Sex auf dem Mond ist nicht genug - Kai Psotta - E-Book

Sex auf dem Mond ist nicht genug E-Book

Kai Psotta

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Beschreibung

Tom ist ein Beziehungsdepp. Nach zwei verkorksten Liebschaften hat er nun gänzlich das Gespür dafür verloren, was Frauen wollen. Auch als Victoria in sein Leben tritt, gelingt es ihm nicht, sie glücklich zu machen. Bald hängt die Beziehung am seidenen Faden. Doch dann benutzt Victoria Toms iPad und hinterlässt versehentlich ihre Facebook-Log-in-Daten. Fortan kann Tom Victorias Nachrichten lesen, in denen es bis ins kleinste Detail - vom ersten Date bis zu Intimem aus dem Bett - um das gemeinsame Liebesleben geht. Er erfährt, was seine Freundin manchmal wirklich von ihm denkt, worüber sie sich ärgert: Sie findet ihn zu geizig, zu wenig engagiert - und seinen Penis zu klein. Nach dem ersten Schock über die nun für ihn frei zugänglichen Gedanken seiner Liebsten lässt sich Tom von seinem besten Freund überzeugen, dass die Umstände mehr Segen als Fluch für ihn bedeuten: Scheint er doch so zu seiner ganz persönlichen 'Gebrauchsanweisung' gekommen zu sein, um die wankende Beziehung zu retten - und sich selbst zum begehenswerten Freund und Liebhaber aufsteigen zu lassen. Doch anstatt Schritt für Schritt kleine Veränderungen vorzunehmen, geht Tom gleich aufs Ganze: Blumensträuße, Spontantrips. Und während er alles daransetzt, Victoria ein besserer Partner zu sein und sein Ego auf Vordermann zu bringen, wird ihm bewusst, wie viel Traumfrau tatsächlich die ganze Zeit in ihr steckte. Als er sich auf dem Zenit seiner euphorischen Liebesbekundungen befindet, bewaffnet mit Diamantring und Designerschuh, wird sein Geheimnis gelüftet. Victoria enttarnt Toms Spionageakt und verlässt ihn. Für Tom beginnt ein harter und peinlicher Kampf um die Liebe seines Lebens, an dem mehr Menschen teilhaben, als ihm lieb ist.

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KAI PSOTTA

SEX AUF DEM MOND IST NICHT GENUG

Roman

Für Christina,meine wundervolle Frau

1. KAPITEL

NASA-Praktikant müsste man sein

Sein Schwanz ist halt relativ klein.« Bestimmt zum 20. Mal las Tom, was seine Freundin über sein bestes Stück geschrieben hatte. Ziemlich klein. Tatsächlich fühlte er gerade nicht sehr viel, als er versuchte, ihn durch die Jeans zu ertasten. Natürlich wusste Tom auch so, dass er kein Riesen-Teil hatte, das ihm bis in die Kniekehle reichte. Aber dass seiner Freundin Victoria sein Penis zu klein war, das war ihm neu.

Zwei Jahre waren sie jetzt ein Paar. Ein paar Hundert Mal hatten sie miteinander geschlafen. Eigentlich war es immer ganz gut – glaubte er zumindest. Immerhin wollte sie auch mehrfach am Tag. Gerade anfangs hatte es Wochenenden gegeben, wo sie das Bett nur für wenige Stunden verlassen hatten. Sie hat mir die ganze Zeit nur etwas vorgemacht, dachte Tom, während er nach einem Lineal suchte. Und nun stand er, 36 Jahre alt und Anzeigenleiter bei einem Sportmagazin, mit runtergelassener Hose da und hielt sich ein braunes Holzlineal an sein anscheinend zu kurz geratenes bestes Stück. Das letzte Mal, dass er das gemacht hatte, war als 15-Jähriger. Als er sich noch heimlich unter der Bettdecke Sextipps aus der BRAVO holte. Seine Schulfreunde hatten bei sich nachgemessen und anschließend auf dem Pausenhof mit ihren angeblichen Messergebnissen geprahlt. Da konnte der pubertierende Tom natürlich nicht kneifen. Und nun, 21 Jahre später und im besten Erwachsenenalter, war es wieder so weit.

Nur dass er dieses Mal nicht Maß nahm, um beim Schulhof-Angeber-Geschwätz mitreden zu können, sondern weil seine Freundin ihrer besten Freundin bei Facebook geschrieben hatte, dass Toms bestes Stück nur eine Miniaturausgabe sei.

Eine Miniaturausgabe von exakt zwölf Zentimetern. Mit ein bisschen Tricksen konnte Tom noch ein paar Millimeter rausholen. Je nachdem aus welchem Blickwinkel er auf das Lineal sah, waren es bis zu 12,3 Zentimeter. Mehr aber waren es beim besten Willen nicht. War das jetzt so schlecht? Hatte sein einstiger Schulfreund Helmut nicht damals etwas von 30 Zentimetern erzählt? Wie lang ist eigentlich so ein Durchschnitts-Ding, fragte sich Tom, während er sich vor seinen Computer setzte und ihn anschaltete. Die Hose hatte er inzwischen wieder hochgezogen.

