Sexuelle Revolution - Laurie Penny - E-Book

Sexuelle Revolution E-Book

Laurie Penny

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Beschreibung

Eine Sexuelle Revolution hat begonnen, und diesmal wird sie nicht aufzuhalten sein. Sie beginnt überall da, wo Frauen, queere, nonbinäre und trans Personen, vor allem jene, die nicht der weißen Mehrheitsgesellschaft angehören, aufstehen und nicht länger bereit sind, ihren Körper als jemandes anderen Besitz zu begreifen. Unsere Zeit der Krisen ist dank ihnen zugleich eine Zeit der produktiven Transformation, voller tiefgreifender und dauerhafter Veränderungen in unserem Verständnis von Gender, Sex und der Frage, wessen Körpern und wessen Worten Bedeutung beigemessen wird. Mitreißend und scharf schreibt Laurie Penny über Sex und Macht, Trauma und Widerstand. Über die Krise der Demokratie, die Krise weißer Männlichkeit und die Rückzugsgefechte derer, die Angst vor Machtverlust haben. Sie fordert eine Kultur des Consent, die weit über Sex hinausgeht: Auch in Arbeitsverhältnissen, in Systemen der politischen Repräsentation, im Miteinander müssen wir zu einer Logik des fortlaufend ausgehandelten Einvernehmens finden, um individuelle und kollektive Traumata zu heilen und zukünftige zu verhindern. »Brillant, kraftvoll, revolutionär.« Kate Manne

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LAURIE PENNY, geboren 1986 in London, ist Buch- und Drehbuchautorin und Journalistin. Studium der englischen Literaturwissenschaft in Oxford, Nieman Fellowship für Journalismus in Harvard. Sie publizierte u. a. im Guardian, New Statesman, Time Magazine, New York Times und Vice über Politik, soziale Gerechtigkeit, Popkultur und Feminismus. Als Drehbuchautorin wirkte sie an den Serien »The Nevers«, »The Haunting of Bly Manor« und »Carnival Row« mit. Ihre Bücher machten Penny zur Ikone des jungen Feminismus.

DR. ANNE EMMERT studierte Anglistik, Amerikanistik und Linguistik. Sie übersetzt vor allem Sachbücher aus den Bereichen Politik, Gesellschaft, Feminismus aus dem Englischen.

Die Originalausgabe des vorliegenden Buches erschien unter dem Titel Sexual Revolution. Modern Fascism and the Feminist Fightback bei Bloomsbury, London 2022.

© Laurie Penny 2022

Die Übersetzung von Sexual Revolution wurde in Übereinstimmung mit Bloomsbury Publishing Plc. publiziert.

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a

D - 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus GmbH 2022

Deutsche Erstausgabe März 2022

Umschlaggestaltung:

Maja Bechert

www.majabechert.de

Satz: Corinna Theis-Hammad

www.cth-buchdesign.de

Porträt der Autorin auf Seite 2:

© Sam Braslow

1. Auflage

ePub ISBN 978-3-96054-287-2

Für David Boarder Giles

Inhalt

Einleitung

1Nicht einvernehmlich

2Der Horizont des Begehrens

3Wir sind hier nämlich alle verrückt

4Schlechter Sex

5Beautiful Trouble

6Liebesmühen

7Arbeitskörper

8Die Front daheim

9Die Reproduktionsmittel

10Weiße (Not-)Lügen

11Wütende junge Männer

12Heldendämmerung

13Wahrheit und Konsequenzen

14Machtmissbrauch

Schlussbemerkung: Traumapolitik

Anmerkungen

Dank

Bibliografie

Einleitung

Dies ist eine Geschichte über die Entscheidung zwischen Feminismus und Faschismus. Eine Geschichte über Sex und Macht, Traumata, Widerstand und Beharrlichkeit. Über Arbeit und darüber, wer sie macht und warum. Eine Geschichte über die Krise der Demokratie und die Krise der weißen Männlichkeit und darüber, wie die extreme Rechte von beiden Krisen profitiert. Und im Kern der Geschichte steht eine schlichte Idee.

Wir alle durchleben einen Paradigmenwechsel in den Machtbeziehungen zwischen den Gendern. Die Welt steckt in einer Pflege- und Reproduktionskrise, die unsere Gesellschaft verändert, während Millionen von Frauen und ihre Verbündeten für den Aufbau einer besseren, gerechteren Gesellschaft kämpfen – und Millionen von Männern versuchen, sie zu verhindern. Sprich: Die Welt befindet sich mitten in einer sexuellen Revolution.

Und das hat mehr Relevanz, als die meisten von uns sich das vorgestellt hätten. Es ist relevant, weil Sexualität und Gender keine politischen Nebenschauplätze sind. Das waren sie nie. Sexualität und Gender betreffen alles und alle – sie sind »der Unterbau«, so die Theoretikerin Shulamith Firestone.1 Deshalb muss jede Kampfansage an die gesellschaftlichen Sexualitäts- und Gendernormen ehrgeizig sein. Wer beispielsweise sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ein Ende bereiten will, muss die beiden Begriffe Arbeit und Sexualität ebenso neu definieren wie die Frage, wie viel von beidem einem Menschen gegen seinen Willen abverlangt werden kann. Wir müssen bereit sein, uns eine Welt vorzustellen, in der ausbeuterische, kräfteraubende Arbeit und freudloser erzwungener Sex nicht mehr die Norm sind. Der moderne Feminismus ist intellektuell, schöpferisch und ethisch ehrgeizig, weil er es sein muss, auch wenn Ehrgeiz bei Frauen und Mädchen immer noch als moralisch suspekt gilt. Dieses Buch ist ehrgeizig, weil ich lieber ehrgeizig bin, als meine und anderer Leute Zeit zu vergeuden.

Seit zwölf Jahren arbeite ich als politische Journalistin. Ich habe über aktivistische Bewegungen im Globalen Norden berichtet und immer wieder von Demonstrierenden und Expertinnen zu hören bekommen, eine große Abrechnung stehe bevor, ein Kulturwandel, der all unsere sozioökonomischen Gewissheiten hinwegfegen werde. Aber als dieser große Umbruch tatsächlich einsetzte, hat kaum jemand hingeschaut. Denn er kam von Frauen.

Überall auf der Welt schreiben Frauen und Queere die Klauseln eines Gesellschaftsvertrags um, der nie dazu angetan war, uns einzuschließen. Schwarze Frauen, Women of Colour, Indigene Frauen, trans Frauen und junge Frauen treiben diesen Wandel voran. Sie gestalten eine neue Zukunft, in der Freiheit universell ist und allen zusteht, nicht nur weißen, heterosexuellen, wohlhabenden cis Männern. Ich glaube, dieser Paradigmenwechsel wird unsere Zivilisation umkrempeln, trotz der Gegenwehr einer fragilen primitiven Minderheit, die die Welt lieber verbrennt, als sie zu teilen – er krempelt sie bereits um, da ich dies schreibe.

Sexualität und Gender sind in der Krise, und diese Krise formt die Gesellschaft neu. Im gesamten Globalen Norden und darüber hinaus provoziert ein sich veränderndes Kräfteverhältnis zwischen Männern und Frauen einen brutalen politischen Gegenschlag – doch die Frauen lassen sich nicht einschüchtern, sie geben ihre Macht nicht wieder ab. Im Sommer 2016 wurde in der spanischen Stadt Pamplona eine Achtzehnjährige Opfer einer Gruppenvergewaltigung. Die fünf Männer, die wegen der Tat verhaftet wurden, bezeichneten sich selbst als La Manada, »das Wolfsrudel«. Der Prozess machte international Schlagzeilen, denn das Verfahren um das aufsehenerregende Sexualdelikt entwickelte sich zu einem Referendum über das Wesen der Macht in einer gespaltenen Nation. Als das »Wolfsrudel« im April 2018 zunächst nur wegen sexueller Nötigung verurteilt wurde, strömten Hunderttausende Frauen in ganz Spanien auf die Straßen und forderten Gesetzesänderungen. Kurz darauf beschwor die Partei Vox die Gefahr eines radikalen Feminismus und eroberte als erste rechtsextreme Partei seit Franco mehrere Sitze im spanischen Parlament. Aber die Frauen ließen sich nicht einschüchtern. Auf Straßen und Plätzen sangen sie »Tranquila hermana, aquí está tu manada«: Keine Sorge, Schwester, wir sind dein Wolfsrudel.

Kaum jemand hat es kommen sehen. Niemand hat vorhergesagt, dass die größte Erschütterung der sozialen Ordnung in diesem Jahrhundert von Frauen, Mädchen und Queeren ausgehen würde, insbesondere von Frauen, Mädchen und queeren Menschen of Colour, die sich endlich zusammentun, um sexuelle Gewalt und strukturellen Machtmissbrauch zum Thema zu machen. Es ist etwas zerbrochen. Es bricht noch immer. Nicht wie Glas oder wie ein Herz, sondern wie eine Eierschale: unaufhaltsam und von innen. Etwas Feuchtes und Wütendes bahnt sich seinen Weg aus der Dunkelheit, und es hat Krallen.

In diesem Buch unternehme ich den Versuch, Sexualität und Macht unseres modernen Zeitalters in ihrer materiellen Realität zu beschreiben und anzufechten. Ungeachtet der vielen Bereiche, die hier angesprochen werden, läuft doch alles auf einige grundlegende Kernthemen hinaus.

Erstens: Wir alle leben in einer politischen Ökonomie des Patriarchats. Das Patriarchat ist ein Machtsystem, das sich auf männliche Dominanz stützt und darauf ausgelegt ist, sämtliche Menschen sämtlicher Gender in den ihnen zugewiesenen Rollen zu halten und Reichtum und Handlungsmacht in den Händen einiger weniger paranoider Männer zu konzentrieren. Das Patriarchat stützt die beiden anderen zentralen Machtstrukturen, die Ungerechtigkeit perpetuieren: Kapitalismus und White Supremacy, also die Vorherrschaft der Weißen. Das Wort »Patriarchat« steht nicht etwa für »ein von Männern beherrschtes System«. Es bedeutet »ein von Vätern beherrschtes System«: In diesem System kann eine Handvoll alter privilegierter weißer Männer allen anderen sagen, wo es langgeht, und das ist nicht nur unfair, es ist auch brandgefährlich.

