Shadowrun: Der Vitruvianische Moment - Martina Nöth - E-Book

Shadowrun: Der Vitruvianische Moment E-Book

Martina Nöth

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Beschreibung

Riggs liebt die einfachen Dinge des Lebens: Actionfilme des letzten Jahrtausends, Aldi-Burger mit extra Röstzwiebelaroma und unkomplizierte Aufträge. Leider meint es das Schicksal nicht besonders gut mit ihm, als es ihn zu einer eigentlich recht unaufregend klingenden Datenextraktion in den Süden der ADL verschlägt. Denn es kommt, wie immer, anders als geplant: Ein kurioser und verlustreicher Run folgt dem nächsten. Bald fühlt sich Riggs wie der Hauptdarsteller in einem Adventure-Trid. Doch dann wird er persönlich in das Geflecht aus Schuld, Gewalt und Erbe aus Vergangenheit und Gegenwart verstrickt. Der Weg durch die Schatten wird eine Horrorstory – aus der es vielleicht kein Entrinnen mehr gibt. Die Shadowrun-Romane basieren auf dem gleichnamigen und beliebten Tischrollenspiel. In einer Welt, verschmolzen aus Cyberpunk und Fantasy, erleben die Spieler Abenteuer in düsteren Straßenschluchten, in hochmodernen Konzernlaboratorien, an uralten Plätzen voll mit mächtiger Magie.

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Seitenzahl: 474

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SHADOWRUN:

DER

Vitruvianische

Moment

Martina Nöth

Pegasus Press

35010G

Redaktion:

Tobias Hamelmann

Umschlagillustration:

Andreas Schroth

Umschlaggestaltung und Satz:

Ralf Berszuck

Lektorat und Korrektorat:

Florian Don-Schauen

Umsetzung eBook:

SiMa Design

Shadowrun ist eine eingetragene Marke von Topps, Inc.

in Deutschland und anderen Staaten.

© der deutschen Ausgabe 2018 bei Pegasus Spiele.

© der deutschen Ausgabe 2021 bei Pegasus Spiele.

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit vorheriger Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

Pegasus Spiele GmbH, Am Straßbach 3, 61169 Friedberg (Deutschland)

Druck via GrafikMediaProduktion.

ISBN 978-3-95789-226-3

Besuchen Sie uns im Internet: www.pegasus.de

Für meine Jungs.

Die Personen, Orte und Handlungen dieses Romans sind fiktiv.

Jedwede Ähnlichkeiten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

»The vitruvian moment embodies a moment when art and science combined to allow mortal minds to probe timeless questions about who we are and how we fit into the grand order of the universe. Inside the square and the circle we can see the essence of ourselves, standing naked at the intersection of the earthly, the magic and the cosmic.«

—(nach Walter Isaacson)

Kapitel 1

»Stuttgart, haben sie gesagt. Der ödeste Plex der ganzen ADL, haben sie gesagt.« 

Riggs zog instinktiv den Kopf ein, als der Kugelhagel über ihm in die Glasvitrine ratterte und ein Regen feinster Splitter auf ihn herab prasselte wie ein funkelnder Frühlingsregen. »Besorg dir ein paar Konzertkarten. Du wirst dich sonst zu Tode langweilen. Is’ klar.« Er schnappte sich mit jeder Hand je eine Rauchgranate, hielt kurz inne, um sich zu sammeln, und atmete tief ein. Das Getöse der schweren Feuerwaffen, die das Sicherheitsteam abfeuerte, wurde etwas verhaltener. Entweder luden einige von ihnen nach oder sie warteten ab, ob sie den Eindringling vielleicht schon erwischt hatten. 

»Öde. Langweilig«, wiederholte er anklagend zu den Granaten in seinen Händen. Dann schüttelte er den Kopf. »Was für eine Scheiße.« 

Er zog mit den Zähnen gleichzeitig die Splinte aus beiden Granaten, zählte mit geschlossenen Augen und warf die Geschosse schließlich mit einem heftigen Schwung hinter sich. In hohem Bogen und mit einem hellen Klirren flogen sie durch die Reste der Glasscheibe. Unmittelbar danach knallte es ohrenbetäubend. 

Riggs sprintete los, aus der Deckung des Sideboards heraus, hinter dem er sich verschanzt hatte, ohne einen Blick auf die Angreifer zu verschwenden. Geduckt rannte er hinter zwei weiße, unförmige Konstrukte, die Teil einer großen Altarprojektion aus AR und realen Komponenten waren und für die das Museum einen Kunstpreis erhalten hatte. Das bezeugte die von Kugeln verbeulte Medaille, die jetzt auf dem Boden lag und auf der er fast ausgerutscht wäre. Er mochte das gewagte Kunstwerk vor allem, weil es ihm ein wenig Deckung bot und weil der Sicherheitsdienst offenbar Skrupel hatte, das Ding zu beschießen. Riggs nutzte die Atempause, die ihm diese Unsicherheit bot, munitionierte auf und rannte dann so schnell er konnte die Treppe hinauf in das nächste Stockwerk, in dem sich sein Zielraum befand. Auf dem Stockwerk hinter sich hörte er Schreie und wieder Schüsse. Offenbar hatte Hamlet es irgendwie geschafft, die Aufmerksamkeit des Wachpersonals auf sich zu lenken. Ob er das mit Absicht getan hatte, konnte Riggs allerdings nicht abschätzen. Der Funk war gestört und der Whitenoise-Generator machte das Öffnen der Frequenz unangenehm. Also kein Kontakt zu den Kollegen. Riggs betete, dass sich das Museum keinen Magier leisten konnte. Diese astralen Zecken waren ein Furunkel am Allerwertesten der Metamenschheit, den er jetzt wirklich nicht auch noch brauchen konnte. 

Er hechtete die Treppen hinauf und verfluchte das moderne Gebäude, das ihm kaum Deckung bot. Vor ihm lag die Cafeteria, das einzige Hindernis, das noch zwischen ihm und dem Büro stand, in das er vordringen musste. Der Kugelhagel, der ihm entgegen prasselte, machte ihm allerdings klar, dass natürlich auf den letzten Metern noch irgendein Idiot auf ihn wartete. Er konnte gerade noch ausweichen und einen Bistrotisch mit umreißen, der ihm ein wenig Schutz bot. Allerdings verlor er beim Tackeln des Tisches seine Waffe, die über den Rand der Treppe schlitterte und sich mit dramatischem Klacken auf steinernen Stufen nach unten verabschiedete. Riggs knirschte mit den Zähnen und wagte einen Blick in die Richtung, aus der der Bleiregen gekommen war. Tatsächlich kauerte ein Sicherheitsmann, ein Hüne mit Schutzweste und Maschinenpistole, in Teildeckung hinter dem Tresen und feuerte im automatischen Modus in seine Richtung. Der Bistrotisch wurde regelrecht zerfetzt und würde ihm nicht lange Deckung bieten. Hatte der Typ sich heimlich im Dienst einen Kaffee und eine Zuckerschnecke aus dem Automaten gezogen, oder was zur Hölle machte der hier oben? Und warum zum Teufel hatte ein privater Sicherheitsdienst so eine gute Ausrüstung? 

Riggs kam zu dem Schluss, dass er definitiv den falschen Job hatte. ­Ob die Jungs vom Sicherheitsdienst wohl noch einstellten?

Er wartete geduldig auf den Augenblick, an dem sich sein Gegner etwas zu weit aus der Deckung lehnte. Blitzschnell wagte er den Sprung nach vorne, griff zeitgleich zur Schockgranate, zog den Splint und warf. Unsanft landete er in einer Gruppe eleganter Schwingsessel und presste sich flach zwischen ihnen auf den Boden, die Arme schützend über den Kopf gelegt. Die Druckwelle schleuderte den Wachmann aus seiner Teildeckung und in einer imposanten Splitterwelle zerborstener Gläser und Tassen durch den Raum. Seine Maschinenpistole, eine schicke Ares Executive Protector, war ihm aus der Hand geschlagen worden und schlitterte jetzt wie in Zeitlupe über den polierten weißen PVC-Boden, um filmreif in der Mitte zwischen Riggs und dem Sicherheitsmann zum Liegen zu kommen.

Der Hüne erhob sich schwerfällig. Dass er sich noch bewegen konnte, verdankte er vermutlich seiner extremen Zähigkeit. Er und Riggs starrten sich den Bruchteil einer Sekunde lang an, dann stürzten beide vor, auf die Waffe zu. Es war ein gut gemeinter Versuch, aber es gab nur sehr Wenige, die schneller als Riggs waren, und der riesenhafte Sicherheitsmann gehörte mit Sicherheit nicht dazu. Riggs schnappte sich mit der Rechten die Ares, rollte sich ab, sprang auf und richtete die halbautomatische Waffe auf den Wachmann. Der starrte ihn fassungslos an und hob vorsichtig die Hände.

»Jetzt habe ich auch eine Maschinenpistole. Ho, ho, ho.« Riggs grinste. 

»Hä?«, machte der Wachmann verständnislos. 

Der Runner seufzte. Er hatte das harte Los, unter Kunstbanausen zu leben, schon lange akzeptiert. Aber bei solchen Gelegenheiten schmerzte es besonders. Blitzschnell zog er mit der Linken seine Urban Fighter und feuerte zwei Betäubungsschüsse auf den Wachmann ab, und zwar genau auf die Stelle, wo über der Sicherheitsweste ein wenig von seinem weißen Hals zu sehen war. Dank des Keramikschalldämpfers machte es nur leise Plop-Plop. Da im gleichen Moment im Stockwerk unter ihm eine mittelgroße Explosion stattfand, war aber nicht einmal das zu hören. Der Wachmann zuckte und wurde bewusstlos. 

