Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
New York City, die Stadt die niemals schläft, der Schmelztiegel der Welt, ein Symbol der multikulturellen Vielfalt, Toleranz und des respektvollen Miteinanders. Hier treffen Menschen verschiedenster Herkunft, Rasse oder Religion aufeinander, begegnen sich flüchtig oder immer wieder, bleiben unbemerkt oder hinterlassen tiefe Spuren im Leben des Anderen. Ein Sehnsuchtsort, an dem jeder seinen individuellen Visionen hinterherjagen kann, sei es beruflicher Erfolg, Geld, Macht, Anerkennung, Ruhm oder nur ein bescheidenes Häuschen am Rande der Stadt. So, wie es die Menschen in diesem Roman tun, die es aus diversen Gründen an diesen besonderen Ort verschlagen hat. Sie alle tragen den mehr oder minder schweren Rucksack ihrer Biografie mit sich und suchen den Einstieg in ein besseres Leben. Sie kommen aus allen Teilen der Welt, sind arm oder reich, legal oder illegal, mit besten Absichten auf ihrem Weg Wandelnde oder Verirrte auf dem vermeintlichen Pfad zum Gipfel der Erlösung. Sie alle folgen ihrem ganz persönlichen Traum vom Glück. Am 11. September 2001 wird dieser Traum für sie zum Albtraum, als ein Ereignis unvorstellbaren Ausmaßes ihr aller Leben aus den Fugen geraten lässt. Ihr Schicksal hängt am seidenen Faden, der manchmal reißt und manchmal auf wundersame Weise hält. Wer diesen Tag in New York City überlebt, wird ihn nie mehr vergessen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 375
Veröffentlichungsjahr: 2019
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Viele Menschen behaupten, sie wüssten genau, was sie am 11. September 2001 machten, als sie die Nachricht von den Terroranschlägen in den USA erreichte. Für die meisten blieb es dennoch eine geschichtliche Episode, die sie nur mittelbar tangierte.
Ich lebte an jenem unvergessenen Tag in Manhattan und habe den Schrecken hautnah erlebt, der das gesamte amerikanische Volk erfasste. Zum ersten Mal in der Historie hatten ausländische Kräfte es auf eigenen Grund und Boden angegriffen.
Aber wer waren die Menschen, deren Leben sich an diesem Morgen auf grausame Weise für immer veränderte? Sie kamen aus aller Welt, denn den ‚Amerikaner‘ oder den ‚New Yorker‘ schlechthin gibt es nicht. Sie waren weiß oder braun oder schwarz, sie stammten aus Brooklyn, Queens, New Jersey, Washington, Texas, Missouri, Asien, Europa, Südamerika oder anderen Teilen der Erde. Sie hatten US-amerikanische oder ausländische Pässe, Greencards, Visa oder hielten sich illegal im Land auf. Die meisten verfolgten in New York City ihren ganz persönlichen amerikanischen Traum. Am Terrortag waren sie Passagiere in einem gekaperten Flugzeug, saßen an ihrem Arbeitsplatz oder waren als Touristen im Süden Manhattans unterwegs. Vielleicht gehörten sie aber auch zu denjenigen, die aus purem Zufall nicht an diesen Orten waren, weil das Schicksal es gut mit ihnen meinte. Auch ihr Leben war fortan nicht mehr dasselbe.
Es gibt so viele emotionale Geschichten rund um diesen11. September 2001 wie es Menschen gibt, die von den Ereignissen unmittelbar betroffen waren. Ihnen ist dieses Buch gewidmet, besonders den Bürgern von New York City, die in den folgenden Wochen bewiesen, dass sie in der Krise zusammenstehen, unabhängig von Hautfarbe, Religion oder Herkunft.
‚United We Stand‘ stand auf unzähligen Plakaten. Im Angesicht von blindem Hass, Tod und Zerstörung zuvor unvorstellbaren Ausmaßes ist jeder Mensch für sich allein klein und unbedeutend, nur in der Gemeinschaft ist man stark und unbeugsam.
Die Protagonisten und Geschichten dieses Buches sind rein fiktiv, obwohl nicht ausgeschlossen werden kann, dass manches realen Personen und Gegebenheiten nachempfunden ist, von denen ich in meinen vielen Jahren in New York aus unterschiedlichsten Quellen erfahren habe. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Menschen und realen Ereignissen sind daher mehr oder minder zufällig. Lediglich die Terrorgeschehnisse des 11. Septembers sind unmittelbar öffentlichen Berichten entnommen.
Ich bedanke mich bei meinen Lektorinnen Gisela und Irina für ihr wertvolles Feedback und freue mich, dass auch die anderen Vorableser das Buch als interessant und spannend beschrieben haben. Mir ist bewusst, dass die Vielzahl der Charaktere eine Herausforderung für den geneigten Leser darstellt. Es war mir jedoch wichtig zu zeigen, wie unterschiedlich die Menschen waren, die sich mit einem Mal im Fokus der Weltgeschichte wiederfanden. Daher auch die Kurzbeschreibungen am Anfang des Buches.
Bocholt im August 2019
Mechthilde Böing
Zuschriften bitte an:
Adile, geb. 1952
Sie ist türkisch-britischer Abstammung und arbeitet als Energie-Ingenieurin bei der Firma Enron in Houston. Sie ist die Ex-Ehefrau von Luther und die Mutter von Alex. Mit John steht sie in geschäftlicher Beziehung, aus er sich eine echte Freundschaft entwickelt.
Agustin, geb. 1962
Als illegaler Immigrant aus Honduras hat er es in New York als Kleinunternehmer zu bescheidenem Wohlstand gebracht. Er ist der Schwager von Gustavo.
Ahmed, geb. 1980
Er ist ein junger Mann aus Saudi-Arabien, ein gläubiger Muslim, der die Luftfahrt liebt und davon träumt, einmal selbst ein Flugzeug zu fliegen. Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens weist ihm sein älterer Bruder den Weg.
Alex, geb. 1974
Als Sohn von Adile und Luther hat er es nicht leicht. Er arbeitet als freier Lokalredakteur bei einer New Yorker Tageszeitung und freundet sich mit Susie aus Missouri an. Später findet er in Marie die Liebe seines Lebens.
Anita, geb. 1953
Sie ist die Ehefrau von Luigi und arbeitet als Krankenschwester am New York University Klinikum. Sie ist der ruhende Pol der Familie und das empathische Zentrum, bei dem alle Fäden zusammenlaufen.
Anthony, geb. 1951
Er stammt aus Jamaika und hat es beruflich zu etwas gebracht. Aber die Scheidung von seiner Ex-Frau Gloria hat sein Leben aus der Bahn geworfen. Er ist der Vater von Julian und Marie. In Mallorca verliebt er sich in Iris und holt sie nach New York.
Gloria, geb. 1951
Sie arbeitet als Flugbegleiterin bei United Airlines und hat ihren Ex-Ehemann Anthony erfolgreich an den Rand des Ruins gebracht. Die Beziehung zu ihren Kindern Julian und Marie ist angespannt. Nur ihre Beziehung zu John, bei der Liebe keine Rolle spielt, ist unbeschwert. Ihr homosexueller Kollege Omar ist wie eine gute Freundin.
Gustavo, geb. 1966
Die Flucht vor der Armut in Honduras über die mexikanische Grenze in die USA führt zu einer Tragödie. Trotzdem schafft er es mit Hilfe seines Schwagers Agustin, sich ein neues Leben mit seiner zweiten Frau Olivia aufzubauen. Aber sein Status als illegaler Einwanderer bestimmt das Leben und seine Entscheidungen.
Iris, geb. 1958
Sie stammt aus einem kleinen Ort in Niedersachsen und arbeitet nach einem bewegten jungen Leben als Tourismus-Expertin in Mallorca. Sie ist die beste Freundin von Marlies und die Ex-Geliebte von Luther. Mit Anthony findet sie ihre große Liebe.