Zweitens: Derzeit findet eine tiefgreifende und anhaltende Umdeutung dessen statt, was unter Gender und Sexualität zu verstehen ist und wessen Körper zählen. Wir leben in einer Phase produktiven Ungehorsams, in der Frauen, Männer und LGBTQ überall auf der Welt die Geschlechterbinarität als Machtmodus zurückweisen und sich still und leise den Erwartungen entziehen, die ihnen in tausend Jahren Patriarchat auferlegt wurden.

Aus diesen Veränderungen gehen neue Organisationsmodelle für Fürsorge und Reproduktion, für die Entwicklung und Versorgung der menschlichen Spezies hervor – neue Lebensstile, die nicht auf Konkurrenz, Zwang und Dominanz gründen, sondern auf Einvernehmlichkeit, Gemeinschaft und Lust. Die Einvernehmlichkeit (consent)2 steht als Ordnungsphilosophie hinter vielen dieser Veränderungen. Ihren Stellenwert kann man nicht hoch genug einschätzen, und das Konzept der Einvernehmlichkeit reicht weit über die Sexualität hinaus.

Drittens: Dieser Wandel ist eine enorme Bedrohung für die sozialen und wirtschaftlichen Gewissheiten, die unsere Welt prägen. Er gefährdet bestehende Machtstrukturen. Er untergräbt die Autorität von Institutionen, von der Lohnarbeit bis hin zur Kernfamilie. Diese sexuelle Revolution ist ihrem Wesen nach eine Gefahr für Heterosexualität, für männliche Vorherrschaft, für weiße Vorherrschaft, traditionelle Arbeitsteilung und die Art und Weise, wie Körper organisiert werden, wie Reichtum verteilt wird.

Und diejenigen, denen diese Machtstrukturen wichtig sind, schlagen zurück.

All dies geschieht in einer Zeit, die geprägt ist von Krise, Kollaps und gesellschaftlichem Umbruch. Die Biosphäre implodiert, die Weltwirtschaft wankt, und Tyrannen, die diese Unsicherheit nutzen, um die Macht zu ergreifen, versprechen ihrer Anhängerschaft die Rückkehr zu den alten, gewaltvollen Grundsätzen für Gender, Race und Nation.

Und zuletzt der wichtigste Punkt: Die Tyrannen und Despoten werden den Sieg nicht davontragen. Zumindest nicht langfristig. Sie können nicht gewinnen, weil sie keinerlei sinnstiftende Zukunftsvision anzubieten haben. Sie wollen herrschen, nicht führen. Sie wollen Kontrolle übernehmen, keine Verantwortung. Sie haben kein Interesse daran, menschliches Leben zu bewahren und zu erhalten, und sie haben keinen Plan. Männer wie Putin, Bolsonaro, Trump und Johnson haben sich eine eigene Anhängerschaft aufgebaut, die ihre Kritikerinnen im politischen Mainstream verblüfft und verwirrt hat. Eilig wurde darauf hingewiesen, dass diese Männer skrupellose Schufte seien, die logen, wenn sie den Mund aufmachten, und ihr Leben lang nichts anderes getan hatten, als Projekte gegen die Wand zu fahren und trotzdem die Treppe hinaufzufallen und sich der Verantwortung zu entziehen; diese Männer seien offensichtlich auf peinlichste Weise völlig untauglich, auch nur ein vernünftiges Gespräch zu führen, geschweige denn eine Regierung. Natürlich lag genau darin ihr Reiz. Solche Männer kommen immer ungestraft davon, lachen über die Folgen ihres Tuns, richten ihr geistloses Charisma als Waffe gegen andere, lauter Gordon Gekkos der Aufmerksamkeitsökonomie, die nur an die Macht wollen und keine Sekunde darüber nachdenken, was sie mit der Macht anfangen könnten.

Wenn das Patriarchat die Herrschaft der Väter ist, sind unsere derzeitigen Herrscher kraftlose Väter, schlappe Papas, die sich als gefährlich unfähig erwiesen haben, die Pflichten zu erfüllen, welche die Macht mit sich bringt – die Macht, die sie unter so viel Chaos und Verheerungen an sich gerissen haben. Sie sind schwach, sie sind oberflächlich, und sie wissen es.

Patriarchat, Kapitalismus, Heterosexismus und weiße Vorherrschaft sind nicht too big to fail. In Wahrheit tun sie nichts anderes als zu scheitern, und das seit Generationen, und fallen dabei immer nach oben. Die Frage ist nicht, ob das weiße kapitalistische Patriarchat kollabieren wird. Die Frage ist, wie viele Menschen es mit in den Abgrund ziehen wird.

Dieses Buch geht wiederkehrenden Mustern auf dem aktuellen Trümmerfeld von Sexualität und Macht nach und versucht, eine lebensfreundlichere Welt zu kartieren. Es beginnt im weichen lasterhaften Unterleib der politischen Ökonomie. Es beginnt mit Sex.

Sexuelle Freiheit gibt es nicht. Noch nicht. In den meisten Demokratien steht es den meisten von uns vom Gesetz her frei, zu lieben, wen wir lieben wollen, zu leben, wie wir leben wollen, und unserer Lust zu frönen – allerdings nur so, wie es auch den meisten von uns freisteht, einen Maserati, eine Villa oder eine politische Wahl zu kaufen. Faktisch können sich die meisten Menschen sexuelle Freiheit nicht leisten. Die meisten Frauen und die meisten LGBTQ jeglichen Genders können sich sexuelle Befreiung nicht leisten – weil es sie nach wie vor gesellschaftlich teuer zu stehen kommt, wenn sie ihr Begehren auch nur aussprechen.

Solange sexuelle Macht ungleich verteilt ist, kann es keine sexuelle Befreiung geben. Heterosexuelle Männer haben heute in fast jeder Gesellschaft der Erde noch deutlich mehr soziale, politische und wirtschaftliche Handlungsmacht als Frauen, Mädchen und LGBTQ. Die politischen Systeme des Patriarchats und der weißen Vorherrschaft geben Männern Macht über Frauen und Weißen Macht über People of Colour, Schwarze und Indigene Menschen. Nicht alle Weißen und alle Männer bekommen diese Macht. Nicht alle von ihnen haben um diese Macht gebeten. Aber sie wurden zu der Überzeugung erzogen, ihnen stehe diese Macht zu, und sie einzubüßen tut weh. Es ist strukturelle Macht, wirtschaftliche Macht, die bewirkt, dass Weiße, im Großen und Ganzen, reicher, freier und unabhängiger sind als People of Colour und Schwarze Menschen, und Männer wohlhabender und unabhängiger als Frauen. Wenn Frauen und Queere, insbesondere Frauen und queere Menschen of Colour, um sexuelle und körperliche Autonomie verhandeln, so geschieht das somit unter ungleichen Bedingungen.

Wenn schwächere Player Machtungleichgewichte in der Gesellschaft korrigieren wollen, tun sie das am besten, indem sie sich kollektiv organisieren. Fordern zum Beispiel Frauen eine veränderte Strafverfolgung für Vergewaltigungsfälle, so sind das Kollektivverhandlungen. Berichten Frauen einander von ihren Erlebnissen mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz und verlangen sie härtere Strafen für übergriffige Arbeitgeber, so sind das Kollektivverhandlungen. Entscheiden sich Menschen, die schwanger werden können, gegen eine Schwangerschaft, solange sich die materiellen Bedingungen für Eltern nicht verbessern, so sind auch das Kollektivverhandlungen. Darum geht es bei dieser sexuellen Revolution.

Eine sexuelle Revolution, die sich nicht gegen sexuelle Gewalt richtet, ist ebenso unmöglich wie eine wirtschaftliche Revolution, die sich nicht um Arbeitnehmerrechte kümmert. Eine sexuelle »Revolution«, die mächtigeren Menschen den Zugriff auf Sex erleichtert, ist in keinster Weise radikal. Jede »Revolution«, die Befreiung predigt und gleichzeitig den Reichen und Mächtigen die Freiheit gibt, andere auszubeuten, zu schikanieren und zu missbrauchen, beginnt irgendwann unweigerlich in der feuchten Schwüle ihrer eigenen Widersprüche zu verrotten.

Diese sexuelle Revolution ist anders. Sie geht tiefer, weil sie nicht nur auf sexuelle Ermächtigung abzielt, sondern auf sexuelle Befreiung. Es geht nicht nur um die Freiheit von etwas, sondern um die Freiheit, etwas zu tun. Es geht um eine grundlegende Revision von Genderrollen und sexuellen Regeln, von Arbeit und Liebe, Traumata und Gewalt, Lust und Macht. Die neue sexuelle Revolution ist eine feministische Revolution. Und das Wichtigste an dieser sexuellen Revolution ist: Sie findet bereits statt.

Warum das so ist? Also: Vor nicht allzu langer Zeit orientierte sich die Macht in den meisten menschlichen Gesellschaften an einer strengen Geschlechterbinarität, die überwiegend auf reproduktivem Sex basierte. Es gab Männer und Frauen, und die Männer waren stark und mächtig und die Frauen waren fürsorglich und machtlos, und Frauen waren das Eigentum von Männern. Auf der Grundlage einer bimodalen Sexualität waren Menschen gezwungen, in einer streng nach Gender gegliederten Machthierarchie entweder die Soldaten- oder die Opferrolle zu übernehmen. Die Hälfte der Menschheit wurde der politischen Kategorie der »Frau« zugeordnet, das heißt, über ihren Körper und ihr Begehren verfügten Männer. Ihre Aufgabe war es, sich um Männer und Jungen zu kümmern, Kinder zu gebären und großzuziehen und im öffentlichen Leben bestenfalls als dekoratives Beiwerk aufzutreten, es sei denn, sie hatten zufällig eine Monarchie geerbt. In den ersten politischen Theorien wurden Frauen und Kinder ausdrücklich aus dem »Gesellschaftsvertrag«, der dem modernen Staat zugrunde liegt, ausgeschlossen. Auf dem Fundament dieser Annahmen entstanden die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen sämtlicher moderner Kulturen. Wir alle sind in diesen Strukturen geboren und aufgewachsen.

