Serafina - Die Schattendrachen erheben sich - Rachel Hartman - E-Book

Serafina - Die Schattendrachen erheben sich E-Book

Rachel Hartman

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Beschreibung

Kann EIN Mädchen ZWEI Welten retten?

Die untereinander um die Macht ringenden Parteien der Menschen und der Drachen stehen unmittelbar vor einem gewaltsamen Ausbrechen des Konflikts, der schon seit vielen Jahren zwischen ihnen schwelt. Die junge Serafina steht in dieser Situation erneut zwischen den beiden Welten, aus denen sie stammt, trägt sie doch auch Drachenblut in sich. Aber sie ist nicht die Einzige ihrer Art – und von diesen anderen Drachenmenschen erhofft sie sich Hilfe für ihre Heimat. So bricht sie auf, diese Verbündeten zu suchen, während sich alle daheim, auch ihre große Liebe Prinz Lucian, für die Schlacht um das Königreich Gorred und die Freiheit der Menschen rüsten.

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Rachel Hartman

Aus dem Amerikanischenvon Petra Koob-Pawis

Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage 2015

© 2015 der deutschsprachigen Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House, München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2015 Rachel Hartman

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

»Shadow Scale« bei Random House Children’s Books,

einem Imprint von Random House, Inc., New York

Übersetzung: Petra Koob-Pawis

Lektorat: Andreas Rode

Umschlagillustration: Iacopo Bruno

Umschlaggestaltung: Init | Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen

MP · Herstellung: CF

Satz und Reproduktion: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-09160-6

www.cbj-verlag.dewww.serafina-buch.de

Prolog

Ich kehrte in mich selbst zurück.

Gedankenverloren rieb ich meine Augen, ohne daran zu denken, dass das linke verletzt war. Der Schmerz brachte mich sehr schnell in die Wirklichkeit zurück. Ich saß auf dem rauen Holzboden in Onkel Ormas Studierzimmer in der Bibliothek des Sankt-Ida-Musik-Konservatoriums. Um mich herum stapelten sich Bücher zu einem Nest aus Wissen. Das Gesicht, das ich zunächst nur verschwommen über mir sah, nahm allmählich Konturen an: Ormas Hakennase, seine schwarzen Augen, seine Brille, sein Bart. Seine Miene verriet weniger Besorgnis als vielmehr Neugierde.

Ich war elf Jahre alt. Seit Monaten bemühte sich Orma, mich in die Kunst der Meditation einzuführen, aber noch nie war ich so tief in meinen eigenen Kopf eingedrungen wie dieses Mal. Und noch nie war ich so verwirrt daraus zurückgekehrt.

Orma hielt mir einen Becher mit Wasser unter die Nase, den ich mit zittriger Hand entgegennahm, um einen Schluck daraus zu trinken. Durst hatte ich zwar nicht, aber die freundlichen Gesten meines Drachenonkels waren selten genug. Umso wichtiger war es, ihm zu zeigen, dass man sie wertschätzte.

»Erzähle, Serafina.« Orma richtete sich auf und schob seine Brille etwas höher. Sein Tonfall war weder liebenswürdig noch ungeduldig. Mit zwei Schritten durchquerte er den Raum und setzte sich auf seinen Schreibtisch, ohne zuvor die Bücher darauf wegzuräumen.

Der harte Boden war unbequem und ich rutschte hin und her. Dafür, mir ein Kissen zu geben, reichte die Empathie eines Drachen auch dann nicht aus, wenn er Menschengestalt angenommen hatte.

»Es hat geklappt«, krächzte ich wie ein heiserer Frosch. Ich trank noch einen Schluck Wasser und unternahm einen zweiten Anlauf. »Ich habe mir einen Garten mit Obstbäumen vorgestellt und dazu den kleinen porphyrischen Jungen.«

Orma verschränkte die langen Finger vor seiner grauen Weste und blickte mich forschend an. »Konntest du ein genaues Bild von ihm hervorrufen?«

»Ja. Ich habe seine Hände in meine genommen und dann …« Es fiel mir schwer, zu beschreiben, wie sich der sinnenverwirrende Sog angefühlt hatte, in dessen Strudel mein Bewusstsein hineingeraten war. Ich war viel zu erschöpft, um die richtigen Worte zu finden. »Ich habe ihn in Porphyrien gesehen, er hat in der Nähe eines Tempels gespielt und ein Hündchen gejagt …«

»Keine Kopfschmerzen, keine Übelkeit?«, unterbrach mich Orma, dessen Drachenherz sich nicht für kleine Hunde erwärmen konnte.

»Nein.«

»Und du hast selbst den Moment bestimmen können, indem du die Vision freiwillig wieder verlassen hast?« In Gedanken schien er einzelne Punkte auf einer Liste abzuhaken.

»Ja, das habe ich.«

»Du hast die Vision beherrscht und nicht sie dich?« Häkchen. »Hast du dem Stellvertreter des Jungen einen Namen gegeben?«

Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Es war albern, denn Orma war gar nicht in der Lage, mich auszulachen. »Ich habe ihn Flederchen genannt.«

Orma nickte ernst, so als wäre es der würdevollste und passendste Name, den er sich vorstellen konnte. »Und welche Namen hast du den anderen gegeben?«

Wir sahen uns an. In den Gängen der Bibliothek draußen pfiff einer der in der Bibliothek arbeitenden Mönche ziemlich unmusikalisch vor sich hin.

»Hätte ich mir auch schon für die anderen einen Namen ausdenken müssen?«, fragte ich. »Hatten wir nicht gesagt, wir würden es langsam angehen lassen? Wenn Flederchen in seinem Garten bleibt und mich nicht mehr mit Visionen peinigt, dann können wir doch …«

»Wie bist du zu dem blauen Auge gekommen?«, fragte Orma und sah mich mit seinem Raubvogelblick an.

Ich schürzte die Lippen. Er wusste genau, wie es passiert war: In der gestrigen Musikstunde war ich plötzlich von einer Vision überwältigt worden und vom Stuhl gefallen. Dabei war ich mit dem Gesicht gegen die Tischecke geprallt.

Zum Glück ist wenigstens die Laute heil geblieben, hatte Ormas lapidarer Kommentar gelautet.

»Es ist nur eine Frage der Zeit, bis dich mitten auf der Straße eine Vision heimsucht und du von einer Kutsche über den Haufen gefahren wirst.« Orma stützte die Hände auf die Knie. »Du kannst dir keine Trödeleien erlauben – es sei denn, du willst auf unabsehbare Zeit dein Leben im Bett verbringen.«

Vorsichtig stellte ich den Becher weit genug von den Büchern entfernt auf den Boden. »Ich möchte aber nicht allen Zugang zu meinem Kopf gewähren«, sagte ich. »Manche dieser Wesen sind Furcht einflößend. Es ist schon schlimm genug, wenn sie sich unaufgefordert in meinen Gedanken breitmachen, aber …«

»Du hast die inneren Zusammenhänge immer noch nicht verstanden«, sagte Orma nachsichtig. »Mithilfe unserer Meditation kannst du erreichen, dass deine Grotesken sich gar nicht erst in dein Bewusstsein stehlen. Dein eigener Verstand hat ihnen bisher Tür und Tor geöffnet. Die Stellvertreter, die du gedanklich erschaffst, können eine echte und dauerhafte Verbindung zu diesen Geschöpfen sein. Dann wirst du nicht mehr willkürlich und unbeholfen ihre Nähe suchen. Wenn du sie in Zukunft sehen willst, brauchst du deine Gedanken lediglich nach innen zu kehren.«

Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ich jemals freiwillig mit einer dieser Grotesken zusammen sein wollte. Plötzlich wurde mir alles zu viel. Ich hatte mit meinem Liebling angefangen, dem freundlichsten Geschöpf von allen, trotzdem war ich völlig ausgelaugt. Vor meinen Augen verschwamm alles. Beschämt wischte ich mit dem Ärmel über das heile Auge, denn ich wollte nicht, dass mein Drachenonkel mich so sah.

Den Kopf wie ein Vogel zur Seite geneigt, beobachtete er mich. »Du bist ihnen nicht hilflos ausgeliefert, Serafina. Du bist … warum ist hilfreich nicht das Gegenteil von hilflos?«

Die Frage schien ihm tatsächlich Kopfzerbrechen zu bereiten und das brachte mich gegen meinen Willen zum Lachen. »Wie soll ich vorgehen?«, fragte ich ihn. »Bei Flederchen war die Sache einfach. Er liebt es, auf Bäume zu klettern. Ich nehme an, die scheußliche Sumpfschnecke kann sich im Schlamm wälzen, und den wilden Mann stecke ich in einen Käfig. Aber was ist mit den anderen? Welche Art von Garten muss ich für sie einrichten?«

Orma kratzte sich an seinem falschen Bart, an den er sich noch immer nicht gewöhnt hatte. Dann fragte er mich: »Weißt du, was an eurer Religion falsch ist?«

Ich blinzelte überrascht. Es war schwierig, seinen Gedankensprüngen zu folgen.