John, geb. 1960
Aus eigenen Kräften hat er es als Manager eines Hedgefonds an der Wall Street zum Millionär gebracht. Seine geschäftliche und freundschaftliche Beziehung zu Adile basiert auf einem ungewöhnlichen Start. Er unterhält ein lockeres, privates Verhältnis mit Gloria. Seine Leidenschaft ist das Sammeln indigener Kunst.
Julian, geb. 1973, gest. 1993
Scheidungskind von Anthony und Gloria. Leidet an einer unheilbaren Erbkrankheit. Als Feuerwehrmann in der Ausbildung schaut er zu Luigi auf, den er trotzdem an seinem inneren Konflikt nicht teilnehmen lässt und der seinen Tod bei einem Einsatz nicht abwenden kann.
Luigi, geb. 1950
Ein aufrechter Feuerwehrmann, der immer das Richtige tun möchte. Er ist der Ehemann von Anita und Familienvater dreier Söhne, mit denen er ein arbeitsreiches, aber zufriedenes Leben führt. Er nimmt den jungen Kollegen Julian unter seine Fittiche, kann aber das Unheil nicht verhindern.
Luther, geb. 1951
Drogenliebender Lebemann mit reichen Eltern. Ex-Ehemann von Adile und Vater von Alex. Ex-Geliebter von Iris. Hat sich seit seiner Ausbildung bei Sothebys als Kunstexperte am New Yorker Markt einen Namen gemacht. Mit Manuel geht er eine erfolgreiche geschäftliche Beziehung ein.
Manuel, geb. 1950
Kunsthändler aus Uruguay. Homosexueller Abkömmling einer einflussreichen Familie der Oberschicht. Langjähriger Geliebter von Omar. Trifft mit Luther den richtigen Mann, um aus seiner finanziellen Misere herauszukommen.
Marie, geb. 1977
Sie ist Studentin der Psychologie am Baruch College. Als jüngstes Kind von Anthony und Gloria leidet auch sie unter der Trennung der Eltern und dem frühen Tod ihres Bruders Julian. Wird Freundin und rettender Anker für Alex.
Marlies, geb. 1958
In Frankfurt hat sie es bei einer Bank zur gefragten Firmenkundenbetreuerin gebracht mit einem Auslandsangebot für New York. Ihre beste Freundin Iris ist immer auf ihrer Seite, nicht so ihr Ehemann Klaus. Er drängt sie in die Rolle der Hausfrau und Mutter, die ihre Ambitionen für die Familie hintenanstellt.
Olivia, geb. 1970
Sie ist die zweite Ehefrau Gustavos, mit der er sich ein neues Leben aufbaut. Für Carolina, die Tochter aus Gustavos erster Ehe ist sie eine liebevolle Stiefmutter und bekommt zwei weitere Kinder, die die Familie komplettieren.
Omar, geb. 1963
Als Flugbegleiter bei United Airlines ist er ein Kollege und guter Freund Glorias. Mit Manuel ist er seit vielen Jahren in einer festen, aber offenen Beziehung.
Susie, geb. 1977
Von der Mutter vernachlässigt und seit ihrer Jugend sexuell missbraucht sieht die junge Frau aus einer Kleinstadt in Missouri in Alex ihren Erlöser. Mit ihm geht sie nach New York, um dort ihr Glück zu suchen, das sie zumindest in beruflicher Hinsicht in unerwartetem Ausmaß findet.
Mit zitternden Händen öffnete er den Briefumschlag vom Familiengericht. Seine Zukunft war entschieden worden und er wusste nicht, ob er sie schwarz auf weiß vor sich sehen wollte. Anthony setzte sich an den kleinen Küchentisch in dem alten Haus, das er zusammen mit seinem Freund Ernie gemietet hatte, und begann zu lesen. Der Inhalt der nüchternen Zeilen in typischer Amtssprache ließ seine düstersten Träume wahr werden.
Gloria hatte also vollen Erfolg gehabt. Sie hatte augenscheinlich den besseren Anwalt an ihrer Seite. Der war garantiert von ihrer Mutter bezahlt worden, die sich im Endeffekt hinter ihre Tochter gestellt hatte, obwohl sie es doch gewesen war, die ihr damals so eindringlich zur Heirat mit diesem netten, jungen Jamaikaner geraten hatte. Das Haus und ein Großteil seiner Altersversorgung gingen an seine Ex. Zudem musste er monatlich eine stattliche Summe Unterhalt für seine Kinder zahlen, die bei der Mutter verblieben und die er nur nach Absprache mit ihr alle zwei Wochen sehen durfte. Ihm selbst gestand das Gericht lediglich ein mageres Einkommen zu, das in etwa dem eines Kassierers bei McDonalds entsprach. Sein ziemlich nutzloser Anwalt, angeblich der Beste unter den wenigen, die er sich hatte leisten können, würde sicher nur mit den Achseln zucken und nicht lange mit seiner trotz des katastrophalen Ergebnisses saftigen Rechnung auf sich warten lassen.
Anthony atmete tief durch, schluckte seine Wut so gut es ging herunter und schickte ein Gebet zum Himmel: „Lieber Gott, warum tust du mir das an? Womit habe ich das verdient? Zeig dich, damit ich die Hoffnung nicht völlig verliere, irgendwann wieder auf die Beine zu kommen. Ich vertraue auf dich. Bitte verlass mich nicht!“
Das erste Mal in seinem Leben wusste er nicht mehr weiter. Anthony liebte seine Kinder abgöttisch, hatte im täglichen Leben jahrelang den Löwenanteil der Verantwortung und Arbeit auf sich genommen, und jetzt waren sie Gloria zugesprochen worden, obwohl die beiden dem Gericht erklärt hatten, dass sie lieber beim Vater wohnen wollten. Aber was zählte schon ein in einer Männer-WG lebender, voll berufstätiger Vater im Vergleich zur Hausfrau und Mutter, die den Kindern die gewohnte Umgebung in einem schönen Heim am Rande des Stadtteils Queens bieten konnte. Gloria hatte mächtig auf die Tränendrüsen gedrückt und erklärt, es würde ihr das Mutterherz zerreißen, sollten ihr die Kinder weggenommen werden. Und so war das Urteil für Außenstehende nicht überraschend. Nur ihn kostete es unerträgliche Schmerzen und die finanzielle Sicherheit, die er sich über viele Jahre erarbeitet hatte.
Anthony hatte in seinem Leben schon manche Hürde genommen. Er hatte sich sogar immer als Glückskind gewähnt, das nichts umhaute, selbst als Julian mit einer schweren Krankheit geboren wurde. Aber nun war seine Ehe den Bach runtergegangen und mit ihr die Familie, die er sich schon als junger Mensch so sehr gewünscht hatte. Er hatte nichts dagegen tun können.
Anfang der fünfziger Jahre war er in Montego Bay, einer schönen Küstenstadt im Norden Jamaikas, geboren worden als jüngster Spross einer siebenköpfigen Familie, in der es ihm an Aufmerksamkeit nicht mangelte. Er hatte neben seiner Mutter drei ältere Schwestern, die ihn um die Wette verwöhnten. Er dankte es ihnen mit ausgedehnten Schmusereien und einem sonnigen Gemüt. Ansonsten war er ein echter Junge, der nichts mehr liebte, als draußen mit seinen Freunden zu toben, stundenlang am Strand zu spielen und sich bei Bedarf an den unzähligen exotischen Früchten zu laben, die überall auf der Insel zu finden waren.