Doch im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts änderten sich die Dinge. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte versetzten medizinische Fortschritte Frauen in die Lage, ihre Fruchtbarkeit zuverlässig zu kontrollieren. Dank des medikamentösen Schwangerschaftsabbruchs und Fortschritten in der Verhütung konnten Frauen und Mädchen – theoretisch – selbst entscheiden, wann und ob sie Kinder bekamen. Das hat das Kräftespiel in Sexualität und Gesellschaft für immer verändert. Es war nicht mehr so einfach, Frauen und Mädchen durch Scham und Schande sexuell gefügig und von der Ehe abhängig zu machen. Die Folgen des technologischen Wandels waren tiefgreifend, und wir fangen gerade erst an, uns darauf einzustellen.

Trotz der verheerenden Auswirkungen von Pandemien und Rezessionen auf die Beschäftigung von Frauen gibt es heute mehr Frauen und Queere auf jahrhundertelang traditionell männlichen Arbeitsplätzen; mehr Frauen und Queere schaffen Kunst, machen Gesetze, schreiben Geschichte. Unterdessen bröckeln die einst grundlegenden sozialen Strukturen von Familie und Kirche. Immer mehr Frauen und Mädchen boykottieren Ehe und Mutterschaft, ja, die wachsende Freiheit der Frauen wirkt wie eine demografische Zeitbombe, denn in den Industrieländern, in denen Sorgearbeit und Kindererziehung nach wie vor nicht bezahlt werden, kommt das Kinderkriegen für immer weniger Menschen infrage.

Diese Sorgearbeit wurde bisher hauptsächlich von Frauen geleistet, meist ohne Entgelt. Aber weil Mütter es auch finanziell immer schwerer haben, weil viele Staaten nicht bereit sind, für Sorgearbeit zu bezahlen, und weil Frauen sich nicht mehr unter Druck setzen lassen, unter solch widrigen Umständen Babys in die Welt zu setzen, sinken die Geburtenraten im gesamten Globalen Norden und darüber hinaus. Anders ausgedrückt: Frauen und Queere, insbesondere Frauen und queere Menschen of Colour, lassen sich nicht mehr von Männern und ihrem fragilen Männlichkeitsbild in Geiselhaft nehmen.

Und es sind so viele, die das nicht mehr mit sich machen lassen, dass sie nicht mehr zu übersehen sind. Wie der Ökonom und Journalist Paul Mason in seinem Buch Klare lichte Zukunft darstellt, ist Antifeminismus heute ein Schlüsselkonzept zur Rekrutierung von Nachwuchs in der Neuen Rechten. Mason führt dieses Phänomen darauf zurück,

dass in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durch Geburtenkontrolle und Gleichstellungsgesetze die biologische Macht des Mannes gebrochen wurde. […] Doch in dem halben Jahrhundert seit Einführung der Antibabypille haben die Gesellschaften in der entwickelten Welt einen »durch die Reproduktionstechnologie verursachten Schock« erlitten, wie es Fed-Chefin Janet Yellen ausgedrückt hat. Die Befreiung der Frau ist noch weit entfernt, aber […] das Fundament der Geringschätzung gegenüber dem weiblichen Geschlecht – die Vorstellung, die Natur habe die Frau zu einer Funktion als Gebärmaschine und unbezahlte Hausangestellte bestimmt – ist gesprengt worden.3

Neben diesen Verschiebungen der Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen lässt sich beobachten, dass auch die »Grundannahmen« für Heterosexualität und Genderidentität gesprengt worden sind.

Die Genderbinarität gerät als Form der sozialen Kontrolle zunehmend ins Abseits. Seit den frühen 2010er Jahren hat sich die kulturelle Sichtbarkeit von trans und nonbinären Menschen dramatisch verbessert. Vor allem junge Menschen outen sich massenhaft als transgender, genderqueer oder nicht-binär, und das ist eine positive Entwicklung. Heute ist es schon viel normaler, offen trans zu sein, als noch vor einem Jahrzehnt, doch sozialkonservative Kräfte widersetzen sich diesem Wandel ebenso vehement wie zahlreiche politische Interessengruppen, die eine Welt jenseits der Genderbinarität fürchten.

Wenn in diesem Buch von »Männern« und »Frauen« und ihrem Tun die Rede ist, so meine ich das nicht im Sinne eines biologischen Essenzialismus. Hier soll weder eine autoritäre Sicht auf Gender verbreitet werden, nach der sich die Welt in unveränderliche biologische Kategorien aufteilt, rosa und blau, binär und brav, noch sollen den Körpern diverser Menschen ohne deren Einwilligung ein bestimmtes politisches Schicksal aufgezwungen werden. Essenzialismus ist immer konservativ. Wenn ich über »Männer« oder über »Frauen« schreibe, beziehe ich alle mit ein, die sich in diesen Kategorien verorten. Ich verstehe mich selbst als genderqueer, das heißt, die Kategorie »Frau« beschreibt nicht vollständig meine gelebte Erfahrung.

Genderrollen und Genderstereotype werden unserem Körper von Geburt an oktroyiert, ohne dass wir zugestimmt hätten, und oft ist es ein traumatischer Lernprozess, das uns zugewiesene Gender auszufüllen. Sehr viele cis Männer, die ich für dieses Buch befragt habe, haben in Jahrzehnten rigoroser gesellschaftlicher Überwachung, in denen sie für jede Abweichung von angeblich »männlichen« Normen bestraft wurden, tiefe emotionale Narben davongetragen. Es gibt keine universelle weibliche oder männliche Erfahrung. Stattdessen schildere ich in diesem Buch viele geläufige Erfahrungen mit Sex, Consent und Macht und lade alle Leserinnen jeden Genders ein, sie einfach mal unverbindlich anzuprobieren.

In den sexuellen Skripten unserer Generation wird Dominanz gepredigt und Gewalt verehrt; Queerness, Gemeinsamkeit und Lust aber werden zensiert. Lange bevor eine junge Frau volljährig ist, macht man ihr klar, dass ihr Körper eine Ware ist und sie nicht allein über diese Ware verfügen kann. In der Gesetzgebung hält sich hartnäckig die kulturelle Logik eines männlichen Anspruchs auf den weiblichen Körper, insbesondere auf den Körper Schwarzer und Indigener Frauen und von Frauen of Colour, die mit dem historischen Trauma und den Spuren der kollektiven Erinnerung leben, buchstäblich als Ware gehandelt worden zu sein. In Großbritannien gaben in einer Umfrage 38 Prozent der Mädchen im Alter zwischen vierzehn und einundzwanzig Jahren an, mindestens einmal im Monat an öffentlichen Orten belästigt zu werden,4 und der BBC zufolge haben mehr als die Hälfte der britischen Frauen am Arbeitsplatz oder im Studium schon sexuelle Belästigung erlebt.5 Eine Umfrage unter 42.000 Frauen in der Europäischen Union ergab, dass jede zweite (55 Prozent) seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr mindestens einmal sexuell belästigt wurde.6

Wenn wir Frauen sprechen, ohne dass wir dran sind, müssten wir mit Strafe rechnen. Wir haben mal wieder provoziert. Wir müssten doch nun wirklich wissen, wo unser Platz ist. Ich selbst hatte zwei Jahre lang politische Texte verfasst, als ich auf die erste Hass-Website stieß, die Fantasien über meine Vergewaltigung und Ermordung enthielt. Da war ich dreiundzwanzig Jahre alt. Ich hatte damals nur über meine Erfahrungen mit dem Leben schreiben und mich an einer öffentlichen politischen Debatte beteiligen wollen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dafür so brutal abgestraft zu werden. Ich hatte nicht mit den Shitstorms, den Gewaltfantasien, der bösartigen Hetze gerechnet, sei es auf genau für diese Hatespeech eingerichteten Websites oder in der Kommentarrubrik angesehenerer Publikationen. Ich war nicht auf die einschüchternden E-Mails und die stümperhaft mit meinem Konterfei versehenen Pornobildchen gefasst gewesen. Ich hatte nicht erwartet, dass ich das alles meinem Familien- und Freundeskreis, meinen Vorgesetzten würde erklären müssen, die sich alle fragten, wie ich diese Leute nur so wütend gemacht hatte. Irgendetwas musste ich doch getan haben, oder? Das glaubte ich ja auch. Ich nahm an, ich hätte es mir selbst zuzuschreiben, dachte, ich hätte es irgendwie provoziert. Und wenn ich es anderen gegenüber mal ansprach, hieß es immer: Lies nicht die Kommentare. Schluck’s runter. Lass dir ein dickes Fell wachsen. So ist das Internet eben. Ich fürchtete und schämte mich, und ich war noch sehr jung.

Aber bald wurde mir klar, dass ich bei weitem nicht die Einzige war, die sich fürchtete und sich schämte. Frauen und Queere, die dasselbe durchmachten wie ich, fanden damals langsam zueinander. Die Männer, die auf uns losgingen – und es waren fast ausschließlich Männer –, meinten es ernst, und sie waren gut organisiert. 2011 begann ich, offen über meine Erfahrungen mit Belästigungen und verbaler und psychischer Gewalt im Netz zu berichten, statt mich privat dafür zu schämen. Eine eigene Meinung ist der Minirock des Internets, schrieb ich: Wenn wir Frauen sie öffentlich zeigen, fordern wir Gewalt geradezu heraus. Alles, was wir abkriegen, haben wir auch verdient. Wir haben provoziert. Wir haben es nicht anders gewollt.