Riggs blieb keine Zeit. Er hängte sich die MP um, steckte seine Urban Fighter zurück und lief durch die umgefallenen Stühle der Cafeteria zu dem Büroraum. In den Räumen unter sich hörte er immer noch das Dröhnen von Schüssen. Verdammt, verdammt, verdammt, wie hatte das nur so schief gehen können? Fassungslos schüttelte er den Kopf, während er den Sequenzer in das Schloss des Büroraums einführte.

»Los, los, los«, drängelte er ungeduldig das hochtechnisierte Gerät, das eine Zahlenfolge nach der anderen durchratterte, um den Code zu entschlüsseln. Offenbar war es keine sonderlich schwierige Kombination, denn bereits nach einigen Sekunden öffnete sich das Schloss mit einem leisen Klicken.

Riggs trat ein und zog die Tür hinter sich zu. Er atmete tief durch, um sich zu fokussieren, und blickte sich aufmerksam um. Wände, Boden und Decke waren komplett in Weiß gehalten, so wie der Rest des Gebäudes. Es gab keine Fenster, nur indirekte Beleuchtung durch dezente Leuchtröhren am Fußboden. Die Büromöbel, ein Schreibtisch mit passendem Lehnstuhl, eine Sitzecke mit drei vollelastischen Stühlen und rundem Tisch sowie die Hochglanzkommode in der Ecke, waren ebenfalls weiß. Lediglich die großen Leinwandbilder, auf denen verschiedene Symbole und Zahlen in eigenartigen, schrillen Farben zu sehen waren, brachten wildes Leben in den sonst so sterilen Raum. Na ja, und dann war da noch der Safe, sein eigentliches Ziel. Aber es war kein mehr oder weniger klassischer Kasten mit Karte oder Scanner oder Tippfeld, wie er erwartet hatte. Stattdessen stand dort ein massiver Schrank mit einem mechanischen Zahlenschloss. Weder Schrank noch Schloss ließen sich mit der Ausrüstung, die er bei sich trug, auf die Schnelle öffnen. Abgesehen von Sprengstoff, aber damit würde er den Inhalt auch gleich ins Nirvana befördern. Das kam unerwartet. Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit so einem Ding. 

Irgendwo unten im Keller gab es eine Explosion. 

»Verdammte Scheiße«, fluchte er. Die Zeit lief ihm davon. Was nun?

Kapitel 2

30 Stunden zuvor

Riggs schob seine vollverspiegelte Sonnenbrille etwas höher auf die Nase und rührte genüsslich in seinem Mai Tai. Die Bar nannte sich »Wolkenkuckucksheim« und bot, neben den wirklich hervorragenden Cocktails, einen atemberaubenden Ausblick auf die vom Licht der frühen Abendsonne mit rotgoldenen Sprenkeln überzogenen Dächer und Fassaden der Stuttgarter Innenstadt. Ein leichter Wind ließ die in dezentem Grau, Weiß und Lindgrün gehaltenen Wimpel des Zeppelins flattern, und unaufdringliche Loungemusik beschwor das Gefühl von Sommer und la vida loca herauf. Lediglich die kleine, rothaarige Sängerin mit ihrer überraschend rauchigen Stimme empfand er als überflüssig. In unregelmäßigen Abständen stieß sie gutturale Laute hervor und flüsterte bisweilen sprachlich absurde Stabreime, was wohl anarchisch oder poetisch oder beides sein sollte. Vermutlich war das irgendeine total hippe Musikrichtung, die gerade in Stuttgart gehypt wurde und bisher gnädigerweise an ihm vorbei gegangen war.

Im Frankfurter Plex, seinem üblichen Jagdrevier, lauschte er lieber klassischer Kunst, also alten Klassikern, dem sogenannten Glam-Rock der goldenen Siebziger des letzten Jahrhunderts: eine unterschätzte und viel zu unbekannte Musiksparte, wie er fand. 

Die Rothaarige gurrte wie ein sterbender Truthahn, und Riggs nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas. Vielleicht sollte er auch mal über eine Gesangskarriere nachdenken? Mit hörbarem Schlürfen sog er den Rest des Cocktails durch den blau fluoreszierenden Strohhalm.

»Lass das«, knurrte sein Gegenüber und starrte ihn bedrohlich an.

»Hör auf damit«, bestätigte dessen daneben sitzender Zwilling mit zuckendem linken Auge.

Riggs seufzte. Schon jetzt, nach nur fünfzehnminütiger Bekanntschaft und fünf geäußerten Sätzen, stellten Pocahontas und Cinderella ein ernstzunehmendes Problem für ihn dar. Sollte sich seine Hypothese bestätigen, dass ihr IQ tatsächlich nicht höher als der eines kastrierten Karnickels war, war das nicht nur anstrengend, sondern gefährdete die Mission und damit seine Sicherheit. Er fragte sich, wie sich die beiden, die sich ihm als Blei und Stahl vorgestellt hatten, eigentlich für den Job qualifiziert hatten. Zumindest hatte sein Schieber ihm versichert, dass es um eine nicht-letale Mission ging, die hier in Stuttgart auf ihn wartete. Soziale Fertigkeiten waren angeblich gefragt, Geschick und Unauffälligkeit. Was aber suchten dann die beiden Prinzessinnen hier?

Auf den ersten Blick sahen die beiden großen Männer mit den schmalen, zeissblauen Augen und den kurzgeschorenen dunklen Haaren jedenfalls wie tumbe Schläger aus. Die beiden meatshields waren deutlich mit Cyber- und Bioware aufgerüstet und hatten sich zusätzlich mit Piercings, Brandings und Implantaten »verschönert«. Nacken, Arme, Schultern und Schädel waren mit zahlreichen Bildmotiven bedeckt, einige besser und viele weniger gut gelungen. Sie bildeten eine ineinanderfließende Fläche verschiedenster greller und verblasster Farben. Die Narben an den Unterarmen zeugten davon, dass vermutlich Nanotattoos entfernt worden waren, möglicherweise wegen der damit verbundenen Virengefahr. Riggs war sich aber nicht sicher, ob da nicht doch einige Nanoviren die Blut-Hirn-Schranke hatten passieren können und da oben Schaden angerichtet hatten. Na ja, falls da etwas zum Schaden-Anrichten vorhanden war. 

Aber vielleicht waren das dumme, einfältige Benehmen und die kaum unterdrückte Aggressivität auch einfach nur Strategie und eine verdammt gute Tarnung? Er würde vermutlich schneller hinter die Wahrheit kommen, als ihm lieb war. 

Er lächelte die beiden strahlend an, die nach einem kurzen Moment der deutlichen Irritation extrem böse zurück starrten. 

Da war ihm der vierte im Bunde schon lieber. Der junge Mann war höchstens 20, und die dunkelbraunen Augen in dem schmalen Gesicht wanderten ständig nervös auf das Kommlink an seinem zarten Handgelenk. Offenbar war er ein nicht gerade erfahrener Kollege, der sich selbst als Hamlet vorgestellt hatte. 

»Hamlet? Ist das türkisch?«, hatte Pocahontas knurrend gefragt.

»Oder arabisch?«, hatte Cinderella ergänzt und Riggs’ schmerzverzerrtes Gesicht ignoriert.

»Dänisch«, hatte Hamlet geantwortet und an der Bar direkt einen Mai Tai für Riggs mitbestellt. Nicht, dass so eine Geste Riggs’ Objektivität irgendwie beeinflusst hätte, auch wenn der Cocktail exzellent war. Aber Riggs wusste gute Manieren einfach zu schätzen, es gab sie generell viel zu selten. Sein Fazit: Der Welpe mit der lang gezogenen Aussprache schien auf den ersten Blick in Ordnung zu sein, abgesehen natürlich davon, dass er vermutlich keine Ahnung hatte, wie das Geschäft lief, was per se ungünstig war. Aber er schien ein ganz kluger Kopf zu sein. Und das war auf jeden Fall günstig, wenn man den IQ des restlichen Teams zusammenrechnete. Hamlet hob den Kopf und begegnete seinem Blick. 

»Es ist genau neunzehn Uhr MEZ. Frau Schmidt sollte jetzt gleich den Kontakt aufnehmen, wenn sie pünktlich ist«, sagte er mit seinem singenden, österreichischen Akzent. Im gleichen Augenblick flüsterte die Stimme der rothaarigen Sängerin rauchig über die Anlage, dass nun gleich das Konzert der Hauptband beginne und man für das vollständige Sinneserlebnis bitte die Anfragen an die PANs bestätigen solle, die gleich kämen. Nur dann würden sich die Bühnenbild-Overlays in ihrer ganzen Vielfalt für den Betrachter aktivieren. Einen Atemzug später gab Riggs’ offizielles Kommlink ein sonores Schnurren von sich. Er bestätigte die Anfrage, und das Deck des Zeppelins überzog sich mit Fellen, ein geschnitzter Bug tauchte in der Front auf und die Skyline Stuttgarts wurde überlagert von den Umrissen schneebedeckter Fjorde. Die elektronischen Klänge pseudomittelalterlicher Instrumente erklangen, und dazu die tiefe Stimme einer Frau mit blondem Zopf und nachtblauem Wikingerkleid mit Fellkragen. Er verstand kein Wort von dem, was sie sang, aber es hörte sich irgendwie brachial und nordisch an. Überraschenderweise mochte er ihren Gesang, der kehlig und doch glasklar über den melodischen Instrumenten lag. 

Plötzlich wurde die Musik immer leiser, bis sie kaum noch zu hören war. Die Umgebung verdunkelte sich und vor ihrem Tisch tauchte eine Frau aus der Dunkelheit auf. Ihr perfekt geformter Körper steckte in einem schwarzen Hosenanzug, das lichtblonde Haar war streng zurückgekämmt und betonte das ebenmäßige Gesicht mit den sehr hohen Wangenknochen. Ihre Augen waren stahlblau und schlichtweg faszinierend. Etwas Silbriges funkelte in ihnen, und wenn das ein AR-Effekt war, so war er verdammt gut programmiert. 