Von Ausbeutung und Rassismus hatten die Kinder noch nie gehört. Hautfarbe war schlicht kein diskriminierendes Merkmal. Es gab sie in allen Schattierungen von tief schwarz bis bleich und mit Sommersprossen übersät, ein Überbleibsel der britischen Kolonialzeit. Die Mehrzahl der Menschen befand sich auf einer Skala mitten dazwischen, braun wie Melasse, Kaffee oder Karamell. Anthony fiel auf, weil er trotz seiner mittelbraunen Haut rot schimmernde Haare hatte, was ihm niemand je erklären konnte, seine Freunde allerdings dazu anstachelte, ihm freche Spitznamen zu geben. Leuchtturm, Feuerqualle und Duracell waren noch die harmlosesten.
Anthonys Vater war ein Bär von einem Mann, der sein eigenes Bauunternehmen leitete, viel arbeitete und in seiner Freizeit allen fleischlichen Genüssen zugetan war. Reichliches Essen, ein ordentlicher Whiskey und eine Zigarre hinterher zusammen mit guten Freunden, das war seine Idee von einem netten Abend. Sehr zum Verdruss seiner Frau, die über die Jahre immer religiöser wurde und sich fast täglich in der fundamentalistischen Adventistenkirche engagierte, die jede Art von Genussmitteln ablehnte.
Ein handfester Skandal entzündete sich, als bekannt wurde, dass der Vater eine Angestellte seiner Firma geschwängert hatte und seine Reue sich in Grenzen hielt. Die Mutter vergaß für eine Weile die christlichen Gebote der Nächstenliebe und des Verzeihens und hielt mit ihrer Wut nicht hinter dem Berg. Aber irgendwann verrauchte ihr Zorn und sie besann sich ihres Treueschwurs vor Gott, der ihr eine Scheidung unmöglich machte. Anthony hatte die Angelegenheit nicht großartig berührt. Er war zu jung, um die ganze Aufregung wirklich zu verstehen und sich für seinen Vater zu schämen, den er doch als seinen großen Helden verehrte.
Die Geschwister gingen alle auf eine streng-christliche Schule, wo sich für Anthony schnell ein fester Freundeskreis herausbildete, in dem er sich vollkommen aufgehoben fühlte. Ernie und Lester, Robert und Glenn waren seine wichtigsten Kumpel, die zusammen mit ihm durch dick und dünn gingen. Sie waren normale Teenager, die gern Streiche spielten, heimlich Mädchen beobachteten und ihre Sexualität vorsichtig erkundeten. Der Herrgott schaute wohlwollend von oben zu und beschützte sie vor allzu großen Dummheiten. Auch die Eltern der Jungen waren eng befreundet, so dass die Grenzen zwischen den Familien verschwammen. Jeder fühlte sich für jeden verantwortlich und eine Ohrfeige konnte aus jeder Ecke kommen, sollten die Rabauken gelegentlich übers Ziel hinausgeschossen sein.
Nach der Schulzeit wurden die Freunde zunächst in alle Winde zerstreut. Die meisten von ihnen gingen nach England oder in die USA, um dort zu studieren. Ihre Voraussetzungen waren gut, denn die Lehrer hatten ganze Arbeit geleistet. Man hatte ihnen Disziplin, ein festes Wertesystem und umfangreiches Allgemeinwissen eingetrichtert.
Anthony war stets gut in der Schule gewesen. Besonders aber hatte er sich im Sport und in der Musik hervorgetan. Er war ein begnadetes Fußballtalent, spielte in Jamaika bereits in der höchsten Jugendklasse, aber für eine internationale Entdeckung reichte es nicht. Zum Studium bewarb er sich am Baruch College in New York City in den Fächern Musik und, auf Anraten seines Vaters, Buchhaltung. Seine Freunde folgten ihm einer nach dem anderen und mit der Zeit kam die alte Clique fast vollständig an neuer Wirkungsstätte zusammen, um die Damenwelt zu erobern.
Anthony hatte die karibische Leichtigkeit im Blut. Sein wiegender Gang, sein süffisantes Lächeln und sein offener Blick taten ein Übriges. Dass er gut singen konnte und gefühlvoll Klavier spielte, war zudem ein dickes Plus. Die jungen Frauen lagen ihm zahlreich zu Füßen.
Warum er sich ausgerechnet in Gloria verliebt hatte, konnte er später nicht mehr sagen. Es war wahrscheinlich ihre physische Attraktivität, die vor allem sein Testosteron angesprochen hatte. Er erinnerte sich nicht, seinen Verstand gebraucht zu haben. Gloria war schlank und groß; er überragte sie nur um zwei egowichtige Zentimeter. Sie hatte eine glatte, karamellfarbene Haut und wunderschöne, lange, lockige Haare, die besser zu bändigen waren als seine krause Pracht, die er im wilden Afrolook zur Schau stellte. Ihre dominikanischen Wurzeln schienen ihm von der Mentalität nah genug, obwohl sie bereits in New York geboren war. Sie umgab sich mit einer geheimnisvollen Aura, in dem sie Fragen nie direkt beantwortete, sondern diverse Möglichkeiten im Raum schweben ließ. „Vielleicht“ war ihr Lieblingswort. Ihn reizte das. Er wollte ihr Inneres langsam entdecken, bis er sie wie ein offenes Buch lesen konnte.
Dazu hatte er es nie gebracht. Gloria blieb verschlossen und ließ ihn an ihrer unsichtbaren Leine zappeln. Er wollte nicht länger auf den Ausdruck ihrer Liebe warten, derer er sich sicher zu sein glaubte. Schon nach einem Jahr hielt er um ihre Hand an. Gloria zögerte, aber ihre Mutter redete ihr gut zu. Sie mochte den jungen Mann, der ihr höflich und zuvorkommend begegnete, fleißig und christlich erzogen war und sowohl den Kopf als auch das Herz auf dem rechten Fleck zu haben schien. Schließlich willigte Gloria ein und Anthony war am Ziel seiner Träume. So dachte er zumindest damals.
Die Ehe der beiden war eigentlich nie glücklich gewesen. Gloria war launisch und unsicher. Mal war sie verschmust und liebevoll, dann wieder abweisend und barsch. Anthony wusste nie, wen er zuhause antreffen würde, wenn er von der Universität heimkam. Er glaubte, dass er sie schon mit viel Geduld für sich gewinnen würde, aber er hatte sich überschätzt.
Durch eine Bekannte seiner Schwester fand er heraus, dass Gloria sich nur zwei Tage vor ihrer Hochzeit mit ihrem früheren Freund getroffen und die beiden sich leidenschaftlich geküsst hatten. Er stellte sie zur Rede, erhielt aber nur ein Schulterzucken.
„Was willst du? Das war, bevor ich mich an dich gebunden habe. Ich bin mit dir verheiratet. Ist das nicht genug?“, hatte sie ihm verächtlich an den Kopf geworfen und ohne weiteren Kommentar den Raum verlassen.
Anthony war zutiefst verletzt; er wusste nicht, woran er bei ihr war. Ein paar Wochen später teilte sie ihm mit, dass sie schwanger war. Sollte er sich freuen oder heulen? Er schob seine Bedenken erst einmal zur Seite und nahm sich vor, ihr als Vater zu beweisen, was für ein liebevoller Mensch er war und dass sie keinen besseren Mann finden könnte.
Julian war von Anfang an ein schwieriges Kind, das ein harmonischeres Umfeld gebraucht hätte. Die Inkompatibilität der jungen Eltern zeigte sich sogar in den Genen ihres Kindes. Bei dem Baby wurde nach einem halben Jahr Sichelzellenanämie festgestellt, eine Bluterkrankung die auftritt, wenn beide Eltern ein bestimmtes abnormes Gen in sich tragen. Als Folge der Erkrankung kommt es zu Durchblutungsstörungen in den Organen und damit zu Einschränkungen in der körperlichen Leistungsfähigkeit, möglicherweise auch in der Lebenserwartung.