Zwei Generationen sind vergangen, seit Germaine Greer in Der weibliche Eunuch schrieb: »Die Frauen haben keine Ahnung, wie sehr die Männer sie hassen.«7 Tja, jetzt wissen wir es. Ein großer Teil der Belästigungen, denen sich Frauen Mitte der 2010er Jahre im Netz ausgesetzt sahen, wurde von Websites wie Breitbart gelenkt und betrieben, die später der extremen Rechten eine Tribüne boten. Mit der neuen Misogynie des Netzmobs rekrutierte die aufstrebende extreme Rechte ihren Nachwuchs.

Wie wir noch sehen werden, wurden die politischen Strategien, mit denen heute wütende junge Männer für die Wahl populistischer Rambos mobilisiert werden, im Cyber-Kulturkampf gegen Frauen entwickelt und eingeübt – oft sogar von denselben Leuten. Dieser beängstigende Trend erreichte in den Jahren 2013/2014 mit »Gamergate« seinen ersten völlig übersteuerten Peak:8 In dieser künstlich aufgebauschten Kontroverse in der Videospielbranche löste die Anschuldigung eines rachsüchtigen Ex-Freundes gegen eine Spieleentwicklerin, sie habe ihn betrogen, eine globale frauenfeindliche Kampagne aus, in der sich Hunderttausende wütender junger Männer darüber ereiferten, dass Frauen es gewagt hatten, in ihre heiligen Hallen einzudringen. Auf einmal war die Cyber-Belästigung von Frauen organisiert und gamifiziert worden – und das Spiel war noch lange nicht zu Ende.

Misogynie und Antifeminismus sind Gegenreaktionen auf die sexuelle Revolution, und nirgendwo zeigt sich dieser Backlash deutlicher als in der Wahl »starker Männer« im Globalen Norden und darüber hinaus. Von Großbritannien über die Vereinigten Staaten bis nach Indien und Brasilien wurden auf einer Welle aggressiver männlicher Ressentiments und rassistischer Vormachtsansprüche egozentrische Narzissten an die Macht gespült, die das wirre Versprechen abgaben, ein verlorenes, auf Recht und Ordnung und »Familienwerten« gründendes Zeitalter nationaler Größe zurückzubringen, in dem Frauen gewaltsam in ihre traditionellen Rollen als Ehefrau und Mutter zurückgedrängt werden, sexuell unterwürfig und sozial randständig. Besondere Beachtung finden, durchaus begründet, die Attacken dieser Regimes gegen ausgewiesene »Außenseiter«, seien es Migrantinnen, Schwarze, People of Colour, LGBTQ, Muslime und Muslimas oder Jüdinnen und Juden. Der Einstieg in solche Bewegungen verläuft aber oft über eine spezielle Form des revanchistischen Sexismus und wird begleitet von dem Versprechen, ein bestimmtes Modell des tyrannischen Patriarchats wiederherzustellen. Die dem zugrundeliegende Philosophie lockt Männer und Frauen gleichermaßen, sich für die neue Sache einer »nationalistischen Oligarchie« zu engagieren.

Gewählt werden solche neomaskulinistischen Führungsfiguren überwiegend von weißen Männern, denen die Rückkehr zu »traditionellen Werten« versprochen wird – zu einer fiktiven Vergangenheit, in der Männer noch echte Männer und Frauen noch dankbar waren. Dieses Hirngespinst umfasst die Wiederherstellung der Väterherrschaft, einer Gesellschaft mit streng monogamen, heterosexuellen, christlichen und weitgehend weißen Familieneinheiten, in denen Frauen und Kinder einem männlichen Haushaltsvorstand untergeordnet sind. Der rachsüchtige Anspruch auf Körper und Zuneigung von Frauen und Mädchen ist ein häufiger Refrain im neuen rechtsextremen Liederreigen. Dieses sexuelle Paradigma ist ein explizit gewaltsames, wird aber von seinen Verfechterinnen nicht so verstanden. Vielmehr wird sexuelle Gewalt zu einer Bedrohung von außen umgedeutet: Nicht weiße, sondern ausländische oder zugewanderte Männer tun sie »unseren« Frauen an, und diese Frauen müssen nicht etwa deshalb beschützt werden, weil sie Menschen sind, sondern weil sie Eigentum sind.

Deshalb ist es ein Fehler, im Kontext heutiger Misogynie den Rassismus nicht mitzudenken. Die beiden Phänomene sind strukturell nicht deckungsgleich, aber sie lassen sich auch nicht trennen. Die Theoretikerin Kimberlé Crenshaw prägte deshalb den Begriff der »Intersektionalität«: Verschiedene Formen der Unterdrückung überschneiden sich (intersect) und sind daher einzeln nicht vollständig zu erfassen. Die Vorherrschaft der Weißen (oft als White Supremacy bezeichnet) als politisches System ordnet Menschen nach ihrem Gender ein; sie beruht auf einer spezifischen Ideologie weißer männlicher Macht, die weißen Männern einen Anspruch auf die Körper aller Frauen gewährt. Seit den Tagen der Kampagnen zur Sklavenbefreiung in den USA sind daher die Emanzipationsbewegungen von Frauen und die von Schwarzen Menschen und People of Colour eng miteinander verbunden – auch wenn ihre Beziehung, wie ich in diesem Buch noch zeigen werde, nie einfach war. Weiße Frauen sind gefordert, ihre eigenen Vorurteile ständig zu hinterfragen und Schwarze Frauen und Frauen of Colour in den Mittelpunkt zu rücken, sind diese in der Vergangenheit doch oft als Erste das Risiko eingegangen, gegen sexuelle Gewalt zu protestieren und die politische Ökonomie des Frauenhasses zu entlarven.

In einem unsicheren und beängstigenden wirtschaftlichen Klima »scheint nichts die konventionelle Stabilität so stark zu stimulieren oder zu bedrohen wie das schwankende Terrain des Genders«, schreibt der Wissenschaftsreporter Frank Browning in seinem Buch The Fate of Gender.9 »Backlash und Ressentiments durchdringen die Mittel- und Arbeiterschicht des weißen Amerika, belegt nicht zuletzt durch den starken Anstieg frauenfeindlicher Beiträge in den sozialen Netzwerken.«10 Ein Großteil dieser Ressentiments richtet sich gegen Frauen, die angeblich mehr Macht haben wollen, als ihnen zusteht. »Moralische Entrüstung« ist, der Forschung zufolge, nach wie vor die vorherrschende Reaktion auf Frauen, die nach Macht streben. In einer Umfrage anlässlich der US-Präsidentschaftsvorwahlen 2016 sank bei denjenigen Wählern, deren Frau mehr Geld verdiente als sie und denen man das durch die Art der Befragung in Erinnerung rief, die Wahrscheinlichkeit, dass sie Hillary Clinton unterstützen würden.11 Das Wahlverhalten Konservativer und Neokonservativer in aller Welt erklärt sich zu einem nicht geringen Teil aus der moralischen Entrüstung darüber, dass Frauen in der Öffentlichkeit ungeniert Raum für sich beanspruchen. Die Unterschiede im Wahlverhalten zwischen Männern und Frauen sind ebenso signifikant, in vielen Ländern sogar signifikanter als die zwischen People of Colour und Weißen. In Großbritannien wären in der Generation der Millennials, der Generation Y, 20 Prozent mehr Männer bereit, rechte oder rechtsextreme Kandidatinnen zu unterstützen, als gleichaltrige Frauen.

Die moralische Entrüstung nimmt unterschiedliche Formen an. In einigen Ländern wird sie explizit thematisiert, etwa in den Regimen von Viktor Orbán in Ungarn, Jair Bolsonaro in Brasilien und Wladimir Putin in Russland, die alle drei häusliche Gewalt gegen Frauen legalisiert haben. In anderen Ländern äußert sie sich indirekt, so in Großbritannien, wo die konservative Regierung unter mehreren Premierministerinnen die Jobs von Zehntausenden von Arbeiterinnen überflüssig gemacht, ihnen das Einkommen beschnitten und die Mittel für den Schutz vor häuslicher Gewalt und für Prozesskostenhilfe gekürzt hat, sodass misshandelte Frauen ihren gewalttätigen Partner aus wirtschaftlichen Gründen weder verlassen noch vor Gericht bringen können.

»Konservative bevorzugen ein System, in dem die Freiheit der Männer von der Knechtschaft der Frauen abhängig ist«, so die amerikanische Journalistin Amanda Marcotte.12 Sie zitiert US-Senator Josh Hawley, der eine Freiheit, die auf einer »Philosophie der Befreiung von Familie und Tradition, der Flucht vor Gott und der Gemeinschaft gründet, auf einer Philosophie der Selbstschöpfung und der schrankenlosen, entfesselten Entscheidungsfreiheit«, als unerwünscht bezeichnet.13 Mit »Familie und Tradition« meint Hawley, wie viele andere auch, dass Frauen bleiben sollen, wo sie hingehören.

Nach konservativem Verständnis war das Ideal der »Freiheit« nie für People of Colour oder weiße Frauen gedacht. Mit dem extremen Selbstbewusstsein derer, die noch nie die eigene Toilette schrubben mussten und sicher auch nicht damit anfangen wollen, singen wohlhabende rechtskonservative Männer Loblieder auf die Verantwortung. Wie der Publizist Franklin Leonard bemerkte: »Für diejenigen, die an Privilegien gewöhnt sind, fühlt sich Gleichheit an wie Unterdrückung.«14

Aber Unterdrückung bemisst sich nicht danach, wie wütend man ist, sondern wie wütend man sein darf. Deshalb wirkt die Wut heterosexueller weißer Männer im Globalen Norden oft so überwältigend, wohingegen die Wut von Frauen und von Schwarzen Männern und Männern of Colour über strukturelle Gewalt und historische Unterdrückung pathologisiert und von der politischen Debatte ausgeschlossen wird. Frauen, die gegen institutionell verankerte Vergewaltigung protestieren, »gehen zu weit« und »verlieren die Nerven«; jugendliche People of Colour, die gegen Polizeigewalt protestieren, sind »Gangster«, weiße Männer hingegen haben »legitime Bedenken«.