»Sie hat ihr Signal in der Übertragung der Band getarnt«, sagte Hamlet-Welpe mit deutlicher Bewunderung in der Stimme. »So ist sie kaum zu finden oder zu orten. Sehr clever.«

»Danke für das Lob«, sagte Frau Schmidt, ohne eine Miene zu verziehen. Welpe zuckte zusammen und lächelte unsicher.

»Ich gehe recht in der Annahme, dass ich mit den Herren Blei, Stahl, Riggs und Hamlet spreche? Und dass Sie an dem Angebot interessiert sind, einen Job für mich zu übernehmen?« Es war eher eine Feststellung als eine Frage.

»Das ist richtig«, bestätigte Hamlet. Die Prinzessinnen knurrten zustimmend, und Riggs schloss sich mit einem knappen »Yupp« an.

»Sehr gut. Um Ihre und meine Zeit nicht unnötig zu verschwenden, komme ich direkt zur Sache. Bei dem zu vergebenden Auftrag handelt es sich um eine Beschaffungsmaßnahme. Ich möchte, dass Sie mir bestimmte Gegenstände aus einem Gebäude extrahieren. Das Ziel ist kein Gebäude auf Konzerngelände. Der Bereich liegt in einer hohen, aber nicht kritischen Sicherheitsstufe, Wetwork ist kein Teil des Auftrages. Austragungsort ist die ADL, Reisetätigkeit nicht erforderlich. Der Ausführungsrahmen ist allerdings zeitkritisch und binnen 48 Stunden zu erledigen. Die Entlohnung beträgt aufgrund der Zeitknappheit 50.000 Euro pro Person. Darf ich erfahren, ob Sie den Auftrag unter diesen Parametern grundsätzlich annehmen?«

Riggs schürzte die Lippen. Sie hatte alle Fragen vorweggenommen, die er eventuell hätte stellen können. Sie war ganz sicher keine Anfängerin im Schattengeschäft. Es blieb ihm also nichts zu tun, als gemeinsam mit den anderen zu bestätigen, dass er den Auftrag annahm. 50.000 Bucks in einer Nacht – klar, das konnte und würde er nicht ablehnen. Noch konnte er keinen Haken im Auftrag erkennen, aber das bedeutete nichts. Der würde sich schon noch zeigen, dessen war er sich ziemlich sicher. Es war doch immer so, dass zunächst alles einfach und machbar schien, und dann schlug die Realität ein und nichts war mehr einfach.

»Dann erhalten Sie nun die genauen Informationen: Bitte dringen Sie für meinen Auftraggeber in die Stadtbibliothek Stuttgart ein. Alle Daten, die das Gebäude betreffen, sind öffentlich recherchierbar. Natürlich beherbergt der Bau keine Bücher mehr, sondern ist Teil der neunundneunzig Sammlungen der Universität Tübingen. Genau genommen handelt es sich um die achtundneunzigste Sammlung, die sich auf Akkadien, Assyrien, Sumer und Babylon fokussiert.«

»Scheiße, ich verstehe kein Wort«, sagte Blei missmutig.

»Ich check’s nicht«, ergänzte Stahl nachdrücklich.

Riggs musste sich zum eigenen Ärger Pocahontas und Cinderellas Kommentaren anschließen, auch wenn er das natürlich niemals zugegeben hätte. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon Frau Schmidt da sprach. Der Welpe nickte hingegen wissend, und als er Riggs’ skeptischem Blick begegnete, sagte er mit dem betont gelangweilten Tonfall eines Dursty-Verkäufers, der zum wiederholten Mal das Wochenangebot für Bier herunterbeten musste: »Das ist im weitesten Sinne Altorientalistik. Vorderasiatische Archäologie ohne das ägyptische Reich. Beginnt etwa ab dem vierten Jahrtausend vor Christus. Vieles davon bezieht sich allerdings auf die Auslegung von Keilschrift, es ist in erster Linie also eine philologische Forschungsrichtung.« 

Riggs sah ihn ausdruckslos an. Der Welpe wurde rot und fingerte umständlich nach einem Taschentuch, um sich geräuschvoll die Nase zu putzen. Riggs befand, dass er dem kleinen Klugscheißer wohl zügig zeigen musste, wer hier der Alphawolf war. Der kleine Besserwisser war es jedenfalls nicht, dafür würde er schon sorgen. Blei und Stahl knackten mit ihren mächtigen Fingerknöcheln und hatten offenbar ähnliches vor.

»Es handelt sich hauptsächlich um Exponate in Form von 3D-Drucken, Hologrammen, Projektionen und einigen sehr wenigen tatsächlichen Fundstücken aus Vorderasien.« Frau Schmidt begab sich netterweise auf eine niedrigere Abstraktionsebene. »Die meisten davon sind Repliken, im üblichen 3D-Druck hergestellt. Entsprechend ist die Sicherheit zwar sehr gut und sollte nicht unterschätzt werden, aber nicht so extrem wie in anderen Museen. Es handelt sich bei der Sammlung mehr um ein Kunstprojekt, eine kulturelle Ausstellung, die den aktuellen Stand der Forschung dem breiten Publikum näher bringen soll, und weniger um historische, finanziell hochwertige Kunstwerke.«

»Ich nehme an, dass aus diesen Kulturen auch einfach insgesamt zu wenig existiert, was man als originales Exponat würde ausstellen können«, vermutete Hamlet scharfsinnig, und Frau Schmidt nickte bestätigend.

»Das hört sich aber so an, als müssten wir kein Ausstellungsstück extrahieren?«, fragte Riggs erleichtert, der vor seinem geistigen Auge schon gesehen hatte, wie er, die zwei Prinzessinnen und der kleine Klugscheißer einen riesigen Steinsarkophag aus dem Museum schleppten. 

»Das ist korrekt, Herr Riggs«, bestätigte Frau Schmidt mit distanzierter Freundlichkeit. Ihr Avatar war in Riggs’ Augen ein kleines bisschen zu perfekt, aber das war eigentlich auch ganz normal. In der Regel bauten sich die Menschen überzeichnete und unrealistische virtuelle Personas, egal ob Mangas, vermenschlichte Tiere, Musik- oder Filmstars, mystische, historische oder fantastische Figuren – es gab nichts, was es nicht gab. Besonders die Kids hatten einfach zu viel Zeit, an ihren virtuellen Abbildern herumzuspielen, und trieben es oft bis ins Extreme. Mit steigendem Alter wurden die Personas meist schlichter und näherten sich der tatsächlichen Gestalt in der realen Welt an. Doch eigentlich konnte so gut wie niemand völlig die Finger davon lassen, den eigenen Scan zu bearbeiten. Hier ein wenig Retusche, da ein bisschen perfektioniert … und wenn auch nur ein klein wenig verbessert wurde, fiel schon das dem Auge des Betrachters meist irgendwie auf. Es war die Perfektion, die das menschliche Auge störte. Sie passte nun mal nicht zur schnöden analogen Wirklichkeit. Deshalb versuchten inzwischen die Bearbeitungsprogramme, diese menschliche Unvollkommenheit bei den Scans einzubauen, um sie für das Auge verträglicher und realistischer zu gestalten. So richtig gut funktionierte das aber interessanterweise immer noch nicht. 

Frau Schmidt sprach weiter, und Riggs konzentrierte sich wieder auf ihre Worte, um nicht länger an ihren messerscharfen Wangenknochen und dem zu vollkommenen Schwung ihres Nackens hängen zu bleiben. 

»Ihr Auftraggeber möchte, dass Sie für ihn vier Zahlencodes extrahieren. Die Codes sind handschriftlich verfasst und werden in vier verschiedenen Safes aufbewahrt. Die Safes sind mit Magschlössern gesichert und sollten mit einem Sequenzer guter Qualität ohne Probleme zu öffnen sein.«

Vier verschiedene Aufbewahrungsorte? Vermutlich wollte jemand die Wahrscheinlichkeit senken, dass jemand in den Besitz des vollständigen Zahlencodes kam. Schön war das nicht, denn bei jedem Öffnungsvorgang stieg das Risiko, dass ein Alarm losging. 

»Wissen Sie, wo die Safes stehen, oder müssen wir das selbst herausfinden?«, fragte er nach.

»Wo sich die Safes befinden, habe ich Ihnen auf dem Lageplan des Gebäudes markiert. Ich übermittle Ihnen den Plan in diesem Moment an Ihre Kommlinks.«

Ein Vibrieren an seinem Arm bestätigte ihre Worte. Gegenüber miaute im gleichen Augenblick ein Kätzchen und kläffte ein kleiner Hund. Sieh an, die beiden Mörderzwillinge hatten eine weiche Seite. Wie niedlich. Blei und Stahl klickten mit düsterem Blick die Nachricht weg, und Riggs wusste, dass eine falsche Bemerkung bezüglich Tierbabys zumindest ein gebrochenes Nasenbein zur Folge haben würde.

»Lassen Sie mich raten«, wandte er sich nach einem kurzen Blick auf den Plan wieder an Frau Schmidt. »Die Räume liegen so weit auseinander, wie es nur möglich ist.«

»Selbstverständlich. Das ist die dahinter liegende Logik der Daten­sicherung«, bestätigte sie knapp. »Zwei der Räume liegen im Kellergeschoss, eines im ersten Stockwerk und eines im Dach­geschoss.«

»Natürlich«, wiederholte Riggs und knetete seine Unterlippe.