Anthony und Gloria schafften es nicht, sich dem Thema gemeinsam zu stellen und das Beste aus der Situation zu machen. Die täglichen Sorgen, gepaart mit vielen Arztbesuchen und Krankenhausaufenthalten zermürbten, was es noch an gegenseitigem Wohlwollen gab. Gloria schloss zwar ihr Bachelorstudium ab und blieb bei ihrem Sohn, aber wenn Anthony abends das Haus betrat, fiel ihm ein Berg Wäsche entgegen und das Baby lag oben allein in seinem Bettchen, während Gloria sich irgendwelche hirnlosen Fernsehserien anschaute.
Nach seinem eigenen Studienabschluss fand Anthony eine erste Anstellung in einer Bank, wo er in der Buchhaltung arbeitete. Er mochte das Jonglieren mit einer Unmenge von Zahlen, die am Ende des Tages immer fein säuberlich stimmten. Die Aufgabe war für ihn als Berufsanfänger anspruchsvoll, aber nicht überfordernd. Man erwartete vollen Einsatz, war aber im Gegenzug bereit, gute Leistung auch entsprechend zu honorieren. Anthony verdiente ausreichend, um seine Familie zu ernähren und ein wenig Geld auf die Seite zu legen.
Er war nicht der Typ, so einfach vor den Auseinandersetzungen daheim wegzulaufen. Also plante er, ein Nest zu bauen, in dem genug Platz für alle war, wo sich jeder wohlfühlen konnte, wenn er nur wollte. Und gab es nicht in jeder Beziehung Konflikte? Er musste nur einen Weg finden, sie zu lösen.
Die nächsten Jahre waren dahingeflogen; es gab keine Zeit zum Nachdenken. Sie nahmen einen großen Kredit auf, bekamen einen Zuschuss von der Schwiegermutter und bauten mit sehr viel Eigenleistung Anthonys ein schönes Haus in Laurelton, einem Stadtteil von Queens unweit des Flughafens. Es war eine zunehmend begehrte Gegend, in der sich vornehmlich eine aufstrebende schwarze Mittelschicht niederließ und sich ihre Idee vom amerikanischen Traum verwirklichte. Die Häuser wurden regelmäßig gestrichen, die Gärten gepflegt und die von Platanen gesäumten Straßen wöchentlich gekehrt. Man organisierte regelmäßige Nachbarschaftswachdienste, damit Kinder und Senioren sich auf den öffentlichen Plätzen sicher fühlten.
Gloria hielt sich aus diesem Geschehen möglichst fern, verbrachte ihre Zeit lieber drinnen vor dem Fernseher. Die Außenkontakte überließ sie Anthony, der zugänglich und hilfsbereit war und dafür sorgte, dass Julian auch mal die Sonne zu sehen bekam, auch wenn er nicht so wild wie die anderen Kinder auf dem Spielplatz toben konnte. Samstags nahm er ihn mit zur Kirche, in der er inzwischen das Musikprogramm leitete, was ihm etwas von der Freude zurückgab, die er zuhause vermisste.
Beruflich machte Anthony gute Fortschritte, wenn auch nicht so schnell wie manche seiner hellhäutigen Kollegen, die weniger qualifiziert waren als er. Er war clever und mit einem guten Gespür für zwischenmenschliche Untertöne ausgestattet, so dass er die vielen Minen im kollegialen Umfeld geschickt umging. Seine Manager wollte er durch Leistungsbereitschaft und nicht-konfrontatives Verhalten von sich überzeugen. Oft behielt er seine Meinung für sich; er biss sich einige Male auf die Zunge, um nicht den Mund an der falschen Stelle aufzumachen. Damit erwarb er sich den Ruf eines unkomplizierten, fleißigen Arbeiters, auf den man sich verlassen konnte. Weitergehende Ambitionen gestand man ihm allerdings nicht zu. Er erhielt regelmäßige Gehaltserhöhungen, aber eine Beförderung in eine Führungsposition bot man ihm nicht an.
Schließlich griff er zu, als ihm auf Initiative eines Studienkolleges ein Broker an der Wall Street eine Stelle als Geldhändler anbot. Ein Teil seines Einkommens war zwar fortan erfolgsabhängig, aber selbst in mittelmäßigen Jahren erwirtschaftete er so viel Kommissionen, dass ein erkleckliches Sümmchen für ihn dabei heraussprang. Zudem konnte er seinen Arbeitsablauf frei gestalten, so wie er es für richtig hielt. Den ganzen Tag war er am Telefon und baute erfolgreich langfristige Kundenbeziehungen auf, eine komplette Männerdomäne auf beiden Seiten der Leitung. Er kannte die Vorlieben und Familienverhältnisse all seiner Klienten, wusste wer wie viele Kinder hatte, sprach mit ihnen über ihre Hobbies und Nöte und hörte zu, wenn sie mit ihren angeblichen sexuellen Eroberungen prahlten. Er gab ihnen das Gefühl, wichtig und interessant zu sein. Sie dankten es ihm mit entsprechenden Umsätzen.
Zuhause stiegen mit seinem Einkommen die Ansprüche. Gloria kaufte, was immer ihr in den Sinn kam und bezahlte mit seiner Kreditkarte. Auch die Gesundheitskosten für Julian rissen jeden Monat ein großes Loch in die Kasse. Egal wie viel Geld er heimbrachte, es schien nie zu reichen. Es begann die übliche Schuldenspirale, als die Zinsen der Kreditkarte die mögliche monatliche Rate überstiegen. Die Schuldensumme wuchs und wuchs. Es gab oft Streit deswegen und Gloria bestrafte ihn jedes Mal mit Sexentzug.
Es musste passiert sein, als Glorias Mutter einmal großzügig die gesamte ausstehende Kreditsumme beglich, nachdem ihre Tochter sie stundenlang mit psychologischer Kriegsführung bearbeitet hatte. Als Anthony abends die Tür aufmachte, kam Gloria ihm mit einem Weinglas in der Hand entgegen, ein wenig beschwipst und in bester Laune.
„Na, mein Schatz. Ich habe alles für dich geregelt. Wir sind schuldenfrei.“, strahlte sie ihn an und drehte sich verführerisch um ihre eigene Achse.
Sie küsste ihn auf den Mund und zog ihn an der Krawatte ins Schlafzimmer. Solche Gelegenheiten bekam er nicht häufig und willigte nur zu gern ein, seiner aufgestauten Lust freien Lauf zu lassen. Ein denkwürdiger Abend mit Folgen. Er hatte im Rausch der Gefühle auf Verhütung verzichtet und so trat Marie neun Monate später in sein Leben.
Anthony hatte gehofft, dass ein weiteres, gesundes Kind Glorias Zufriedenheit steigern und seine Ehe irgendwie kitten würde. Aber nichts dergleichen geschah. Frühzeitige Tests während der Schwangerschaft schlossen zwar das Risiko einer weiteren Sichelzellenanämie aus, aber Gloria war trotzdem nicht glücklich. Sie wollte arbeiten gehen und sah sich durch das neue Kind daran gehindert. Den Schuldigen hatte sie sofort ausgemacht, ihren sexgeilen Mann, der sich vergessen hatte.
Damit das nicht noch einmal passierte, ließ sie sich gehen. Sie aß zu viel, trank zu viel und vertrödelte die Tage vor der Flimmerkiste. Ihre einstige Schönheit litt, ihre Kleidergröße wuchs in wenigen Jahren von 38 auf 46. Anthony musste sich endgültig eingestehen, dass sie nur ihren Nachwuchs, aber keine gemeinsamen Werte hatten. Er wollte sich und den Kindern den täglichen Krieg vor ihren Augen ersparen und zog schließlich in ein gemietetes Haus in der Nähe, nicht ohne den Kleinen zu versichern, dass er stets für sie da sein würde.