Im Globalen Norden und darüber hinaus kriegt es das Patriarchat mit der Angst und kämpft auf die ganz dreckige Tour.

Wenn gewöhnliche Männer, deren Ansprüche vermeintlich nicht mehr erfüllt werden, nun aus ihrer Weigerung, ein momentanes Unbehagen zu verarbeiten, eine Philosophie schnitzen wollen, lässt sich das leicht ausnutzen. Die Anspruchshaltung lässt sich instrumentalisieren. Sie lässt sich kanalisieren. Mit dem Versprechen, den Weißen ihren eingebüßten männlichen Stolz zurückzugeben, kann man Wahlprogramme an den Mann bringen, Stimmen sammeln, Kaiser salben. Und die Sprache, in der dieses Versprechen gegeben wird, ist die des sexuellen Entitlement.15

Die extreme Rechte ist weltweit auf dem Vormarsch, und als ihren Feind hat sie den Feminismus ausgemacht. Steve Bannon, Ex-Breitbart-Chef, ehemaliger Berater Donald Trumps und der Mann, der mehr als jeder andere auf der Welt die »Alt-Right« zu der politischen Kraft geformt hat, die sie heute ist, nutzte für den Aufbau seiner Bewegung gezielt die männliche Angst vor weiblicher Macht. Bannon, der im heutigen Feminismus die »potenziell einflussreichste politische Bewegung der Welt« sieht,16 spricht von einer »Anti-Patriarchats-Bewegung«.17 Und Bannon war beileibe nicht der einzige ultrarechte Demagoge, der Frauenfeindlichkeit für seine Zwecke nutzbar machte.

Die Instrumente der politischen Nötigung, derer sich die neue extreme Rechte bedient, beruhen auf Dating-Stratgien, die darauf abzielen, die sexuelle Einwilligung von Frauen zu umgehen. Viele Taktiken und pseudophilosophische Grundlagen des zeitgenössischen Faschismus stammen aus den Kulturkloaken von Männer-Onlineforen, auf denen armselige frustrierte junge Männer über ihr gemeinsames Ressentiment gegen Frauen zueinanderfinden. Wie wir in späteren Kapiteln noch sehen werden, spricht der Faschismus heute gezielt anfällige junge Weiße an, denen er einredet, Feminismus, Antirassismus und Linksliberalismus bedrohten die Seele der weißen westlichen Männlichkeit.

In Wahrheit ist die Männlichkeit heute selbst ihr eigener schlimmster Feind. In den Jahren seit dem Finanzcrash 2008 sind unzählige Millionen Männer mit Unsicherheit, Instabilität und einem Mangel an allem, was ihrem Leben eigentlich einen Sinn geben sollte, aufgewachsen und älter geworden. Zu den wenigen vertrauten und sinnstiftenden Attributen, die ihnen geblieben sind, gehören traditionelle Genderrollen, insbesondere gesellschaftliche Skripte, nach denen »starke« Männer, die unterwürfige Frauen beeindrucken und beherrschen können, Respekt und Status erhalten. Das überzeugt viele Männer davon, dass in ihrem Leben nicht etwa ökonomische Gerechtigkeit oder soziale Sicherheit fehlen, sondern schlichtweg eine Frau – egal welche Frau –, die sich um sie kümmert und die die Scherben ihres vom modernen Leben zerschmetterten Egos zusammenfegt; eine Frau, die ihnen das seltene Gefühl vermittelt, wichtig zu sein, gebraucht, gesehen und gehört zu werden. Schließlich ist es einfacher, Frauen, Feminismus und die »Woke Culture« für alle Ungerechtigkeiten des modernen Lebens verantwortlich zu machen, als der Wirtschaft, der Regierung oder sich selbst die Schuld zu geben.18

Wenn eine Gesellschaft instabil wird und sich bei Männern ein Gefühl der Fragilität und Unsicherheit einstellt, bekommen das die Frauen zu spüren. Der Alltag wird immer prekärer, überall auf der Welt werden die öffentlichen Mittel für Gesundheit, Wohnen, Bildung und Sozialfürsorge gekürzt, und nun erwartet man von Frauen, einzuspringen und immer mehr dieser lebenswichtigen Sorgearbeit zu leisten, sei es kostenlos in Paarbeziehungen oder in mies bezahlten und schlecht angesehenen unsicheren Haushaltsjobs, die überwiegend von Migrantinnen und armen Frauen aus der Arbeiterklasse erledigt werden. Während des Covid-19-Lockdowns 2020, als Millionen von Menschen gezwungen waren, mit übergriffigen Partnern und Ehemännern in der eigenen Wohnung »in Sicherheit zu bleiben«, sind in den europäischen Mitgliedsstaaten der Weltgesundheitsorganisation die Notrufe wegen häuslicher Gewalt um mehr als 60 Prozent gestiegen.19 Frauen sind natürlich mit demselben unmenschlichen, erniedrigenden Arbeitsmarkt groß geworden wie Männer, sie richten sich auf demselben brennenden Planeten ein Leben ein, müssen sich wie Männer mit sinkenden Löhnen und steigenden Mieten herumschlagen, mit unbezahlbaren Schulden und unsicheren Jobs. Obendrein müssen sie aber auch noch die Männer aushalten, die ihnen für das alles die Schuld geben.

Frauen stehen, als politische Klasse betrachtet, weltweit unter Beschuss. Das Sperrfeuer kommt von gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und zwischenmenschlicher Seite, es prasselt an allen Fronten. In den letzten Jahren stieg die Zahl der bekannten Fälle sexueller Belästigung auch wegen der #MeToo-Bewegung enorm an, doch dieser Anstieg ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass mehr Fälle öffentlich wurden. Dem US National Crime Victimization Survey zufolge haben sich die Fälle von Vergewaltigung oder sexueller Nötigung von 2017 auf 2018 fast verdoppelt.20 Trotz eines deutlichen Anstiegs angezeigter Gewalterfahrungen in Großbritannien erreichte die strafrechtliche Verfolgung von Vergewaltigungen dort 2018 den niedrigsten Stand seit zehn Jahren.21 Zwar sind in den Industrieländern Gewaltverbrechen insgesamt seit den 1990er Jahren rückläufig, doch genderspezifische Gewalt gefährdet anhaltend und in wachsenden Zahlen das Leben von Frauen und Mädchen. Die traditionellen rechtlichen Institutionen reagieren auf diese Entwicklung mit ostentativem Desinteresse. Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen wird immer noch nicht als Fall für die öffentliche Justiz, sondern als Privatangelegenheit behandelt.

Unterdessen wird der Zugang zu Abtreibung weltweit extrem eingeschränkt. Ermutigt durch die Ernennung des Konservativen Brett Kavanaugh als beigeordneter Richter am Obersten Gerichtshof der USA haben zahlreiche Bundesstaaten Gesetze erlassen, die den Schwangerschaftsabbruch praktisch verbieten. Länder wie Polen und Spanien haben das schwer erkämpfte Abtreibungsrecht wieder zurückgenommen. Auch hier muss man sich klarmachen, wo das alles begonnen hat: Die rechte Bewegung gegen reproduktive Selbstbestimmung gewinnt seit Jahrzehnten an Fahrt. Ihre Anfänge liegen in den 1980er Jahren, als sie den Feminismus der zweiten Welle und die neuen Freiheiten, die einige Frauen nunmehr genossen, gezielt ins Visier nahm – und auch als Thema, um das herum sich die Konservativen in den Südstaaten der USA gegen die Schwarze Bürgerrechtsbewegung formieren konnten.

Unübersehbar zieht sich ein roter Faden von der #MeToo-Bewegung zu den steigenden Zahlen frauenfeindlicher Gewalt, vom Backlash gegen Abtreibungsrechte im Globalen Norden bis zum dramatischen Rückgang der Geburtenraten weltweit und zum erschreckenden Anstieg der von jungen Männern aus sexueller Rachsucht begangenen Massenschießereien, auf die ich in späteren Kapiteln noch ausführlicher eingehen werde. Hinter all diesen Phänomenen verbirgt sich ein Muster, und ein gemeinsamer Nenner ist Angst: Angst vor Veränderung, Angst vor Bedeutungslosigkeit, Angst vor Frauen. Angst, weil sich Frauen verändern, weil sie freier und mutiger werden und weil sie ihre eigenen Menschenrechte nicht mehr ohne Weiteres der Bequemlichkeit der Männer unterordnen. Ein gemeinsamer Nenner ist auch moralische Entrüstung. Entrüstung darüber, dass unterdrückte Menschen es wagen, ihre Unterdrückung zu benennen, dass Opfer sexueller Gewalt die ihnen aufgezwungene soziale Rolle nicht mehr spielen, den ihnen zugefügten Schaden nicht mehr verschweigen und stattdessen Konsequenzen fordern.

Diese sexuelle Revolution stellt sich dem Machtmissbrauch auf allen Ebenen entgegen. Und in meinem Buch will ich sexuelle Gewalt, Ausbeutung und Traumatisierung explizit beleuchten, nicht nur als individuelle Probleme, sondern als politische Phänomene. Die Logik der Gewalt ist für die Machterhaltung unerlässlich, sei es in Regierungen, Institutionen und Wirtschaftsbranchen oder in einzelnen Familien. Ich zeige auf, dass viele althergebrachte gesellschaftliche Organisationsmodelle von der Kernfamilie bis zur parlamentarischen Politik nicht einfach nur Gewalt ermöglichen – sie sind auf Gewalt angewiesen. Sie hängen davon ab, dass Ausbeutung, Mobbing, männliche und weiße Vorherrschaft normal sind oder normalisiert werden.

