überfiel mich eine Welle der Müdigkeit. Ich wollte nach Hause. Mich außerstande sehend, mein eigenes Fahrzeug zu lenken, über­zeugte ich Harald davon, mich mitzunehmen. Er hatte sich ja extra ein Auto gelie­hen.

Irgendwann zwischen drei und vier Uhr erreichte ich schließlich mein Bett.

Dieses war der erste Vorbereitungstag meiner zweiten Examenshälfte.

Am nächsten Morgen weckten mich die Sonnenstrahlen, allerdings nicht die ersten. Neben dem grellen Licht beeinflusste die Vorstellung meines bevorstehenden Rendezvous mit der No­tenliste der Diplomarbeiten meine Empfindungen. Das unangenehme Gefühl eines steigenden Adrenalinspiegels überkam mich. Ich hasste Ungewissheit, insbesondere die letz­ten Minuten vor unheimlichen Begegnungen, wie sie mir heute bevorstanden. Glücklicherweise hatte ich wegen des gestrigen Alkohols eine angenehme Nacht gehabt. Jetzt war mir nach neuer Medizin zumute. Um den Zahnpastageschmack loszuwerden, trank ich einen Korn. Eine kalte Dusche regte meinen Kreislauf an. Zehn Minuten später saß ich in der Buslinie 11, in der mir einfiel, dass ich mein Auto, das ich eben gesucht hatte, bei Esther zurückgelassen hatte.

Zwei Stationen später stieg Christoph Mattern hinzu, der ebenfalls in Gievenbeck wohnte. Breit grinsend fragte er, ob ich auch auf dem Weg nach Canossa sei. Ich bot ihm höf­lich an, im Gefolge Heinrich IV. Platz zu nehmen, und wie es sich für echte Büßer gehörte, schwiegen wir uns bis zum Prüfungsamt an.

Vor dem ehemaligen Krankenhaus, das in die Verwaltung der Fachhochschule und in unser Prüfungsamt umfunktioniert worden war, herrschte Aufruhrstimmung. Ein Schild ver­kündete, dass vor 15.00 Uhr nicht mit den Noten zu rechnen sei, weil eine juristisch un­entbehrliche Unterschrift fehlte. Christoph und ich entschieden uns für einen Kaffee bei Bölling.

Die meisten Worte entpuppten sich als Stimmungstöter. Dennoch entlockte ich ihm, dass er im Sommer einige Divergenzen mit Karin hatte, seinem nun ausgetauschten Frau­chen. Die mir vom Telefon bekannte Andrea Reimann aus Reutlingen sei seit längerem bei ihm zu Besuch. Ansonsten saßen wir uns gedankenversunken gegenüber. Eine merk­würdige Atmosphäre. Die mit uns am Tisch sitzenden Noten verschnürten unsere Keh­len.

Wir zogen den Gang unserer eigenen Wege vor, die mich zu mei­nem Auto führten. In tiefer Meditation versunken, durchquerte ich das Juridicum (unser Fach­bereichsgebäude) über den sogenannten Jesuitengang, der mich zum Domplatz führte. Von dort war es nicht mehr weit zu Münsters guter Stube, dem Prinzipalmarkt. Hoch über mir hingen am Turm der Lambertikirche die drei Käfige, in denen 1535 die sterblichen Reste der Wiedertäufer zu Ausstellungsstücken wurden. Die drei hatten damals verloren. - Ich würde heute ge­winnen, dessen war ich mir sicher. In weniger als vier Stunden würde ich sie schwarz auf weiß hinter Glas verschlossen vor mir sehen: Meine Diplomhausarbeitsnote. Es musste sich um eine eins oder zumindest eine zwei handeln. Alles Schlechtere wäre eine bittere Ent­täuschung, genaugenommen ein Ding der Unmöglichkeit.

Mit dieser Gewissheit nahm ich in dem mit schwarzer Hifi-Werbung bemalten Bus Platz. Auf einmal fühlte ich mich mit mei­nem flauen Gefühl in der Magengegend alleinge­lassen. Ich überlegte, wie es wäre, zu zweit, mit jemandem, der einem wirklich etwas be­deutete, am Nachmittag dorthin zu gehen und sich gemeinsam zu freuen.

Am östlichen Stadtrand in Mauritz stieg ich aus.

Für sentimentalen Schwachsinn fehlten mir die Zeit und die Lust. Esther würde mich auf andere Gedanken bringen. Ich beschloss, bei ihr reinzuschauen.