Saublöd kam er sich vor, als er bei Google das Wort »Penis« eingab und sich durch die Trefferliste klickte. Auf der Homepage der BRAVO gab es eine Penis-Galerie mit der Aufforderung: »Schau, welche Unterschiede es gibt!« Wenig erkenntnisreich. Zwei Exemplare hatte er sich angeschaut. Dann reichte es ihm. Nachher werde ich noch schwul, dachte er sich und sprang wegen eines plötzlichen Geistesblitzes auf. Er rannte in die Küche, kramte in der Ramschschublade und fand, wonach er gesucht hatte. Dann schrieb er auf einen gelben Merkzettel, den er an den Computerbildschirm klebte: Chronologie Internetverlauf löschen. Nicht auszudenken, irgendjemand würde seinen Computer nutzen und sich die Liste, die jeder Computer automatisch beim Surfen im Internet erstellt, anschauen, auf der alle besuchten Seiten dokumentiert werden.

Als Nächstes las Tom eine Geschichte über einen Tiefsee-Tintenfisch mit seinem 67-Zentimeter-Penis, den Forscher vor den Falklandinseln entdeckt hatten. Unter dem Bericht gab es eine Verlinkung, die zu einem Exkurs über Walpenisse weiterleitete. Tom erfuhr, dass der in Schleswig-Holstein gestrandete Pottwal Alfred einen Penis hat, den man laut Auskunft des Chefpräparators des Naturkundemuseums Münster »kaum zu zweit tragen kann«. Ein Zentner schwer soll das Ding angeblich sein. Bei einer Größe von 1,56 Metern. »Wal-Sperma ist das hochwertigste Fett, das es gibt«, erklärte der Präparator weiter. »Früher hat man es für Nähmaschinen und Uhren benutzt. Heute setzt man es in der Raumfahrt ein, um Gelenke zu schmieren.«1

Weil der russische Autobauer Dartz sich zum Ziel gesetzt hatte, das beste Luxusauto der Welt zu bauen, überzogen sie nicht nur die Armaturen mit Diamanten, sondern auch noch die Sitze mit Leder vom Walpenis. Aus der Vorhaut, so erfuhr Tom, soll angeblich das softeste Leder der Welt hergestellt werden können. Inspiriert wurde der russische Autobauer durch den berühmten Reeder Aristoteles Onassis, der, wie behauptet wurde, auf einer seiner Luxusjachten Barstühle aus besagtem Material hatte. Nach Bekanntwerden der Pläne des Autobauers kam es allerdings zu einer weltweiten Protestwelle. Dartz lenkte ein und verwendet kein Walpenis-Leder.

Nach einer weiteren halben Stunde wusste Tom, dass auch Pop-star Robbie Williams unter der Größe seines besten Stücks litt. Und dass sich ein Mann aus Russland – so berichtete zumindest die Bild – im betrunkenen Zustand über einen Waschbären hermachen wollte, der dem Perversling allerdings an die richtige Stelle biss und ihm so schwere Verletzungen zufügte.

Dank seiner Penis-Recherche erfuhr Tom, dass es in Florida gesetzlich verboten ist, Sex mit einem Stachelschwein zu haben, ebenso wie mehr als zwei Dildos in Haushalten in Arizona. Die größte Pornosammlung der Welt soll es in San Francisco geben, wo das Institute for Advanced Study of Human Sexuality rund 80.000 Bücher und 150.000 Filme lagert. Und der profitabelste Pornofilm Deep Throat bei gerade mal 22.000 Dollar Produktionskosten gigantische 100 Millionen Dollar einspielte. Zumindest könnte er jetzt auf jeder Party für Lacher sorgen, dachte sich Tom, und ihm kam kurzzeitig in den Sinn, sich den Zusatz »Diplom-Porno-und-Penis-Experte« auf seine Visitenkarten drucken zu lassen.

62,2 Millionen Treffer hatte er bei seiner Google-Suche nach dem Wort »Penis« bekommen. Bei »Sex« waren es sogar gigantische 760 Millionen. Im Magazin der Süddeutschen Zeitung fand Tom die Geschichte eines Mannes, der Sex auf dem Mond hatte. »Ich bin der Einzige, der das von sich behaupten kann«, sagte Thad Roberts in dem Interview. Tom las weiter. 24 Jahre war der Kerl alt. Ein Student, der als Praktikant bei der NASA im Johnson Space Center in Houston arbeitete. »Meine Aufgabe war es, die Gesteinsproben zu katalogisieren, die Astronauten von der Apollo-Mission mitgebracht haben«, erzählte Roberts. In einem Tresor lagen Mondsteine, die für die Wissenschaftler keinen Nutzen mehr hatten. »Für Experimente braucht man Steine, die noch nie mit der Erdatmosphäre in Berührung gekommen sind.« Die anderen Wissenschaftler haben sie, so Roberts, als Abfall bezeichnet.

Als er sich dann in Tiffany, eine Biologiestudentin, die ebenfalls ein Praktikum bei der NASA absolvierte, verguckte, versprach er ihr als Zeichen seiner Liebe ein Stück vom Mond. »Sie hätten mal ihr Gesicht sehen sollen, als ich ihr sagte, dass ich es ernst meinte mit diesem Geschenk«, erklärte Roberts. »Tiffany spielt in einer ganz anderen Liga als ich. Sie ist so wunderschön. So klug.«

Also beschloss er, seinen irren Plan tatsächlich umzusetzen, und überredete Tiffany, ihm bei dem Coup zu helfen. Sie besorgten sich einen Minibus, kamen mit ihren Dienstausweisen problemlos auf das NASA-Gelände. Weil er den Ziffernblock des Tresors, in dem die Mondsteine lagen, mit fluoreszierendem Pulver bestäubt hatte, konnte Roberts das Türschloss leicht knacken. »Den 270 Kilo schweren Tresor mit den Steinen haben Tiffany und ich auf einen Rollwagen geschnallt und ins Auto geladen. Als wir durch die Gänge schlichen, haben wir die Titelmelodie von Mission Impossible gesummt«, verrät Roberts. Er habe nie gewollt, dass Tiffany die Aktion als Diebstahl sieht. »Als Dieb wird man nicht geliebt. Als Abenteurer schon«, sagt er. Am Stadtrand mieteten sich die beiden Praktikanten ein Motelzimmer und sägten den Tresor auf. Ihre Beute: Hunderte Proben, manche klein wie Erbsen, andere groß wie Golfbälle. »Ich habe Tiffany in die Augen geschaut, und mir wurde klar, dass wir tatsächlich Teile des Monds geklaut hatten. Sie hat gestrahlt, und ich wusste: Das war es wert.«