»Ihr habt keine richtigen Schöpfungsmythen«, gab er selbst die Antwort. »Eure Heiligen haben vor sechs- oder siebenhundert Jahren die Heiden vertrieben – obwohl diese einen durchaus zufriedenstellenden Mythos von der Sonne und einem weiblichen Auerochsen anzubieten hatten, wie ich betonen möchte. Aber aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen haben eure Heiligen sich nicht die Mühe gemacht, diesen Mythos durch eine eigene Schöpfungsgeschichte zu ersetzen.« Mit dem Saum seiner Weste rieb er seine Brille sauber. »Kennst du die porphyrische Schöpfungsgeschichte?«

Ich blickte ihn vielsagend an. »Bedauerlicherweise hat mein Lehrer es versäumt, mir die porphyrische Theologie nahezubringen.« Orma selbst war mein Lehrer.

Mein Onkel tat so, als hätte er meine Stichelei nicht gehört. »Sie ist erfreulich kurz. Die beiden Zwillingsgötter Notwendigkeit und Möglichkeit wanderten zwischen den Sternen umher. Was sein musste, war, und was sein konnte, war hin und wieder.«

Ich wartete auf den Rest, aber er fügte nichts mehr hinzu.

»Mir gefällt dieser Mythos«, fuhr er fort. »Lässt man die Erwähnung von Göttern außer Acht, dann entspricht er sehr genau den Gesetzen der Natur.«

Stirnrunzelnd versuchte ich, den Sinn seiner Worte zu erfassen. »Soll ich demnach wie ein Gott in meinen Gedanken umherwandeln, um einen Garten für meine Grotesken zu erschaffen?«, fragte ich aufs Geratewohl.

»Das ist keine Blasphemie.« Orma nahm seine Brille ab und warf mir einen eulenhaften Blick zu. »Es ist eine Metapher, so wie alles, was dein Verstand erschafft. Gott deiner eigenen Metaphern zu sein, ist nicht verwerflich.«

»Götter sind aber nicht hilflos«, sagte ich und versuchte dabei, nicht so erschrocken zu klingen, wie ich mich fühlte.

»Auch du bist nicht hilflos«, entgegnete Orma ernst. »Der Garten wird ein Bollwerk sein, das dir Sicherheit gibt.«

»Wie gerne würde ich das glauben.« Wieder brachte ich nur ein Froschkrächzen zustande.

»Glauben könnte tatsächlich hilfreich sein. Dass der menschliche Verstand zu so etwas wie Glauben fähig ist, ruft interessante Hirnveränderungen hervor, die …«

Ich lauschte nicht länger seinen Belehrungen, sondern stützte meine Hände auf die Knie, schloss die Augen und holte mit jedem Atemzug etwas langsamer und etwas tiefer Luft.

Dann kehrte ich zurück in meine eigene Welt.

Eins

Königin Glisselda erspähte den Drachen als Erste. Es war ein sich schnell fortbewegender Fleck, der – noch dunkler als die Dunkelheit des nächtlichen Himmels – auf seinem Flug die Sterne verdeckte und sie gleich darauf wieder neu aufstrahlen ließ.

Sie deutete nach oben und rief: »Einzelner von Westen, Sankt Odgo steh uns bei!«, womit sie die einstigen Warnrufe der Ritter nachahmte. Dass sie dabei mit den Zehen wippte und laut lachte, schmälerte die Wirkung ihrer Worte ein wenig. Der Winterwind trug die heitere Stimme fort. Die Stadt zu unseren Füßen war in eine frische Schneedecke gehüllt und lag still und geborgen da wie ein schlafender Säugling.

Von unserem Platz aus hatten einst geübte Späher den Himmel nach Drachenbataillonen abgesucht. Heute waren nur die Königin und ich auf den Ard-Turm von Schloss Orison gestiegen, und der »Einzelne von Westen« war, den Heiligen sei Dank, eine Freundin: Eskar, ehemalige Staatssekretärin in diplomatischen Diensten. Vor etwa drei Monaten, kurz vor Beginn des Drachenkriegs, hatte sie meinem Onkel Orma geholfen, den Zensoren zu entwischen.

Ardmagar Comonot, der abgesetzte Anführer der Drachen, hatte Eskar aufgetragen, für Orma eine sichere Zuflucht zu finden und danach unverzüglich wieder nach Goredd zurückzukehren, wo Comonot sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte, solange er sich im Exil befand. Der Ardmagar hatte geplant, Eskar in seinen Beraterstab aufzunehmen, sie vielleicht sogar zum General zu befördern, aber die Monate vergingen, und Eskar kam weder zurück, noch sandte sie eine Nachricht.

Erst in den frühen Abendstunden dieses Tages war sie mithilfe eines Quigutl-Geräts mit Comonot in Verbindung getreten. Beim Abendessen hatte Comonot Königin Glisselda darüber in Kenntnis gesetzt, dass man Eskar um Mitternacht erwarten würde. Dann hatte er sich schlafen gelegt und es der Königin überlassen, ob sie aufbleiben und warten wollte oder nicht.

Dieses Verhalten war typisch für Comonot und die Königin hatte es mittlerweile gründlich satt.

Weder hatte er etwas über die Gründe von Eskars plötzlicher Rückkehr verlauten lassen, noch hatte er verraten, wo sie gewesen war. Gut möglich, dass er es selbst nicht wusste.

Glisselda und ich stellten unsere eigenen Spekulationen an, um uns die Zeit zu vertreiben und uns von der Kälte abzulenken. »Eskar ist zu der Ansicht gekommen, dass der Bürgerkrieg unter den Drachen bereits viel zu lange dauert, und will den Kämpfen jetzt eigenhändig ein Ende setzen«, mutmaßte Glisselda. »Hat sie dich jemals mit ihrem finsteren Blick angesehen, Serafina? Sie könnte sogar die Planeten aus ihren Umlaufbahnen bringen.«

Eskar hatte mich noch nie mit finsterem Blick angesehen, aber ich konnte mich noch gut an den Blick erinnern, mit dem sie meinen Onkel vor drei Monaten angesehen hatte. Deshalb war ich mir sicher, dass sie die ganze Zeit bei meinem Onkel gewesen war.

Glisselda und ich hatten beide eine Fackel dabei, um Eskar zur Turmspitze zu lotsen. Prinz Lucian Kiggs war auf diese Idee gekommen – wegen der Aufwinde und so weiter. Außerdem würden die Schlossfenster zu Bruch gehen, wenn Eskar versuchte, im Schlosshof zu landen. Dass ein Drache hier oben weniger Aufruhr erregen würde als unten in der Stadt, hatte er nicht eigens erwähnt. Seit einiger Zeit konnte man in Goredd häufiger Drachen in ihrer ganzen imposanten Größe am Himmel sehen, denn Comonots Verbündete gingen hier sozusagen ein und aus. Zu behaupten, die Menschen hätten sich daran gewöhnt, wäre allerdings übertrieben.

Eskar war bereits im Anflug auf die Stadt, als klar wurde, dass sie eigentlich zu groß war, um auf dem Turm zu landen. Vielleicht war sie zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt, denn in letzter Sekunde machte sie ein paar kräftige Schläge mit ihren dunklen, ledrigen Flügeln und peitschte einen heißen Windstoß auf, ehe sie nach Süden Richtung Stadtgrenze schwenkte. Von drei Häuserblocks stieg Rauch auf und der frische Schnee verwandelte sich in Dampf.

»Was macht sie denn da? Will sie die Handwerkskunst ihrer Artgenossen auf den Prüfstand stellen? Wenn sie nicht aufpasst, wird sie entdeckt. Es gibt immer Leute, die noch wach sind«, sagte Glisselda und schob die Kapuze ihres pelzverbrämten Mantels zurück. Ihre gute Stimmung kippte in schlechte Laune um, was in letzter Zeit nichts Ungewöhnliches war. Ihre goldenen Locken schimmerten im Schein der Fackeln und passten so gar nicht zu ihrer verdrossenen Miene.

Eskar schwang sich in den Sternenhimmel, nur um gleich darauf wieder aus dem Dunkeln aufzutauchen und das Herz der Stadt anzupeilen wie ein Falke seine Beute. Glisselda hielt vor Schreck die Luft an. In allerletzter Sekunde bog Eskar ab, rauschte als schwarzer Schatten auf weißem Schnee über das Ufer des gefrorenen Mew und riss das Eis mit ihrem Echsenschwanz auf.

