Shalom Berlin – Sündenbock - Michael Wallner - E-Book
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Shalom Berlin – Sündenbock E-Book

Michael Wallner

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

In seinem Kriminalroman »Shalom Berlin – Sündenbock«, Band 2 der Alain-Liebermann-Reihe, führt SPIEGEL-Bestsellerautor Michael Wallner seine Leser in einen dramatischen Fall um Bombenterror, Manipulation, Verleumdung und Mord. Der Sumpf der Berliner Politik erweist sich in diesem hochspannenden Krimi als todbringendes Terrain: Wallners Ermittler Alain Liebermann – Mitglied einer Spezialeinheit zur Terrorbekämpfung und Mitglied einer großen jüdischen Familie in Berlin  - verstrickt sich in ein undurchsichtiges Netz von Intrigen und gerät zwischen allen Fronten – aktuell, aufwühlend und atemberaubend spannend!   Um Haaresbreite überlebt die erste grüne Verteidigungsministerin der Bundesrepublik einen Bombenanschlag. Während die Polizei die Täter im Umkreis afghanischer Terroristen sucht, geht Staatsschützer Alain Liebermann anderen Spuren nach. Steckt die Rüstungslobby dahinter, die durch den Friedenskurs der Ministerin Milliardenaufträge verloren hat? Steckt die eigene Parteichefin dahinter? Der Bodyguard der Ministerin ist Sohn eines gefürchteten War Lords in Somalia. Galt der Anschlag eigentlich ihm? Schicht um Schicht deckt Alain die perfide Verschwörung auf und erkennt zu spät, wie wie gefährlich seine Gegner sind ...

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Die Zitate aus »Der König auf Camelot« in Kapitel 26 stammen aus folgender Quelle: T. H. White: Der König auf Camelot. Übersetzt von Rudolf Rocholl. Klett-Cotta, Stuttgart, 2020

© Piper Verlag GmbH, München 2020Covergestaltung: zero-media.net, MünchenCoverabbildung: Arcangel / Stephen Mulcahey; FinePic®, München; Getty Images / Nikada

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

1 Sarajewo

2 Bendlerblock

3 Auf Goebbels’ Ruinen

4 Anhörung

5 Mit Gottes Hilfe

6 Black Spirit

7 Cheek to cheek

8 Kerosin

9 Glück, wie wandelbar bist du

10 Das grüne Sofa

11 O Wankelmut der Welt

12 Somalia

13 Die Partei

14 Strategie

15 Zwerge sind wir

16 Katholische Kerzen

17 Grundsolider Gruppensex

18 Jeder kennt Nemkov

19 Caspar

20 Fürst und Feldmarschall

21 Heinz-Rühmann-Weg

22 Thanatos

23 Der Herr behüte deine Seele

24 Das Streichholz

25 Sagt der Schmerz

26 Fürchte dich nicht

27 Stalker

28 Die richtige Frage

29 Auf dem Grat

30 Weiter Blick

31 Die Sonne mitten in der Nacht

Widmung

für Untertaler

1

Sarajewo

»Du willst eine Blondine mit drei Kindern heiraten? Was bist du, ein Astronaut?« Betrübt ließ Caspar den Smoothie-Mixer sinken. »Das waren ihre Worte.«

Alain stellte den Bücherkarton zu den übrigen Umzugskisten. »Großmutter hat es bestimmt nicht so gemeint.«

»Sie hat es genau so gemeint. Sie mag Isabel einfach nicht.«

»Das redest du dir ein.«

Nebeneinander kehrten die beiden Liebermanns ins Freie zurück und starrten erschöpft ins Innere des Pritschenwagens. Nur zwei Gegenstände warteten noch darauf, ins Haus getragen zu werden, eine Bastlampe und Caspars Heimorgel.

»Helene macht sich eben Sorgen, dass dir drei Kinder zu viel werden könnten.« Alain überließ dem Cousin die Bastlampe und hievte selbst die Heimorgel hoch. »Wo sind die Kids überhaupt? Wir haben noch ein paar Fragen an sie.«

»Isabel holt sie gerade ab. Die Mädchen haben Karate, der Älteste nimmt Steppunterricht.« Caspar griff zur Bastlampe. »Wird dir das nicht zu schwer?«, fragte er über die Schulter.

Wer spielte heutzutage noch Heimorgel? Jeder andere pluggte bloß seine Tastatur ins Handy und klimperte drauflos. Aber nicht Caspar. Caspar verfrachtete das Monstrum mit den sechsunddreißig Registern bei jedem Auftritt in seinen Lieferwagen. Wann hatte Caspar seinen letzten Auftritt gehabt?

Keuchend ließ Alain die Orgel im Wohnzimmer zu Boden sacken. »Ich wusste gar nicht, dass Babelsberg so schön ist. Der Park, das Schloss, die kleinen Gassen.«

»Für mich als Schauspieler hat es außerdem den Vorteil, dass die Filmstudios gleich um die Ecke liegen«, antwortete Caspar.

»Studio Babelsberg? Du glaubst, dass man dich im Film beschäftigen wird?«

»Du etwa nicht?«

Alain hätte sich in den Hintern beißen können. Er wusste doch um Caspars angeknackstes Selbstvertrauen. Vom Kleindarsteller an Kellerbühnen war er zum Animateur auf Kindergeburtstagen abgerutscht. Mittlerweile versuchte er sich als Bauchredner, aber die Kinder begannen jedes Mal zu weinen, wenn er auftrat.