»Warum geht jemand in so eine Ausstellung?«, fragte Hamlet mit gerunzelter Stirn plötzlich. »Man könnte sich zu dem Thema einfach in der Matrix ein paar Abhandlungen zusammensuchen lassen und sich bequem zuhause ansehen.«

»Der Unterschied ist die Qualität der Information«, erklärte Frau Schmidt mit professioneller Geduld. »Diese Ausstellung beinhaltet die aktuellsten wissenschaftlichen Erkenntnisse. Aus Unmengen von Spekulationen, Weltuntergangstheorien, fantastischen Mythen und esoterischen Kosmogonien sind hier die gefilterten, wissenschaftlich fundierten und methodisch belegten Fakten zusammengetragen: anschaulich, unterhaltsam und gleichzeitig mit extrem hohem Bildungscharakter und Informationswert. Wissenschaftler aus der ganzen Welt haben hier ihre Forschungserkenntnisse veröffentlicht, teilweise exklusiv, weil sie von der Universität Tübingen oder einer verwandten Stiftung finanziert wurden. Das ist das Besondere an so einer Sammlung. Und ja, es gibt auch eine virtuelle Dependance des Instituts. Trotzdem legt man in diesen Kreisen noch darauf Wert, nicht ausschließlich virtuell zu kommunizieren.«

»Das heißt aber auch, dass die Sammlung öffentlich zugänglich ist und zu den regulären Öffnungszeiten besucht werden kann?« Riggs überging, wie er fand elegant, den großen Teil der Ausführungen, dem er nicht hatte folgen können, und kam auf das für ihn Wesentliche zu sprechen. 

»Das ist korrekt. Die Bereiche, in denen die Tresore gelegen sind, sind allerdings, wie Sie sich vorstellen können, nicht ohne weiteres für Besucher zugänglich. Und da in der Stuttgarter Innenstadt der Sternschutz eine hohe Präsenz zeigt, es einen sehr guten privaten Sicherheitsdienstleister gibt und die Sammlung bei Touristen noch dazu sehr beliebt ist, ist ein unauffälliges Eindringen während der Öffnungszeiten eher unwahrscheinlich.«

»Wenn es sich teils um virtuelle und exklusive Exponate handelt, können wir aber auch mit einer hohen Matrixsicherheit rechnen, oder?«, folgerte Hamlet scharfsinnig. »Sie sagten da was von finanzierten Arbeiten. Die haben sicherlich zumindest in Wissenschaftskreisen einen bestimmten Wert. Und der will geschützt sein.« 

Riggs nickte ihm anerkennend zu. Der Kleine sprach zwar langgezogen und bedächtig, aber das lag wohl eher an seiner Herkunft als daran, dass er nicht ganz schnell im Kopf war. Im Gegenteil, bisher hatte er nur schlaue Fragen gestellt. Sehr gut. Ein Seitenblick auf die Prinzessinnen bestätigte, dass die beiden Kollegen vermutlich Schwierigkeiten hatten, den Ausführungen zu folgen. Sie waren definitiv nicht die hellsten Glühbirnen in Gottes wunderbarem Lampengeschäft. 

»In der Tat ist die Sicherheit gerade in diesem Bereich sehr hoch. Jegliche Kommunikation, die Sie in Form von ortbaren Signalen aussenden, kann Sie verraten. Selbstredend sollten Sie Ihre Kommlinks ebenfalls ausschalten.«

»Na wunderbar. Das bedeutet, dass wir entweder einen sehr guten Decker brauchen oder den Ball extrem flach halten müssen, was Kommunikation angeht«, sagte Riggs zu Hamlet, der bestätigend nickte. Das hier könnte der Haken bei diesem Run sein.

»Auch hier kann ich Ihnen etwas unter die Arme greifen, um Ihre Recherche abzukürzen«, sagte Frau Schmidt. 

Hamlet hob die Brauen und sah Riggs fragend an. »Warum macht sie den Run dann nicht selbst?«, fragten seine Lippen lautlos. 

Riggs nickte bestätigend. Und wieder läuteten seine Alarmglocken. Das schien viel zu einfach.

»Das ist auch der Grund für das oben genannte knappe Zeitfenster«, fuhr Schmidt fort. »In der morgigen Nacht wird von ein Uhr bis ein Uhr fünfundvierzig ein Systemupdate für das Sicherheitsprogramm hochgeladen. In diesen 45 Minuten ist die komplette Bibliothek vom Netz abgekoppelt. Das ist Ihre beste Chance, reinzugehen, die Codes zu holen und wieder zu verschwinden. Vor und nach diesem Zeitfenster wird es sehr schwierig für Sie, unbemerkt zu bleiben. Natürlich wird die Wachmannschaft vor Ort sein und auch erhöhte Wachsamkeit zeigen. Trotzdem rechnet niemand wirklich mit einem Übergriff.«

Schnell, leise und effektiv rein und raus. Das klang gut in seinen Ohren. Er warf einen Blick auf Pocahontas und Cinderella, die dem Gespräch mit zusammengekniffenen Augen folgten und nur ab und zu ein zustimmendes, ablehnendes oder undefinierbares Grunzen ausstießen. Sie waren nicht gerade das, was er sich unter eleganten und unauffälligen Meisterdieben vorstellte. Dass der Zugriff mit diesem Team funktionierte, bedurfte genauer Planung und guter Absprache, soviel stand fest.

»Ich erwarte die Lieferung der Codes in 36 Stunden. Die Koordinaten für die persönliche Übergabe erhalten Sie in 35,5 Stunden auf die Kommlinks, die Sie vorhin für mich freigegeben haben. Ich überweise Ihnen nun einen Vorschuss von 10.000 Euro. Haben Sie noch weitere Fragen?«

Riggs schüttelte den Kopf, und auch Hamlet verneinte.

»Alles klar«, brummte Pocahontas.

»Check«, kommentierte Cinderella mit tiefer Stimme.

»Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg. Ihre Drinks gehen auf mich.« Sie loggte sich aus. 

Die fremdartig schönen Klänge der Wikingerband kehrten zurück, und auch die Overlays ihres fantasievollen Bühnenbildes nahmen wieder Farbe an. 

Riggs deaktivierte seine AR-Sicht. 

Hamlet trug eine rahmenlose pseudointellektuell wirkende Brille, über deren runden Rand er Riggs, Blei und Stahl jetzt einen abschätzenden Blick zuwarf. »Meine Herren«, sagte er in seinem langgezogenen Akzent. »Die Mission ist klar. Wie wollen wir vorgehen?«

× × ×

Ex post musste Riggs anerkennen, dass das Planungsgespräch wesentlich besser lief, als er befürchtet hatte. Zu seiner Überraschung waren die Prinzessinnen kooperativer und einsichtiger als erwartet.

»Wir sind keine Freunde großer Worte«, sagte Blei nachdrücklich.

»Wir reden nicht gerne«, ergänzte Stahl mit zusammengekniffenen Augen.

»Wir gehen rein«, erklärte Blei. »Wir holen raus, was raus muss, und halten euch den Rücken frei. Und wir können jede Menge einstecken und noch mehr austeilen.«

»Das können wir. Darin sind wir gut«, bestätigte Stahl. »Wir halten was aus.«

»Wir schlagen deshalb vor, dass ihr das große Planen und Bereden übernehmt«, fuhr Blei fort. »Ihr denkt euch was aus und sagt, was Sache ist. Wir halten euch den Rücken frei bei dem, was ihr vorhabt. So machen wir das dann.« Er schnaufte. So viele Worte auf einmal sagen zu müssen, schien ihn erschöpft zu haben. 

Stahl beschränkte sich auf ein zustimmendes Nicken.

Riggs knurrte anerkennend. So viel Selbstreflektiertheit begegnete man nicht oft in der Szene. Das war eine treffende und hilfreiche Selbstbeschreibung und erleichterte die nächsten Schritte extrem. Sehr professionell, wie er fand. Er musste wohl oder übel sein schon recht festgefahrenes Bild der beiden meatshields revidieren. 

Auch Hamlet war mit dieser Aufgabenteilung sehr einverstanden. Er bestand jedoch darauf, dass auch Riggs und er kurz erklärten, was ihre Expertise sei und warum sie bei dem Run dabei wären. 

»Ich bin sehr geschickt in allem, was Elektronik und Feinmechanik betrifft«, erklärte er, und der Stolz funkelte unübersehbar in seinen blauen Augen. Er holte Atem und wollte offensichtlich weiter ausholen, aber Riggs unterbrach ihn rasch. »Sehr nützlich«, lobte er. »Ich bin Spezialist für Schusswaffen, und vor allem bin ich schnell.«

»Vor allem schnell darin, dich zu verpissen, wenn es darauf ankommt«, hörte er förmlich seine Ex-Freundin sagen. Vermutlich waren die gehaltvollen Cocktails daran schuld, dass sie schon wieder unbefugt mit ihrem ständigen Gemecker in seinem Kopf auftauchte.

Nach drei weiteren Cocktails, begleitet von der chilligen Musik der Wikinger-Elektro-Band, stand eine erste Idee. 

Die Pläne der ehemaligen Stadtbibliothek Stuttgarts waren in der Matrix öffentlich verfügbar, und Riggs hatte sie mit den Plänen von Frau Schmidt verglichen. Sie stimmten tatsächlich überein. Auch die virtuellen Flyer, die sie in der Matrix fanden, schienen den Aufbau der Räume und den Grundriss des Gebäudes zu bestätigen. Darüber hinaus war das virtuelle Abbild der Bibliothek verfügbar, auch wenn die Exponate wie bereits angekündigt nicht vollständig zugänglich waren. Riggs lud die Flyer einer Intuition folgend auf sein Kommlink. Man konnte nie wissen … 

»Ich würde das Gebäude und auch die Pläne nochmal gerne von einem Decker-Kontakt gegenchecken lassen. Wird vermutlich paar hundert Euro kosten, aber ich möchte mich ungern auf Daten verlassen, die uns Schmidt zur Verfügung stellt oder die einfach so im Netz zu finden sind. Ist das okay für alle?« Auf die Zustimmung der anderen hin, schickte er ein File an White und bat sie um Überprüfung der Daten.