»Und jetzt zeigt sie uns auch noch, wie kinderleicht es ist, unsere Verteidigungslinien zu durchbrechen, indem sie so fliegt, dass unsere Pyria-Geschosse sie nicht erreichen können. Auf diese Weise sind die Häuser nicht dem Erdboden gleichgemacht worden, Eskar!«, rief die junge Königin in den Wind, als könnte der Drache sie aus einer solchen Entfernung hören. »Er war nämlich schon längst diesseits der Mauern!«

Mit »er« war der dritte Drachen-Attentäter gemeint, den Prinz Lucian vor Kurzem aufgespürt hatte. Comonots Feinde, die Alte Ard, hatten ihn auf den Ardmagar angesetzt. Für seine Flucht hatte der Saarantras seine Menschengestalt abgelegt und sich wieder in einen lebensgroßen Drachen verwandelt. Daraufhin hatte sich auch Comonot verwandelt und den Angreifer getötet, aber fünf Menschen waren dabei zu Tode gekommen, und sechsundfünfzig hatten durch das von den Drachen ausgelöste Flammeninferno ihr Zuhause verloren.

So viel Zerstörung, ausgelöst von gerade mal zwei Drachen. Niemand mochte sich die schrecklichen Verwüstungen vorstellen, die uns erwarteten, falls es Comonots Getreuen nicht gelang, die Alte Ard abzuwehren, und Goredd tatsächlich in einen Krieg verwickelt werden würde.

»Lars tüftelt an neuen Kriegsgeräten herum«, sagte ich, um ein bisschen Zuversicht zu verbreiten. »Und die Dracomachisten in Fort Übersee darf man auch nicht unterschätzen.« Die in die Jahre gekommenen Ritter des Südlands und ihre etwas jüngeren Knappen, die man überstürzt zu Rittern geschlagen hatte, sollten Comonot bei seinem Vorhaben zur Seite stehen.

Glisselda schnaubte abfällig, während sie beobachtete, wie Eskar eine zweite Runde über der Stadt drehte. »Selbst wenn unsere Ritterschaft ihre volle Kraft wiedererlangt hätte – und hastig ausgebildete Dracomachisten sind noch lange keine Ritter –, würde diese Stadt in kürzester Zeit in Schutt und Asche liegen. Wir beiden kennen das nur nicht, weil wir in Friedenszeiten aufgewachsen sind.«

Der Wind frischte auf und erinnerte uns daran, wie hoch oben wir standen. Meine Hände in den Handschuhen waren schweißnass. »Comonots Verbündete werden uns beschützen.«

»Es ist anzunehmen, dass sie unsere Leute beschützen werden, aber die Stadt an sich bedeutet ihnen nichts. Lucian meint, wir sollten die Tunnel wieder bewohnbar machen. Wir haben dort schon einmal einen Krieg überlebt und alles andere lässt sich wieder aufbauen.« Sie hob den Arm, ließ ihn aber sofort wieder sinken; sie schien sich nicht einmal mehr zu einer Geste aufraffen zu können. »Meine Großmutter hat mir eine Stadt als Erbe hinterlassen, die in Friedenszeiten zu großer Blüte gelangt ist. Ich hasse die Vorstellung, sie womöglich aufgeben zu müssen.«

Eskar hatte offensichtlich einen Aufwind im Osten des Schlossbergs erwischt und kehrte wieder zurück. Glisselda und ich drückten uns gegen die Brüstung, als Eskar den Turm ansteuerte. Ihre kräftigen dunklen Flügel wirbelten schwefelige Luft zu uns herüber und brachten unsere Fackeln zum Erlöschen. Ich stemmte mich gegen den Wind, denn ich hatte Angst, über das Geländer gefegt zu werden. Eskar landete auf dem Turm und stand einen Augenblick mit ausgebreiteten Flügeln da. Ihr vibrierender Schatten hob sich gegen den Nachthimmel ab. Ich hatte häufig mit Drachen zu tun – ich war ja selbst ein Halbdrache –, aber noch immer stellten sich mir bei ihrem Anblick die Nackenhaare auf. Vor unseren Augen begann die Verwandlung der schuppigen, krallenbewehrten Gestalt, sie rollte sich ein und schrumpfte, kühlte ab und verdampfte, faltete sich zusammen, bis schließlich eine kurzhaarige, schöne nackte Frau auf der eisigen Turmhöhe stand.

Glisselda nahm mit elegantem Schwung ihren Pelzumhang ab, näherte sich dem Saarantras, wie die Drachen in Menschengestalt genannt werden, und hielt der Frau das warme Kleidungsstück hin. Eskar beugte den Kopf und Glisselda legte den Mantel behutsam über ihre nackten Schultern.

»Willkommen hier bei uns, Staatssekretärin«, sagte die junge Königin.

»Ich werde nicht bleiben«, erwiderte Eskar knapp.

»Nun denn«, sagte Glisselda ohne jede Spur von Überraschung. Sie war zwar erst seit drei Monaten Königin, nachdem auf ihre Großmutter ein Giftanschlag verübt worden war, aber schon jetzt beherrschte sie die Kunst, sich den Anschein von Gleichmütigkeit zu geben. »Weiß Ardmagar Comonot das?«

»Da, wo ich herkomme, nütze ich ihm mehr«, sagte Eskar. »Sobald ich ihm die Lage erklärt habe, wird er das verstehen. Wo ist er?«

»Ich nehme an, er schläft«, sagte Glisselda. Mit einem Lächeln versuchte sie ihre Verärgerung darüber zu kaschieren, dass Comonot es nicht für nötig hielt, wach zu bleiben und Eskar persönlich zu begrüßen. Glisselda sparte sich ihren Zorn meist für den Cembalo-Unterricht auf. Inzwischen war ich daran gewöhnt, dass sie sich bei mir über Comonots schlechtes Benehmen beschwerte und erklärte, sie habe es satt, sich bei den menschlichen Verbündeten für sein grobes Verhalten zu entschuldigen. Sie könne es kaum erwarten, dass er seinen Krieg gewann und endlich in seine Heimat zurückkehrte.

Dank meines Onkels Orma und der Erinnerungen, die meine Mutter mir hinterlassen hatte, kannte ich mich mit Drachen einigermaßen gut aus. Eskar würde keinerlei Anstoß an Comonots Verhalten nehmen, egal was er tat. Vermutlich wunderte sich die Staatssekretärin, warum nicht auch wir längst in unseren Betten lagen. Glisselda war hier, weil es sich ihrer Meinung nach so gehörte, während ich es kaum erwarten konnte, zu erfahren, wie es meinem Onkel Orma ging, und ich mir daher die Gelegenheit nicht entgehen lassen wollte, Eskar persönlich zu sprechen.

Das Wiedersehen machte mich ein wenig verlegen. Bei unserer letzten Begegnung, auf der Krankenstation von Sankt Gobnait, hatte ich gesehen, wie behutsam Eskar die Hand meines verletzten Onkels gehalten hatte. Es schien Jahre her zu sein. Ohne nachzudenken, streckte ich die Hand aus und sagte: »Geht es Orma gut? Ich hoffe, Ihr bringt keine schlimmen Nachrichten.«

Eskar blickte auf meine Hand und zog eine Augenbraue hoch. »Ihm geht es gut. Es sei denn, er nutzt meine Abwesenheit dazu aus, etwas Törichtes zu tun.«

»Lasst uns hineingehen, Staatssekretärin«, sagte Glisselda. »Die Nacht ist bitterkalt.«

Eskar hatte in ihren Krallen ein Bündel Kleider mitgebracht, die jetzt im Schnee lagen. Sie hob die Sachen auf und folgte uns die schmale Treppe hinunter. Auf dem Weg nach unten sammelte Glisselda eine weitere Fackel ein, die sie klugerweise zuvor im Turm aufgestellt hatte. Wir überquerten einen kleinen Innenhof, dem der Schnee ein fast gespenstisches Aussehen verlieh. Bis auf wenige Ausnahmen lag das Schloss in tiefem Schlaf. Die Nachtwachen beobachteten zwar, wie wir durch einen Seiteneingang den Palast betraten, waren jedoch geschult genug, es sich nicht anmerken zu lassen, falls die nächtliche Ankunft eines Drachen sie beunruhigte.

Ein Page, der so schläfrig war, dass er Eskar kaum bemerkte, hielt uns die Tür zum neuen königlichen Studierzimmer auf. Glisselda hatte eine fast abergläubische Scheu verspürt, den Raum ihrer Großmutter mit den vielen überquellenden Bücherregalen für sich in Beschlag zu nehmen, und stattdessen einen Raum gewählt, der luftiger war und eher einem Salon als einer Bibliothek ähnelte. Vor den dunklen Fenstern stand ein wuchtiger Tisch, üppige Wandbehänge zierten die Wände, und auf der linken Seite befand sich ein Kamin. Dort stand Prinz Lucian Kiggs und stocherte im Feuer.