Alain wollte seinen Fehler wieder ausbügeln. »Ich bin froh, dass es für dich gerade so gut läuft.«

Mit hängenden Schultern betrachtete Caspar seine mageren Habseligkeiten. »Gut läuft? Gar nichts läuft gut. Ein Versager bin ich durch und durch. Jeden, der sich bisher auf mich verlassen hat, habe ich enttäuscht. Mit Isabel wird es mir genauso gehen.«

Alain lag daran, das Thema rasch zu beenden. Seine Leute vom Mobilen Einsatzkommando Staatsschutz, kurz MES, waren im Haus und führten im ersten Stock den Sicherheitscheck durch. Sie sollten Caspar nicht in diesem weinerlichen Zustand sehen. »Du bist kein Versager.«

»All die Jahre hatte ich die allergrößten Hoffnungen, dass das Leben für mich mehr bereithält als Misserfolge, aber jedes Mal habe ich wieder eins in die Fresse gekriegt.«

Alain lief zur Treppe. Oben ging einer vom Team vorbei und signalisierte, dass sie bald fertig sein würden. Alain kehrte zu seinem Cousin zurück. »Du hast doch immer wieder mal eine Rolle bekommen.«

»Sicher, irgendwann im Mittelalter. Nichts, was ich anpacke, klappt«, lamentierte Caspar. »Zuletzt, aber das brauchst du Oma nicht zu erzählen, habe ich sogar gekellnert. Das war die Hölle für meine kaputte Bandscheibe. Wenn ich Isabel nicht getroffen hätte, wäre mein Leben leer und sinnlos.«

Alain griff den Hoffnungsschimmer auf. »Vielleicht hattest du ja wirklich nicht allzu viel Glück bisher, aber mit Isabel wird alles anders.«

»Glaubst du?«

»Bestimmt.«

»Ich bin nicht so ein cooler Superheld wie du«, erwiderte Caspar. »Bestimmt dauert es nicht lange, bis auch sie draufkommt, dass ich eine Null bin.«

»Den Superhelden kannst du gleich mal streichen.« Alain tat so, als checke er sein Handy, dabei sah er auf die Uhr. Er hätte längst wieder in der Stadt sein müssen. »In neun von zehn Fällen besteht mein Job in öder Observierung. Nächtelanges Herumsitzen und Warten, bis den bösen Jungs irgendein Fehler unterläuft. Was wir heute bei dir machen, Objekt- und Sicherheitsschutz, ist eine echte Abwechslung für das MES.«

»Das tust du ja nur mir zuliebe.«

»Natürlich auch dir zuliebe. Aber das Team ist froh, mal rauszukommen.« Er zeigte in den Garten. »Wie seid ihr nur an dieses schmucke Häuschen gekommen?«

»Isabel hat es ihrem zweiten Mann bei der Scheidung aus den Rippen geschnitten.«

»Sie hat nie selbst darin gewohnt?«

»Das ist das Pikante an der Geschichte.« Caspar raffte sich zu einem Lächeln auf. »Isabels Ex-Mann hat in diesem Haus seine Geliebte empfangen.«

»Und es macht Isabel nichts aus, mit drei kleinen Kindern hier einzuziehen? Ich meine, an dem Ort, wo die Geliebte ihres Mannes …?«

»Isabel ist eine pragmatische Frau. Nachdem die Scheidung durch war, hat sie als Erstes alle Betten aus dem Haus geschmissen und es vom Kammerjäger desinfizieren lassen. Wegen so ein paar Spermaflecken lasse ich mir eine Immobilie in dieser Lage doch nicht entgehen. Das waren ihre Worte.«

Alain sah die Truppe die Treppe herunterkommen.

»Das wär’s«, sagte Nummer drei, der Riese im MES.

»Dann wollen wir mal.« Alain schloss seine Jacke und warf einen Blick aus dem Fenster. »Pünktlich aufs Stichwort kommt ja auch die Hauptperson.«

»Wer?«, fragte Caspar.

»Die Dame, weswegen wir dich und Isabel und das Haus und sogar die Kinder überprüfen mussten.«

Auf der anderen Straßenseite ging eine Veränderung vor sich. Ein Konvoi aus zwei Motorrädern und einem SUV hielt vor dem Haus. Im Gegensatz zu dem gemütlichen Altbau aus der Vornazizeit, in den Caspar gerade einzog, besaß das Gebäude dort die Stromlinienform eines futuristischen Ökohauses. Der überwiegende Baustoff war Holz, Lehmputz im Außenbereich; eine Blumenwiese auf dem Dach vervollständigte das Ensemble. Man konnte sicher sein, dass auch die verwendeten Wandfarben das höchste Ökosiegel trugen.

Wer Boulevard-Magazine las und sich mit deutschen Celebrities auskannte, würde jetzt mutmaßen, dass in diesem Moment die Bundesministerin für Verteidigung ihren Wohnsitz verließ. Zu sehen war aber lediglich eine Gestalt in schwarzem Lederanzug, die einen Vollvisierhelm trug. Sie lief durch den Bonsai-Garten und bestieg ein Motorrad eines bekannten deutschen Herstellers. Zur gleichen Zeit nahmen zwei weitere Motorräder vor und hinter der Gestalt Aufstellung. Die Fahrer trugen ebenfalls Schwarz.

Alain beobachtete die Vorgänge mit Genuss. Auch er gehörte zur eingeschworenen Gemeinde der Motorradfreaks, fuhr eine Shadow Black Spirit und besaß einen ähnlichen Helm wie die drei Fahrer gegenüber. Svea Wieland, die Verteidigungsministerin, hatte Alain schon zu Zeiten imponiert, als sie noch auf der grünen Oppositionsbank saß. Seit die Grünen in die Regierung eingezogen waren, befehligte sie das deutsche Heer. In letzter Zeit schien es Mode geworden zu sein, Frauen mit diesem traditionellen Männerjob zu betrauen.

Der Mann auf der vorderen Maschine drehte sich um. Svea Wieland startete. Vor und hinter ihr gingen die Motoren an. Die Bundesministerin für Verteidigung rollte aus der Einfahrt und fuhr zur Arbeit. Ihr Ziel war der Bendlerblock in der Stauffenbergstraße, Berlin-Mitte. Hinter den Motorrädern reihte sich der SUV als Letzter ein.