Gloria hatte offensichtlich auf dieses Signal gewartet oder sie war von einem Anwalt gut beraten worden. Sie wechselte die Schlösser zu ihrem Haus, machte eine Diät und verwandelte sich nach und nach zurück in die Schönheit, die Anthony einst geheiratet hatte. Ob ein neuer Mann ihrer Transformation Auftrieb gegeben hatte, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen. Nachweisen konnte er es jedenfalls nicht. Wann immer es ihr in den Kram passte, rief sie an, damit er die Kinder holte. Er nahm jede Gelegenheit wahr. Ansonsten gab es kaum weitere Kommunikation.
Jetzt, drei Jahre nach der Trennung von Familie und Haus stand er vor dem Scherbenhaufen, den er sich zum großen Teil selbst eingebrockt hatte. Er hatte auf niemanden hören wollen, der ihn gewarnt hatte, erst vor der Heirat mit dieser Frau, dann vor der freiwilligen Aufgabe alles dessen, was ihm lieb und teuer war.
Die Kinder hatten sehr unter der neuen Situation gelitten. Julians Krankheit war weiter fortgeschritten, er hatte Nieren- und Lungenprobleme bekommen. Er war jetzt vierzehn Jahre alt und äußerst frustriert, hatte kein psychisches Reservoir, aus dem er schöpfen konnte. Er reagierte meist aggressiv und fordernd, ließ seine Wut an allen aus, besonders aber am Vater, der ihn verlassen hatte. Trotzdem wollte er lieber bei ihm leben als bei der Mutter, die ihre Kälte ihm gegenüber nie ablegte. Marie war eher zurückhaltend, sie versuchte sich unsichtbar zu machen. Ihren Vater liebte die Achtjährige über alles, er war ihr Held, der ihre Welt heile machen konnte, wenn sie nur bei ihm leben dürfte. Aber das war ja nun vorerst ausgeschlossen.
Das Telefon im Flur klingelte. Es war sein Kumpel Glenn, der vor Glück fast platzte. Er hatte gerade erfahren, dass er in ein paar Monaten die sehr erfolgreiche Arztpraxis seines Onkels in Jamaika übernehmen konnte und als erster US-ausgebildeter Radiologe moderne Medizindiagnostik in seine geliebte Heimat bringen würde.
Anthony gratulierte seinem Freund. Er freute sich wirklich für ihn, konnte es aber am heutigen Tag nicht mit dem gebührenden Elan ausdrücken. Glenn bemerkte die Traurigkeit in seiner Stimme.
„Hey, was ist los, Leuchtturm. Stimmt was nicht?“, fragte er besorgt.
Anthony erzählte ihm von dem Brief des Familiengerichts.
Glenn seufzte.
„Ich hab‘s dir prophezeit. Die Alte ist skrupellos. Sei froh, dass du sie los bist. Kopf hoch! Jetzt beginnt ein neues Leben für dich. Wie wäre es, wenn wir unseren Neuanfang gemeinsam feiern? Im September habe ich eine Reise nach Mallorca gebucht, für eine ganze Woche. Ich habe noch ein Bettchen frei in meinem Zimmer und den Flug kann ich dir auch bezahlen, ich bin ja jetzt bald reich!“
„Danke. Ich werde darüber nachdenken. Jetzt muss ich erst einmal den heutigen Schock verkraften. Bis bald.“, sagte Anthony und ließ den Hörer kraftlos auf die Gabel fallen.
Ach, wie toll war das denn! Sie konnte es noch immer kaum glauben.
Ihr Chef hatte ihr gerade angeboten sich für eine freie Stelle in der Filiale New York zu bewerben, die genau ihren Fähigkeiten und Wünschen entsprach. Er hatte ihr augenzwinkernd signalisiert, dass ihre Chancen nahezu bei neunzig Prozent ständen, dass sie den Job wohl bekommen würde, sollte sie sich entschließen ihren Hut in den Ring zu werfen. Die Stelle war wie für sie gemacht. Die meisten ihrer potentiellen neuen Kollegen kannte sie auch schon von ihren täglichen Telefonaten mit derjenigen Abteilung, in der sie als Kundenbetreuerin für deutschstämmige globale Firmenkunden einsteigen würde.
Endlich würden sich ihr anstrengendes Studium und die letzten Jahre extremer Arbeitsbelastung in der Röber Bank wirklich bezahlt machen. Was für eine Karriere: Von Haselünne nach New York! Alles aus eigener Kraft. Das war schon etwas Besonderes. Marlies musste lachen; wer hätte das gedacht, damals, als sie als verstoßener Bastard eines unzüchtigen Mädchens jahrelang um Anerkennung ringen musste.
Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie sah die Skyline von New York vor ihrem geistigen Auge und sich selbst mitten darin, wie sie eilig die Fifth Avenue entlang lief in ihrem neuen dunkelblauen Kostüm, der weißen Bluse und den hochhackigen Schuhen, deren Beherrschung sie durch viel Übung perfektioniert haben würde. Sie malte sich Geschäftstermine aus, in denen sie ihre Gesprächspartner mit einem einwandfreien, fast akzentfreien Englisch von ihrem Angebot überzeugte und dann den Deal mit einem festen Händedruck zum Abschluss brachte.
Beschwingt ging sie zurück an ihren Schreibtisch. Auf einmal sah der Stapel von unerledigten Vorgängen darauf nicht mehr so bedrohlich aus. Sie konnte sich allerdings in diesem Moment überhaupt nicht auf die Arbeit konzentrieren, sah sich außerstande auch nur eine der Mappen in die Hand zu nehmen. Sie starrte auf die Vielzahl der gelben Zettel, die an den Trennwänden um ihren Arbeitsplatz herum angeheftet waren, ohne auch nur ein Wort zu lesen. Zumindest gab sie ihren ahnungslosen Kollegen den Anschein, als würde sie gerade überlegen, was als nächstes zu tun sei.
Das Wichtigste war nun, ihren Freund Klaus davon zu überzeugen, mit ihr in den Big Apple zu ziehen. Allein wollte sie das große Abenteuer lieber nicht wagen. Außerdem waren sie seit fast zehn Jahren ein Paar und waren bisher gemeinsam unschlagbar gewesen. Er war ihr zuliebe sogar mit nach Frankfurt gezogen, obwohl er eingeschworener Westfale und konservativer Beamtensohn war. Eigentlich hatte er seine Heimat nie verlassen wollen, aber nun war er glücklich in Hessen.
Sie hatte Klaus als Studentin in Münster kennengelernt, als sie ihm auf der Promenade ins Fahrrad gelaufen war, weil sie auf dem Weg zur Klausur ihre tags zuvor gemachten Spickzettel zum letzten Mal durchlas, um sich den Inhalt einzutrichtern. Er hatte versucht auszuweichen, aber vier nebeneinander fahrende Radfahrer im Gegenverkehr ließen das nicht zu. Wären diese nur zehn Sekunden später an der besagten Stelle angekommen, wäre sie Klaus nie begegnet, denn er hätte sie wahrscheinlich geschickt umkurvt. So waren sie zur Kommunikation gezwungen; es hatte gleich gefunkt. Er zeigte großes Verständnis für ihre Zerstreutheit und bot ihr an sie auf dem Gepäckträger zur Uni zu bringen, damit sie dort gefahrlos ihre Klausurvorbereitungen abschließen konnte.
Danach hatten sie die Telefonnummern ausgetauscht, sie hatte ihre Klausur geschrieben und trotz der ständig zu ihm wandernder Gedanken sogar ordentlich bestanden. Klaus war angehender Lehrer und bereits im Referendariat, damit ein viel beschäftigter Mann. Dennoch rief er bereits nach zwei Tagen an und sie verabredeten sich für den gleichen Abend im Kleinen Kiepenkerl auf eine Altbierbowle. Seither waren sie zusammen, ein ungleiches Paar, aber Gegensätze ziehen sich ja bekanntlich an.