Kiggs hatte vier hochlehnige Stühle an den Kamin geschoben und einen Kessel aufgesetzt. Er richtete sich auf, um uns zu begrüßen, und strich seine purpurrote Weste glatt. Sein Gesichtsausdruck verriet nichts, aber seine Augen funkelten wach.

»Staatssekretärin«, sagte er und verbeugte sich formvollendet vor der halb nackten Saarantras. Eskar ignorierte ihn völlig. Ich unterdrückte ein Lächeln. In den vergangenen drei Monaten hatte ich den Prinzen nur selten zu Gesicht bekommen, aber jede Geste, jede dunkle Locke auf seinem Kopf war mir lieb und teuer. Für einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke, dann wandte er sich Glisselda zu. Er würde nicht so unhöflich sein und die Zweite Hofkomponistin noch vor der Königin begrüßen, die zugleich seine Cousine und seine Verlobte war.

»Setz dich, Selda.« Der Prinz bürstete ein nicht vorhandenes Staubkorn von einem der Stühle in der Mitte und streckte die Hand nach seiner Verlobten aus. »Du musst halb erfroren sein.«

Glisselda ergriff seine ausgestreckte Hand und ließ sich zu ihrem Platz führen. Sie schüttelte die Schneeflocken vom Saum ihres wollenen Gewands auf die farbigen Kaminfliesen.

Ich nahm auf dem Stuhl gleich neben der Tür Platz. Zu der Besprechung war ich nur deshalb gebeten worden, damit ich die Neuigkeiten von meinem Onkel erfuhr. Sobald das Gespräch sich um Staatsangelegenheiten drehte, musste ich den Raum verlassen. Inoffiziell war ich jedoch eine Art Übersetzerin, um gegebenenfalls Verständigungsprobleme aus dem Weg zu räumen. Dass Glisselda Comonot nicht schon längst aus dem Palast geworfen hatte, war unter anderem auch meiner Diplomatie zu verdanken.

Eskar ließ ihr Bündel auf den Stuhl zwischen Glisselda und mir fallen und schnürte es auf. Kiggs wandte ihr taktvoll den Rücken zu. Die Funken stoben, als er ein neues Scheit in den Kamin legte. »Habt Ihr erfreuliche Nachrichten, was den Kriegsverlauf angeht, Eskar?«, fragte er.

»Nein«, sagte Eskar, die damit beschäftigt war, eine Hose mit der richtigen Seite nach außen zu kehren. »Ich war nicht an der Front. Und ich habe auch nicht die Absicht, dorthin zu gehen.«

»Wo wart Ihr dann?«, platzte ich heraus, was äußerst unhöflich war, aber ich konnte einfach nicht anders.

Kiggs zog die Augenbrauen zusammen, aber sein Blick war mitfühlend.

Eskar reagierte steif. »Bei Orma, wie du dir sicher bereits gedacht hast. Den genauen Ort möchte ich nicht preisgeben. Wenn die Zensoren seinen Aufenthalt erfahren, muss er um seinen Verstand fürchten. Sie werden alles daran setzen, seine Erinnerungen auszulöschen.«

»Selbstverständlich würden wir Stillschweigen darüber bewahren«, sagte Glisselda leicht gekränkt.

Eskar streifte eine Tunika über Kopf und Arme. »Verzeiht«, sagte sie, als ihr Kopf wieder zum Vorschein kam. »Vorsicht ist zu meiner zweiten Natur geworden. Wir sind in Porphyrien gewesen.«

Ich verspürte ein überwältigendes Gefühl der Erleichterung – als wäre ich seit drei Monaten unter Wasser und könnte zum ersten Mal wieder Luft holen. Gerne hätte ich Eskar spontan in den Arm genommen, aber ich beherrschte mich. Drachen reagieren oft gereizt, wenn man ihnen zu nahe kommt.

Glisselda bedachte Eskar mit kritischem Blick. »Eure Loyalität Orma gegenüber ist bewundernswert, aber Eurem Ardmagar schuldet Ihr noch weit mehr. Er könnte eine kluge, starke Kämpferin wie Euch gut gebrauchen. Ich habe gesehen, wie Ihr den Drachen Imlann vom Himmel geholt habt.«

Es entstand eine lange Pause. Zur Wintersonnenwende hatte Imlann, mein Drachengroßvater, Glisseldas Mutter getötet, ihre Großmutter vergiftet und einen Attentatsversuch gegen Ardmagar Comonot unternommen. Orma hatte Imlann in der Luft bekämpft und war dabei schwer verwundet worden; Eskar war gerade noch rechtzeitig gekommen, um Imlann zu erledigen. In der Zwischenzeit hatten einige intrigante Drachengeneräle, die sich die Alte Ard nannten und Comonots Friedensvertrag mit Goredd ablehnten, in Tanamoot eine Rebellion angezettelt. Sie hatten die Drachenhauptstadt in ihre Gewalt gebracht und Comonot geächtet.

Hätte Comonot wie geplant den Tod gefunden, hätte die Alte Ard den vor vierzig Jahren mit Königin Lavonda geschlossenen Frieden sofort aufgekündigt. Aber Comonot hatte überlebt und seine Getreuen um sich geschart. Bisher beschränkte sich der Krieg noch auf die Berge im Norden, und bisher kämpften nur Drachen gegen Drachen, während Goredd die Auseinandersetzungen wachsam beobachtete. Aber die Alte Ard hatte es sich zum Ziel gesetzt, Comonot aus dem Weg zu räumen und die Menschen anzugreifen, um die südlichen Jagdgründe zurückzugewinnen. Wenn es Comonots Getreuen nicht gelang, die Aufrührer zu vertreiben, würden sie irgendwann auch noch den Süden angreifen.

Eskar fuhr sich mit den Fingern durch ihr kurzes schwarzes Haar, bis es wieder Stand hatte, und setzte sich hin. »Ich kann nicht Comonots General sein«, gab sie unumwunden zu. »Krieg ist unlogisch.«

Kiggs, der den Kessel vom Feuer genommen hatte und nun Tee einschenkte, verbrannte sich die Finger, als eine Tasse überlief. »Verstehe ich Euch richtig, Eskar?«, fragte er stirnrunzelnd und schüttelte dabei seine Hand aus. »Für Euch ist es unlogisch, dass Comonot sein Land zurückhaben und sich – wie auch Goredd – vor den Angriffen der Alten Ard schützen will?«

»Nein, das ist es nicht.« Eskar nahm eine Tasse Tee entgegen. »Es ist sogar Comonots gutes Recht. Aber auf Gewalt mit Gewalt zu antworten, ist rückschrittliches Verhalten.«

»Krieg bringt immer wieder Krieg hervor«, zitierte ich Pontheus, Kiggs’ Lieblingsphilosophen. Er sah mich an und wagte ein kleines Lächeln.

Eskar drehte die Teetasse in der Hand, trank jedoch nicht. »Ein solches Denken ist kurzsichtig. Comonot beschränkt sich auf die unmittelbare Bedrohung und verliert das eigentliche Ziel aus den Augen.«

»Und was ist das eigentliche Ziel Eurer Meinung nach?«, fragte Kiggs und reichte seiner Cousine eine Tasse Tee. Glisselda nahm sie an, ließ Eskar aber nicht aus den Augen.

»Den Krieg zu beenden«, erklärte Eskar und erwiderte Glisseldas forschenden Blick. Keine von beiden blinzelte.

»Aber das will der Ardmagar doch auch.« Kiggs sah mich an und in seinen Augen lag eine unausgesprochene Frage. Ratlos zuckte ich mit den Schultern, ich wusste genauso wenig, worauf Eskar hinauswollte, wie er.

»Nein, der Ardmagar will gewinnen«, sagte Eskar düster.

Als sie unsere verständnislosen Blicke sah, fügte sie erklärend hinzu: »Drachen legen immer nur ein Ei und die Jungen wachsen sehr langsam heran. Jeder Tod ist für uns eine Bedrohung, daher legen wir unsere Streitigkeiten entweder vor Gericht oder allenfalls noch in einem Zweikampf bei. Kriegerische Auseinandersetzungen zählten bisher nicht zu unseren Strategien. Wenn der Kampf andauert, wird unsere gesamte Spezies den Preis dafür bezahlen. Comonot wäre gut beraten, in unsere Hauptstadt Kerama zurückzukehren, den Opal des Hohen Gerichts zu ergreifen und seinen Fall in aller Form vorzutragen. Wenn er dort wäre, könnte er sich auf unsere Gesetze und Traditionen berufen. Die Ker müsste ihn anhören und die Kämpfe würden unverzüglich eingestellt werden.«

»Was macht Euch so sicher, dass die Alte Ard sich darauf einlassen würde?«, fragte Kiggs und reichte auch mir eine Tasse Tee.