***

Mit der linken Stiefelspitze tippte Svea auf die Gangschaltung und ließ die Maschine kommen. In moderatem Tempo fuhr sie den Heinz-Rühmann-Weg entlang. Vier Fahrzeuge waren erforderlich, damit sie ihr Büro erreichte. Die Umstände, die Kosten, die CO2-Bilanz – mit ihrer Fahrt zur Arbeit trat sie grüne Prinzipien mit Füßen, das war klar. Hätte sie sich mit einem Dienstwagen einverstanden erklärt, wäre das Security-Brimborium kleiner gewesen. Andererseits hatte Svea sich geschworen, auch als Ministerin ein Mensch zu bleiben. Und als Mensch fuhr sie Motorrad. Sie brauchte das, bevor sie sich mit grauen Männern in grauen Uniformen an den Konferenztisch setzte. Einmal am Tag wollte sie ihr früheres Leben leben, an der Havel langbrausen, durch den Grunewald, manchmal einen Schlenker zum Wannsee und nach Schwanenwerder machen. Sie wollte draußen sein und die Stadt spüren. Sie hätte natürlich das Fahrrad nehmen können, aber anderthalb Stunden Fahrzeit ließen sich mit ihrem Terminplan nicht vereinbaren. Und für die S-Bahn war ihr Gesicht zu bekannt. Sie sah sich nicht gern als Celebrity und wusste zugleich, gerade weil sie eine Celebrity war, hatte sie diesen Job. Bekannt geworden war sie durch sportliche Höchstleistungen, zweimal Olympia, dreimal Weltmeisterschaft, sie hatte sogar Franziska van Almsicks Rekorde in den Schatten gestellt. Sie war so etwas wie der weibliche deutsche Arnold Schwarzenegger, falls es das überhaupt gab.

Man kannte Svea Wieland, ihre Stimme wurde gehört. Daher war die Partei seinerzeit auf sie zugekommen. Ohne ihr Zutun war sie das Aushängeschild der Grünen geworden. Man liebte es, ihr den Stempel »die Jüngste« aufzudrücken. Die jüngste Parteivizefrau, die jüngste Landwirtschaftsministerin, und nun vertraute man der Sechsunddreißigjährigen das deutsche Heer an. In früheren Zeiten hatte dieser Job Kriegsminister geheißen. Das war seit Jahrzehnten vorbei, doch die primäre Aufgabe der Streitmacht, des Militärs hatte sich nicht verändert. Wozu baute man Panzer? Bestimmt nicht, um festgefahrene Autos aus dem Dreck zu ziehen. Man baute Panzer, um einen Feind zu überrollen. Doch Panzer waren gut sichtbare, beinahe nostalgische Waffen. Svea hatte die zusätzliche Aufgabe, die heimtückischen, unsichtbaren Waffen zu verwalten. Die lasergestützten Systeme, die hinter anderen Waffen herzufliegen imstande waren. Die unterirdischen und unterseeischen Arsenale, die Drohnen mit ihrem fragwürdigen Vernichtungspotenzial, die Satelliten, die Aufklärer, die Zerstörer. Das alles kostete Geld. Dreiundvierzig Milliarden Euro waren es im Vorjahr gewesen, zwölf Prozent des Bundeshaushalts. Nächstes Jahr, so wollte es der große NATO-Verbündete, sollte es noch mehr werden.

Doch seit Svea diesen Job innehatte, war es weniger geworden. Sie missachtete die Wünsche des großen NATO-Verbündeten, missachtete auch die Wünsche der Rüstungsindustrie. Svea Wieland machte manches anders und einiges neu. Sie tat viel, um ihre Vision von einem grünen Heer Wirklichkeit werden zu lassen.

Auf ihr Motorrad zu verzichten, brachte sie allerdings nicht übers Herz. Und da eine Ministerin nicht ungeschützt auf dem Zweirad von Babelsberg nach Berlin-Mitte fahren durfte, war ihr ein Konvoi zugeteilt worden. Zwei Motorräder als Begleitschutz und der SUV, falls etwas passierte, oder einfach, falls es zu stark regnete.

Heute nahm Svea die Route entlang der Königstraße von Potsdam Richtung Wannsee. Hier war Tempo siebzig erlaubt. Sie hatte mit den motorisierten Personenschützern vereinbart, dass fünfundsiebzig auch noch okay sei. Im dritten Gang fuhr sie durch die schnurgerade Waldstraße. Rechter Hand erinnerten verwelkte Blumen und ein Holzkreuz daran, dass hier Menschen zu Tode gekommen waren.

 

Der erste Schuss traf Sveas Helm. Der zweite ging daneben. Der dritte Schuss traf den Personenschützer hinter ihr frontal, er stürzte. Eingeklemmt unter seiner Maschine rutschte er quer über die Fahrbahn. Svea sah es im Rückspiegel, bremste und hielt. PB 1, der Motorradfahrer vor ihr, machte kehrt. Svea fuhr an den Rand und nahm den Helm ab. Ein weiterer Schuss sirrte an ihr vorbei. Sie sprang vom Motorrad, doch statt sich hinzuwerfen, wollte sie dem Gestürzten zu Hilfe eilen.

PB 1 kreuzte ihren Weg. »Sind Sie verrückt?«, rief er ihr zu, riss die Ministerin zum Graben und ging mit ihr in Deckung. Fast gleichzeitig hielt der SUV am Straßenrand, wodurch Svea Wieland aus der Schusslinie geriet. Die Tür glitt auf, PB 4, ein Mann im schwarzen Anzug, sprang heraus und zerrte die Ministerin ins Innere. Ein, zwei, drei Schüsse schlugen ins Blech, bevor er die Tür wieder geschlossen hatte. Svea Wieland schrie erschrocken auf.

»Die Panzerung hält«, rief PB 4 und zog sie auf den Rücksitz.

Als er versuchte, sie anzuschnallen, schüttelte sie seine Hände ab. »Wir müssen uns um Gottfried kümmern!«

»Der Krankenwagen ist bereits unterwegs.«

»Wir können ihn nicht einfach liegen lassen.«

»Als Erstes müssen wir Sie aus der Schusslinie bringen«, entgegnete der Personenschützer, während ein dumpfer Schlag ins Blech den nächsten Schuss anzeigte. »PB 3 bleibt so lange bei Gottfried.« Er stieg auf den Beifahrersitz. PB 1 setzte sich zur Ministerin nach hinten. Der SUV fuhr los.