Ein kleiner Stein, den Neil Armstrong bei der ersten Mondlandung aufgesammelt hatte, sollte ein Anhänger für eine Halskette werden. »Wir haben uns schon ausgemalt, wie wir als altes Ehepaar zusammen auf der Terrasse sitzen, zum Mond schauen und diesen Gesteinsbrocken in der Hand halten.« Ein paar Steine wollten die beiden verkaufen, um mit dem Geld ein gemeinsames Leben beginnen zu können.

Als Tiffany ins Bad ging, um sich frisch zu machen, legte Thad ein paar der Mondsteine unter das Kopfkissen und die Matratze des Hotelbetts. Er wollte quasi mit ihr gemeinsam auf dem Mond liegen. »Ich wollte sie eigentlich nur im Arm halten, aber es wurde immer leidenschaftlicher. Irgendwann hatten wir dann Sex.« Ja, er sei der einzige Mann, der von sich behaupten könne, Sex auf dem Mond gehabt zu haben. Allerdings war es sein letzter Sex für eine sehr lange Zeit.

Ein paar Stunden später wurde Roberts verhaftet. Ein potenzieller Käufer der Mondsteine hatte die Polizei eingeschaltet. Wegen eines dummen, romantischen Streichs wurde der NASA-Praktikant zu 100 Monaten, also fast achteinhalb Jahren, Gefängnisstrafe verurteilt. »Ich habe gesagt, dass Tiffany den Diebstahl nie begehen wollte, sondern dass ich sie zu alldem angestiftet hätte. Dadurch ist sie mit einer Bewährungsstrafe davongekommen.«2 Das war, auch wenn der Ausgang verheerend war, der schönste Liebesbeweis, von dem Tom je gehört hatte. Einer Lösung seines Schwanzproblems war er allerdings noch immer kein bisschen näher gekommen.

Zwei Stunden saß er inzwischen vor seinem Rechner. Teils angewidert, teil völlig schockiert. Mitunter aber sogar bestens unterhalten. Hohen Unterhaltungswert hatte die Geschichte über Sigurdur Hjartarson, einen Lehrer im Ruhestand, der in Island die wohl größte Schwanzsammlung der Welt hat. 273 Proben von 92 Arten gehören zu seinen Errungenschaften, die er in mehr als 30 Jahren gesammelt hatte. Der Eisbärpenis ist leider in schlechtem Zustand, da der Knochen vom Naturkundemuseum entfernt worden ist. »Ich will einen besseren Eisbärpenis«, sagt Hjartarson. Auch der von einem Menschen fehlt ihm noch. »Es gibt aber ein paar Leute, die Verträge unterschrieben haben, dass sie mir nach ihrem Tod ihren Penis überlassen.«3

Viele, viele Klicks später fand Tom dann endlich, wonach er gesucht hatte. Ein Europa-Ranking der Penisgrößen. Laut einer Studie des Instituts für Kondomberatung haben französische Männer mit 15,48 Zentimetern den größten Penis. Deutsche Männer liegen mit 14,61 Zentimetern im Mittelfeld. Mit am schlechtesten bestückt sind die Griechen mit 12,18 Zentimetern. »Ich habe einen Griechen-Pimmel«, stammelte Tom schockiert.

Drei Tage war es jetzt her, seit Tom Zugang zu den geheimsten Gedanken seiner Freundin hatte. Victoria hatte sich über sein iPad in ihrem Facebook-Account eingeloggt und vergessen, die Sitzung wieder zu beenden. Ihr Kennwort hatte sie dabei versehentlich gespeichert – und nun konnte Tom sich jederzeit wieder auf der Seite seiner Freundin einloggen und alle ihre Nachrichten lesen. Auch die, die sie ihrer besten Freundin Hannah schickte, die seit Neuestem in Bonn arbeitete und nur noch am Wochenende nach München kam.

Hannah und Victoria kannten sich seit dem Kindergarten, sie tauschten sich wirklich über alles aus. Jeder Mann wurde vorab gemeinsam gecheckt. Jedes Date bis ins letzte Detail seziert. Kurzum: Es gab nichts, was Hannah und Victoria nicht voneinander wussten. Und so konnte Tom von seinem allerersten Date bis heute genau nachlesen, was seine Freundin von ihm dachte, welche Ängste sie hatte und worüber sie sich ärgerte.

»Alter, Glückwunsch. Das ist fast so gut wie ein Lottogewinn«, befand Björn, Toms bester Freund, als er von der Facebook-Entdeckung erfuhr. »Du bist der größte Glückspilz. Deine Freundin liefert dir, ohne es zu wissen, eine Gebrauchsanweisung für sich. Du musst nur noch lesen, was sie sich wünscht, und abstellen, was sie nervt, und schon bist du der perfekte Freund. Du kannst sie quasi nach Lust und Laune ausspionieren und sie mit dem heimlich erworbenen Insiderwissen zu deinen Gunsten manipulieren.«

So hatte das Tom noch gar nicht gesehen. Eigentlich war er ein anständiger Kerl. Er würde nie heimlich an Victorias Handy gehen, um SMS zu lesen. Selbst wenn es direkt vor seiner Nase lag und sie unter der Dusche stand, würde er diesen Vertrauensbruch nicht begehen. Er wollte nicht in ihrer Privatsphäre schnüffeln. Doch so unrecht hatte Björn nicht. Außerdem war es ja ihr Fehler gewesen. Sie hatte ihm den Zugang quasi auf dem Silbertablett präsentiert. Und vor allem sah er eine Chance, seine Beziehung zu retten.