»In Tanamoot gibt es eine erstaunlich große Zahl von Drachen, die sich weder auf die eine noch auf die andere Seite gestellt haben«, sagte Eskar. »Aber sie werden Gesetz und Tradition achten.«

Glisselda tippte mit dem Fuß auf die Fliesen. »Wie könnte Comonot in die Hauptstadt gelangen, ohne auf Schritt und Tritt in Kämpfe verwickelt zu werden?«

»Er muss sich nur an meinen ausgeklügelten Plan halten«, sagte Eskar.

Neugierig beugten wir uns alle vor. Das also war der Grund für Eskars Rückkehr.

Zu unserer Enttäuschung kratzte sie sich am Kinn und sagte kein Wort mehr.

»Und wie sieht dieser Plan aus?« Als Drachenversteherin fiel mir die Aufgabe zu, die Frage laut auszusprechen.

»Er muss mit mir nach Porphyrien zurückkehren«, erklärte Eskar, »um von der anderen Richtung nach Tanamoot zu gelangen, und zwar durch das Tal des Omiga-Flusses. Die Alte Ard rechnet garantiert nicht damit, dass der Feind von dieser Seite kommt. Unser Vertrag mit den Porphyrern ist so uralt, dass die meisten ihn für ein Naturgesetz halten. Die wenigsten wissen, dass er jederzeit aufgelöst oder für nichtig erklärt werden kann.«

»Und die Porphyrer würden sich einverstanden erklären?«, fragte Kiggs und rührte in seinem Tee.

»Der Ardmagar müsste natürlich verhandeln«, erklärte Eskar. »Ich wage allerdings zu behaupten, dass es dennoch zu Kämpfen kommen wird, weshalb er auch unter keinen Umständen alleine reisen darf.«

Königin Glisselda blickte in dem dämmrigen Licht zur Decke und überlegte laut. »Was, wenn er eine Arde als Eskorte mitnimmt?«

»Das würde die Porphyrer nur erschrecken und ihren Widerstand wecken«, sagte Eskar ernst. »Porphyrien hat seine eigene Arde, eine Gemeinschaft von Drachen im Exil, die ein eingeschränktes Leben in ihrer Menschengestalt der Exzision durch die Zensoren vorgezogen haben. Das ist sogar im Vertrag festgelegt: Porphyrien kümmert sich um die Abtrünnigen und im Gegenzug lassen die Drachen das Tal unbehelligt. Einige Exilanten werden sich bereit erklären, Comonot zu begleiten, wenn er sie dafür begnadigt und in die Heimat zurückkehren lässt.«

»Was genau ist unter ›einige‹ zu verstehen?«, fragte Kiggs, der sofort die Schwachstelle des Plans erkannte hatte. »Sind es genug?«

»Überlasst das mir«, antwortete Eskar schulterzuckend.

»Und Orma«, sagte ich, denn mir gefiel die Vorstellung, dass er dem Ardmagar in dieser Sache beistand.

Bei der Erwähnung meines Onkels senkte Eskar für einen kurzen Moment den Blick. Ihre Unterlippe zuckte. Ich sah oder besser gesagt fühlte das Lächeln hinter der undurchdringlichen Maske. Ich blickte zu Glisselda und Kiggs, aber den beiden schien Eskars Reaktion entgangen zu sein.

Sie hatte Orma gern, das wusste ich. Plötzlich überfiel mich Sehnsucht nach ihm.

Eskar tastete in ihrer Hosentasche und holte einen versiegelten Brief hervor. »Für dich«, sagte sie. »Es ist zu gefährlich für Orma, dir mit der Post oder mit Tniks eine Nachricht zu schicken. Er beschwert sich schon, weil ich so unerbittlich über seine Sicherheit wache.«

Der Brief war mit Wachs versiegelt. Als ich ihn in die Hände nahm, knisterte er von der Kälte. Mein Herz schlug schneller beim Anblick der vertrauten Handschrift. Über das flackernde Kaminfeuer gebeugt, entzifferte ich die krakeligen Zeilen:

Eskar wird dir mitteilen, wo ich bin. Ich betreibe meine Forschungen wie geplant. Wir beide haben ja davon gesprochen, du erinnerst dich bestimmt daran. Über meine Entdeckungen kann ich noch nichts sagen, aber das Glück war mir gewogen. Ich gehe das Risiko ein, dir (trotz Eskars Einwänden) zu schreiben, weil ich etwas erfahren habe, dass deiner Königin von Nutzen sein könnte.

Ich habe Grund zu der Annahme, dass du und die anderen Halbdrachen eure Gedanken verknüpfen könnt. »Wie Perlen auf einer Schnur«, habe ich mir sagen lassen. Damit könnt ihr einen unsichtbaren Schutzwall errichten, der selbst einen Drachen mitten im Flug aufzuhalten vermag. »Wie einen Vogel, der gegen ein Fenster prallt«, hat meine Quelle mir versichert, die, anders als ich, zu blumigen Beschreibungen neigt. Du würdest dich wundern, wenn du wüsstest, um wen es sich dabei handelt.

Diese Technik setzt allerdings viel Übung voraus. Je mehr Ityasaari sich in die Gedankenkette einreihen, desto stärker ist der Schutzwall. Die Vorteile liegen auf der Hand. Ich rate dir dringend zur Eile. Suche deine Gefährten, bevor sich der Krieg auf den Süden ausweitet. Falls du nicht vorzeitig aufgibst, wird deine Suche dich bis hierher zu mir führen.

Alles in Ard,

O

Während ich noch den Brief las, erklärte Eskar plötzlich, sie sei sehr müde. Glisselda begleitete sie hinaus ins Vorzimmer und riss den schläfrigen Pagen aus seinem Schlummer, damit er Eskar in ihr Quartier geleitete. Ich nahm dies nur am Rande wahr, dies und auch Lucian Kiggs. Der Prinz beobachtete mich beim Lesen. Als ich fertig war, hob ich den Kopf und blickte direkt in seine dunklen, fragenden Augen.

Der Brief hatte einen solchen Sturm der Gefühle in mir ausgelöst, dass mir ein zuversichtliches Lächeln schwerfiel. Es war bittersüß, von Orma zu hören, denn meine Zuneigung wurde von der Sorge um ihn überschattet. Sein Vorschlag faszinierte mich, versetzte mich aber auch in Angst. So gerne ich meine Artgenossen aufsuchen würde, war mir doch das einschüchternde Erlebnis noch allzu gut in Erinnerung, als vor einiger Zeit ein Halbdrache mein Bewusstsein beherrschen wollte. Bei der Vorstellung, sich gedanklich mit anderen zu vereinigen, überlief es mich kalt.

Königin Glisselda kehrte wieder auf ihren Platz zurück. »Ich bin gespannt, was Comonot zu Eskars Vorhaben sagt. Bestimmt hat er längst darüber nachgedacht und den Plan verworfen. Für Goredd ist die Gefahr noch lange nicht gebannt. Das Drachengericht könnte ja auch zu Comonots Ungunsten entscheiden.« Ihre blauen Augen huschten zwischen Kiggs und mir hin und her. »Was ist? Was macht ihr für Gesichter? Habe ich etwas verpasst?«

»Orma hat eine Idee«, sagte ich und reichte ihr den Brief. Glisselda hielt das Papier in der Hand, während Kiggs über ihre Schulter spähte und mitlas. Ihre goldenen und seine dunklen Haare berührten sich.

»Was genau erforscht er?« Kiggs blickte mich über Glisseldas gebeugten Kopf hinweg an.

»Historische Aufzeichnungen über Halbdrachen«, antwortete ich vage. »Zum einen hat ihn meine Fremdartigkeit befeuert, nach Geschöpfen wie mir zu suchen.« Ich hatte den beiden von meinem Garten der Grotesken erzählt, sie hatten also eine ungefähre Vorstellung, was ich mit Fremdartigkeit meinte.

»Zum einen? Und zum anderen?«, griff Kiggs meine Einschränkung auf. Er war viel zu schlau. Ich musste mich wegdrehen, damit mein Lächeln mich nicht verriet.

»Orma hält es für unwahrscheinlich, dass es in den Drachenarchiven angeblich keine Berichte über Kreuzungen gibt und dass auch Goreddis Literatur sie mit keinem Wort erwähnt. Die Heiligen sprechen von »Abscheulichkeiten«, und es gibt Gesetze, die solche Partnerschaften verbieten, mehr aber auch nicht. Er geht davon aus, dass irgendwo irgendjemand Versuche unternommen und die Ergebnisse aufgezeichnet hat.«

Wenn die Rede auf Drachenversuche kommt, tritt immer ein merkwürdiger Ausdruck in die Gesichter der Menschen, halb amüsiert, halb abgestoßen. Die Königin und der Prinz bildeten da keine Ausnahme.