Die beiden hatten schon beim ersten Treffen stundenlang geredet, ohne Anstrengung und künstliche Pausen. Marlies hatte sich gleich sicher gefühlt in seiner Gegenwart, gut aufgehoben und geborgen. Er wusste so genau, was er vom Leben erwartete und wie er seine Ziele zu erreichen gedachte. Er hatte bereits seinen Traumberuf gefunden und gab ihr mit leuchtenden Augen zu verstehen, dass er heute vielleicht sogar seiner Traumfrau begegnet war.
Marlies imponierte seine Selbstsicherheit, von der sie noch weit entfernt war. Sie hatte BWL studiert, weil ihr nichts Besseres eingefallen war und es Raum ließ für die verschiedensten Einsatzmöglichkeiten später im Beruf. Das Hauptfach Bankbetriebslehre wählte sie, da die Vorlesungen und Seminare nicht so überfüllt waren und sie sich dort nicht so verloren vorkam. Das Interesse am Thema kam erst im Laufe der Zeit. Getreu dem alten Motto: „Appetit kommt beim Essen.“ Das hatte die Mutter ihr als Kind schon immer eingebläut, wenn sie lustlos auf ihren Teller geschaut hatte.
Jetzt war sie glücklich über ihre Entscheidung. Auch sie hatte ihren Platz in der Welt der aufstrebenden Karrieristen gefunden, wenngleich es etwas länger gedauert hatte. Zumindest hatte sie Durchhaltevermögen bewiesen und die Fähigkeit, sich in komplexe neue Sachverhalte einzuarbeiten. Daher hatte sie auch keine Angst mehr vor neuen Herausforderungen, eher einen stillen Hunger, ihre Grenzen auszuloten.
Marlies war der Weg zum Studium nicht schon in der Wiege vorgezeichnet worden. Sie hatte sich alles hart erarbeiten müssen. Ihre Mutter war unverheiratet und alleinerziehend, denn Marlieses Erzeuger hatte sich nach Bekanntwerden der Schwangerschaft schleunigst aus dem Staub gemacht. Da war ihre Mutter erst achtzehn Jahre alt gewesen, fast noch ein Kind und sehr naiv. Ende der fünfziger Jahre waren die moralischen Maßstäbe jedoch unerbittlich und die Schande riesengroß.
Die junge Frau hatte sich Hals über Kopf in einen verheirateten Handelsvertreter verliebt, der regelmäßig bei ihnen zuhause einkehrte, um dem Herrn des Hauses, Marlieses Großvater, die neue Hutmode nahezubringen. Der über Land fahrende Verkäufer war zuvorkommend und redegewandt, machte gern Komplimente an alle Frauen, sehr wohl wissend, dass im Regelfall sie diejenigen waren, die letztendlich die Kaufentscheidung fällten. Eines Tages war Marlieses Mutter allein zuhause gewesen, denn ihre Eltern waren nach Holland ans Meer gefahren. Sie machte den Fehler, den smarten Charmeur ins Haus zu lassen, der sie mit geübter Finesse bezirzte und noch am gleichen Abend an seiner Liebeskunst teilhaben ließ.
Ihre kurze Glückseligkeit war nicht ohne Folgen geblieben, und Marlieses Mutter hatte für ihre Unbedarftheit schwer büßen müssen. Die Eltern schämten sich ihrer, zumal der Kindsvater nicht als Ehemann zur Verfügung stand. Es dauerte Jahre, bis der Tratsch um die „verdorbene“ junge Frau und ihren kleinen Bastard verebbte. In der Kleinstadt Haselünne im Emsland passierte eben nicht viel, da hielt man sich auch schon mal längere Zeit an einem Thema auf, besonders wenn es etwas schlüpfrig war und von einem großen Geheimnis umgeben. Marlieses Mutter hatte außer ihren Eltern niemandem je den Namen des Verführers preisgegeben, der sich mit einer einmaligen Zahlung von eintausend D-Mark das Schweigen der Familie erkaufte und nie mehr blicken ließ.
Marlies war trotz des schwierigen Starts in ihr Leben nicht ohne Liebe aufgewachsen. Sowohl ihre Mutter als auch ihre Großeltern konnten sich weder ihrer Unbekümmertheit noch ihrem starken Willen entziehen. Sie lernte schnell die Erwachsenen für sich zu gewinnen, sie ein wenig zu manipulieren und, sobald es opportun erschien, gegeneinander auszuspielen. Die Eloquenz hatte sie definitiv von ihrem Vater geerbt. So hatte sie während ihrer Kindheit und Jugend drei liebende Personen um sich gehabt, die ihr das notwendige Urvertrauen gaben, wenn sie auch schon mal ein größeres Risiko einging.
Ihr unglückliches, folgenschweres Liebesabenteuer hatte Marlieses Mutter für die Männerwelt unerreichbar gemacht. Sie hatte ihre Lektion mehr als gründlich gelernt. Sie konzentrierte sich zunächst auf ihre Ausbildung zur Sekretärin, lernte Stenografie und Schreibmaschine und arbeitete seit vielen Jahren in der lokalen Allgemeinen Ortskrankenkasse. Einen festen Partner hatte sie nie mehr in ihr Bett gelassen. Sie lebte weiterhin im Haus ihrer Eltern in einer kleinen ausgebauten Einliegerwohnung. Auf diese Weise hatte sie das notwendige Geld sparen können, um ihre auffallend intelligente Tochter auf das Ursulinen-Gymnasium zu schicken.
Marlies war von Beginn an eine sehr gute Schülerin, obwohl es ihr die Klassenkameradinnen und der Lehrkörper nicht leichtmachten. In den ersten Jahren wurde sie aufgrund ihrer bescheidenen Herkunft und des „unmoralischen“ Eintritts in diese Welt oft verhöhnt oder von Gemeinschaftsaktivitäten ausgeschlossen. Auch die Nonnen, die die Klosterschule leiteten und große Teile des Unterrichts bestritten, ließen sie spüren, dass sie eine große Schande in sich trug, die sie durch nichts auslöschen konnte, auch nicht durch wohlfeiles Verhalten. Also beschloss Marlies, es mit dem Gegenteil zu probieren und alle ihr entgegengeschleuderten Vorurteile zu bestätigen. Sie gebärdete sich aufsässig und besserwisserisch, brachte auch schon mal ein Lexikon von zuhause mit, um zu beweisen, dass sie Recht hatte. Zudem scheute sie sich nicht vor körperlichen Auseinandersetzungen, wenn es ihr notwendig erschien. Irgendwann waren es die anderen Schülerinnen leid, auf ihr herumzuhacken und sie bekam nach und nach den ihr gebührenden Respekt.
Eine einzige Freundin hatte sie während der gesamten ersten sechs Jahre auf dem Mädchengymnasium an ihrer Seite gehabt. Auf sie konnte sie sich noch heute ohne Wenn und Aber verlassen. Iris war eine Außenseiterin gewesen, so wie sie. Auch sie kam aus schwierigen Verhältnissen und musste sich gegen Klassenkameradinnen und Nonnen durchboxen. Da tat es gut, dass sie zu zweit waren.
Nicht völlig unerwartet reagierte Klaus anders als Marlies es sich gewünscht hätte. Er war von der Idee New York wenig begeistert.
„Was soll ich denn da machen? Ich sitze dann den ganzen Tag zuhause und warte darauf, dass meine liebe Frau am Abend heimkommt. Außerdem ist mir Frankfurt wirklich schon groß genug.“
„Du kannst dort sicher auch eine sinnvolle Beschäftigung finden. Lehrer werden immer und überall gebraucht und sei es für Nachhilfe. Manhattan ist übrigens gar nicht so groß und sehr übersichtlich angeordnet. Da findest du dich ganz schnell zurecht.“
„Ich fühle mich wohl an meiner Schule und die Schüler mögen mich. Und ich mag meine Klasse, endlich mal interessierte und intelligente Kinder, die was lernen wollen. Das gebe ich nur ungern auf.“ Klaus räusperte sich hörbar und ging in die Küche, um sich ein Bier zu holen.