So richtig gut lief es nämlich schon seit mehreren Wochen nicht mehr. Streng genommen war die Beziehung sogar nur noch eine Katastrophe. Sie hing am seidenen Faden. Aber warum das so war, das konnte sich Tom einfach nicht erklären. Ohnehin war er alles andere als ein Frauenexperte. Sein Selbstwertgefühl war nach zwei verkorksten Beziehungen ziemlich erschüttert.

Sechs Jahre war er mit Britta zusammen gewesen. Sie war seine erste große Liebe. Sie gingen lange in eine Klasse. In der Oberstufe funkte es dann und Tom und Britta wurden ein Paar. Von ihren Mitschülern wurden sie für die Abizeitung zum »Pärchen des Jahrgangs« gewählt. Toms Eltern mochten Britta, eine Tochter aus gutem Haus. Ihr Vater war Stararchitekt, der prämierte Gebäude erschaffen hatte. Ihre Mutter hatte es als Konzertpianistin zu landesweitem Ruhm gebracht. Die Familie verkehrte in den höchsten Kreisen der Stadt und konnte sich mit der »Unterschicht«, wie sie Menschen mit einem Verdienst unter 10.000 Euro im Monat bezeichneten, nicht anfreunden. Die drei Kinder waren weitestgehend von einer Nanny großgezogen worden. Sich beim Spielen schmutzig zu machen, war verpönt. Als Brittas kleiner Bruder den Wunsch hatte, einem Fußballverein beizutreten, redeten die Eltern es ihm aus. »Das ist ein Sport für Asoziale.« Statt Fußball spielte der Kleine fortan Golf. Als er sich ein Haustier wünschte, bekam er einen Chemiebaukasten. »Das ist genauso spaßig«, sagte seine Mutter.

Das Verziehen hatte bei den beiden Söhnen vorzüglich geklappt. Sie nahmen an »Jugend forscht« und Nachwuchs-Musizier-Wettbewerben teil, waren Klassensprecher und engagierten sich sogar politisch. Nur Britta weigerte sich zumindest zaghaft, komplett den Wunschvorstellungen ihrer Eltern zu entsprechen. Sie war die Rebellin der Familie, auch wenn ihre Proteste nur geringes Ausmaß annahmen.

Einer dieser Rebellionsversuche war eben Tom. Brittas Mutter wollte einen Akademiker für ihre Tochter. Der Sohn vom Bürgermeister sei doch ganz schnuckelig, sagte sie und achtete vornehmlich auf dessen gesellschaftlichen Stand als auf sein Aussehen, das eher zu wünschen übrig ließ. Aber Britta wollte den pummeligen Jungen mit der blassen Haut nicht. Daran änderte auch nichts, dass der Bürgermeister Brittas Vater bei der Vergabe diverse Bauprojekte bevorzugte und sie ihm zuschob. Sie wollte Tom. Und weil sie wusste, dass ihre Eltern ihn nicht akzeptieren würden, verheimlichte sie ihn. Gleichzeitig verheimlichte sie Tom, dass es gewisse Probleme mit ihm bei ihr zu Hause geben könnte.

Sie log und improvisierte, fuhr heimlich mit Tom zum Schwimmen, ging heimlich mit ihm in den Zoo und ins Kino. Als er sie einlud, bei ihm zu Hause zu übernachten, wurde es immer schwieriger für Britta, neue Ausreden zu finden. Er wunderte sich, warum er nie zu ihr durfte, hinterfragte es aber auch nicht richtig. Sie machten ihr Abi. Und als der Abiball kam, wo der Schulabschluss gebührend gefeiert werden sollte, schlugen Toms Eltern vor, mit Brittas Eltern an einem Tisch zu sitzen und sich da endlich kennenzulernen. Immerhin waren beide schon seit eineinhalb Jahren ein Paar. Aber Britta eierte rum. »Meine Eltern haben eine sehr genaue Vorstellung von meinem Freund. Denen entsprichst du leider nicht, deshalb habe ich ihnen nie von dir erzählt. Sie wissen nicht, dass es dich gibt. Daher dürfen sich unsere Eltern auch nie kennenlernen. Niemals. Denk dir was aus, damit deine Eltern sich diese Schnapsidee aus dem Kopf schlagen und auf keinen Fall zu meinen Eltern rennen.«

Tom verstand die Welt nicht mehr. Er war nett, sah nicht so schlecht aus. Er hatte Abi, wenn auch kein überragendes. Er wusste, zumindest grob, wie seine Zukunft aussehen sollte. Er wollte »irgendwas mit Medien« machen, so weit stand sein Plan fürs Leben. »Was ist denn so schlimm an mir?«, fragte er Britta. Und pochte darauf, sich endlich ihren Eltern vorstellen zu dürfen. Ein halbes Jahr hielt Britta ihn noch hin. Dann stimmte sie – aus Angst, ihn zu verlieren – endlich einem Treffen zu.