Von den markierten Räumen mit den Safes lagen zwei im Kellergeschoss, einer im ersten Stock und einer im Dachgeschoss, tatsächlich waren sie maximal weit voneinander entfernt. Das Team einigte sich darauf, dass Riggs und Hamlet die Ausstellung im virtuellen Raum besuchen würden, um die Gegebenheiten unauffällig in Augenschein zu nehmen und zumindest ungefähr die Wege zu den vier Zimmern abzugehen. Dabei würden sie die Zeit mitlaufen lassen, die sie brauchten, um einen validen Zeitplan für ihren Run entwerfen zu können. Erst nach Auswertung dieses Erkundungsgangs würde das Team entscheiden, ob sie die vier Räume getrennt und einzeln, parallel in Zweiergruppen oder alle gemeinsam hintereinander aufsuchen würden. Die Prinzessinnen würden sich darum kümmern, über eine Connection kurzfristig vier sehr gute Sequenzer für die Safes mit den Codes zu besorgen.

»Kenn’ einen exzellenten Schieber«, knurrte Pocahontas. »Lysander besorgt uns alles.«

»Wird nicht billig werden«, ergänzte Cinderella. »Aber wir kriegen, was wir brauchen.«

Kapitel 3

Keine zehn Stunden später saßen sie wieder zusammen, diesmal mit den nicht mehr ganz taufrischen Snacks und winzigen, überteuerten Diätcoladosen aus der Minibar des Hotelzimmers der Zwillinge. Um sie herum waren Waffen, Einbruchswerkzeug und Tarnkleidung in sortierten Haufen gestapelt. Den Plan der Bibliothek hatten sie der Einfachheit halber als dreidimensionales Modell in die Zimmermitte projiziert und dafür die Möbel kurzerhand beiseitegeschoben. White, Riggs’ Hackerkontakt, hatte die Pläne bestätigt. Auf Riggs’ Bitte hin recherchierte sie inzwischen, wem das Museum gehörte, und trug weitere Informationen über seine Historie zusammen. Doch das würde dauern, und die Ergebnisse würden vermutlich nicht rechtzeitig vor dem Run vorliegen.

Natürlich reichte die Zeit, in der die Neuinstallation des Sicherheitssystems lief, nicht aus, um die Zimmer nacheinander abzugehen, also würden sie sich aufteilen müssen. Hamlet hatte vorgeschlagen, dass er ihnen Zutritt über den Lieferanteneingang verschaffen könnte, sie dann bis in den Eingangsbereich der großen Halle weiter vordringen und sich anschließend aufteilen würden. Da niemand einen besseren Vorschlag hatte, blieb es dabei. Blei und Stahl wollten die nächstliegenden Räume im Keller übernehmen, Hamlet den im Bürotrakt des ersten Stocks, denn dort waren die meisten Türschlösser zu erwarten. Riggs’ Ziel war der entlegenste Raum im Dachgeschoss hinter der Cafeteria, da er der schnellste im Team war. Jeder würde selbstständig aus dem Gebäude schleichen, durch den Lieferanteneingang oder einen der drei Notausgänge des Gebäudes. Treffpunkt für alle war der Aldi-Burger-Parkplatz am Rand der Zeppelinstadt vier Stunden später. Diese Zeit sollte reichen, um eventuelle Verfolger loszuwerden.

»Wir erhöhen natürlich das Risiko, entdeckt zu werden, wenn wir an vier verschiedenen Stellen gleichzeitig aktiv werden«, gab Hamlet in seinem melodischen Singsang zu bedenken, an den Riggs sich erstaunlicherweise innerhalb kürzester Zeit gewöhnt hatte.

»Wenn wir nacheinander die Räume abgehen, ist das Sicherheitssystem spätestens beim dritten Raum wieder online, und dann ist die Wahrscheinlichkeit aufzufliegen noch höher«, wiederholte Riggs noch einmal, was sie gefühlt schon mindestens dreimal erörtert hatten.

 »Und was«, entgegnete Hamlet, »was machen wir, wenn der Alarm losgeht und einer von uns irgendwie in Bedrängnis kommt? Kommen wir einander zur Hilfe, oder versucht jeder für sich allein, seinen Teil des Auftrags zu Ende zu führen?«

Riggs holte Luft, um zu antworten, aber Stahl kam ihm zuvor: »Diese Entscheidung muss in dem Moment jeder selbst treffen. Das können wir nicht festlegen«, sagte er bestimmt.

»Jeder muss dann für sich selbst entscheiden und so handeln, wie es richtig ist«, bestätigte Blei. 

Riggs zog die Brauen hoch. Wieder überraschten ihn die beiden martialischen Brüder. Anstelle einer generellen »Einer für alle, jeder für sich«-Parole, die Riggs eigentlich erwartet hatte, lehnten sie eine generelle Vereinbarung zugunsten situationsbedingter Entscheidungsfreiheit ab – auch wenn sie das so nie hätten formulieren können. Nichtsdestotrotz: Chapeau. 

»Fein für mich«, sagte Riggs schulterzuckend. »Ich kann ziemlich schnell für mich entscheiden, was das Richtige ist.«

»Was für dich das Richtige ist, vielleicht. Was alle anderen betrifft …«, antwortete die Stimme seiner Ex in seinem Schädel. Schon wieder. Dabei war er völlig nüchtern. Verdammt. Er vermisste sie also immer noch. 

»Jö, Herrschaften, das klingt für mich deutlich so, als hätten wir einen Plan«, sagte Hamlet. »Wenn ich bitte schön resümieren darf: Jeder weiß, was er zu tun hat. Wir sind adäquat ausgerüstet, und unsere Uhren sind minutiös aufeinander abgestimmt.« 

Die Zwillinge hatten tatsächlich Chronografen für alle besorgt, um die Kommlinks komplett abschalten zu können. Nur so konnten sie sicherstellen, dass kein Sendesignal in der Bibliothek geortet werden konnte. Ihre Koordination würde also allein mittels des Zeitplans erfolgen, den Riggs und Hamlet bei ihrem Besuch der virtuellen Ausstellung ausgearbeitet hatten, und nur von den Uhren getaktet werden. Riggs hatte die Idee von Anfang an gemocht, sie hatte Stil und Klasse.

Stahl stand grunzend auf, und Blei tat es ihm schnaufend nach. Die beiden hatten ein halbes Waffenlager in ihre schwarzen Shiawase-Sports-Duffelbags gequetscht, die sie jetzt mit Schwung über ihre Schultern warfen. Gegen die zwei aufgerüsteten meatshields fühlte sich Riggs extrem unterbewaffnet. Gleichzeitig war es ein beruhigendes Gefühl, die persönliche Zweimannarmee am Start zu haben, unauffälliger Rein-Raus-Job hin oder her. Riggs selbst hatte lediglich seine zwei getarnten Urban Fighter mit Keramikschalldämpfer dabei, und auch Hamlet war nur mit einer leichten Walther PB-120 bewaffnet. 

»Na schön. Also dann …«, sagte Hamlet gedehnt und holte tief Luft. Er war offensichtlich etwas nervös. »Möchte jemand noch etwas loswerden, ehe wir starten? Ich meine, muss noch etwas Wichtiges gesagt werden?«

Einen Augenblick lang breitete sich unangenehmes Schweigen aus. Überraschenderweise meldete sich Blei ernst zu Wort: »Ja, ihr solltet noch was wissen.« 

Riggs und Hamlet starrten ihn an, beide etwas überrascht. Blei starrte durchdringend zurück. Dann sagte er: »Ich habe ein rosa Marshmallow auf meine linke Arschbacke tätowiert.«

»Und ich einen auf meine rechte«, ergänzte Stahl. »Geht’s jetzt los?«

Die beiden Brüder lachten schallend, schlugen sich auf die Schultern und polterten aus dem Zimmer. Riggs brauchte einen Augenblick, um das Gehörte zu verdauen. Dann schüttelte er den Kopf, als wollte er die unfreiwillig erhaltene Information wieder hinausschubsen. Er warf einen Blick auf den immer noch konsternierten Hamlet. »Was ist los? Wartest du auf’n Bus?« Lachend packte er den jungen Mann am Arm und zog ihn mit sich.

Die ehemalige Stadtbibliothek Stuttgarts war im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends errichtet worden und zur damaligen Zeit bestimmt ein gewagt modernes Gebäude gewesen. Heute wirkte der Kubus mit seinen 40 Metern Seitenlänge eher wie das abgelegte Spielzeug eines älteren Bruders: schäbig, ziemlich abgenutzt und einfach nicht mehr ganz zeitgemäß. Die mit Glasbausteinen durchsetzte Fassade reflektierte tagsüber das Licht in allen Facetten, nachts war es blau und weiß illuminiert. Man hatte sich entweder bewusst für den Retro-Look des Gebäudes entschieden und darauf verzichtet, die Beleuchtung durch eine farblich abgestimmtere zu ersetzen und, wie inzwischen üblich, mit Projektionen und maßdesignten Overlays zu arbeiten. Oder es hatte sich einfach niemand mehr um das Äußere des alten Gebäudes gekümmert, auch wenn es eine der 99 Ausstellungen der Universität Tübingen in seinem Inneren barg und damit zumindest für Pseudointellektuelle eine touristische Sehenswürdigkeit war. 

Laut virtuellem Abbild und dem Matrixprospekt der Bibliothek waren in den beiden unterirdischen Stockwerken riesige Repliken babylonischer und assyrischer Tore und Bauwerke zu bewundern. In der großen Halle im Erdgeschoss, absurderweise Raum der Stille genannt, waren Informationssäulen errichtet, an denen man sich die Führer und Overlays für die Sammlung tagesaktuell herunterladen konnte. Sitzecken für Touristen und Studenten, die sich vor oder nach dem Rundgang ausruhen wollten, und natürlich der riesige Souvenir-Shop der Sammlung durften hier nicht fehlen. 