In ihrem Einzimmerappartement, das immerhin einen Balkon hatte, waren die Spuren der Nacht unverwischt. Sie saß mit einem Handtuch um den Kopf in einem Morgenman­tel auf ihrem Schlafsofa. Nasse Strähnen ihrer langen braunen Haare rutschten verein­zelt hervor. In ihrem Ausschnitt, zwischen den Hälften des weißen Frotteemantels, leuchtete ein goldenes Amulett auf ihrer braunen Haut, das an einer bis zwi­schen ihre Brüste rei­chenden Kette hing. In solchen Momenten dachte ich, dass es schade war, dass sie für mich tabu war, obwohl dafür gar kein wirklicher Grund bestand. Vielleicht ver­standen wir uns aber gerade deshalb so gut.

"Ich bin noch nicht zum Aufräumen gekommen", begrüßte sie mich.

"Das sehe ich, macht aber nichts", sagte ich, obwohl ich nicht sicher war, ob das Wort Chaos für den Zustand ihres Zimmers angebracht war.

"Und? Schon beim Prüfungsamt gewesen?"

"Fehlanzeige, erst heute Nachmittag. Es hat sich niemand gefunden, der bereit ist, die Liste zu unterschreiben."

"Schön, dann kannst du mir ja beim Aufräumen helfen", grinste sie herausfordernd.

"Du hast doch bestimmt nicht gefrühstückt, oder?" versuchte ich mich aus der Affäre zu ziehen. "Ich lad dich ein, aber nur für die Mensa, wenn dir das recht ist."

Zum Glück war ihr das recht.

In der Zeit, in der sie sich anzog und ihre Haare fertig machte, opferte ich mich, die gröb­sten Partyreste zu beseitigen. Ich schob das Sofa an den gewohnten Platz und baute in der Spüle einen Turm aus halbgeleerten Flaschen und Gläsern. Dann stand sie vor mir. Ihr kurzer Rock und ihre schwarze Strumpfhose betonten ihre schlanken Beine, darüber ihre Lederjacke, darunter ein weißes T-Shirt, darunter ihr Chanel No. 5, und darunter meine schlechten Phanta­sien. "Wir können", lächelte sie mich an und streifte ihr Haar aus dem Gesicht.

Ich öffnete für sie die Beifahrertür, und sie nahm in meinem Miniaturrennauto Platz. Weil ich wusste, dass sie das nicht mochte, mäßigte ich auf der Fahrt zu meinem Stamm­restaurant am Aasee meine sportliche Fahrweise.

Jedes Mal, wenn ich beim Schalten ihr linkes Knie berührte, schmunzelte sie zu mir her­über: "Fahr nicht so wüst, mit deinem komischen Auto!" und versetzte mir einen sanften Stoß zwischen die Rippen.

Während des Stammessens II erzählte sie von den Schwierigkeiten des Examens: "Wenn überhaupt irgendwo eine gute Note, dann in der Hausarbeit. Hoffentlich hast du gleich Glück!"

Sie hatte ihre Hausarbeit immerhin mit gut bestanden, doch bei den Klausuren war sie vom Pech verfolgt gewesen. Jetzt musste sie in drei Mündliche und war froh, wenn sie durchkam. Mir empfahl sie, als Ziel zu setzen, in keine zu kommen.

Mein unausgesprochenes, schemenhaft operationalisiertes Ziel hieß aller­dings die Ge­samtnote "gut", die ihrer Schilderung nach (und der vieler anderer) nur in der Prü­fungs­ordnung existierte.

"Mal abwarten", kommentierte ich selbstbewusst ihr vermeintliches Geschwafel und bemüh­te mich, das Gespräch auf andere Themen zu lenken.

Später, auf dem Rückweg zum Auto, nahm ich sie tröstend in den Arm, da ich merk­te, dass sie sich doch einige Sorgen machte. "Du schaffst das schon", flü­sterte ich in ihr Ohr und fuhr sie nach Hause, wo ich ihr beim Aufräumen half.

Mir selber hätte ich darauf gerne eine Mütze Schlaf gegönnt, doch in den eigenen vier Wänden störte mich als erstes mein Telefon. Meine Mutter. Sie war natür­lich auf eine Erfolgsmeldung erpicht und fand es extrem unverschämt von unserem Prüfungs­amt, diese nicht vernehmen zu können.