Unsere Kultur wird geprägt und überformt von sexueller Gewalt und von den Narben, die sie der individuellen und der kollektiven Psyche beibringt. Aber die Gewalt war bisher nur selten auch der politischen Beachtung wert. Falls sie überhaupt zur Sprache kommt, heißt es meist, sie müsse privat ertragen, im stillen Kämmerlein verarbeitet werden, und das ist durchaus praktisch, weil damit die gesamte Verantwortung für einen grundlegenden Wandel den Einzelnen übertragen wird, die leiden, statt den Systemen, die das Leid verursachen. Nur für den Fall, dass jemand die Botschaft nicht versteht, müssen diejenigen, die sexuelle Gewalt öffentlich machen, mit Bestrafung und öffentlicher Demütigung rechnen, besonders, wenn sie Frauen sind.

Aber wenn wir verstehen wollen, wie Unterdrückung funktioniert, müssen wir sexuelle Gewalt, Ausbeutung und Traumatisierung zum Thema machen. Wenn Menschen von klein auf lernen, dass Erwachsene Kindern wehtun und sie verletzen dürfen, dass Männer Frauen wehtun und sie verletzen dürfen, dass Polizistinnen Menschen aus marginalisierten Bevölkerungsgruppen wehtun und sie verletzen dürfen, dass die Starken die Schwachen ausplündern dürfen und sich die Schwachen nicht darauf verlassen können, Hilfe zu bekommen, dann richten diese Menschen ihre Vorstellungswelt an diesem Narrativ aus. Mobbing und Ausbeutung werden dann eher noch leichter als zuvor als normaler Bestandteil der Arbeitswelt akzeptiert. In den letzten Jahren politischer Umwälzungen wurde diese Logik der Ausbeutung immer wieder bestätigt. Obwohl Frauen und Kinder nunmehr selbstbewusster über ihre Gewalterfahrungen sprechen, werden bekannte Täter in die höchsten Positionen des öffentlichen Beamtenapparats und der politischen Verantwortung gehievt. Wenn wir zuschauen müssen, wie brutale Despoten belohnt werden, tut das weh, und vielen von uns, die wir selbst schon auf der Opferseite standen – auch wenn wir uns nicht als Opfer verstehen –, fällt es schwer, die Augen davor zu verschließen. Opfer laden sich selbst häufig die Scham auf, die eigentlich die Täter belasten müsste. Wenn Menschen, die Gewalt oder Verfolgung erlebt haben, heute immer noch so viel Scham anhaftet, so ist das ein Erfolg der Bemühungen, Opfer zum Schweigen zu bringen und sexuelle Gewalt zu normalisieren.

Die Auseinandersetzung mit der Ungerechtigkeit und dem Ausmaß sexueller Gewalt richtet auf allen Ebenen, von der Institution bis hinunter zum Individuum, Chaos an. Menschen und Communitys zerreißen sich bei dem Versuch, ihren Wunsch nach Gerechtigkeit und den Wunsch, sich nicht mit dem Unrecht befassen zu müssen, unter einen Hut zu bringen. Die Opfer und Überlebenden haben damit zu kämpfen, sich nicht zu verlieren in diesem Sturm der kognitiven Dissonanz; dieser Sturm trifft alle, denen schreckliches Unrecht widerfahren ist, die aber tief in ihrem Innern fürchten, es könnte doch ihre eigene Schuld gewesen sein, und die meinen, sie dürften sich eigentlich gar nicht beschweren, es geschehe ihnen recht, dass man ihnen nicht glaubt, und sie könnten ihren eigenen Erfahrungen nicht trauen.

Eine Revolution beginnt nicht auf der Straße. Eine Revolution beginnt im Kopf und im Herzen. Die sexuelle Revolution nimmt ihren Anfang, wenn eine Person aus einer Kultur, die ihr Tag für Tag vermittelt, dass ihr Körper nicht ihr gehört, dass ihre Sexualität eine Handelsware für den Konsum der Männer ist, dass ihre Lust keine Rolle spielt, dass Ehrgeiz sie unsympathisch, Begehren sie widerlich, Erschöpfung sie schwach macht – wenn also eine Person, die das alles gelernt hat, nach jahrelanger sorgsam gepflegter Selbstverleugnung beschließt, sich trotzdem zu mögen und sich zu behandeln, als habe sie Respekt verdient, als müsse sie die Miete für ihr Dasein in einer Männerwelt nicht mit ihrem Körper, ihrer Energie oder ihrer Arbeit bezahlen. Wenn sich eine Frau so verhält, als seien ihr Leben und ihr Glück relevant, dann findet eine winzige Revolution statt. Und wenn viele Millionen es tun, alle auf einmal, verändert sich die Welt für alle Zeit. Shulamith Firestone schrieb in Frauenbefreiung und sexuelle Revolution:

Deswegen brauchen wir eine Revolution, die von der ausgebeuteten Klasse (den Frauen) getragen wird: denn genauso wie die vorübergehende Diktatur des Proletariats, die Inbesitznahme der Produktionsmittel, die Abschaffung der ökonomischen Klassen sichert, wird die Inbesitznahme der Kontrolle der Reproduktion durch die Frauen die Vernichtung der geschlechtsspezifischen Klassengesellschaft gewährleisten. Frauen müssen nicht nur wieder in den Besitz der uneingeschränkten Eigentumsrechte über den eigenen Körper gelangen, sondern auch vorübergehend die Kontrolle über die Fruchtbarkeit des Menschen übernehmen […].22

Im Frühherbst 2017 legte sich ein Schalter um. Frauen und ein paar mutige Männer meldeten sich zu Wort – zu viele, als dass man sie hätte ignorieren können – und berichteten von sexueller Belästigung und Gewalt, die sie erfahren hatten. Die Welle hatte sich seit Jahren aufgebaut, doch als der Damm endlich brach, geschah es in Hollywood.

Öffentliche Vorwürfe gegen den mächtigen Filmproduzenten und Serienvergewaltiger Harvey Weinstein lösten 2017 eine Flut weiterer Berichte von Frauen aus, die die Betrachtung und Diskussion sexueller Gewalt dramatisch veränderte. Weinstein hatte jahrzehntelang in der Öffentlichkeit gestanden, das personifizierte Patriarchat, das in einem Sumpf der Selbstzufriedenheit vor sich hin modert. Jahrzehntelang hatte er qua Reichtum das Recht für sich reklamiert, Frauen zu begrapschen und zu vergewaltigen, und mit ausgeklügelten Strategien jedes einzelne seiner mehr als sechzig Opfer zum Schweigen gebracht, im vollen Bewusstsein, dass das, was er da tat, widerwärtig und illegal war. Seine Opfer waren die Ersten, die sich gemeinsam zur Wehr setzten; viele von ihnen hatte er jahrelang mit der Androhung öffentlicher Schande oder Prozesse mundtot gemacht oder aus der Filmbranche gedrängt. Im verstopften Herzen der Massenkultur erhoben nun reiche und schöne Frauen, die ihr Leben lang von Männern verfasste Drehbuchsätze gesprochen hatten, die eigene Stimme und erzählten eine andere Geschichte. Wenn eine Frau ihren Täter beim Namen nennt, ist das ein Akt der Rebellion. Wenn viele es tun, ist es eine Widerstandsbewegung.

Geeint unter dem Hashtag #MeToo, der auf die US-Bürgerrechtlerin Tarana Burke zurückgeht, raste die Bewegung über Branchen und Ozeane hinweg bis ins Herz der Politik. Mächtige Männer legten mit eingekniffener Reputation den Rückwärtsgang ein. Auf höchster Ebene wurde hektisch diskutiert: Was wollten diese Frauen? Wie konnte man sie aufhalten? Die Story löste sich zunehmend vom Drehbuch, doch die Kameras liefen weiter, und Männer, die sich lange für die Protagonisten ihrer eigenen gemütlichen Erzählung gehalten hatten, gerieten in Panik. Weinsteins Anwalt verteidigte seinen Mandanten mit dem Argument, er sei eben ein unbedarfter Trottel, ein unverbesserlicher »alter Dinosaurier«. Andere Männer in ähnlicher Lage versuchen, das Narrativ noch zu kontrollieren, wie ein Tyrannosaurus Rex, der mit panikgeweiteten Augen versucht, mit einem Asteroiden zu verhandeln.

Weltweit machten immer mehr Frauen ihre Erfahrungen mit sexueller Gewalt öffentlich, und so schälten sich alte Gewissheiten über angeblich normales und akzeptables Verhalten zwischen Männern und Frauen, zwischen Mächtigen und Machtlosen nach und nach ab wie verhornte Haut.

Ein halbes Jahrzehnt später geschieht es noch immer. Es geschieht nicht nur in Hollywood, und es geschieht nicht nur im Silicon Valley. Es geschieht nicht nur im Weißen Haus und hinter den Kulissen von Fox News. Es geschieht in der Kunstwelt und in etablierten politischen Parteien. Es geschieht in der radikalen linken Szene Londons, in der Demokratischen Partei der USA, im australischen Parlament und in internationalen Hilfsorganisationen. Es geschieht in Wissenschaft und Medien, in juristischen und therapeutischen Berufen. Es geschieht seit Jahrzehnten. Und es geschieht noch immer. Grapschende Hände und tägliche Entmenschlichung sind Bestandteile der zermürbenden Angriffsstrategie nicht nur gegen Frauen, die sich in der Unterhaltungsbranche, der Finanzwirtschaft, den Medien oder der Politik zu profilieren versuchen, sondern auch gegen die vielen Millionen Frauen, die sich mit schlecht bezahlten und schlecht angesehenen Jobs durchschlagen. Kurz nach Beginn der #Me-Too-Bewegung machten Zehntausende Hausangestellte ihre Gewalterfahrungen publik. Arbeiterinnen bei McDonald’s erklärten, ihr Körper stehe nicht auf der Speisekarte.