Darüber lagen die Räume der früheren Bibliothek, die sich trichterförmig bis ins Dachgeschoss öffnete, flankiert von weiteren Fluren und Räumen in zweiter Reihe. Sie waren das eigentliche Zentrum und das Herzstück des Gebäudes, das Riggs an ein Bild erinnerte, das sein Zahnarzt immer an die Decke seines Behandlungsraums projiziert hatte. Der Maler jenes alten Bildes hatte eindeutig zu viel schlechten Stoff eingefahren und eine Horrorvision von einer Treppe gezeichnet, die auf unmögliche Weise in sich verschachtelt gewesen war. Riggs’ Augen hatten damals mühsam versucht, einen logischen Weg durch die Stufen zu finden, war aber bei dem Versuch gescheitert und eingeschlafen, weil die Narkose zu schnell gewirkt hatte. Er hatte den perfiden Plan des Zahnarztes, ihn von dem Kommenden abzulenken, gerade noch durchschaut, ehe ihm die Sinne geschwunden waren. 

Die Bibliothek hier war mit ähnlichen Treppen und Aufgängen versehen wie das Treppenhaus in dem vermaledeiten Gemälde. Riggs hoffte allerdings, dass das Gebäude hier den Gesetzen der Logik folgte und jeder Weg ein Ende hatte. Im Treppenhaus und in den einzelnen Räumen der Bibliothek waren unzählige Bildschirme verschiedener Größe in die Wände eingelassen, die interaktive Elemente per Touchscreen, thematisch passende Trids, einzelne Bilder oder einfach nur bestimmte Textpassagen zum Thema Altorientalistik boten. Einige davon fügten sich wie Puzzlestücke zu einer einzigen Projektion zusammen, um die Größe bestimmter Exponate zu veranschaulichen. Andere funktionierten für sich alleine und im eigenen Rhythmus. In den Räumen der zweiten Reihe waren wiederum gedruckte und gegossene Repliken zu bestaunen und zu begehen, damit auch die haptischen Sinne etwas von der Ausstellung hatten, und mit entsprechenden Duft-Düsen versehen rochen die Ausstellungsstücke sogar nach Lehm, nassem Stein oder altem Holz. Einige Räume widmeten sich einzelnen Thesen verschiedener Dissertationen zu altorientalistischen Themen. Insgesamt bot die Ausstellung eine gute Mischung aus Informationen, die alle Sinne ansprachen.

In die Mitte der Halle der Stille hatte man eine bis ins Dachgeschoss reichende, gläserne Röhre errichtet, die einen Aufzug in sich barg, der so modern war, dass er erst ein paar Jahre alt sein konnte. Schmale Stege aus durchsichtigem Kunststoff zogen sich wie ein Nervensystem zu den Stockwerken und Fluren der Bibliothek und schafften so die Möglichkeit, die einzelnen Bereiche der Sammlung zu erreichen. Auf Riggs wirkte das Gebäude wirr und unpraktisch, wie ein verkopftes Stück Kunst der Jahrtausendwende ohne praktischen Nutzen und ohne zeitgemäße Ästhetik. Dieser Eindruck aus dem virtuellen Raum, den Plänen und digitalen Prospekten verstärkte sich nun, da er es in der Realität sah.

Hamlet hatte das erste Hindernis, die Tür zum Lieferanteneingang, wunderbar schnell und leicht überwunden. Die Sequenzer, die die Prinzessinnen besorgt hatten, waren wirklich erste Sahne und knackten das Schloss innerhalb weniger Sekunden. Das Team verglich – wie wunderbar klassisch – die Uhren, und Riggs hatte mit einer militärischen Geste das »Go« gegeben. Geduckt und mit schnellen Schritten waren sie in die Richtung des Raums der Stille vorgedrungen. Hier trennten sich nun ihre Wege. 

Blei und Stahl bewegten sich ohne zu zögern die Treppe hinunter, um ihre Räume in den beiden Untergeschossen zu suchen. Hamlet und Riggs schlichen sich über die Treppen in die oberen Stockwerke. Das Gebäude war unangenehm offen und viel zu gut einsehbar. Und obwohl bisher alles nach Plan funktionierte, sagte ihm sein Instinkt, dass höchste Vorsicht geboten war. Er hatte das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, ohne beschreiben zu können, was es war.

Hamlet tippte ihn an die Schulter und nickte. Zeit, sich auch von ihm zu trennen. Riggs nickte zurück. Er mochte den Jungen, vielleicht würde er später mal ein Bierchen mit ihm trinken und ihm von seiner Ex-Freundin erzählen. Oder mal hören, wie es sich in der Republik Österreich eigentlich so lebte. Er wandte sich ab und umrundete die Galerie, um an die Treppe zu kommen, die in das nächste Stockwerk führte. 

Da ertönte plötzlich ein Schuss. Ein weiterer folgte, und dann eine Salve automatischen Feuers.

»Verdammte Scheiße«, fluchte Riggs und sprintete los. Geschrei brach aus, das Licht in der Bibliothek flammte blendend auf. Es war viel zu hell, viel zu offen, viel zu gut einsehbar. Schreie und weitere Schüsse. Mit einem kurzen Blick nach unten stellte er fest, dass die Wachmannschaft offenbar Alarm geschlagen hatte. Die Sicherheitsleute rannten los, einige die Treppen hinauf, andere hinunter. Offenbar war das Computersystem wieder online, denn eine größere Truppe rannte sehr zielgerichtet auf seinen Standort zu. Verfluchter Drek. Er schätzte im Laufen die Entfernung zur Treppe ab. Er würde es nicht schaffen, bis ganz nach oben zu kommen, und die Treppe war zu ungeschützt für ein Feuergefecht. Also bog er in einen Ausstellungsraum ab, in dem mehrere Vitrinen aufgebaut waren. In einigen lagen kleine, bunte Gegenstände, manche waren leer. Hier flimmerten tagsüber 3D-Projektionen mit ergänzenden Elementen und informierten den Besucher des Raums über die Begräbnisriten der alten Sumerer. Riggs warf sich hinter eine Vitrine und wartete ab, bis ein Trupp Sicherheitsleute den Raum enterte. »Ein kleiner Beitrag zur Geburtenkontrolle«, flüsterte er und feuerte seine erste Salve ab.

× × ×

Nur wenige Minuten später starrte er auf den Safe, der mitnichten das von Frau Schmidt versprochene Tastenfeld enthielt. Hier war er also, der erwartete Haken an der Sache. Der Lärm von draußen drängte zur Eile. Verflucht, was sollte er jetzt tun? Hektisch suchten seine Blicke den Raum ab. Er war nicht der stärkste, überlegte aber dennoch, ob er mit irgendetwas den stabil wirkenden Schrank einschlagen könnte. Sein Blick blieb an den psychedelischen Leinwänden hängen, die mit Ziffern und Symbolen übersät waren. 

»Moment. Das wird doch nicht ...« Er kniff ungläubig die Augen zusammen. »So blöd würde doch niemand sein«, murmelte er zweifelnd. Ein Mark und Bein erschütterndes Brüllen aus dem Stockwerk unter ihm beschleunigte seine Überlegungen. Er würde es mit der Zahlenkombination der verkorksten Bilder versuchen, der Spind würde schon nicht explodieren … hoffentlich. Er packte entschlossen das Schloss, las die Ziffern und Symbole von den Leinwänden um sich herum ab und stellte die Kombination am Schloss entsprechend ein. Mit einem leisen, metallischen Klicken öffnete es sich. 

»Das war zu leicht«, knurrte er und runzelte die Stirn. Extrem vorsichtig zog er die Tür auf und entnahm den einzigen Inhalt des großen Schrankes, einen blütenweißen Umschlag im A5-Format. Noch immer misstrauisch und auf das Zuschnappen einer Falle wartend, steckte er den Umschlag in seinen Stiefel. Dann lief er zum Fenster. Aus der Ferne sah er sich schnell näherndes Blaulicht: vermutlich der Sternschutz. Ein Blick zur Seite offenbarte ihm die Feuerleiter, die einige Meter neben ihm von der Cafeteria aus nach unten führte und die vermutlich dank der Überforderung des Sicherheitsteams noch nicht besetzt war. Das Ding war ein Relikt aus den Brandschutzauflagen einer vergangenen Zeit … und seine Fahrkarte in die Freiheit. 

Er rannte in geducktem Sprint durch die Cafeteria, folgte dem Fluchtschild und öffnete die Tür. Ein Alarm schrillte, ging aber im allgemeinen Lärm und Chaos unter. Als er einen Fuß nach draußen auf das Metallgerüst setzte, zögerte er einen Moment. Noch immer hörte er Salven, Klirren und vereinzelte Schreie unter sich. Sollte er nach seinem Team sehen und versuchen, den anderen zu helfen? Ihnen Feuerschutz geben? Das Kommlink aktivieren und einen Funkspruch absetzen, wer von ihnen Hilfe brauchte? Konnte er sie in dieser ausweglosen Lage einfach zurücklassen? 

Das metallische Knirschen der Feuerleiter unter seinen Füßen riss ihn aus seinen Überlegungen. Verdammt, er war kein Jack Baur. Er musste hier weg, sonst würde er genauso draufgehen wie die anderen auch. Und es würde keinem helfen und nichts besser machen, wenn er seinen Arsch auch noch opferte, nur um loyal und ein guter Teamkumpel zu sein. Also hastete er die Feuerleiter hinunter, sprang die letzten Meter auf die Straße und rannte in die nächste Seitengasse. Er versicherte sich, dass ihn keine Kamera filmte, und zog die Sturmhaube ab, drehte seine schwarze Jacke von innen nach außen, sodass die rote Innenseite mit dem Chromlegion-Bremen-Logo sichtbar wurde, und setzte seine Basecap auf. Er nahm die MP vom Hals, sprühte sie hastig, aber gründlich mit DNA-Cutter ein und versenkte sie in der nächsten Mülltonne, wo er sie mit Dosen, Pizzakartons und Müsliverpackungen bedeckte. Anschließend steckte er Ohrstöpsel ins Ohr und drehte irgendeinen Musiksender über sein öffentliches Kommlink so laut auf, dass man das Gewummere auch als unschuldiger Passant neben ihm hören konnte. So schlenderte er schließlich ganz selbstverständlich weiter, mit gesenktem Kopf und im Takt nickend, wobei er geschickt die Schaulustigen umging, die auf die Bibliothek zuströmten. In seinem Kopf hörte er jedoch nicht den eingängigen Glamrock der Münchner Band White Queen und die markante Stimme ihres Sängers Frank Plenert, sondern die seiner Ex-Freundin. »Du hast sie hängen lassen, Riggs. Du hast sie einfach ihrem Schicksal überlassen. Typisch. Der Rest der Welt ist dir einfach egal. Für dich gibt es nur einen Menschen, der dir wirklich wichtig ist – und das bist du selbst.« 

»Stimmt«, flüsterte er lautlos. »Ich muss immerhin mit mir leben.« 

Er zog die Mütze noch tiefer ins Gesicht und hielt ein Taxi an, um sich zum Aldi-Burger fahren zu lassen.