Als nächstes klopfte es. Miriam, meine Nachbarin, stand vor der Tür. Sie brauchte einen Mann, um eine Kiste aus ihrem Auto nach oben zu tragen. Ich brauchte hinterher einen Kaf­fee, weil sie mir wegen meiner Unrasiertheit keinen Dankekuss auf die Wange geben wollte.

Wieder bei mir, war an Schlaf nicht mehr zu denken. Es war bereits nach drei Uhr, und das flaue Gefühl von heute Vormittag um meinen Magen herum nahm über­hand an.

Entschlossen machte ich mich auf den Weg zum Ruhm. Der Lärm meiner 79 kW und der sanfte Druck nach hinten beim Einsetzen des Turboladers halfen mir, diesen Weg zü­gig zu überwinden.

Dann kam der große Moment, auf den ich acht Semester gewartet hatte.

Mit erhöhtem Pulsschlag stand ich vor dem Prüfungsamt, dem Entscheidungsort. Selbstsicher erklomm ich die Stufen des Hauptportals. Drinnen öffnete ich die Glastür zu dem endlos langen Gang durch den linken Seitenflügel, dessen Wände mit Aushängekä­sten tapeziert waren. Am Ende des zweiten Drittels, auf der rechten Seite, versteckte sie sich: Unsere Notenliste. Nach Sekundenbruchteilen standen wir uns Auge in Auge ge­genüber. Der Hauptansturm war abgeklungen. Mein Zeigefinger konnte sich ungestört das Register der dem Tode Geweihten entlang arbeiten. Ungefähr in der Mitte stand mein Name, besser meine Matrikelnummer, inklusive Geburtsdatum, und dahinter, man höre und staune, eine 3,3.

Ich schloss meine Augen. Es wurde still um mich. In meinem Kopf begann es sich zu drehen. Die Zeit schien stehen zu bleiben. Der Mo­ment war wie die Ewigkeit. Ich glaubte, mein Leben flog an mir vorbei. Ich öffnete die Augen und schaute abermals hin. Es änderte sich nichts. Ein Blick in die falsche Reihe war ausgeschlossen. Die 3,3 blieb.

Ich war heilfroh, dass niemand in der Nähe war, den ich kannte. Regungslos zog ich mich zu meinem Auto zurück. Ich war geschlagen. Fünf Minuten wartete ich, danach ging ich erneut hinein. Doch das, was nicht wahr sein durfte, war wahr geworden. Ich hatte verloren. Ich fühlte mich, als ob ich neben die Wiedertäufer an den Kirchturm ge­hängt wer­den sollte.

Mein Nachhauseweg dauerte über eine Stunde. Mein Drehzahl­messer zeigte selten weniger als 4000 an.

Hinterher fiel ich auf mein Bett, in meiner Hand eine Flasche Weinbrand. In der mich umgebenden Dunkelheit die Stimme Humphrey Bogarts: "Es gibt nichts, was ein doppel­ter Bourbon nicht wieder in Ord­nung bringt."

Das würde ich jetzt mit meinem Mariacron ausprobieren und setzte die Flasche an. Das Telefon schellte. Wieder meine Mutter, und wieder nichts mit der Erfolgsmeldung. Sicherheitshalber zog ich den Stecker heraus, um nicht weitere Gratulanten enttäuschen zu müssen. Den nächsten Notentermin würde ich für mich behalten. Ich schaute noch­mals in die Flasche. Danach besann ich mich auf meinen Status, schließlich hatte ich so­eben eine Diplomhausarbeit bestanden. Zwar nur mit mäßiger Note, trotzdem Grund ge­nug, ein Weinglas für den Weinbrand zu nehmen.

Die Idee mit dem Zweierexamen war in die Kategorie "Unmöglichkeiten" gerutscht. Unter expliziter Berücksichtigung des Faktors Glück hatte ich mit guten Ergebnissen in den beiden freiwilligen und befriedigenden in den restlichen Fächern kalkuliert, was ver­rechnet mit meiner heutigen Eins oder Zwei gereicht hätte, mich auf eine Stufe mit Leu­ten zu stellen, deren Namen mit dem Begriff "Genie" in Verbindung gebracht wurde.

Nach dem dritten Glas war mir das alles egal. Meine Gedankenwelt begann sich um wahrhaft abstruse Dinge zu drehen. Als ich das letzte halbvoll gewordene Glas trank (ein wertvolles Viertel landete leider daneben), hatte ich das Bewusstsein, das Unmögliche wahr werden lassen zu können. Darauf schlief ich ein.