Tom tauschte die Sneakers gegen Lederschuhe. Statt eines coolen T-Shirts mit einem lässigen Spruch zog er extra ein Hemd an. Er wollte Britta beweisen, dass sie mit ihrer Vermutung falsch lag, ihre Eltern würden ihn niemals mögen. Was sollten sie schon gegen ihn haben? Er war sportlich, fuhr 200 Kilometer pro Woche mit dem Rennrad. Außerdem gehörte er zu den besten Ruderern der Stadt. Tom war nicht vorbestraft, hatte nicht mal einen Ohrring. Also warum, in Gottes Namen, sollten ihn ihre Eltern so schrecklich finden? Doch sein Plan, ihre Eltern um den Finger zu wickeln, ging kräftig in die Hose. Schon beim Betreten des Hauses bekam er den ersten Einlauf. Erst, weil er nicht selbstständig darauf kam, sich die Schuhe auszuziehen, dann, weil Brittas Mutter die Socken nicht gefielen und der Gürtel farblich nicht zu den Schuhen gepasst hatte. »Sie haben nicht mal Blumen für die Dame des Hauses mitgebracht?«, lautete der dritte Rüffel binnen weniger Minuten. Als Tom dann auch noch seine Jacke, die ihm niemand abnehmen wollte, achtlos über einen Stuhl warf, rastete Brittas Mutter aus. »Sind Sie wahnsinnig? Nehmen Sie das sofort weg. Aber vorsichtig. Sie können doch nicht Ihren Schmutz auf unsere wertvollen Möbel werfen.« Tom verstand nicht und sagte, dass es doch nur ein Stuhl sei. »Nur ein Stuhl. Sie Idiot. Das ist ein echtes Schmuckstück von Charles und Ray Eames von 1946. Der kostet mehr, als Ihre Eltern zusammen im Jahr verdienen. Aber was erzähle ich Ihnen von Kunst«, schimpfte Brittas Mutter weiter. »Einer Ihresgleichen weiß damit natürlich nichts anzufangen.«

Das anschließende Verhör dauerte nicht lange. »Sie wollen also irgendetwas mit Medien machen«, fragte Brittas Mutter herablassend. »Und dann? Die Branche ist völlig überlaufen. Das ist unvernünftig und dumm. Und wir müssen Sie erbärmlichen Schmarotzer dann durchfüttern, oder wie?«

Da saß Tom nun, gerade mal 19 Jahre alt, und wurde von einer affektierten Frau lächerlich gemacht. Er kam nicht mal dazu, sich zu wehren, so sehr zeterte sie. Natürlich hatte er sich Gedanken gemacht, wie er sich seine Zukunft vorstellt. Er hatte doch schon diverse Praktika absolviert. Er war beim Radio gewesen. Sein Name hatte sogar schon mehrfach über Artikeln in einer Lokalzeitung gestanden. Doch das alles interessierte Brittas Mutter überhaupt nicht. Ihre Augen strahlten eine so kühle Verachtung aus, wie sie Tom noch nie zuvor in seinem Leben erfahren hatte. Ihr Gesicht war so versteinert wie nach einer achtwöchigen Botox-Kur.

»Meine Tochter mag vielleicht auf einen Versager wie Sie reinfallen, aber mir machen Sie nichts vor. Sie sind erbärmlich. Sie sind eine Schande. Ich verbiete Ihnen den Umgang mit meiner Tochter.« Dann stand sie auf, ging durch den Flur und öffnete die Haustür: »Ich glaube, wir haben uns verstanden.«

Tom und Britta trennten sich trotzdem nicht. Sie trafen sich heimlich. Entweder bei ihm zu Hause, oder er holte sie ab. Dann natürlich nicht direkt bei ihr, schließlich hatte er Hausverbot, sondern an der 250 Meter entfernten Sparkasse. Meist konnten sie sich nur wenige Stunden sehen, da Britta die Ausreden ausgingen und sie ihren Eltern verheimlichte, überhaupt das Haus zu verlassen. Die Beziehung war eine einzige Mogelpackung. Und natürlich behauptete Britta gegenüber ihren Eltern, sich von Tom getrennt zu haben. Eine lange Weile ging das sogar gut, obwohl sie durch das Versteckspiel natürlich nicht gemeinsam in den Urlaub fahren konnten, nicht zusammen Weihnachten feiern. Selbst Wochenendausflüge waren eigentlich nicht möglich, da Brittas Eltern sie stets kontrollierten. Die Situation setzte Britta so sehr zu, dass sie einmal sagte: »Ich habe keinen Spaß am Leben. Es wäre überhaupt nicht schlimm, wenn es morgen vorbei wäre.«

Tom fühlte sich irgendwie schuldig. Er sah, wie schlecht es Britta mit dem Versteckspiel ging. Deshalb behandelte er sie wie eine Prinzessin, selbst wenn sie zickig und launisch war. Und es wurde von Woche zu Woche schlimmer. Doch er verzieh ihr die übelsten Aussetzer, obwohl auch ihm die Situation zusetzte. Er sehnte sich nach einer glücklichen Beziehung. Er wollte von ihrer Familie genau so akzeptiert werden, wie es umgekehrt der Fall war. Seine Eltern liebten Britta, beschenkten sie zu Weihnachten und zum Geburtstag. Sie wurde in den Arm genommen und gedrückt, durfte sich wie zu Hause fühlen. Und er war wie der letzte Abschaum vom Hof gejagt worden. All das verheimlichte Tom seinen Eltern, weil es ihm peinlich war. Und er wollte nicht, dass seine Eltern die Wahrheit über Brittas Horrorfamilie erfuhren. Das Lügennetz, in dem beide verstrickt waren, wurde immer stärker. Bis ihre heimliche Beziehung aufflog und Brittas Eltern ihr die finanzielle Unterstützung während des Studiums strichen, um sie so zur Trennung zu zwingen.