Kapitel 4

Riggs hatte wie vereinbart auf dem Parkplatz des Aldi-Burger gewartet, erst ein XXL Soy-Bacon-Burger-Menü mit einer Extraportion Röstzwiebelaroma vertilgt, dann eine große Portion Softeis mit Karamellsauce und winzigen Schokoladenbits. Er hatte ein ausgiebiges Nickerchen auf der Parkplatzbank gehalten, bis ihn ein streitendes Pärchen und knallende Autotüren unsanft geweckt hatten. Zuletzt hatte er sich noch einen Capuccino mit extra Sahne und Marshmellowflavour geholt. Dabei war seine Laune reziprok zu seinem steigenden Blutzuckerpegel in den Keller gefallen. Denn keiner der anderen kam. Weder Blei noch Stahl tauchten auf, und nicht einmal Hamlet hatte sich neben ihn gesetzt und ihn durch die runden Gläser seiner Streberbrille angefunkelt. Irgendwann hatte er gehen müssen, um rechtzeitig den Treffpunkt mit Schmidt zu erreichen. 

Die Koordinaten, die Frau Schmidt ihm wie vereinbart um 6.30 Uhr gegeben hatte, führten auf einen Hügel am Stadtrand, und der Taxifahrer verriet ihm ungefragt, dass dieser Hügel im Volksmund Monte Scherbelino genannt wurde. Riggs wehte der morgendliche Wind kalt um die Nase, als er auf einer Bank Platz nahm, die Schmidt als Treffpunkt auserkoren hatte. Die Aussicht auf Stuttgart und die beleuchtete Zeppelin-Stadt war beeindruckend. Dies war der perfekte Ort, um sich bei einem romantischen Stelldichein ein weniger näher zu rücken und aneinander gekuschelt den Sonnenuntergang zu bestaunen. Momentan kündigte sich allerdings der Sonnenaufgang an, und bis auf zwei intensiv knutschende junge Männer, die offenbar die Nacht zum Tag gemacht hatten, war niemand weit und breit zu sehen. 

Riggs seufzte bedrückt. Ein wenig Hoffnung hatte er noch gehabt, sein Team hier oben zu treffen. Aber auch diese löste sich nun unweigerlich in Luft auf. Scheiße, was für eine Vollkatastrophe. Er fuhr sich mit beiden Händen durch das dunkelbraune Haar. So ein Desaster hatte er seit einer Ewigkeit nicht mehr erlebt. Das ganze Team war draufgegangen. Was, verdammt noch mal, war nur schiefgelaufen?

Frau Schmidt setzte sich mit lässiger Selbstverständlichkeit neben ihn und befand es offenbar nicht für nötig, ihn zu begrüßen oder sich noch einmal vorzustellen. Nicht, dass das nötig gewesen wäre. Riggs musste sich aktiv daran hindern, sie anzustarren. Er hätte schwören können, dass sie ihren Avatar perfektioniert hatte. Aber tatsächlich war der eine detailgetreue Abbildung der Realität. Auch in der Wirklichkeit besaß sie ebenmäßige und völlig symmetrische Züge, kantige, hohe Wangenknochen und eine nahezu vollkommene Nase. Ihr Schönheitschirurg war ein echter Künstler, denn das konnte nicht das Werk von Mutter Natur sein, die zwar begabt, aber eben nicht perfekt in der Gestaltung ihrer Kreaturen war. Sie hatte den schwarzen Trenchcoat eng um den Körper geschlungen, das grau-schwarz gemusterte Seidentuch um ihren Hals flatterte dezent im Nachtwind. Sie trug die weißblonden Haare in eine strenge Hochsteckfrisur gekämmt, und der Blick ihrer klaren Augen schweifte über die nächtliche Stadt, scheinbar ohne ihn zu beachten. 

Plötzlich streifte ihr Blick ihn, und sein Atem stockte, als sich die Lichtfunken der nächtlichen Stadt in ihren blauen Augen fingen. Um ihre Pupillen lag eine irisierende Struktur, wie der Kristall einer zarten Schneeflocke, hellgrau und viel zu bezaubernd und verspielt für den Rest ihrer kalten Züge. Wundervoll.

»Beeindruckender Anblick, nicht wahr, Herr Riggs?«, sagte die Schneekönigin mit ihrer wohlklingenden Stimme, die ohne eine Spur Wärme war.

»Allerdings«, antwortete er, heftig bemüht, unbeeindruckt zu klingen. Er überlegte, ob er sie direkt fragen sollte, wo sie sich die Augen hatte machen lassen. Für so eine Iris würden einige Mädels in seinem Bekanntenkreis morden.

Frau Schmidt sprach jedoch weiter, als hätte er geschwiegen oder zumindest irgendetwas Sinnvolles oder Höfliches gesagt. »Wissen Sie, dass dies einer der ältesten Orte der Stadt ist? Der sogenannte Birkenkopf. Nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 wuchs der Berg um 40 Meter. Die Einwohner brachten die Trümmer der durch Bombenangriffe zerstörten Stadt hierher. Vermutlich aus praktischen Überlegungen, irgendwann machte es diesen Ort jedoch zu einem Mahnmal gegen das Vergessen. Er wandelte sich vom Müllhaufen zu einem Pilgerort mit spirituellem Sinn.«

»Aha«, machte Riggs desinteressiert. Alte Geschichten hatte er schon immer öde gefunden. 

Sie wandte sich ihm zu. Er war wie gebannt von den funkelnden Kristallen in ihren Augen und konnte nicht umhin, sie anzustarren.

»Sie interessieren sich wohl nicht sonderlich für Geschichte?«, fragte sie. 

Er fühlte sich einen Augenblick lang wie ein kleines, fluffiges Kaninchen, das einer Königskobra gegenübersaß. Dann ärgerte er sich selbst darüber und verdrängte das Gefühl. Eiskristall-Augen hin oder her: Sie war eine Schmidt und hatte ihn gerade in einen beschissenen Run geschickt. 

»Das ist ein Fehler. Wir sind nichts, wenn wir nicht wissen, woher wir kommen, wo unsere Wurzeln sind«, sagte sie, und ihr Blick glitt zurück über das nächtliche Panorama der Stadt.

»Oh doch«, konterte er schlecht gelaunt. »Ich interessiere mich sehr für die Geschichte. Nämlich für die, wie die Moneten Ihres und damit auch meines Auftraggebers gleich auf mein Konto wandern. Super Story und total spannend.« Es war eine Scheißnacht gewesen, und seine Lust auf Geplänkel und Spielchen hielt sich in Grenzen.

Sie hob die Brauen. »Bezahlung? Nach meinen Informationen lief der Auftrag alles andere als rund. Immerhin«, sie musterte ihn genauer, »sind Sie hier und scheinen auch keinen körperlichen Schaden genommen zu haben. Im Gegensatz zu Ihren Kollegen.«

»Was wissen Sie von den anderen?«, fragte er heiser. »Sind sie davongekommen?«

»Sie sind nicht hier, oder? Was das heißt, wissen Sie selbst am besten.«

Sein Magen zog sich zusammen. Es war, wie er befürchtet hatte. Verdammter Drek. 

»Offensichtlich haben Sie und Ihre Kollegen erfolgreich das Sicherheitsteam auf sich aufmerksam gemacht und einen blutigen Schusswechsel verursacht, der die Ausstellung stark beschädigt hat«, fuhr Frau Schmidt eisig fort. »Statt sich zurückzuziehen, hat ihr Team beschlossen, Kollateralschaden anzurichten. Ich habe nicht nur keine Codes von Ihnen erhalten, sondern werde auch noch viel Mühe haben, das alles irgendwie zu vertuschen. Und Sie wollen auch noch Geld von mir für diese Aktion? Ziemlich gewagt, finden Sie nicht?«

»Ich will kein Geld für diese Aktion«, sagte Riggs hart. »Ich will Geld für den verfluchten Code, den ich Ihnen besorgt habe.« Er zog den Umschlag aus seiner Tasche und hielt ihn Frau Schmidt vor die Nase. Sie war einige Momente lang sprachlos, was Riggs sehr genoss. Dann nahm sie ihm den Umschlag langsam und bedächtig ab. Zum ersten Mal meinte er so etwas wie eine Regung – Erstaunen? – in ihren Zügen zu erkennen. 

»Ja, ganz recht. Es ist zwar nur einer von vieren und der Run lief aus dem Ruder. Aber immerhin ist es einer der Codes. Für die übrigen drei müssen Sie wohl ein neues Team engagieren.« 

Sie öffnete den Umschlag und zog eine gefaltete Karte heraus, die sie aufklappte. Eine Abfolge von Ziffern und Buchstaben befand sich darauf, offenbar von Hand geschrieben. Die Kombination sagte Riggs nicht das Geringste. 

»Sie haben es geschafft«, sagte sie leise, während sie die Karte anstarrte. Er hatte sie offenbar beeindruckt. Wäre seine Laune nicht so im Keller, hätte er sich jetzt geschmeichelt gefühlt.