Eine Weile sah es so aus, als könne die Bewegung gegen männliche Dominanz und sexuelle Nötigung die Gräben von Race und Klasse überbrücken. Migrantische Wanderarbeiterinnen in der Landwirtschaft erhoben die Stimme gegen häusliche Gewalt, ebenso wie Frauen in Film, Medien, Politik und Technologie, die sich organisierten, um Serientäter in ihrer jeweiligen Branche zu Fall zu bringen. Der Widerstand begann für diese Frauen so, wie Widerstand am Arbeitsplatz immer beginnt: Sie gelangten zu dem Schluss, dass es gefährlicher war zu schweigen als sich zu äußern. Wenn Menschen erkennen, dass sie mit ihrem Kampf nicht allein sind, dass ihr Schmerz echt und relevant ist, wirkt das zugleich erschreckend und befreiend. Es ist ein Hochgefühl, wenn wir erkennen, dass wir auf uns vertrauen dürfen, dass wir nicht verrückt sind, nur weil wir uns eine andere Welt wünschen, und dass wir, selbst wenn wir verrückt sind, deswegen noch lange nicht falsch liegen.

Viele der mutmaßlichen Täter und ihrer Verbündeten reagierten auf diese Enthüllungen mit einer Bitte um mehr Verständnis, man möge doch bitte den Kontext der Verbrechen stärker berücksichtigen. Ja, sicher. Der Kontext ist entscheidend. Der Kontext, in dem dieser breite Aufstand gegen das toxische Anspruchsdenken weißer Männer stattfindet, muss unbedingt berücksichtigt werden. Der Kontext ist ein historischer Moment, in dem unübersehbar wird, dass es für das Überleben unserer Spezies nichts Bedrohlicheres gibt als das Entitlement weißer Männer.

Das ist keine Metapher. Das Verhältnis von politischer und sexueller Einwilligung ist nicht das einer Analogie, sondern einer Wechselwirkung. Das eine speist das andere. Die Suche nach einer menschlicheren Sicht auf Macht und Einvernehmlichkeit ist nicht einfach nur eine Kulisse für einen größeren Kampf. Es ist der große Kampf. Es geht um die raffgierigen alten Männer und die jungen Männer, die in deren Kielwasser nach der Macht grapschen, und das war schon immer so. »Was geschieht, wenn alle Frauen sämtliche Lichter im Haus anschalten […] und die Männer sich nicht mehr in der Dunkelheit verstecken können?«, fragt die Autorin Caitlin Johnstone auf Medium. »Man kann es sich kaum vorstellen. Von der kleinsten Familieneinheit bis hinauf zu den einflussreichsten Positionen würden Machtstrukturen ins Wanken geraten.«23 Dieses Buch fragt, wie sich diese seismische Verschiebung auswirkt und inwieweit sie traditionelle Machtsysteme bedroht.

Moderne Staaten sind in ihrem tiefsten Wesen sexistisch und rassistisch, weil ihre Machtstrukturen auf der Ausbeutung von Schwarzen Menschen und People of Colour und weißen Frauen gründen. In den meisten modernen Gesellschaften sind sexuelle Gewalt und rassistische Unterdrückung grundlegend für die Organisation von Arbeit, Geld und Ressourcen. Das ist kein neuer Gedanke. Schon Theoretikerinnen wie Catharine A. MacKinnon haben festgestellt, wie wichtig genderspezifische Macht für die Entstehung des modernen Staates ist. MacKinnon allerdings hielt die sexuelle Gewalt für den Quellcode des Machtdifferenzials: Der Staat sei so konstruiert worden, dass er sexuelle Gewalt von Männern gegen Frauen erleichtere. Ich argumentiere in diesem Buch andersherum: Sexuelle Gewalt ist nicht das Endziel der patriarchalen weißen Vorherrschaft, sondern ein Durchsetzungsmechanismus.

Durch die Bewahrung der Gender- und Race-Hierarchien, die den meisten modernen politischen Systemen zugrunde liegen, soll nicht die Sexualität kontrolliert werden, sondern die Arbeit. Die Architektur rassistischer und sexistischer Gewalt ist darauf ausgelegt, BIPoC und den meisten weißen Frauen die schwere, monotone, für die Lebenserhaltung unerlässliche Arbeit aufzuzwingen, damit eine Minderheit weißer wohlhabender Männer sie nicht tun muss – ein letztlich für alle Beteiligten nachteiliges Arrangement.

Sexualität ist ein fester Bestandteil dieser Geschichte. Meine Generation hat eine Welt geerbt, in der Sex billig, aber nicht ohne Preis war. Wir haben eine Kultur der faden brutalen Zwangsheterosexualität geerbt. Wir sind mit der Warnung aufgewachsen, dass Sex etwas Gefährliches sei, etwas Gewalttätiges, das Jungs Mädchen antun, etwas, das Männer brauchen und Frauen gewähren, das starke Männer haben wollen und nette Mädchen ihnen nicht so ohne Weiteres geben. Wir sind mit einer Flut von Mainstream-Pornos groß geworden, in denen Sex als Fließbandarbeit gezeigt wurde, wo Körper einander in die Unterwürfigkeit prügelten, wo Frauen und Mädchen in ritualisierter Gewalt genagelt, geschlagen, geschändet, gewürgt, geohrfeigt und zerstört wurden, mit einer Sprache der Sexualität, die so prüde, freudlos und konkurrenzbetont war wie alles andere in unserem Leben.

Mit der Verschmelzung von Sexualität und Macht schafft die moderne Gesellschaft ein Klima, in dem der Freiheitsgedanke theoretisch fetischisiert und praktisch ausgehöhlt wird. In dem jegliches Begehren den Wunsch nach Dominanz wecken muss. In dem Macht, Gewalt und Autorität erotisiert werden und Sexualität autoritär wird.

Autoritäre Tendenzen sind in die politische Mainstream-Kultur eingebrannt. Ein spezifischerer Begriff für solche Tendenzen ist der des Neoliberalismus. Der Neoliberalismus ist, einfach gesagt, eine Form der gesellschaftlichen Organisation – von der Politik über die Kultur bis zum Handel –, die den Bedürfnissen des Marktes und des privaten Profits Vorrang vor allem anderen einräumt. In dieser Sonderform des globalen Kapitalismus interessiert nur, was an wen wie teuer verkauft werden kann. Das menschliche Leben an sich hat darin keinen Wert, jeder menschliche Trieb wird in Produktivitätssteigerung umgelenkt, und die meisten Menschen verbringen ihre Zeit überwiegend damit, sich für den Profit anderer abzurackern. Vor allem aber reagiert der Neoliberalismus allergisch auf die Idee, Menschen könnten in einer Gemeinschaft leben, sich gemeinsam organisieren und füreinander sorgen – und propagiert stattdessen eine Weltordnung, in der sich Individuen mit ihrer Familie in einer Welt rücksichtsloser Konkurrenz abkämpfen und nur mit viel Stärke und Glück überleben. Deshalb entwickelt sich aus dem Neoliberalismus am Ende ein Autoritarismus. Und wie jede Form des Autoritarismus ist der Neoliberalismus bestrebt, nicht nur zu kontrollieren, was Menschen tun, sondern auch, wie sie denken und fühlen. Aber irgendwann muss das Ganze kippen.

Und meist geschieht das auch. Wilhelm Reich stellte als einer der ersten Philosophen dar, wie die Despoten der 1930er Jahre sexuelle Frustration schürten, manipulierten und für gewaltsame imperialistische und rassistische Zwecke umlenkten. In Die Massenpsychologie des Faschismus schrieb er: »Ist nämlich die Sexualität durch den Prozess der Sexualverdrängung aus den naturgemäß gegebenen Bahnen der Befriedigung ausgeschlossen, so beschreitet sie Wege der Ersatzbefriedigung verschiedener Art. So zum Beispiel steigert sich die natürliche Aggression zum brutalen Sadismus, der ein wesentliches Stück der massenpsychologischen Grundlage desjenigen Krieges bildet, der von einigen wenigen aus imperialistischen Interessen insceniert wird.«24

Dasselbe gilt heute für Bewegungen vom Islamischen Staat bis zur extremen Rechten in den USA: Die strategische Nutzbarmachung sexueller Frustration und Frauenfeindlichkeit für die Radikalisierung junger Männer zieht sich durch diverse Ideologien. Leider ist die zugrundeliegende Anspruchshaltung beileibe nicht faschistischen Bewegungen vorbehalten. Das Gegenteil einer Consent Culture, einer Kultur der Einvernehmlichkeit, ist nicht die Rape Culture, die Kultur der Vergewaltigung – sondern der Autoritarismus.

Sexueller Autoritarismus entsteht, wenn sich heterosexuelle Männer nicht mehr auf die sexuelle Gefügigkeit von Frauen verlassen können. Auch das ist keine Metapher. Sexuelle Unterdrückung ist mehr als bloß eine Analogie für politische Unterdrückung. Sexuelle Unterdrückung ist real, und politische Unterdrückung ist real, und sie sind verwandt. In beiden Fällen reißen mächtige Männer, koste es, was es wolle, alles an sich, worauf sie einen Anspruch zu haben meinen, und sie kommen damit durch, weil die Gesetze, nach denen sie eigentlich zur Rechenschaft gezogen werden müssten, von Menschen wie ihnen und für Menschen wie sie geschrieben wurden. Dies ist das Wesen des »Privilegs«, was »Sonderrecht« bedeutet.

Der Kampf gegen sexuelle Ausbeutung richtet sich letztlich gegen männliche Privilegien auf allen Ebenen, von der politischen bis zur persönlichen. Es ist ein Kampf für das Recht aller Körper nicht nur auf Gleichheit vor dem Gesetz, nicht nur auf Würde und Handlungsmacht, sondern auch auf Selbstbestimmung, Lust und Abenteuer. Wie ich in diesem Buch zeigen werde, bedroht die sexuelle Revolution mit ihrer nachdrücklichen Forderung einer Neuorganisation von Fürsorge und Arbeit die moderne Wirtschaftsordnung und stellt das Prinzip der sexuellen Unterdrückung infrage.