Svea Wieland hielt ihren Helm auf dem Schoß, den sie die ganze Zeit umklammert hatte. Mit dem Finger strich sie die Kerbe entlang, die die Kugel hinterlassen hatte. Ein Zentimeter tiefer, und sie hätte ein Loch in ihren Kopf gebohrt.

Neben Svea nahm PB 1 den Helm ab. Kadou Hauser hatte schwarzes Haar, dunkle Augen, bronzefarbene Haut. Er war Deutschafrikaner aus Somalia mit deutscher Mutter.

PB 4 drehte sich zu ihnen um. »In ein paar Minuten sind wir auf Schwanenwerder, Frau Minister.«

»Was soll ich denn da?«, fragte Svea Wieland.

»Es ist der nächstgelegene Punkt, wo ein Helikopter landen kann. Hinter uns ist bloß Wald, vor uns die Bebauung zu dicht.«

Sie hielten an der Brückenampel, wo die Königstraße in den Kronprinzessinnenweg mündete. Linker Hand lagen der Wannsee und das Bismarck-Denkmal. Die Ampel sprang auf Grün. Sie fuhren an.

»Moment«, sagte Kadou Hauser.

»Was ist?«

Er warf sich nach vorne und packte den Fahrer bei der Schulter. »Zurück!«

»Wieso?«

»Setz zurück, sofort!« Mit der Faust schlug Kadou dem Fahrer auf den Arm. »Zurück! Zurück!«

Der Fahrer war BKA-Mann, Ende vierzig mit Familie. Er hielt sich zugute, noch nie in die Schusslinie geraten zu sein. Er fuhr die gepanzerten Wagen des Ministeriums, vertraute auf die kugelsicheren Scheiben und die dicken Bleiplatten. Er hatte keinen Grund, dem atemlosen Befehl eines jungen Afrikaners zu folgen, selbst wenn der schwarze Personenschützer der Liebling der Ministerin war. Zugleich war der Fahrer auf die eigene Sicherheit bedacht. Seine Frau hatte Diabetes, die Kinder wechselten gerade von der Grundschule ins Gymnasium. Der BKA-Mann legte also den Rückwärtsgang ein und setzte fünf Meter zurück. Neben ihm überholten zwei Autos und fuhren in die Kreuzung ein.

 

Die Bombe explodierte drei Meter vor dem Regierungsfahrzeug. Der blaue Kleinwagen vor ihnen wurde in die Höhe katapultiert, bevor ihn die Flammenwand verschluckte. Kadou warf sich über Svea Wieland. Die Flammenwand erreichte den SUV, durchschlug mühelos die Vorderfront und tötete den Fahrer. Sie zerstörte den Motorblock, das Getriebe und den ganzen vorderen Bereich des Wagens. Auch PB 4, der Beifahrer, war sofort tot.

Der Rücken von Kadou Hauser fing Feuer. Das Leder seines Motorradanzugs schützte ihn nicht. Er brannte. Svea Wieland spürte, wie die Feuerwand über sie hinwegbrauste. Sie schloss die Augen. Die Hitze, der Lärm, die Stille danach. Als sie die Augen öffnete, brannte es rundum, lautlos. Der SUV stand in Flammen. Kadou tat etwas, was sie nicht sofort verstand. Mit beiden Beinen trat er gegen die verbeulte Seitentür. Rundum Feuer, Kadous brennender Rücken. Er schuf eine Öffnung, sprang aber nicht gleich hinaus, sondern riss Svea an beiden Armen hoch und stieß sie aus dem Wagen. Sie landete auf dem Asphalt. Jetzt erst rettete sich Kadou selbst aus dem brennenden Fahrzeug und fiel neben Svea zu Boden. Dicht an dicht lagen sie auf der Straße. Svea erwartete, Schreie zu hören, Sirenen, doch die Menschen liefen mit zum Schrei geöffneten Mündern und vor Panik verzerrten Gesichtern lautlos an ihr vorbei. Svea war umgeben von Stille. Hatte die Explosion ihr Trommelfell zerrissen? Nein, sie konnte Kadou hören, er war bei Bewusstsein, er stöhnte. Das Feuer auf seinem Rücken war erloschen.

Ein Motorrad näherte sich, ein Mann im dunklen Outfit stieg ab. Dahinter hielt ein Lieferwagen. Der Mann nahm seinen Helm ab.

»Frau Minister«, hörte Svea und versuchte, sich aufzurichten.

Er kniete neben ihr nieder. »Nicht bewegen.«

»Wer sind Sie?«

»Alain Liebermann, Staatsschutz.«

»Wieso ist der Staatsschutz noch vor dem Krankenwagen hier?«

»Wir waren in der Nähe. Bitte nicht sprechen.«

»Es waren zwei Anschläge«, sagte Svea.

»Ich weiß. Es kam per Funk durch.« Und dann sagte der dunkle Motorradfahrer etwas, das die Bundesministerin nicht verstand. »Sarajewo«, sagte er. »Sarajewo, nur umgekehrt.«

2

Bendlerblock

»Die Explosion erfolgte am dritten September um acht Uhr dreiundfünfzig morgens«, sagte der Direktor. »Die Druckwelle war noch vier Straßenzüge weiter spürbar. Die Experten haben festgestellt, dass es sich um eine Rohrbombe gehandelt hat, bestehend aus Ammoniumnitrat und wasserfreiem Hydrazinnitrat, die in einem Leitungsrohr unter der Brücke versteckt und ferngezündet worden ist. Die Explosion tötete sechs Menschen, davon zwei Beamte des Bundeskriminalamtes. Der oder die Täter konnten unmittelbar danach nicht gefasst werden. Die Ministerin hat leichte Verbrennungen und einen Schock erlitten. Dass ihr Zustand, gemessen an der Zerstörungskraft der Bombe, zufriedenstellend ist, verdankt sie dem Personenschützer Kadou Hauser, der seit ihrem Amtsantritt zum inneren Kreis der Security gehört. Hauser selbst hat schwere Verbrennungen erlitten und wurde in ein künstliches Koma versetzt. Zu seiner Rettung müssen an ihm mehrere Hauttransplantationen durchgeführt werden.«

Der Direktor schloss die noch recht dünne Mappe und tippte mit dem Zeigefinger darauf, als ob er verhindern wollte, dass sie Flügel bekäme.