Dann ging Britta während des Studiums für ein Auslandssemester nach Neuseeland. Und Tom beschloss, all sein Erspartes zu plündern und sie für einen Monat zu besuchen. Volle sechs Monate konnte er einfach nicht ohne sie sein. Also flog er nach der Hälfte ihres Aufenthalts ans andere Ende der Welt. Wie sehr freute er sich auf Britta. Von München ging es über Hongkong nach Auckland. 23 Stunden und 15 Minuten. Neben ihm saß Chris, ein Neuseeländer, der ihm echte Geheimtipps für die geplante Rundreise verriet. »Die meisten Touristen fahren auf die Südinsel«, sagte er. »Aber die wahre Schönheit liegt im Norden. Du musst unbedingt nach Russell, da verbringe ich mit meiner Freundin immer den Sommer.« Auch auf die andere Seite der Bucht müsse er unbedingt. »In Waitangi liegt das größte Kriegskanu der Welt. Das Ding musst du sehen. 36 Meter lang, zwölf Tonnen schwer. 100 Paddler haben es beschleunigt.« Abends, so riet der Neuseeländer weiter, müsse Tom sich dann den Kriegstanz der Maori, den sogenannten Haka, anschauen. Ein weiteres Muss sei es auch, sich die Kauri-Bäume, 2000 Jahre alte Riesen mit steinerner Haut, anzusehen. Auf eine Serviette kritzelte Chris seine persönliche Top Ten. »Vertrau nicht Marco-Polo-Reiseführern. Da werden Orte, wo täglich Tausende von Touristen hinreisen, als Geheimtipp verkauft. Glaub mir.« Tom glaubte ihm. Warum auch sollte er diesem liebenswerten Mann nicht vertrauen können? Der wird sich in seinem Land schon auskennen. Und auch Tom hatte nach Chris’ mehrstündiger Informationsveranstaltung über Neuseeland das Gefühl, das Land schon ein bisschen zu kennen. Wie sehr freute er sich, all die Orte mit Britta zu erkunden.

Doch als er endlich in Auckland gelandet war, verflog seine Freude schnell wieder. Seine Freundin war komisch und unterkühlt. Er wollte sie küssen, umarmen, ihre Haare auf seiner Haut spüren. Er wollte ihren Geruch, den er so lange nicht mehr eingeatmet hatte, einsaugen. Wie sehr hatte er ihre Berührungen vermisst. Er war einfach froh, endlich wieder bei dieser Frau, die er so sehr liebte, zu sein. Doch als er ihren Körper an sich zog, um sie zu begrüßen, ließ sie ihre Arme leblos baumeln. Sie umklammerte weder seine Hüften, noch nahm sie ihn sonst wie in der Arm. Als er sie küssen wollte, drehte Britta den Kopf zur Seite, sodass seine Lippen auf ihrer Wange landeten. Kein liebes Wort, kein Lächeln, nichts.

»Ich muss dir etwas sagen«, begann Britta und sofort schossen ihr die Tränen in die Augen. »Ich wollte es nicht. Ich … Und du bist extra um die ganze Welt geflogen. Also …« Sie schluchzte. »Du hast mir so gefehlt. Aber meine Mutter … und wir haben ja sowieso keine Zukunft.«

Irritiert stand Tom vor ihr. Seit 40 Minuten hatte er jetzt neuseeländischen Boden unter den Füßen. Landung, Passkontrolle, Kofferband. 38 Minuten davon war er aufgeregt wie ein kleiner Bub gewesen, bevor der seine Weihnachtsgeschenke am Heiligen Abend endlich auspacken darf. Nie zuvor waren Britta und er so lange getrennt gewesen. Trotz ihrer Terror-Eltern hatten sie es geschafft, sich irgendwie immer zu treffen. Die letzten drei Monate waren wie Entzug für Tom. Er hatte davon geträumt, wie Britta ihm entgegenfliegt wie die Frauen ihren Männern in Werbespots wie dem von Merci-Schokolade. Er wollte Liebeskitsch made in Hollywood. Und was bekam er? Ein Drama, das kein Regisseur aus Los Angeles platter hätte erfinden können.

Britta zog Tom in die Tank Juice Bar. Grelle, orangefarbene Möbel. Unbequeme Stühle. Und das Versprechen: »Sie haben zuvor noch nie etwas Besseres probiert. Eine Geschmacksexplosion in Ihrem Mund.« Doch danach war Tom nun wirklich gerade nicht. Noch immer hatte er nicht den leisesten Schimmer, in welchen Film er hier hineingeraten war. Was war bloß passiert? Was stimmte nicht mit Britta? Er schleppte zwei Koffer mit sich herum, war durchgeschwitzt und sehnte sich nach einer Dusche. Und vor allem wollte er eine gut gelaunte, aufgeregte und leidenschaftliche Freundin genießen. Doch stattdessen saß er hier an einem Plastiktisch für zwei Personen, um den die Kinder einer Großfamilie rannten und Fangen spielten, und wartete darauf, dass Britta die Sprache wiederfinden würde.

Ihre Telefonate waren die letzten beiden Wochen tatsächlich nicht mehr der Knaller gewesen. Sie hatten sich mehrfach gestritten. Für Tom war das allerdings kein Grund zur Sorge – schließlich hatten sie sich so lange nicht mehr gesehen. Nur telefonieren reicht da nicht. Und dann die Zeitverschiebung, die hohen Kosten. »In wenigen Tagen sehen wir uns wieder, dann wird alles wieder gut«, hatte Tom immer gesagt und sich und Britta so Mut gemacht. Ein folgenschwerer Irrtum. Denn es sollte nicht mehr alles gut werden.