Diese sexuelle Revolution ist eine der Neudefinition von Begriffen und somit ein taxonomisches Unterfangen. Es geht darum, eine zutiefst und brutal inkohärente Welt zu benennen und zu konkretisieren. Wörter wiegen schwer in der Sexualpolitik. Die Schauspielerin Alyssa Milano regte 2018 einen »Sexstreik« an, das heißt, Frauen sollten Männern den Sex verweigern, solange ihnen durch restriktive Abtreibungsgesetze die grundlegende körperliche Autonomie verweigert wird.25 Das war der richtige Impuls, aber die falsche Strategie. Ein allgemeiner Sexstreik ist eine ebenso dumme wie sozialkonservative Idee, denn das sexuelle Begehren der Frau ist real und wirksam und lässt sich nur mit umfassenden sozialen und wirtschaftlichen Strategien unterdrücken. Priester und Politiker versuchen das seit Jahrhunderten. Eine besondere Form des Sexstreiks ist allerdings bereits in vollem Gange: Wenn sich das Prinzip der Einwilligung in der Breite durchsetzt, ist das bereits der »Sexstreik«, vor dem sich Chauvinisten so fürchten.

Schon seit geraumer Zeit kündigen Frauen und Mädchen still und leise den alten patriarchalen Vertrag auf, der festlegt, dass mit Sexualität und Lebensarbeit Sicherheit und Schutz erkauft werden. Wirtschaftliche Notwendigkeit, gesellschaftlicher Druck, Isolation und Angst zwingen heute längst nicht mehr so viele Frauen wie früher, eine Beziehung einzugehen oder fortzuführen, die sie eigentlich nicht wollen. Der Feminismus kämpft um die Entscheidungsfreiheit von Frauen, schön und gut, aber was passiert eigentlich, wenn wir Entscheidungen treffen – und zwar massenhaft –, die Männern nicht gefallen?

Das ist eine fundamentale Störung des »Sexualvertrags«, der, so die Theoretikerin Carole Pateman, unserem Verständnis demokratischer Freiheit zugrundeliegt.26 Wie Pateman ausgehend vom Hobbes’schen »Gesellschaftsvertrag« aufzeigt, beruhen die in der Aufklärung entstandenen Grundannahmen für die Freiheit auf einem erzwungenen Machtgefälle zwischen Männern und Frauen, einem unausgesprochenen Sexualvertrag, nach dem Frauen Männern Fürsorge, Aufmerksamkeit, sexuelle Verfügbarkeit und unbezahlte Hausarbeit schulden. Wenn Frauen gegen die Klauseln dieses Vertrags verstoßen, indem sie die Unterwürfigkeit verweigern, drohen ihnen Strafen. Im Lauf der Arbeit an diesem Buch habe ich mit unzähligen Frauen gesprochen, die bestraft wurden – die schmerzenden Wunden, die sie mit sich herumtragen, erinnern sie unerbittlich daran, was bei Vertragsbruch fällig ist.

Um Ungerechtigkeit in der Zukunft beheben zu können, müssen wir die Verletzungen der Vergangenheit benennen und anerkennen. Das ist eine der größten Aufgaben, die vor uns liegen, wenn wir eine Kultur schaffen wollen, die das menschliche Leben wertschätzt, wenn wir menschliches Leben ermöglichen wollen, das sich der Unterdrückung widersetzt. Uns ist meist diejenige Version der Geschichte lieber, in der wir immer alles im Griff haben und an all unserem Schmerz und unseren Enttäuschungen selbst schuld sind, denn so fällt es uns leichter, uns die schrecklichen Dinge, die uns zugestoßen sind, einzugestehen und unsere Empfindungen einzuordnen. Es ist furchtbar menschlich, den Schmerz der Vergangenheit nicht noch einmal erleben zu wollen. Oft sieht es so aus, als könnten wir vergangenes Grauen nur überleben, indem wir es leugnen. Aber nur, indem wir dem Geschehenen ins Auge blicken, können wir verhindern, dass es sich wiederholt.

Sexuelle Befreiung ist nur möglich, wenn wir frei von sexueller Gewalt sind, und dafür müssen wir die Gewalt zunächst benennen. Um sozialen Wandel herbeizuführen, muss man Menschen gestatten, Erfahrungen und erlittene Schmerzen wahrheitsgemäß zu schildern, damit anderen nicht dasselbe widerfährt. Genau das geschah in den 1960er und 1970er Jahren, als Feministinnen erstmals sexuelle und häusliche Gewalt publik machten, die hässlichen Geheimnisse, die bis heute am Kern unserer Communitys, Familien und politischen Institutionen nagen. Das war damals so mutig und gefährlich wie heute. Vorgesehen war, dass die Schande der Gewalt von den Überlebenden getragen wurde, überwiegend Frauen und Kinder, die über das Erlebte zu schweigen hatten, damit die Täter vor den Konsequenzen ihres Tuns und – noch wichtiger – alle übrigen vor dem Unbehagen bewahrt blieben, den Schmerz anderer Menschen zur Kenntnis nehmen zu müssen.

Von einer Kultur, die Vergewaltigung und Missbrauch von Frauen und Kindern stillschweigend zulässt, aber Homosexualität, Abtreibung und Empfängnisverhütung kriminalisiert und die sexuelle Lust von Frauen als grundsätzlich suspekt darstellt, nähern wir uns einer Kultur an, in der es nicht darauf ankommt, mit wem, wie oft oder mit wie vielen wir Sex haben, sondern darauf, ob alle Beteiligten es auch wirklich wollen. Im weiteren Sinne visiert die sexuelle Revolution eine Welt an, in der die Menschen die Freiheit haben, nach eigenem Belieben Sex zu haben, Beziehungen einzugehen und Familien zu gründen, solange sie keinen anderen verletzen und niemandem Gewalt antun. Sie will eine Welt, in der das moralische Prinzip nicht danach fragt, wie viel oder welche Art von Sex Menschen haben, sondern danach, ob er gewollt ist und ob er allen Beteiligten Spaß macht. Und dieses Prinzip der Einvernehmlichkeit gilt nicht nur für die Sexualität.

Solche Vorstellungen widersprechen den noch geltenden Dogmen über Arbeit, Liebe und Sexualität. Sie widersprechen der Annahme, dass Frauen Männern Sex, Zuneigung, emotionale Arbeit und häusliche Dienste schuldig sind. Solche Annahmen werden erschüttert, wenn sich Frauen, Mädchen und Kinder zusammentun und darauf bestehen, dass mächtige Männer eben nicht automatisch über anderer Menschen Körper verfügen dürfen. Und wenn eine Frau endlich bezweifelt, dass sie Männern überhaupt etwas schuldig ist, wenn sie fragt, ob die Welt nicht vielmehr ihr etwas schuldet, dann ist das ein Akt des Widerstands.

Ich habe auf die harte Tour lernen müssen, was geschieht, wenn Männer sich meinetwegen unbehaglich fühlen. Wenn ich mich geweigert habe, klein und hilflos zu sein, damit sich Männer groß und mächtig fühlen konnten, hatte das Folgen. Aber es hat auch Folgen, wenn man sich verkrampft und verkriecht und wenn man das eigene Selbst vergisst. Es hat Folgen, wenn man sein Herz aushöhlt. Es hat Folgen, wenn man sich mit Gewalt und Missachtung abfindet. Die unmittelbarste Folge ist, dass Gewalt und Missachtung weitergehen. Dass sie uns und anderen weiter widerfahren.

Nachdem sie eine gewalttätige Beziehung beendet hatte, schrieb Karah Frank in einem Brief, der im Prozess gegen den Täter vorgelegt wurde: »Judith [Lewis] Herman stellt in ihrem Standardwerk Die Narben der Gewalt den Prozess psychischer Versklavung dar. Im letzten Stadium dieses Prozesses, der sogenannten totalen Unterwerfung, wird das Opfer zur Mittäterin am eigenen Missbrauch.« Herman erklärt, warum das für den Täter notwendig ist, und zitiert dafür aus George Orwells 1984:

Wir geben uns nicht mit unfruchtbarem Gehorsam, ich ja nicht einmal mit der hündischsten Unterwerfung zufrieden. Wenn Sie sich uns schließlich ergeben, dann muss es freiwillig geschehen. Wir vernichten den Ketzer nicht, weil er uns Widerstand leistet: Solange er uns Widerstand leistet, vernichten wir ihn niemals. Wir bekehren ihn, wir ergründen sein Innerstes, wir formen ihn um. Wir brennen ihm alles Böse und jede Illusion aus; wir bringen ihn auf unsere Seite, nicht dem Anschein nach, sondern aufrichtig, mit Herz und Seele.27

Nach Judith Lewis Hermans Einschätzung gehen so auch Sexualtäter vor, denn mit der verängstigten und komplizenhaften Loyalität ihrer Opfer können sie den Gewaltkreislauf rechtfertigen und fortsetzen. Der Täter fordere totale Loyalität ein, mit Kopf, Körper und Seele.28

Komplizenschaft kann einem Menschen den Mut rauben. Es ist extrem unangenehm, historische Gewalt einzugestehen, die im eigenen Namen begangen wurde. Deshalb bleiben Frauen und Mädchen, homosexuelle und trans Menschen, Schwarze, Indigene und People of Colour im simplen kollektiven Geschichtsverständnis auch häufig Komparsinnen. Das hat Auswirkungen. Denn wenn wir unsere Geschichte nicht kennen, können wir nicht daraus lernen, und wer aus der Geschichte nicht lernen kann, ist dazu verdammt, ignorante Klischees von sich zu geben und danach zu leben.

Aber es tut sich etwas. Viel Unausgesprochenes wird nun plötzlich ausgesprochen, zuerst leise, dann in einem unangenehmen Crescendo. Den allgemeinen Konsens darüber, wessen Geschichten zählen, akzeptieren junge Menschen einfach nicht mehr. Die Konzepte von Race und Gender, wie wir sie gelernt haben – wie auch immer sie sich auf unseren