Alain wartete ab. Der Schutz bundesdeutscher Verfassungsorgane, also der Minister, unterstand dem Bundeskriminalamt. Beamte, die dafür zum Einsatz kamen, hatten eine spezielle Ausbildung, besaßen einen gefestigten Charakter, erbrachten sportliche Höchstleistungen, legten ein exzellentes Benehmen an den Tag und konnten sehr gut schießen. Der Personenschutzgruppe des BKA fiel die Aufgabe zu, ihre Schutzpersonen bis ins Privatleben hinein vor möglichen Anschlägen zu bewahren. Auch die sondergeschützten Fahrzeuge, wie die gepanzerten Dienstwagen hießen, unterstanden dem BKA.

Der Staatsschutz, besonders Alains Abteilung, war für die Verhinderung und Bekämpfung politisch motivierter Straftaten zuständig, unabhängig, ob sie von rechts, links oder aus dem Ausland kamen. Darüber hinaus arbeiteten Staatsschutz und Verfassungsschutz übergreifend in ihrer geheimdienstlichen Tätigkeit zusammen. Der Fall Svea Wieland war also zugleich ein Fall für das BKA, den BND, den Staats- und den Verfassungsschutz. Es oblag den Sektionschefs zu entscheiden, wem die Aufklärung der Anschläge übertragen werden sollte.

»Frau Minister Wieland hat sich persönlich an mich gewandt«, fuhr der Direktor fort.

»Aha?« Alain fühlte sich im Büro seines Vorgesetzten meistens unbehaglich. Er wusste nicht genau, woran es lag, zählte aber jedes Mal die Minuten, bis es vorbei war.

»Frau Wieland sagte, Sie wären nach dem Bombenanschlag als Erster vor Ort gewesen. Wieso, Liebermann?«

»Reiner Zufall, Herr Direktor. Mein Team hat heute Morgen das Haus gegenüber der Ministervilla gecheckt.«

Die rechte Braue des Direktors schnellte hoch, was er für ein eindrucksvolles mimisches Mittel hielt. »Objekt- und Sicherheitsschutz gehört nicht zu den Aufgaben des MES.«

»Mein Cousin ist in dieses Haus gezogen«, antwortete Alain offen. »Ich dachte, da mache ich den erforderlichen Sicherheitscheck gleich selbst. Außerdem habe ich ihm beim Umzug geholfen.« Alain erwartete eigentlich, jetzt eine Grundsatzerklärung zu den Aufgaben des MES zu bekommen.

Doch der Direktor antwortete anders als erwartet. »In diesem besonderen Fall war Ihre unorthodoxe Fleißaufgabe von Vorteil«, sagte er. »Sie scheinen der Ministerin ein interessantes Gedankenspiel aufgegeben zu haben.«

An alles Mögliche konnte sich Alain erinnern, nicht an Gedankenspiele mit einer Frau, die einen Bombenanschlag knapp überlebt hatte.

»Frau Wieland sagte am Telefon, Sie hätten das heutige Attentat mit Sarajewo verglichen. Was haben Sie damit gemeint?«

»Ach das«, meinte Alain. »Sarajewo 1914. Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers.«

»Bitte briefen Sie mich«, erwiderte der Direktor nüchtern, als handelte es sich um ein brandaktuelles Attentat und nicht eines, das vor mehr als hundert Jahren stattgefunden hatte.

Alain schlug die Beine übereinander. Geschichte war sein Ding. Das Wissen über Vorfälle, die den Lauf der Welt verändert hatten, gab ihm das Gefühl, dass man sich über den detailverseuchten Stress von heute nicht mehr so aufzuregen brauchte, wenn man das große Ganze erkannte. Der Mensch war eingebettet in seine Geschichte. Die Geschichte hatte die Angewohnheit, in jedem Zeitalter unterschiedliche, im Kern aber immer die gleichen Storys zu erzählen. Diese Storys musste man eben kennen. Ein Baum fiel auf ein Auto, eine Kleinstadt wurde von der Umwelt abgeschnitten, ein Staatspräsident nahm Schmiergeld. Alain hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, vom Schellenrasseln solcher Nachrichten zurückzutreten und Vogelperspektive einzunehmen.

»Als der Thronfolger Österreichs 1914 im offenen Wagen durch Sarajewo fuhr, haben ihn serbische Separatisten mit einer Bombe beworfen«, begann er. »Der Fahrer konnte ausweichen, doch mehrere Passanten wurden verletzt. Man riet Erzherzog Franz Ferdinand, die Fahrt abzubrechen. Er befahl aber, weiter durch die feindlich gestimmte Stadt zu fahren, da er nach dem vereitelten Anschlag überzeugt war, dass ihm nun nichts mehr passieren könnte. ›Umbringen können Sie mich nur einmal‹, soll er gesagt haben. Kurz darauf geriet er in die Falle auf der Lateinerbrücke, wo ihn die tödlichen Schüsse trafen, die schließlich zum Ersten Weltkrieg geführt haben. Der heutige Anschlag hat mich an Sarajewo erinnert, nur eben in umgekehrter Reihenfolge«, schloss Alain.