Marlies bemerkte, wie erregt er innerlich war. Sie sah es an seinem zackigen Gang und den hochgezogenen Schultern. Auch sie ließ die Diskussion nicht kalt. Auf keinen Fall wollte sie ihren Traum aus den Händen gleiten lassen. Missmutig ließ er sich auf das Sofa plumpsen. Er trank die Flasche fast in einem Zug leer und schaute an ihr vorbei aus dem Fenster.
„Denk doch mal daran, wie spannend es ist. Ein neues Land, eine völlig andere Kultur und die vielen Leute, die man kennenlernt. Hier sind wir doch schon fest eingefahren. Immer die gleichen Gesichter, auf der Arbeit, an den Wochenenden, bei den Geburtsfeiern und so weiter und so fort.“, wagte sie einen neuen Anlauf.
„Ich liebe meine Freunde. Und ja, ich möchte ihre Gesichter regelmäßig sehen. Ich fühle mich wohl in unseren angestammten Kreisen. Wieso irgendwo anders ein Unbekannter sein, lästigen Smalltalk machen und mit allem wieder von vorn anfangen? Das ist mir zu anstrengend.“; gab er patzig zurück.
Marlies sah ihre Felle schwimmen. Er war wirklich ein harter Knochen. Stets fokussierte er sich erst einmal auf die Nachteile, bevor er über Chancen nachdachte. So war es auch gewesen, als sie nach Frankfurt gezogen waren, und jetzt fühlte er sich hier so wohl. Sie erinnerte ihn daran.
„Du wolltest damals auch nicht hierherkommen. Und sieh, es ist doch gut gelaufen. Man kann eine Sache aus mehreren Winkeln betrachten, wenn man das nur will.“ Sie konnte einen leichten vorwurfsvollen Ton in ihrer Stimme nicht vermeiden.
Klaus ging nicht weiter auf ihr Argument ein, sondern setzte zum nächsten Gegenschlag an, einem Punkt, der in den vergangenen Monaten bereits mehrmals ein heißes Eisen in ihren Auseinandersetzungen gewesen war.
„Was ist eigentlich aus unserer Familienplanung geworden. Du bis jetzt dreißig. Ist es nicht langsam mal an der Zeit, das Thema Kinder anzugehen? Ich verdiene genug, dass wir es uns leisten könnten, ein Häuschen im Grünen anzumieten und mit der Rasselbande loszulegen.“
Marlies hatte befürchtet, dass er die Diskussion in diese Richtung lenken würde. Sie war noch völlig mit sich selbst im Unreinen, was ihre Position zur Kinderfrage war. Selbstverständlich hatte sie ihm zugestimmt, als er ihr von seinem unbedingten Kinderwunsch erzählt hatte, schon ganz am Anfang ihrer Beziehung. Damals, als junge Studentin, war das Ganze für sie noch so weit weg gewesen, dass sie nicht wirklich eine dezidierte Meinung hatte. Gehörten Kinder nicht irgendwie automatisch zu einer langfristigen Partnerschaft? Aber zu dieser Zeit hatte sie sich auch nicht vorstellen können, dass es ihr so viel Spaß machen würde, arbeiten zu gehen und eigenes Geld zu haben.
Mehr als sie es sich je erträumt hatte genoss sie es, nicht über jede Ausgabe dreimal nachdenken zu müssen. Sie verdiente als Bankerin im Kundenbereich ein tolles Gehalt, von dem sie auch zu zweit leben könnten, ohne sich einschränken zu müssen. In der Zwischenzeit brachte sie sogar mehr Geld nach Hause als Klaus, ein Umstand, der ihm schwer zu schaffen machte. Sein männliches Ego war schon ein bisschen angekratzt gewesen, als sie die letzte Gehaltserhöhung bekommen hatte und ihn fortan beim Einkommen überflügelte.
Für Klaus war es auch absolut klar, dass Marlies als Mutter zuhause bliebe, wenn sie Kinder hätten. Er würde sicherlich seinen Beitrag zur Hausarbeit leisten, so dass Marlies sich irgendeinem Hobby würde widmen können, aber er wollte auf keinen Fall, dass eine fremde Person den Nachwuchs in der Hauptsache betreute. An Berufstätigkeit würde sie erst wieder denken können, wenn die kleinen Bengel aus dem Gröbsten raus wären, vorher war ihre Anwesenheit zuhause unabdingbar. Marlies hatte einmal leise anklingen lassen, dass vielleicht auch er die Vollzeit-Elternrolle übernehmen könnte und war auf große Empörung gestoßen. Das kam für ihn nicht in Frage. Er brauchte seinen Beruf und die Kinder ihre Mutter. Basta!
Das Thema war also äußerst heikel und würde sich an diesem Abend nicht lösen lassen. Marlies machte noch mehrere zaghafte Versuche, Klaus das Leben in der Weltstadt New York schmackhaft zu machen, aber er ließ sich nicht erweichen. Er versprach ihr jedoch, in den nächsten Tagen ernsthaft und ergebnisoffen darüber nachzudenken. Dann erlag er gern ihren beschwichtigenden, körperlichen Annäherungsversuchen und schlief zufrieden ein.
Sie lag noch lange wach und fragte sich, was die Zukunft wohl für sie parat hielt.
Der Tag war lang gewesen. Heute hatte sie fast zwei volle Schichten gearbeitet. Eine Kollegin war angeblich plötzlich krank geworden, vielleicht hatte sie auch einfach tags zuvor nur zu lange gefeiert. Das kam in der Belegschaft häufiger vor. Mallorca brachte das so mit sich.
Iris ging in den Raum hinter der Rezeption und zog sich um. Welch eine Wohltat. Raus aus dem kurzen schwarzen Rock, der hellen Bluse mit der zugeknöpften schwarzen Weste und vor allem aus der blickdichten Strumpfhose, die sie bei der Arbeit in dem hochklassigen Hotel tragen musste. Endlich Shorts und T-Shirt, die Einheitskleidung auf den Straßen der Insel, die zu dieser frühen Abendzeit gefüllt waren mit Touristen, die an den Geschäften und Verkaufsständen vorbeischlenderten und sich seelisch auf die lange Party vorbereiteten, die in wenigen Stunden, wie in jeder Nacht, steigen würde.
Morgen hatte sie frei. Also würde auch sie sich ins Getümmel stürzen und bis in die Morgenstunden tanzen. Das war ihre große Leidenschaft. Wenn sie sich im Takt der Musik bewegte, vergaß sie alles um sich herum und konnte sich einfach gehen lassen. Dazu brauchte sie auch keinen festen Tanzpartner, obwohl sich für die langsamen Stücke und den Schmuseblues stets jemand fand, an dem sie sich festhalten konnte.
An Verehrern mangelte es ihr nicht. Sie sah gut aus; hübsches, etwas kantiges Gesicht, typisch norddeutsch eben, mit einer hellblonden Mähne und langen wohlgeformten Beinen, die ihre Wirkung nie verfehlten. Gelegentlich brezelte sie sich gern auch mal richtig auf, wenn sie Lust darauf verspürte, sich auf den Markt für unverbindliche sexuelle Vergnügen zu begeben, und zog dann todsicher die Blicke aller Männer auf sich, wenn sie ihre Reize auf der Tanzfläche zur Schau stellte. Sie liebte die Bestätigung, die sie regelmäßig vom anderen Geschlecht erfuhr, aber das Gefühl, begehrenswert zu sein, hielt nie lange an. Danach begannen ihre Selbstzweifel von Neuem und in festen Beziehungen damit auch die Probleme, denn ihre ungefilterte Eifersucht sprengte den Rahmen des Erträglichen.
Sie hatte sich vorgenommen, nun erst einmal ihre Freiheit zu genießen, bevor sie es erneut wagte, sich einem Menschen ganz und gar anzuvertrauen. Zu tief saß der Stachel des letzten Liebesaus, das sie noch immer nicht verwunden hatte.