»Ich wollte das wirklich nicht«, stammelte Britta erneut und starrte vor sich auf den Tisch. »Ich meine … also … du fliegst hier um die Welt. Aber … also … das sagt man doch nicht … wir waren sechs Jahre …«

»Wir waren?« Hatte Tom das wirklich gerade verstanden? »Was waren wir? Britta! Ich will jetzt wissen, was hier los ist.«

Sie schwieg. »May I take your order?«, forderte ein Kellner sie auf, etwas zu bestellen. »It’s not allowed just to sit here.« Ohne zu überlegen bestellte Tom zwei frisch gepresste O-Säfte, damit der Kellner schnell wieder verschwand. »Was waren wir?«, fragte er Britta erneut. »Und schau mich gefälligst an!«

Dann erzählte Britta. Dass sie einen anderen kennengelernt hatte. Vor zwei Wochen waren sie zusammen surfen. Anschließend hatten sie zusammen am Strand gesessen, sich den Mond angeschaut und den Wellen gelauscht. »Ich habe ihm von uns erzählt. Und von dem Ärger mit meinen Eltern. Er hat mir den ganzen Abend zugehört. Es tat so gut, endlich mal mit jemandem reden zu können, ohne sich schlecht zu fühlen, weil er meine Eltern oder deine oder uns kennt.«

Tom verstand kein Wort. Was erzählte Britta da bloß? Was war mit diesem Hobbypsychologen?

»Weißt du, ich konnte nie mit jemandem darüber reden. Ich musste immer meinen Frust runterschlucken. Aber Dave war für mich da. Und er hat gesagt, dass ich immer zu ihm kommen kann, wenn was ist.«

»Ja, und? Was hat das jetzt mit uns zu tun? Warum hast du gerade gesagt: ›Wir waren …‹ Was waren wir?«

»Dave tut mir einfach gut.«

»Was? Was will dieser Affe?«

»Er ist kein Affe. Wir haben fast jeden Tag miteinander verbracht. Du tust ihm leid. Und er meint, dass du eine Frau verdient hast, deren Eltern dich akzeptieren.«

»Was geht diesen Idioten eigentlich an, was deine Eltern von mir denken. Doofkopf-Dave soll sich um seine Eltern und seine Freundin kümmern.«

»Wir haben uns geküsst.«

Toms Kehle schnürte sich zu. »Was habt ihr? Warum?«

»Es ist bei einer Mountainbiketour passiert. Dave war so lieb zu mir. Er hat gesagt, dass ich einfach hierbleiben soll. Bei ihm. Und dann hat er mich einfach geküsst.«

Tom schwieg.

»Es tut mir leid.«

»Hast du ihn auch geküsst?«

Britta nickte. »Vorgestern habe ich bei ihm geschlafen.«

»Nur bei ihm?«

Britta schüttelte den Kopf.

Wortlos stand Tom auf. Wie in Zeitlupe schulterte er die Reisetasche und griff nach seinen Koffern. »Das ist nicht wahr«, murmelte er in Brittas Richtung. Doch außer einem Schulterzucken kam nichts mehr von ihr. Sechs Jahre hatte er dem Terror widerstanden. Nun versetzte ihm die Tochter, die er für den einzig liebenswerten Menschen der Familie gehalten hatte, den Todesstoß. Obwohl er all die Demütigungen ihrer Eltern ertragen hatte. Obwohl er sich hatte schikanieren lassen wie ein Mensch zweiter Klasse. Obwohl er für sie seine eigenen Eltern angelogen hatte. Obwohl er all sein Geld, das er sich mühsam über Jahre angespart hatte, für diese Reise ausgegeben hatte. Und wofür? Um vor Ort zu erfahren, dass sie sich von einem anderen befriedigen ließ. Einem Möchtegern-Frauenversteher-Arschloch, für das sie in Neuseeland bleiben wollte. Hätte sie ihm das nicht per SMS schicken können? Schlussmachen für 59 Cent statt für 1.175 Euro – so viel hatte ihn das Flugticket gekostet. Warum in aller Welt musste er für diesen elenden Eiertritt um die Welt reisen?

Er konnte nicht mal weinen. Diese Demütigung tat so weh, dass sie ihn mit blankem Hass erfüllte. Und diese verdammten, beknackten Kinder gingen ihm in diesem Moment so dermaßen auf den Sack. »Verpisst euch. Haut ab«, fuhr Tom sie an, als sie zum wiederholten Mal um den Tisch rannten, an dem sich gerade das beschissenste Trennungsdrama seines Lebens abspielte. Er kochte. Sein Herz raste und seine Halsschlagader schwoll bedrohlich an. Als er mit Schwung den Kindern entgegensprang, um sie mit noch mehr Nachdruck zu verscheuchen, flog sein Stuhl nach hinten und fiel um. »Drecksblagen. Ihr verkackten …« Tom hielt inne. Der Vater der Kinder kam wutschnaubend auf ihn zu. Erst jetzt bemerkte Tom, dass mehrere Dutzend Augenpaare auf ihn gerichtet waren. Seinen frisch gepressten Orangensaft hatte er in seiner Aufregung wie den Stuhl umgeschmissen. Was tat er hier eigentlich? Er war niemand, der unschuldige Kinder anschrie. Er war niemand, der peinliche Schreianfälle bekam. Weder in der Öffentlichkeit noch in den eigenen vier Wänden. Er war Tom. Er war lieb. Vielleicht manchmal zu lieb. Entschuldigend ging er auf den Vater der Kinder zu. »I am so sorry. It wasn’t me. I have some trouble with my girlfriend. Please forgive me.« Hatte er gerade »girlfriend« gesagt? Der Vater der Kinder drehte um. Und Tom drehte sich wieder zu Britta. Girlfriend? Freundin? Nein, das war nicht mehr seine Freundin. Jetzt war er wieder ganz er selbst. Ruhig. Bedacht. Ohne anschwellende Halsschlagader.