»Sie meinen, zuerst die Schüsse, dann die Bombe.«

»So ist es.« Alain beugte sich vor. »Was mich interessiert: Wieso ist der Wagen der Ministerin von einer Explosion dieses Ausmaßes nicht vollständig zerstört worden?«

Der Direktor blätterte in der Akte. »Das müsste … Ich glaube, es steht hier irgendwo.«

»Wieso landet diese Akte überhaupt bei uns? Ist das nicht Sache des BKA?«

»Das soll Ihnen die Ministerin besser persönlich sagen.«

»Die Ministerin mir?«

Der Direktor nickte gönnerhaft. »Sie will Sie kennenlernen. Sie haben einen Termin um siebzehn Uhr im Bendlerblock.«

»Ich kann ihr aber keine Fakten liefern, bevor wir nicht ermittelt haben.«

»Dann ermitteln Sie, Liebermann.«

»Und das BKA?«

»Gibt uns grünes Licht.«

»Ich bin zurzeit an den beiden libanesischen Schläfern dran. Wir haben das Bekennerschreiben analysiert. Sie stehen offenbar in Verbindung zu einer Zelle …«

»Um die Libanesen kümmert sich ab jetzt jemand anders«, winkte der Direktor ab. Stolz lächelnd, begleitete er Alain zur Tür, als ob Liebermann sein Wunderkind wäre, das der Verteidigungsministerin heute etwas auf dem Klavier vorspielen sollte.

***

Die rechte Hand der Ministerin war verbunden, sie trug den linken Arm in der Schlinge, ihre Schläfe zierte ein Pflaster. Alain bekam das Tom-Cruise-Gefühl, dieses sonderbare Staunen, wenn der Actionstar, von Kugeln durchsiebt, vom Helikopter zerfetzt und durch den Sturz aus zehntausend Metern Höhe zerschmettert sein müsste, aber in der darauffolgenden Szene lediglich ein Heftpflaster auf der Stirn trug. Frau Wieland war mittels einer Hundertfünfzig-Kilo-Bombe angegriffen worden, und doch saß sie hinter ihrem Schreibtisch aus garantiert recyceltem Tropenholz und legte ein Papier beiseite.

»Herr Liebermann.«

»Frau Minister.«

Svea Wieland stand auf. »Wollen wir rausgehen?«

Er war gerade im Begriff, sich zu setzen. »Raus?«

»Oder wollen Sie lieber ein normales Gespräch à la Sie fragt. Er antwortet. Täterprofil. Stand der Ermittlungen führen? In dem Fall nehmen Sie bitte Platz.«

»Ich würde lieber rausgehen.«

»Gut.«

»Sind Sie denn schon wieder … Ich meine, wie geht es Ihnen, Frau Minister?«

Sie blieb dicht vor ihm stehen. »Noch einmal Frau Minister, und ich schnorre eine Kippe von Ihnen.«

»Woher wissen Sie, dass ich rauche?«

»Geraten.«

»Den Ausdruck ›schnorren‹ hört man in Berlin selten.«

»Sie sind Jude?«, fragte sie.

Er nickte.

»Ich habe in Wien studiert, da hört man ›schnorren‹ öfter.« Svea Wieland ging zur Tür, er folgte. »Wussten Sie, dass die Schnorrer im orthodoxen Judentum eine besondere Bedeutung hatten? Sie ermöglichten es den strenggläubigen Juden, einer wichtigen religiösen Pflicht nachzukommen, der Barmherzigkeit.«

»Das wusste ich, Frau Min…« Lächelnd nahm Alain eine Packung Zigarillos aus der Brusttasche. »Erwischt.« Er bot ihr eine an.

»Sie rauchen also wirklich?«

»Ich habe wieder angefangen, eine Dummheit natürlich. Bei dem starken Kraut hier kann man wenigstens nicht inhalieren.«

»Also eine raffinierte Dummheit.« Sie zog den Zigarillo aus der Packung. »Ich bin im Himmel«, sagte sie zu einem Offizier in ihrem Vorzimmer. Er hatte den Rang eines Stabshauptmanns, trug den Bürstenschnitt amerikanisch, die Krawatte hochgeschlossen, die Brille akkurat. »Kein Telefon im Himmel«, befahl sie im Weitergehen.

»Verstanden.« Der Stabshauptmann wandte sich wieder seinem Laptop zu.

Alain sagte nichts, er fragte nichts, er hatte den Eindruck, dass Svea Wieland selbsterklärend war. Keine Höflichkeiten, keine Floskeln, keine Ministerattitüden. Ein Fahrstuhl brachte die beiden nach unten, eine Chipkarte in einen Korridor, eine Tür in den Innenhof. Dort war gar nichts.

»Hier ist gar nichts«, sagte die Ministerin. »Und niemand braucht gar nichts. Deshalb bin ich so gerne hier.«

»Verstehe.« Alain verstand es wirklich.

Keine Bank, auf die man sich setzen konnte, kein Baum, kein Strauch. Wenn man hinaufblickte, war dort, über den grauen Wänden, der Himmel über Berlin.

»Meine Leute behaupten, es sei eine afghanische Terroreinheit gewesen«, sagte Svea Wieland mit Blick zum Himmel.

Alain akzeptierte, dass sie ohne Überleitung von einem Thema zum anderen wechselte. »Ihre Leute? Welche Abteilung?«

»Militärischer Abschirmdienst.«

»Gibt es ein Bekennerschreiben der Afghanen?«

»Es wurde heute Mittag in unseren Briefkasten geworfen. Die Überwachungskamera zeigt eine verschleierte Frau.«

»Zwei Terrorgruppen aus der Kundusregion waren in letzter Zeit aktiv«, antwortete er nach kurzer Überlegung.

»Warum sollten die Afghanen mich umbringen wollen?«

»Wegen unserer Bundeswehreinheiten im Hindukusch?«

»Die sind seit siebzehn Jahren dort stationiert. Der ISAF-Kampfeinsatz war 2014 beendet. Seitdem sind die Truppen mehr oder weniger damit beschäftigt, die Post für die Soldaten auszuliefern. Bei dem Einsatz Resolute Support, den ich von meiner Vorgängerin geerbt habe,geht es vor allem um Nachhaltigkeit. Nicht alles, was die Truppe in zwei Jahrzehnten erreicht hat, soll umsonst gewesen sein.« Svea Wieland begann, im Kreis zu gehen.