Iris hatte schon einige längere Beziehungen hinter sich und alle hatten schlecht geendet. Sie hatte gleich den erstbesten Mann geheiratet, der ihr über den Weg gelaufen war, da brauchte sie noch die Zustimmung ihrer Eltern, die sich gegen ihren Dickkopf nicht durchsetzen konnten. So sehr hatte sie aus diesem unwirtlichen Zuhause weggewollt; ihr war jedes Mittel recht gewesen.
Die beiden Menschen, die sie Mama und Papa nannte, waren eigentlich ihre Tante und ihr Onkel. Sie waren in der Zwischenzeit auch ihre Adoptiveltern, hatten aber sechzehn Jahre gebraucht, um sie als ihre Tochter anzuerkennen. In ihrer Kindheit und frühen Jugend hatte Iris nicht wirklich gewusst, wo sie hingehörte. Das Damoklesschwert der Rückführung an ihre biologischen Eltern, die mit ihren fremdgewordenen Geschwistern weit weg in Süddeutschland lebten, schwebte die gesamte Zeit über ihr. Es wurde auch durchaus öfters geschwungen, wenn ihre Tante mit dem Verhalten ihres Pflegekindes nicht einverstanden war oder es zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden Elternpaaren kam, die zwar mit einander verwandt, aber doch sehr unterschiedlich waren.
Iris wurde in eine Familie hineingeboren, in der es noch nie rundgelaufen war. Der Vater war ein eher arbeitsscheues Subjekt, dem der Krieg und die nachfolgende Gefangenschaft in Russland seine letzte Motivation geraubt hatten. Seine Dämonen verfolgten ihn auf Schritt und Tritt, die grausamen Bilder in seinem Kopf wollten nicht weichen. Er wurde nie von der Aufbruchsstimmung der fünfziger Jahre erfasst, ließ sich treiben und ertränkte seine ständige Traurigkeit im Alkohol. Seine junge Frau versuchte anfangs ihn und die drei Kinder aufzufangen, bis die finanziellen Probleme sie an ihre Grenzen brachten und sie sich seiner Methode der Kummerbewältigung anschloss.
Das Jugendamt schritt ein, holte die stark vernachlässigten Kleinen mit Polizei und Blaulicht aus der Familie und brachte sie in ein Pflegeheim. Diese drastische Maßnahme ließ die Mutter erst einmal zur Vernunft kommen. Sie schwor dem Alkohol ab und schaffte es fortan als Kassiererin in einem Supermarkt so viel Geld zu verdienen, dass sie ihre Kinder nach Hause holen konnte. Aber für alle hungrigen Mäuler reichte das Einkommen nicht. Sie kontaktierte ihre ältere, kinderlose Schwester in Haselünne und überredete sie dazu, zumindest einen ihrer Sprösslinge bei sich aufzunehmen und zu versorgen.
Die Wahl war auf Iris gefallen. Sie war das unbeachtete Mittelkind, zwei Jahre alt, als sie erneut entwurzelt und einer unbekannten Umgebung zugeführt wurde. Ihre Tante und neue Pflegemutter stimmte der Übersiedlung der Kleinen erst nach langer Bedenkzeit zu. Sie mochte ihren Schwager nicht und fürchtete den schlechten Einfluss seiner Gene auf das Wesen des Mädchens. So brachte sie ihrer Nichte erst einmal wenig Zuneigung entgegen, beäugte sie mit kontrollierendem Blick und suchte nach Anzeichen der Bestätigung ihrer Befürchtungen, die sie reichlich ausfindig machte.
Schon im Vorschulalter konnte Iris wenig richtigmachen. Lob und Anerkennung blieben ihr zuhause verwehrt. Selbst wenn sie nur aus Versehen etwas anstellte oder sich nach den strengen Maßstäben der neuen Mutter danebenbenahm, bekam sie zu hören,
„Ist ja auch kein Wunder, dass du so missraten bist. Bei dem Vater konnte ja nichts Besseres herauskommen.“
Gelang ihr allerdings etwas Unerwartetes oder fremde Menschen bemerkten ihre Aufgewecktheit, dann war es der guten Erziehung der Pflegeeltern geschuldet. In den Arm genommen wurde sie dafür nicht, man wollte das Kind auf keinen Fall verwöhnen. Das war nicht Teil der Abmachung gewesen.
Iris war schon früh viel allein. Ihr Onkel führte im kombinierten Wohn- und Geschäftshaus den größten Textilladen am Ort, in dem auch die Tante den ganzen Tag lang eingespannt war. Das Mädchen lernte bald, sich um sich selbst zu kümmern und schärfte seine Sinne, damit es Missstimmungen schon frühzeitig erkennen und durch erfolgreiches Unsichtbarmachen den Folgen entgehen konnte. Der Stress, den das Geschäft mit sich brachte, wurde ungemindert in die Privaträume hinübertransportiert. Es gab viele Auseinandersetzungen zwischen den Eheleuten um die richtige Kollektion, Ärger mit den Angestellten, fällige Kreditraten und vieles mehr. Da blieb wenig Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse des ungewollten Kindes, das zu schweigen und zu funktionieren hatte.
Was Liebe und Vertrauen bedeuten, lernte Iris in dieser unterkühlten Umgebung nicht. Sie träumte von einem Leben mit ihrer richtigen Mutter, die sie aus der Ferne über alles liebte, und Geschwistern, die wie Pech und Schwefel zusammenhielten. Die Wirklichkeit sah anders aus. Das wurde ihr auch wiederholt deutlich gesagt. Sie hatte das große Los gezogen, auch wenn es sich nicht so anfühlte.
Ihre Geburtsfamilie kam aus der Armut nie heraus. Der Vater vertrank den Großteil des Einkommens seiner Frau, die mit der alleinigen Verantwortung für die Familie überfordert war. Die Kinder wurden weiterhin vom Jugendamt überwacht und waren schon früh verhaltensauffällig in der Schule. Ihr Weg in ein geordnetes Leben war steinig. Ob sie ihn dennoch erfolgreich gegangen waren, wusste Iris nicht. Sie hatte keinen Kontakt mehr zu ihnen.
Ihre erste tiefe Beziehung knüpfte Iris mit ihrer Freundin Marlies. Die beiden Außenseiterinnen in der Sexta des Ursulinen-Gymnasiums fanden notgedrungen zueinander. Sie wurden gleichermaßen von den Klassenkameradinnen gemieden, die sämtlich aus sogenanntem „guten Hause“ stammten. Bastarde und Pflegekinder passten nicht ins feine Milieu. Das diskriminierende Verhalten der Schülerinnen wurde von den Nonnen nicht nur geduldet, sondern sogar gefördert, in dem sie die beiden Mädchen herablassend behandelten, höhere Maßstäbe an ihr Aussehen und Tun anlegten und drastischere Strafen für kleine und große Vergehen verhängten als gemeinhin üblich.
So trieben sie alle zusammen die beiden Mädchen in eine Ecke, in der die zwei sich dann komfortabel einrichteten. Als unzertrennliches Team begegneten sie allen schulischen Herausforderungen gemeinsam, machten jeden Gegner fertig, mit Worten oder fester Entschlossenheit zum Kampf. Wie verletzlich sie tief im Innern waren, zeigten sie nur der besten Freundin und ausschließlich hinter verschlossenen Türen. Offiziell passte kein Blatt Papier zwischen sie, auch wenn sie nicht in jedem Falle einer Meinung waren oder Iris ihre aus der Unsicherheit geborene Eifersucht nicht im Zaum hielt.
Als pubertierende Teenager waren sie beide nicht leicht zu handhaben gewesen, aber Marlies hatte sich schneller gefangen und konnte an ihre guten Leistungen der ersten Schuljahre anknüpfen. Sie hatte den unbedingten Ehrgeiz, das Abitur zu schaffen, um dann zu studieren.