»Die Porphyrer haben ein Wort für Geschöpfe wie mich«, fuhr ich fort. »Sie nennen sie Ityasaari. Orma sind Gerüchte zu Ohren gekommen, wonach Porphyrer in dieser Sache etwas aufgeschlossener sein sollen.« Ich brach ab. Selbst jetzt, da alle über mich Bescheid wussten, fiel es mir schwer, über die körperlichen Aspekte meiner Herkunft zu sprechen. »Er hofft darauf, in Porphyrien etwas Aufschlussreiches zu finden.«

»Seine Vermutung scheint richtig gewesen zu sein.« Glisselda überflog erneut den Brief, ehe sie sich lächelnd zu mir wandte und einladend auf Eskars leeren Platz klopfte. Ich rutschte einen Stuhl weiter. »Was hältst du von dieser unsichtbaren Wand?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nie davon gehört und kann es mir nur schwer vorstellen.«

»Ich musste sofort an eine Sankt-Abaster-Falle denken«, sagte Kiggs. Mein fassungsloser Blick schien ihn zu amüsieren. »Bin ich hier der Einzige, der die Schrift liest? Sankt Abaster konnte die Feuer des Himmels zu einem leuchtenden Netz knüpfen und damit die Drachen vom Himmel holen.«

Ich stöhnte auf. »Sankt Abaster lese ich nicht mehr, seit ich an die Stelle kam, wo es heißt: ›Frauen des Südens, lasst keine Würmer in eure Betten, denn damit besiegelt ihr eure eigene Verdammnis‹«.

Kiggs blinzelte, als er begriff, worauf ich hinauswollte. »Das sind noch nicht die schlimmsten Dinge, die er über Drachen gesagt hat oder … oder …«

»Er steht mit seinen Ansichten nicht alleine«, sagte ich. »Sankt Ogdo, Sankt Vitt und so weiter. Orma hat mir die scheußlichsten Stellen aufgelistet. Die Schmähungen von Sankt Abaster zu lesen, fühlt sich an wie eine Ohrfeige.«

»Kannst du dir die Sache mit dem Schutzwall nicht noch einmal durch den Kopf gehen lassen?«, fragte Glisselda. Aus ihren Worten sprach die Hoffnung einer Königin. »Vielleicht gibt es ja doch eine Möglichkeit, unsere Stadt zu retten …«

Ich nickte heftig, um das Frösteln, das mich überlief, zu überspielen. »Ich werde mit den anderen reden.« Insbesondere mit Abdo, der erstaunliche Fähigkeiten besaß. Ja, mit ihm würde ich anfangen.

Glisselda ergriff meine Hand und drückte sie. »Danke, Serafina. Und nicht nur dafür.« Sie lächelte verlegen und auch ein wenig entschuldigend. »Der Winter war hart für mich: Attentäter haben Teile der Stadt niedergebrannt, Comonot war, nun ja, eben Comonot, und Großmutter ist so schrecklich krank. Sie hätte nie gewollt, dass ich mit fünfzehn Königin werde.«

»Vielleicht wird sie ja noch gesund«, sagte Kiggs sanft. »Sie war kaum älter als du, da hat sie bereits mit Comonot den Friedensvertrag unterzeichnet.«

Glisselda streckte ihre andere Hand nach ihm aus und er ergriff sie. »Mein lieber Lucian, ich danke dir.« Ihre Augen funkelten im Lichtschein des Feuers. Sie holte tief Luft und sagte: »Ihr beide seid unersetzlich für mich. Die Pflichten der Krone nehmen mich so in Anspruch, manchmal kommt es mir vor, als wäre ich nur noch Königin. Nur bei dir, Lucian, darf ich immer noch Glisselda sein.« Sie drückte wieder meine Hand. »Und in meinen Cembalostunden. Ich brauche sie, es tut mir leid, dass ich nicht häufiger üben kann.«

»Mich wundert, dass Ihr überhaupt noch Zeit dafür findet«, sagte ich.

»Ich könnte sie niemals aufgeben!«, rief Glisselda leidenschaftlich. »Wann habe ich sonst schon die Gelegenheit, meine Maske abzunehmen?«

Rasch sagte ich zu ihr: »Wenn Abdo, Lars, Lady Okra und ich tatsächlich einen unsichtbaren Schutzwall zustande bringen, werde ich mich auf die Suche nach den anderen Halbdrachen machen.« Bereits zur Wintersonnenwende hatte Glisselda eine solche Reise vorgeschlagen, aber es war nichts daraus geworden.

Glisselda schoss die Röte ins Gesicht. »Ich will aber meine Musikmamsell nicht verlieren.«

Ich sah hinunter auf Ormas Brief und wusste genau, wie sie sich fühlte.

»Trotzdem«, fuhr sie tapfer fort, »zum Wohle Goredds werde ich es ertragen.«

Über Glisseldas Lockenkopf hinweg sahen Kiggs und ich uns an. Er nickte kurz und sagte: »Wir teilen deine Gefühle, Selda. Die Pflicht kommt immer zuerst.«

Glisselda lachte auf und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dann küsste sie auch mich.

Ich nahm Ormas Brief an mich und wünschte den beiden eine gute Nacht – oder besser gesagt einen guten Morgen. Die Sonne ging gerade auf und mir schwirrte der Kopf. Vielleicht würde ich mich bald auf die Suche nach anderen meiner Art machen; diese Erwartung ließ alle weiteren Gefühle in den Hintergrund treten. Draußen vor der Tür schlummerte der Page, blind für alles, was um ihn herum vor sich ging.

Zwei

Ich schloss die Fensterläden meiner Wohnstube und sperrte den heraufziehenden Tag aus. Viridius, der Erste Hofkomponist, dem ich meine Anstellung verdankte, hatte ich bereits mitgeteilt, dass ich in der Nacht nur zu wenig Schlaf kommen würde und er daher wohl erst am Nachmittag mit mir rechnen könne. Er hatte keine Einwände gehabt. Lars, ein Ityasaari wie ich, lebte inzwischen bei Viridius und erfüllte alle Aufgaben eines Gehilfen. Mittlerweile war ich zur Zweiten Hofkomponistin befördert worden, was mir eine gewisse Unabhängigkeit verschaffte.

Erschöpft ließ ich mich aufs Bett fallen, obwohl ich wusste, dass ich keinen Schlaf finden würde. Ich musste immerzu an die Ityasaari denken und daran, wie ich an exotische Orte reisen würde, um mit ihnen zu sprechen. Wie lange würde die Reise dauern? Und was würde ich zu ihnen sagen? Sei gegrüßt, mein Freund. Ich habe von dir geträumt …

Nein, das war albern. Fühlst du dich schrecklich einsam? Sehnst du dich nach einer Familie?

Ich rief mich selbst zur Ordnung, das Ganze war einfach lächerlich. Zuerst einmal musste ich dem Garten meiner Grotesken einen Besuch abstatten und mich um die Bewohner kümmern. Andernfalls würde ich schreckliche Kopfschmerzen bekommen oder sogar eine Vision.

Es dauerte eine Weile, bis mein Atem sich verlangsamt hatte, und noch etwas länger dauerte es, bis mein Kopf wieder klar war. Am liebsten hätte ich ein stummes Gespräch mit Orma geführt. Ist dieses Gedankenknüpfen denn nicht gefährlich? Erinnerst du dich daran, was Jannoula mir angetan hat? Das hätte ich ihn gerne gefragt. Und: Ist die Bibliothek von Porphyrien wirklich so überwältigend wie in unseren Träumen?

Genug der Gedankenplauderei. Ich stellte mir vor, dass ich jeden einzelnen Gedanken in eine Luftblase einsperrte und die Blasen dann in die Welt hinausatmete. Allmählich verebbte der Lärm und in meinem Kopf wurde es dunkel und still.

Ein schmiedeeisernes Tor tauchte vor mir auf, es war der Eingang in meine andere Welt. Ich umklammerte die Stäbe mit meinen gedachten Händen und sagte die ritualisierten Worte, die Orma mir beigebracht hatte: »Das ist der Garten meiner Gedanken. Ich pflege ihn, ich beherrsche ihn. Ich brauche mich vor nichts zu fürchten.«

Das Tor schwang lautlos auf. Ich trat über die Schwelle und spürte, wie ich mich innerlich entspannte. Ich war zu Hause.

Der Garten sah jedes Mal ein bisschen anders aus, aber er war mir immer noch vertraut. Heute hatte ich den Garten an einem meiner Lieblingsplätze betreten, wo alles angefangen hatte: Flederchens Hain. Darin befanden sich porphyrische Obstbäume mit Zitronen, Orangen, Feigen, Datteln und Gola-Nüssen, zwischen denen ein dunkelhäutiger Junge spielte, der immer wieder von dem Obst naschte und die Reste überall liegen ließ.