Er schloss sich an. »Es heißt, Sie wollen das afghanische Kontingent auflösen und nach Hause holen.«

»In diesem Fall wären die Afghanen erst recht schlecht beraten, mich umzubringen.«

Sie hatten ihre Zigarillos noch nicht angezündet und holten es nach. Alain beobachtete den Rauch, der zum Himmel stieg.

»Was wäre, wenn jemand mit dem Anschlag einfach nur ein Zeichen setzen wollte?«, fragte er.

»Was für ein Zeichen?«

»Eine Ministerin umzubringen ist in jedem Fall ein Zeichen. Halten Sie das Bekennerschreiben für authentisch?«

»Das ist irrelevant.« Svea Wieland blieb stehen. »Den Anschlag haben nicht die Afghanen begangen. Es waren Deutsche.« Sie lächelte über Alains Verblüffung. »Wissen Sie, weshalb ich so gern im Himmel bin?« Sie zeigte auf die fugenlosen Wände. »Weil es hier keine Mikrofone gibt.«

»Wieso vertrauen Sie mir, Frau Wieland?« Alain blieb stehen. »Ich meine, wieso vertrauen Sie mir das an? Wir kennen uns doch gar nicht.«

»Ich habe mir Ihre Akte kommen lassen.«

»Welche?«

»Die Akte, in der alles drinsteht. All unsere Sicherheitsdienste haben Infos zusammengetragen. Ich fürchte, die mögen Sie nicht besonders.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

»Sie haben immerhin den letzten Innenminister ausgehebelt, Liebermann. Sie haben den Verfassungsschutz alt aussehen lassen. Und um ein Haar wäre Ihr eigener Direktor über den Fall Hanna Golden gestolpert. Sie haben die oberste Regel im Männerclub der Geheimdienste missachtet: niemals einem Außenstehenden Einblick geben. Das wird man Ihnen nie verzeihen. Sie haben der Journalistin Hanna Golden die vollständige Akte über ihren Fall überlassen, und die hat damit ein Mediengewitter ausgelöst.«

Als Alain etwas entgegnen wollte, hob sie die Hand.

»Ich mag die Wahrheit, Liebermann. Wir brauchen die Wahrheit in unserem Job. In meinem Job ist das besonders schwierig, denn es gibt Leute in Deutschland, die sich gerne mit der Wahrheit schmücken, ohne sie zu beherzigen. Das sind Leute, die eine ›Wiedergeburt des Anstands in der Politik‹ beschwören und eine neue Moral einfordern. Aber Wahrheit und Moral sind nicht das Gleiche, manchmal sind sie das genaue Gegenteil. Die Moral geht immer vom Standpunkt des Moralisten aus. Die Wahrheit hat keinen Standpunkt, sie ist einfach wahr. Daher ist mir diese moralische Form von Anstand suspekt und jede Art, moralisch zu argumentieren, zuwider.«

Alain setzte seinen nächsten Satz vorsichtig, wie jemand, der auf losen Steinen einen Fluss überquerte. »Wenn Sie vongewissen Leuten in Deutschland sprechen und wenn ich Ihr Zitat richtig interpretiere, dann verdächtigen Sie Curt Oderberg. Kann das sein?«

Svea Wieland stieß den Rauch aus. »Sind Sie verrückt? In keiner Weise verdächtige ich den Präsidenten des BDSV. Ich habe nicht einmal seinen Namen ausgesprochen. Das haben Sie getan.« Sie sah ihn an, nur ihr Mund lächelte. »Was Sie mit Ihrem Verdacht im Weiteren tun, will ich nicht wissen. Ich darf es nicht wissen. Ich habe jede Woche Sitzungen mit dem Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie. Ich treffe den Mann, dessen Namen ich nicht ausspreche, also häufig.«

»Der, dessen Namen man nicht ausspricht«, lächelte Alain. »Das klingt ja wie …«

»Lassen Sie sich eins gesagt sein: Der Mann, von dem ich rede, ist um einiges gefährlicher als diese Romanfigur.«

Die Tür im Hintergrund ging auf. »Frau Minister.« Es war der Stabshauptmann.

»Was gibt es, Eggers?«

»Ihr siebzehn Uhr dreißig ist da.«

»Ich komme.« Sie schüttelte Alain die Hand. »Danke, Hauptkommissar. Halten Sie mich auf dem Laufenden.«

»Frau Minister.« Er machte eine knappe Verbeugung.

»Stabshauptmann Eggers wird Ihnen zeigen, wie Sie wieder aus dem Bendlerblock rauskommen. Rein kommt man bei uns leicht, raus ist es schwieriger.«

3

Auf Goebbels’ Ruinen

»Ich habe Svea Wieland als faire Partnerin in den Verhandlungen mit dem BDSV kennengelernt.« Curt Oderberg strich das Haar aus der Stirn, eine überflüssige Geste, da die schütteren Locken seine Glatze kaum noch bedeckten. »Es ist für eine Frau besonders schwierig, dieses komplizierte Amt auszufüllen. Lassen Sie mich hinzufügen, wie sehr ich es bedaure, dass ausgerechnet eine Frau Ziel dieses schrecklichen Attentats geworden ist. Es ist und bleibt die nobelste Aufgabe unserer Gesellschaft, Frauen vor Gewalt zu schützen. In diesem Zusammenhang darf ich noch einmal erwähnen, dass der BDSV die derzeitige Besetzung des Amtes des Bundesministers für Verteidigung problematisch findet. Der Anschlag heute zeigt, wie gefährlich es ist, eine Frau in die Schusslinie des Terrorismus zu bringen. So etwas hätte in der Bundesrepublik Deutschland nie passieren dürfen. Ich verurteile dieses heimtückische Verbrechen auf das Entschiedenste und möchte Frau Wieland mein tief empfundenes Beileid aussprechen.«

Alain legte die Füße hoch und drückte die Mute-Taste, das Interview wurde stumm fortgesetzt. »In einem einzigen Statement hat er sechsmal das Wort ›Frau‹ untergebracht. Oderberg charakterisiert Svea Wieland als Frau, die man beschützen muss. Er macht das sehr geschickt.«

Neben Alain wurden ein Paar nackter Füße und zwei nackte Waden auf den Couchtisch gelegt. »Geschickt, wie meinst du das?«

Die Chipstüte stand zu weit von Alain entfernt, als dass er hineinlangen konnte. »Was Svea Wielands Beliebtheitswerte betrifft, nützt der Anschlag ihr natürlich. Im Politbarometer ist sie um zwei Plätze hochgerutscht. Zugleich macht Oderberg klar, dass eine Frau in dieser Position ein Risiko darstellt.«

»Vor Wieland hat es doch schon zwei Verteidigungsministerinnen gegeben.« Neben Alain wurde in die Chipstüte gegriffen.