»Wenn das Malheur mit dem Wachpersonal nicht geschehen wäre, wäre das Ganze auch ein Kinderspiel gewesen«, erklärte er. »Ich weiß ehrlich gesagt nicht einmal, was genau schief gelaufen ist. Übrigens war an dem Safe, oder vielmehr an dem Sicherheitsschrank, keine Tastenkombination, wie Sie behauptet hatten. Es war ein Zahlenschloss. Aber auch das war kein Problem.« Er beugte sich zu ihr. »Mal ernsthaft«, sagte er leise, »wer ist denn bitte so bescheuert und schreibt die Zahlenkombination für seinen geheimen Safe in seine Bilder, die direkt darüber hängen?« 

Sie sah ihn mit großen Augen ungläubig an. 

»Ja, ganz recht«, fuhr er fort. »Ich kann es auch kaum glauben. Das waren wirklich potthässliche Farbklecksbilder. Und die Ziffern für das Zahlenschloss standen groß und breit daraufgepinselt. Das ist doch idiotisch! Wer macht denn bitte so einen Bullshit? Das ist ungefähr so sicher, als würde ich den Scheiß direkt in ein Schaufenster legen mit der Aufforderung, es bei Bedarf einfach einzuschlagen.«

»Herr Riggs«, antwortete sie ruhig. »Sie erhalten Ihr Geld, ich werde die Überweisung sofort veranlassen. Auch wenn es nur ein Code ist – Sie haben einen schwierigen Job überlebt und erledigt und Ihren Teil eingehalten. Auch wenn Ihre Kollegen es nicht geschafft haben, erhalten Sie deshalb den vollen vereinbarten Betrag.« Sie stand auf, steckte Karte und Umschlag in die Tasche ihres Trenchcoats. »Vielen Dank für die schnelle und professionelle Erledigung des Auftrages, Herr Riggs.« Sie war plötzlich wieder ganz die distanzierte, kühle und emotionslose Eiskönigin. »Wir sind sehr zufrieden mit Ihrer Arbeit. Wenn Sie einverstanden sind, würden wir gerne Ihre Kontaktdaten behalten und bei Gelegenheit wieder mit Ihnen Geschäfte machen.« 

»Klar. Warum nicht?« Er war überrascht, dass er so gut und einfach aus der Sache rauskam.

Sie nickte ihm zu. »Schönen Abend noch. Genießen Sie den Ausblick«, sagte sie, wandte sich ab und ging. Er starrte ihr nach, und es fiel ihm keine witzige, schlagfertige oder nette Abschiedsfloskel ein, also sparte er sich einen Gruß. 

Was war das denn jetzt gewesen? Es war wie so oft: Er erledigte einen Job, ohne zu wissen warum und für wen und was es damit auf sich hatte. Manchmal war das unbefriedigend. Vor allem, wenn er dabei den Großteil seines Teams verlor, so wie heute Nacht. 

»Du fühlst dich als Jagdhund und bist nur ein Dackel«, murmelte er leise. Dann zuckte er mit den Schultern. Er hatte in den letzten Jahren gelernt, unangenehme Gefühle zu verdrängen und Fragen, die ihm nur Schwierigkeiten brachten, aus seinem Kopf verschwinden zu lassen. Andernfalls hatte man als gesetzloser Runner eine verdammt kurze Halbwertszeit. Sein Kommlink summte. Der Betrag für den Run war auf seinem Konto eingegangen, wie sie es gesagt hatte. Er blieb noch ein wenig sitzen und genoss die Ruhe, während er auf das nächtliche Stuttgart blickte. Bald würde er zu Hause im Frankfurter Plex sein, mit seinen Jungs eine Runde um die Häuser ziehen und das hier alles hinter sich lassen. Geschichte? Nein, er interessierte sich nicht für Geschichte. Er interessierte sich für ein Glas Gin, eine gute Zigarre und wie er die Stimme seiner Ex endgültig aus seinem Kopf verdrängen konnte. Und beim Erreichen dieser Ziele würden ihm die frisch verdienten Euros sicherlich gute Dienste leisten.

Kapitel 5

Riggs wurde davon wach, dass sein privates Kommlink schmerzhaft vibrierte, als werde es jeden Moment explodieren und damit Riggs’ Existenz ein schnelles, blutiges Ende bereiten. Er ächzte. Immerhin würde dann auch das nicht minder schmerzhafte Dröhnen in seinem Schädel aufhören, was eine gute Sache wäre. Der fade, pelzige Geschmack in seinem Mund und der verschwommene Blick auf das Flaschenlager auf dem Fußboden bestätigten seinen Verdacht, dass er gestern Nacht noch dezent in die Tiefen der Rumhölle abgestürzt war. Erinnern konnte er sich daran tatsächlich nicht. In seinen Ohren rauschte es, und das Vibrieren seines Kommlinks wurde noch schneller und intensiver.

»Ja doch«, murmelte er entnervt und nahm den Anruf an. »Du sollst dich nicht in mein Kommlink hacken. Wie oft haben wir schon darüber gesprochen?« Er versuchte sich aufzusetzen, aber die Welt drehte sich, und zusätzlich zu dem Erdbeben im Schädel rührte sich ein unguter Tumult in seiner Magengegend. Lieber noch ein wenig liegen bleiben. Besser war das.

»Du bist nicht dran gegangen«, sagte White unbeeindruckt. »Da habe ich mir eben Sorgen gemacht.« 

»Ach«, antwortete Riggs schwach. »Das musst du nicht. Mir geht es gut.«

»Hm«, machte White nachdenklich. »Deine Blutwerte sagen aber was ganz anderes. Außerdem spricht die Rechnung deiner Minibar Bände, falls du mit all dem Rum und dem Whiskey nicht die Blumen gegossen hast. Und da dir Grünpflanzen normalerweise ziemlich egal sind, befürchte ich, du hast den ganzen Schrott in dich rein gekippt. Du stehst knapp vor einer Alkoholvergiftung.« 

»Hörst du verdammt noch mal auf, in meiner Privatsphäre rumzuschnüffeln? Weder meine Biovitaldaten noch mein Datennetzwerk oder das meines Hotels gehen dich was an.« Er wäre gerne böse und nachdrücklich geworden, leider war das im Moment zu anstrengend.

»Riggs, mach dich locker«, sagte White seufzend. »Ich wollte nur sicherstellen, dass es dir gut geht. Hab’ das mit dem missglückten Run mitbekommen, und da dachte ich mir, dass du es nicht so einfach wegsteckst, wenn dein ganzes Team drauf geht. Das ist alles. Und so wie es aussieht, hatte ich recht mit meiner Hypothese.« 

»Blödsinn. Ich wollte nach einem beendeten Run einfach nur mal wieder was trinken«, wehrte er ab. Bedauerlicherweise wurde er mit jedem Wort seiner langjährigen Hackerfreundin wacher und nüchterner. Sehr langsam und bedächtig setzte er sich auf.

»Hast du zufällig was gehört? Ich meine, über die anderen?«, fragte er vorsichtig.

»Es gab eine mittelschwere Explosion im Keller der Stadtbibliothek. Leider hat keiner überlebt.« 

Riggs ächzte und fühlte sich jetzt völlig nüchtern. Dabei war das kein erstrebenswerter Zustand, wie er fand. Er angelte unbeholfen nach seiner Jacke, die vor ihm auf dem Boden lag. In der Innentasche hatte er ein paar Notfallmedikamente, die ihm ein befreundeter Schattendoc zusammengestellt hatte, darunter netterweise ein bisher ungenutztes Antidot-Patch. 

»Vier Einlieferungen ins städtische Krankenhaus mit schweren Brandverletzungen. Zwei davon waren SINlos, einer hatte eine offensichtlich gefälschte Identität. Leider hat keiner überlebt.«

Er zog die Silikonbeschichtung von dem Pflaster ab und klatschte es sich auf die Halsschlagader. Danach zog er ein kleines Röhrchen mit Mineralstofflösung aus der Tasche und injizierte sie sich in den Unterarm. Nun würde sich sein desolater Zustand hoffentlich bald verbessern. 

White sprach ohne Rücksicht auf seine mentale Verfassung munter weiter. »Offizielle Erklärung der Uni Tübingen ist, dass ein technischer Defekt eine Explosion ausgelöst hat, der angeblich bei der Neuinstallation einer Sicherheitssoftware entstanden ist.«

Langsam, um seinem rebellierenden Magen nicht noch mehr Grund zu geben, eine Sauerei anzurichten, ging er zur Minibar. Die Tür stand offen, die einzige Flasche, die noch intakt war, war eine Heldenkola mit Vanillegeschmack. Er verzog angewidert das Gesicht, schnappte sich die Flasche und fiel in den daneben stehenden Sessel. Er ließ den Verschluss ploppen und schüttete das Gesöff in sich hinein. Immerhin war es Flüssigkeit für seinen ausgetrockneten Hals. 

»Die Opfer sind allerdings laut Presseinformation alle angeblich Mitglieder des privaten Sicherheitsunternehmens oder Systemadministratoren. Es gibt keine Informationen über weitere Opfer oder Verletzte, allerdings eine etwas hämische Diskussion, warum das Sicherheitsteam SINlose Mitarbeiter einstellt. Das wird wohl noch ein Nachspiel geben.«

Im Bad wurde das Badewasser abgedreht. Er empfand es als beruhigend, dass der Ursprung des Rauschens nicht in seinem Kopf lokalisiert war, sondern im Bad. Ähm … Moment

»Die Sammlung bleibt bis auf weiteres erst mal geschlossen und ist auch in der Matrix down und nicht betretbar.«

»Sei so gut und bleib an der Sache dran«, sagte Riggs, der die Badezimmertür anstarrte. Er konnte sich überhaupt nicht daran erinnern, wer oder was da drin war, und bekam jetzt ein bisschen Angst. Auf halbem Weg zum Bad lag etwas auf dem Fußboden, das aussah wie dunkelrote Spitzenunterwäsche.