Die Bewohner meines Gartens waren in der wirklichen Welt Halbdrachen, was ich allerdings erst vor ein paar Monaten herausgefunden hatte, als drei von ihnen wie aus heiterem Himmel in mein Leben platzten. Flederchen war ein freundlicher, dünner Zwölfjähriger, der auf den Namen Abdo hörte und behauptete, dass meine Flöte ihn von weit her gerufen hatte. Er hatte die Verbindung zwischen uns gespürt und war neugierig auf mich geworden. Er und seine Tanztruppe waren zur Wintersonnenwende nach Goredd gekommen und vorerst in der Hauptstadt Lavondaville geblieben. Sie warteten darauf, dass der Schnee auf den Straßen taute, damit sie ihre Reise fortsetzen konnten.

Flederchen war freier als die anderen Gartenbewohner, er konnte den ihm zugewiesenen Bereich verlassen, was vielleicht an Abdos ungewöhnlichen geistigen Fähigkeiten lag. Er konnte beispielsweise mit anderen Ityasaari sprechen. Heute war Flederchen in seinem Hain und schlief, zusammengerollt wie ein Kätzchen, in einem Nest aus flauschigen Feigenblättern. Lächelnd dachte ich mir eine Decke für ihn aus und packte ihn fest ein. Es war natürlich keine echte Decke, und es war auch nicht Abdo, aber die symbolische Handlung war bedeutsam für mich. Er war eben mein Liebling.

Ich ging weiter zur Schlucht des Lauten Lausers und jodelte hinunter. Der blonde, stämmige Mann jodelte zurück. Er war gerade damit beschäftigt, ein Boot mit Flügeln zu bauen. Ich winkte. Mehr brauchte es nicht, um ihn bei Laune zu halten.

Der Laute Lauser war in Wirklichkeit Lars, der samsamesische Dudelsackpfeifer, der bei Viridius wohnte. Wie Abdo war auch er zur Wintersonnenwende in der Stadt aufgetaucht. Ich hatte mir meine Grotesken so ausgedacht, dass sie Ähnlichkeit mit den Gestalten in meinen früheren Visionen hatten. Darüber hinaus hatte jeder dieser Stellvertreter ganz persönliche Eigenheiten entwickelt, die ich ihm nicht mit Absicht verliehen hatte, die jedoch seinen tatsächlichen Lebensumständen entsprachen. Es war, als hätte mein Verstand diese Dinge erahnt und meine Grotesken dementsprechend ausgestattet. Der Laute Lauser bastelte ständig an irgendetwas und machte Lärm, der echte Lars entwarf und baute seltsame Instrumente und Maschinen.

Ich fragte mich, ob diejenigen Halbdrachen, die ich im echten Leben noch nicht kennengelernt hatte, ähnliche Marotten hatten wie ihre Grotesken in meinem Garten. Der dicke, glatzköpfige Bibliothekar zum Beispiel. Er saß in einem Schiefersteinbruch, betrachtete, durch seine eckige Brille hindurchblinzelnd, versteinerte Farne und malte ihre Konturen mit dem Finger als Rauch in die Luft. Oder auch Glimmergeist. Sie war blass und ätherisch und faltete Schmetterlinge aus Papier, die dann in großen Schwärmen durch den Garten flatterten. Nicht zu vergessen Bläulein mit den roten stacheligen Haaren. Sie watete durch einen Fluss und zog eine grüne und purpurrote Spur hinter sich her. Ich hätte gerne gewusst, welche Geschöpfe im echten Leben dahintersteckten.

Ich plauderte nacheinander mit allen, nahm hier beruhigend jemanden in den Arm und gab dort jemandem einen Kuss auf die Stirn. Wir hatten uns zwar noch nicht in der Wirklichkeit kennengelernt, aber schon jetzt waren sie wie gute alte Freunde für mich. Sie waren mir so vertraut wie eine Familie.

Schließlich gelangte ich zu der von Rosen umgebenen Sonnenuhrwiese. Hier wohnte Madame Pingelig. Sie war der dritte und bisher letzte Halbdrache, den ich persönlich getroffen hatte: die Botschafterin von Ninys, Dame Okra Carmine. Ihre Stellvertreterin in meinem Garten kroch auf allen vieren zwischen den Rosenbüschen und zupfte zukünftiges Unkraut, noch ehe es überhaupt hervorsprießen konnte. Die echte Dame Okra hatte die Gabe der Vorahnung und besaß somit ein ganz ähnliches Talent wie Madame Pingelig.

Sie konnte aber auch sehr launenhaft und unfreundlich sein – was meinen Plan, die Halbdrachen zusammenzuführen, möglicherweise erschwerte. Einige von ihnen waren sehr komplizierte Charaktere und manche hatten ein schlimmes Schicksal erlitten. Ich ging an Finchs Goldnest vorbei. Der alte Mann mit dem Schnabelgesicht war vermutlich oft angestarrt, angefeindet und bedroht worden. War er im echten Leben darüber verbittert? Wäre er vielleicht froh, einen sicheren Ort zu finden, an dem Halbdrachen sich gegenseitig halfen und ohne Furcht leben konnten?

Mein Weg führte mich an den Porphyrern vorbei. Zuerst an den dunklen, schlanken, muskulösen Zwillingen Nag und Nagini, die über drei Sanddünen hinweg hintereinander herjagten. Dann an dem ältlichen Pelikanmann, der, wie ich vermutete, ein Philosoph oder Astronom war. Die geflügelte Miserere zog über mir ihre Kreise am Himmel. Abdo hatte angedeutet, dass die Ityasaari in seiner Heimat Porphyrien als Kinder des Gottes Chakhon verehrt wurden. Vielleicht hatten die Porphyrer also gar keine Lust, ihr Land zu verlassen und hierherzukommen?

Auf einige traf das womöglich zu, auf andere ganz sicher nicht. Abdo lag nichts daran, verehrt zu werden. Sobald die Rede darauf kam, rümpfte er die Nase. Und ich wusste aus erster Hand, dass auch Meister Schmetter es nicht immer leicht gehabt hatte.

Ich ging zu seiner Skulpturenwiese, wo vierundachtzig Marmorstatuen wie schiefe Zähne aus dem Gras ragten. Meistens waren es nur einzelne Gliedmaßen – Arme, Köpfe, Zehen. Meister Schmetter, der selbst groß und stattlich wie eine Skulptur war, sammelte zerbrochene Teile und fügte sie wieder zusammen. Er hatte eine Frau aus lauter Händen gemacht und einen Stier nur aus Ohren.

»Dieser Finger-Schwan ist neu, nicht wahr?«, fragte ich und ging zwischen den Skulpturen auf ihn zu. Er gab keine Antwort. Alles andere hätte mich eher beunruhigt. In seiner Nähe zu sein, brachte sofort wieder die Erinnerung an den schrecklichen Tag zurück, an den ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Zu dieser Zeit hatte ich noch keinen Schutzgarten angelegt und war den willkürlich auftretenden Visionen hilflos ausgesetzt gewesen.

Vor meinem inneren Auge hatte sich damals die Szenerie einer zerklüfteten Bergspitze entfaltet, hoch über der Stadt Porphyria. Ein Mann zog einen mit Kisten beladenen Ochsenkarren einen steinigen Pfad hinauf, der so steil war, das kein vernünftiger Ochse sich hinaufgewagt hätte. Die Schultermuskeln des Mannes traten hervor. Er schien kräftiger zu sein, als er aussah. In seinem zotteligen Haar hatte sich der Raureif festgesetzt, aber seine bestickte Tunika war schweißdurchtränkt. Durch Gebüsch und Dickicht und über schroffes Felsgestein setzte er seinen mühevollen Weg fort. Als der Karren stecken blieb, nahm der Mann die Kisten und trug sie zu einer alten Turmruine, die auf der Bergspitze thronte. Er musste dreimal gehen, um sechs große Kisten hinaufzuschleppen und sie auf der bröckelnden Mauer abzusetzen.

Mit bloßen Händen stemmte er die Behältnisse hoch und schleuderte sie nacheinander in den Himmel. Die Kisten überschlugen sich in der Luft. Stroh und Glaswaren purzelten ins Sonnenlicht. Ich hörte das Bersten von Glas, das hässliche Geräusch splitternden Holzes und das Gebrüll des hübschen jungen Mannes, dessen Sprache ich nicht kannte, dessen Wut und Verzweiflung mir hingegen nur allzu vertraut waren.

Nachdem er die gesamte Ladung zerstört hatte, stellte er sich auf eine niedrige Mauer und starrte über die Stadt hinweg zum Horizont, wo der Himmel das violette Meer liebkoste. Er bewegte die Lippen wie bei einem lautlosen Gebet. Der Wind zerrte an ihm, während er unsicher dastand und hinab auf die in der Sonne blitzenden Glassplitter starrte, die wie eine Einladung für ihn waren.