»Bloß haben beide die Linie ihrer männlichen Vorgänger fortgesetzt«, hielt Alain dagegen. »Verlängerung der Auslandseinsätze, Milliardenaufträge für die Rüstungsindustrie und mangelhafte Kontrolle, wenn es um Waffenlieferungen in Krisengebiete geht.«

»Die Waffenexporte werden nicht vom Verteidigungsministerium kontrolliert, sondern vom Bundessicherheitsrat.«

»Sei nicht so blauäugig«, konterte Alain. »Alle bisherigen Minister im Amt, ob weiblich oder männlich, haben die Rüstungsindustrie mit Glacéhandschuhen angefasst. Svea Wieland tut das nicht. Sie ist dabei, die Bundeswehr umzukrempeln.«

Worüber rege ich mich eigentlich so auf, dachte er. Es war nach zwanzig Uhr, Curt Oderberg gab in der Tagesschau ein Interview. Alles normal, wenn man davon absah, dass die Republik durch einen schweren Bombenanschlag erschüttert worden war. Die Geheimdienste hatten versagt, keiner hatte es kommen sehen.

Alain regte sich jedoch weniger über die Attentate auf als über die nackten Waden neben sich. Wäre er toleranter und einfühlsamer gewesen, säße jetzt eine bezaubernd schöne Frau neben ihm, deren glatte Waden ihn faszinierten. Er hätte Rotwein mit ihr getrunken und nicht befürchten müssen, dass sie das Art-déco-Sofa mit Rotweinflecken verunzieren würde. Später hätte er die Gläser gespült und wäre mit dieser zauberhaften Frau ins Bett gegangen. Stattdessen hockte er nun neben Velkan, dem Computer-Nerd des MES. Draußen regnete es. Pankow war bei Regen so trist, wie man Pankow bei Regen kannte.

Alain hatte Diana verärgert. Eine Verabredung zwischen ihnen war missverständlich ausgesprochen worden, weshalb sie eine Stunde auf ihn hatte warten müssen. Er hatte nicht darüber diskutieren, sondern einen schönen Abend mit ihr verbringen wollen. Es war nur eine Kleinigkeit gewesen. Aber als er nach Hause kam, wurde ihm schon beim Eintritt klar, dass in seiner Wohnung alles, die Freundin, die Luft, ja selbst die Einrichtung auf Konfrontation gebürstet war. Alain war müde vom Tag, nachdenklich, gestresst, er stellte seine Tasche ab und verstaute die gekauften Lebensmittel. Danach beging er den entscheidenden Fehler: Er beschwerte sich bei Diana, dass sie ihn nicht entsprechend begrüßen würde. Sie sah darin die Attitüde eines Fünfzigerjahre-Paschas, der erwartete, dass die Gattin ihm den Drink mixte und die Hausschuhe bereitstellte, sobald er die Schwelle überschritt. So etwas konnte er mit ihr nicht machen. Mit dem Satz »Ich bin nicht dein Cheerleader« sprang sie auf und mobilisierte die Streitkräfte. Alain war an diesem Abend zu abgespannt, um stilgerecht zu diskutieren, und setzte stattdessen eine verbale Massenvernichtungswaffe ein. Mit einem einzigen kurzen Fluch beendete er das Scharmützel, hinterließ verbrannte Erde und musste mit der Konsequenz leben, dass Diana neben dem Laptop und ihrer Unterwäsche auch die Kosmetika einpackte.

Diese Frau hatte einfach das Zeug, Kleinigkeiten in Grundsatzprobleme zu verwandeln. Ihr fehlte die Fähigkeit, Unbedeutendes an sich abperlen zu lassen. Alain besaß die Fähigkeit, alles an sich abperlen zu lassen. Er vermied es, über Fehler des Alltags zu diskutieren, weil sich Alltagskleinigkeiten durch Diskussionen zu schwerwiegenden Vorfällen aufplusterten, die Diana dann ihm zur Last legte, indem sie sein Fehlverhalten innerhalb seines Charakters verortete.

Alain hatte es nicht über sich gebracht, seinen inneren Trotzbengel zu besiegen und sich bei Diana zu entschuldigen. Er rechnete mit einer einwöchigen Funkstille, während der es keine verliebten Nachrichten geben würde, keine Emojis mit Herzchen und Küsschen, kein Dinner, keinen Sex.

Da der Abend öde wie die Lüneburger Heide vor ihm lag, hatte er den Fehler begangen, Velkan anzurufen. Nun musste er mit dessen Schmatzen und dicht behaarten Waden leben.

»Glaubst du tatsächlich, der Chef des BDSV hat das Attentat auf Svea Wieland in Auftrag gegeben?«, fragte Velkan mit der Finesse eines Quizmasters.

»Spinnst du?« Alain starrte ihn an. »Sechsunddreißig Stunden nach dem Anschlag kann man das unmöglich sagen.«

»Die Ministerin scheint mit ihrem Verdacht nicht so zurückhaltend zu sein.« Velkan kaute knirschend.

»So einfach ist die Politik nicht gestrickt, mein Lieber. Nur, weil die Ministerin dem BDSV ein Dorn im Auge ist, befiehlt man noch keinen Bombenanschlag auf sie.«

Ende der Leseprobe