»Ich fliege mit dem nächsten Flieger zurück«, sagte Tom wieder kontrolliert und selbstsicher. »Du wirst nie wieder von mir hören. Ich würde dir am liebsten die miesesten Beleidigungen an den Kopf werfen, aber du bist es gar nicht wert, dass ich mich auch nur eine Sekunde aufrege. Du bist ein Stück Dreck. Einfach nur wertlose Scheiße. Von mir aus kannst du morgen tot umfallen. Das wäre kein Verlust. Für niemanden. Dann würde sich dein Dave die nächste Dumme suchen, die er fickt.« Tom machte eine kurze Pause. Britta sagte nichts. Sie starrte irgendeinen Punkt hinter Tom an. »Es tut verdammt weh. Das ist das Mieseste, was mir je im Leben angetan worden ist. Aber ich werde drüber wegkommen. Und ich werde dich vergessen. Du bist für mich gestorben.«

Dann ging Tom. Ohne sich auch nur noch einmal umzudrehen. Jedenfalls hatte er das vorgehabt. Aber natürlich drehte er sich trotzdem noch einmal um. Er wollte sie ein letztes Mal sehen. Ihr trauriges Gesicht. Wie sie ihm von seinem Auftritt beeindruckt hinterherschaut. Er wollte den Moment sehen, in dem ihr klar wird, dass sie ihre große Liebe endgültig verloren hat. In dem sie realisiert, dass sie einen Riesenfehler macht. In dem sie die Kontrolle über ihre Gesichtszüge verliert. Aber nichts dergleichen passierte. Stattdessen musste Tom mit ansehen, wie Britta von einem anderen Mann in den Arm genommen wurde. Doofkopf-Dave hatte sie die ganze Zeit beobachtet. Er hatte mitangesehen, wie Britta seinen Vorgänger abservierte. Wieder schnürte sich Toms Kehle zu. Er ging schneller. Weg von Britta, hin zum nächsten Schalter. Bloß weg aus Neuseeland. Bloß weg aus diesem Albtraum. Er wollte aufwachen und vergessen.

Das Vergessen dauerte eineinhalb Jahre. Und weitere eineinhalb Jahre brauchte Tom, um sich nach dieser Beziehungsschlappe überhaupt wieder auf Frauen einzulassen. Mittlerweile hatte er sein Studium der Medienwissenschaften abgeschlossen und ein Traineeprogramm in einem Verlagshaus angefangen. Eine Zeit lang vergnügte er sich mit einem Urlaubsflirt. Dann fing er an, mit einer ehemaligen Schulfreundin, die er über 20 Jahre nicht mehr gesehen hatte, im Internet zu schreiben. Aus den anfänglich oberflächlichen Nachrichten wurde ein Flirt. Und aus dem Flirt wurden Dates. Sie landeten schnell im Bett. Vögelten. Wild. Leidenschaftlich. Und ohne Hintergedanken. Einfach nur, um ihre körperlichen Gelüste zu erfüllen. Doch eines Tages stand Franzi nachts vor Toms Tür. Sie hatte Stress mit ihrer Mutter und wollte sich bei ihm ausheulen. Er machte ihr einen heißen Kakao mit Sahne. Holte ihr grüne Skittles, ihre Lieblingssüßigkeit, und eine Gala von der Tankstelle. Und nachdem sie geredet hatten, nahm Tom Franzi in den Arm und kraulte ihr stundenlang den Nacken.

Arm in Arm schliefen sie schließlich ein. Etwas, was sie zuvor vehement verhindert hatten. »Ich will deinen Körper und einen Orgasmus«, hatte Franzi anfangs gesagt. »Dann fahre ich nach Hause. Ich habe keine Lust, mich am nächsten Morgen beim Frühstück mit dir unterhalten zu müssen. Sex ja, aber keine Gefühle – das ist unser Deal.«

Drei Monate hatte dieser Anti-Frühstückspakt gehalten. Dann gab es Spiegeleier, Frischkäse und Cocktailtomaten – und für beide die Erkenntnis, dass es sich doch überraschend gut anfühlt, gemeinsam in den Tag zu starten. Dem einmaligen Bruch der Abmachung folgten weitere Übernachtungen. Dann kaufte Tom Franzi eine Zahnbürste, die für den Notfall neben seiner im Zahnputzbecher stand. Schnell trat der Notfall häufig ein. Der Zahnbürste folgten Abschminkpads und Duschgel mit Lavendelduft in seinem Badezimmer. Ein paar Notfälle später bekam Franzi eine eigene Schublade in Toms Kleiderschrank, und noch ein paar mehr Notfälle später kauften sie zusammen Bettwäsche, weil sie seine zu spießig fand, und hängten ein Bild von sich in den Flur. Aus Sex wurde Verliebtheit. Aus Verliebtheit wurde Liebe. Und nach nur einem weiteren Vierteljahr wohnte Franzi quasi ganz bei Tom. Sie behielt ihre Wohnung zwar noch, als Rückzugsort, falls sie mal allein sein wollte, aber eigentlich wohnten sie zusammen.