So unglaublich es auch klingt, aber in diesem Moment konnte ich seine Gedanken lesen. Er hatte vor, sich in die Tiefe zu stürzen. Seine Verzweiflung war wie eine Welle, die über mich hinwegspülte, und nur meine eigene Verzweiflung zurückließ. Ich sah ihn durch mein inneres Auge der Vision. Er ahnte nicht, dass ich bei ihm war, und ich hatte keine Möglichkeit, an ihn heranzukommen.

Trotzdem versuchte ich es, ich konnte nicht anders. Ohne genau zu wissen, was ich tat, streckte ich die Hand nach ihm aus und berührte sein Gesicht. Bitte, lebe! Bitte!, flehte ich ihn an.

Er blinzelte wie jemand, der soeben aus einem Traum erwacht. Dann stieg er von der Mauer herab und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Mit unsicheren Schritten wankte er in eine Ecke und erbrach sich. Schließlich schlurfte er wie ein alter Mann mit gebeugten Schultern zurück zu seinem Karren.

Meister Schmetter sah ernst aus, als er jetzt die Statuen in meinem Garten neu ordnete. Ich hätte ihn bei den Händen nehmen und damit absichtlich eine Vision hervorrufen können, um herauszufinden, was er in seinem echten Leben gerade machte, aber ich scheute davor zurück. Es wäre mir wie Ausspionieren vorgekommen.

Was an jenem Tag geschehen war, blieb ein einmaliges Ereignis. Ich wusste immer noch nicht so genau, wie ich es damals geschafft hatte, mit ihm in Verbindung zu treten. Ich konnte mit jenen Ityasaari sprechen, denen ich bereits begegnet war, alle anderen sah ich lediglich wie durch ein Fernglas.

Eine große Müdigkeit überfiel mich, und ich beeilte mich, meine Aufgabe zu Ende zu bringen, damit ich endlich ins Bett gehen konnte. Ich versorgte den ältlichen Molch mit den Stummelgliedern, der sich zufrieden zwischen Glockenblumen im Schlamm wälzte; ich wünschte Gargoyella, dem Wesen mit dem Haifischzähnen im Maul, eine gute Nacht. Sie saß am Brunnen der Dame ohne Gesicht und gurgelte Wasser. Am Sumpf blieb ich stehen und schüttelte amüsiert den Kopf über Pandowdy im trüben Wasser. Es war das monströseste Geschöpf in meinem Garten, ein silberschuppiges Schneckentier ohne Arme oder Beine, groß wie ein Steinmonument.

Bei Pandowdy war ich unschlüssig, ob ich dieses Wesen wirklich finden wollte, und falls ja, wie sollte ich es anstellen, eine solche Kreatur nach Goredd zu bringen? Würde ich ihn womöglich über eine Rampe auf eine Karre rollen müssen? Hatte er Augen oder Ohren, die es mir ermöglichten, mit ihm in Verbindung zu treten? Es war schon schwer genug gewesen, seinen Stellvertreter für meinen Garten zu erschaffen. Ich hatte dafür in das schmutzige Wasser waten und meine Hände auf seine schuppige Haut legen müssen, weil er ja keine Hände hatte, die ich hätte ergreifen können. Er war eisig kalt gewesen und sein Leib hatte auf eine grässliche Weise pulsiert.

Vielleicht war es gar nicht notwendig, alle nach Goredd zu bringen, um die unsichtbare Barrikade zu errichten. Ich konnte es nur hoffen, denn ich hatte ganz bestimmt nicht vor, Jannoula mitzunehmen. Ihre Gartenlaube war meine nächste Station, denn sie grenzte an das Sumpfgebiet. Auf dem dazugehörigen Hof, der früher einmal voller Blumen und Kräuter gewesen war, wucherten jetzt Nesseln und Dornenbüsche. Ich bahnte mir einen Weg bis zur Tür. In meinem Herzen stritten die widersprüchlichsten Gefühle miteinander: Mitleid, Bedauern, aber auch eine unterschwellige Bitterkeit. Ich rüttelte an dem Türschloss. Das kalte Eisen lag schwer in meiner Hand, es rostete nicht und ließ sich auch nicht wegnehmen. Erleichterung mischte sich unter die Gefühle.

Jannoulas Stellvertreter war von Anfang an anders gewesen, nicht passiv und gutmütig wie die übrigen. Die Groteske wusste genau, an welchem Ort sie sich befand und wer ich war, weshalb sie auch irgendwann den Versuch unternommen hatte, in meinen Kopf einzudringen und mir ihr Bewusstsein überzustülpen. Ich hatte mich in letzter Sekunde befreien können, indem ich Jannoula in das Gartenhäuschen gelockt und sie darin eingesperrt hatte.

Ich hatte Angst, dass sich der Vorfall wiederholen könnte. Noch immer fragte ich mich, wie es so weit hatte kommen können und wieso Jannoula so anders war. Auch Abdo war in gewissem Sinne anders, aber meine Verbindung zu ihm war im Laufe der Zeit enger geworden. Außerdem hatte er nie Anstalten gemacht, sich dauerhaft in meinem Kopf einzunisten.

Das war meine größte Sorge in Bezug auf Ormas Plan. Ich fürchtete mich vor den Folgen des Gedankenknüpfens. Würde es schmerzvoll sein wie mein Erlebnis mit Jannoula? Was, wenn wir danach unsere Gedanken nicht mehr entflechten konnten? Was, wenn wir uns gegenseitig Schmerz zufügten? So vielversprechend das Vorhaben war, so viel konnte auch schiefgehen.

Ich kehrte dem Gartenhäuschen den Rücken zu – und fand mich unversehens auf gleicher Höhe mit einer viel zu niedrigen schneebedeckten Bergspitze wieder. Hier wartete der Letzte meiner Grotesken auf mich, der Kleine Tom, der in einer Steingrotte auf einem Miniaturgipfel lebte. Er war acht Fuß hoch, stärker als ein Bär (ich hatte einmal beobachtet, wie er tatsächlich mit einem Bären kämpfte), und seine derbe Kleidung bestand aus zerrissenen, grob zusammengeflickten Decken.

Diesmal war er nicht in seiner Grotte, sondern stand vor der Tür im Schnee. Seine Klauenfüße hinterließen gigantische Abdrücke, als er sich an den wolligen Kopf fasste und in heller Aufregung hin und her stapfte.

Früher war so etwas der Vorbote einer Vision gewesen, aber inzwischen wusste ich, wie ich damit umgehen konnte. Dank meiner aufmerksamen Fürsorge kamen die Visionen nur noch sehr selten vor. In den vergangen drei Jahren hatte ich nur eine einzige Vision gehabt, zur Wintersonnenwende. Aber das war eine Ausnahme gewesen, denn damals hatte Abdo mich absichtlich zu sich gerufen.

»Süßer Tom, lieber guter Tom«, sagte ich in sanftem Ton. Ich umkreiste den wilden Mann, achtete jedoch darauf, nicht in die Reichweite seiner schwingenden Ellbogen zu kommen. Sein Anblick rief fast unweigerlich Mitleid hervor: seine schmutzige Kleidung, sein sonnengebleichtes, zerzaustes Haar, sein verfilzter Bart, in dem kleine Zweige steckten, seine schlechten Zähne. »Du hast ganz allein auf diesem Berg gelebt«, sagte ich mitfühlend und ging noch ein Stückchen näher heran. »Wie schwer muss es gewesen sein zu überleben! Wie sehr musst du gelitten haben!«

Wir hatten alle gelitten, angefangen vom Kleinen Tom bis zu Meister Schmetter. Aber bei allen Heiligen des Himmels und ihrer Hunde, wir mussten nicht alleine leiden. Nicht mehr.

Der Kleine Tom atmete stoßweise, beruhigte sich aber langsam. Schließlich ließ er die Hände sinken und sah mich mit seinen wässrigen Glupschaugen an. Ich wandte mich nicht ab und zuckte auch nicht zurück, sondern packte ihn am Ellbogen und führte ihn in seine Höhle zu dem Nest aus Knochen, das er sich selbst gebaut hatte. Er ließ zu, dass ich ihn hinsetzte, sein überdimensional großer Kopf nickte. Ich strich ihm über seine wirren Locken und blieb bei ihm, bis er eingeschlafen war.

Ein Ort wie dieser würde uns auch in der echten Welt guttun. Ich würde einen Garten für uns alle schaffen. Das war ich den anderen schuldig.

Die Unterstützung der Königin hing in erster Linie davon ab, ob wir diese geheimnisvolle Barriere zustande brachten, und nicht so sehr von meinem Wunsch, meine Schicksalsgefährten zusammenzuführen. Am Nachmittag lud ich daher die drei Ityasaari ein, um über die nächsten Schritte zu sprechen. Lars bot an, das Treffen in Viridius’ Wohnräumen abzuhalten.

ENDE DER LESEPROBE