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Wem kannst du vertrauen in einer Welt aus Lügen, in der die Wahrheit tödlich sein kann?
Isabelles Zeit als Holly läuft ab. Der Prozess gegen Vee rückt immer näher, und noch immer fehlen ihr Beweise, die ihre Schwester retten könnten. Holly ahnt, dass Max‘ Witwe Florence ein Geheimnis hütet. Und damit ist sie nicht die einzige. Während Holly immer tiefer in das Netz aus Lügen und Machtspielen der Davenports eintaucht, stößt sie auf Hinweise, die bis in die höchsten Kreise Londons reichen. Und dann ist da noch Carter. Der Mann, den sie anlügen musste. Der Mann, den sie benutzt hat. Der Mann, den sie niemals lieben wollte, aber für den sie eindeutig Gefühle entwickelt hat. Der Mann, der vielleicht doch mehr weiß über die Nacht, in der Max starb. Mit jedem Schritt wird die Schlinge um Holly enger. Die Wahrheit über Max’ Tod ist zum Greifen nah – doch was, wenn sie am Ende mehr zerstört als eine Familie?
Spice-Level: 2 von 5
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Seitenzahl: 397
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das Buch
Isabelles Zeit als Holly läuft ab. Der Prozess gegen Vee rückt immer näher, und noch immer fehlen ihr Beweise, die ihre Schwester retten könnten. Holly ahnt, dass Max’ Witwe Florence ein Geheimnis hütet. Und damit ist sie nicht die einzige. Während Holly immer tiefer in das Netz aus Lügen und Machtspielen der Davenports eintaucht, stößt sie auf Hinweise, die bis in die höchsten Kreise Londons reichen. Und dann ist da noch Carter. Der Mann, den sie anlügen musste. Der Mann, den sie benutzt hat. Der Mann, den sie niemals lieben wollte, aber für den sie eindeutig Gefühle entwickelt hat. Der Mann, der vielleicht doch mehr weiß über die Nacht, in der Max starb. Mit jedem Schritt wird die Schlinge um Holly enger. Die Wahrheit über Max’ Tod ist zum Greifen nah – doch was, wenn sie am Ende mehr zerstört als eine Familie?
Die Autorin
Josi Wismar ist SPIEGEL-Bestsellerautorin und wurde bei den TikTok Book Awards 2024 als #BookTok Autor:in des Jahres ausgezeichnet. Sie studierte Buchwissenschaft in Mainz, und fast ihr gesamtes Leben ist mit der Buchbranche verknüpft. Auf ihren Social-Media-Kanälen tauscht sie sich gerne mit ihren Leser*innen aus, schreibt in Livestreams gemeinsam mit der Community an ihrem neuesten Buch und verbringt einen gefährlich großen Teil ihrer Bildschirmzeit auf BookTok. Wenn sie nicht gerade versucht, für ihren Buch-Podcast #Ausgelesen mehr zu lesen als ihre Podcast-Partnerin Sarah, steht sie auf dem Fußballplatz oder vermisst die Berge, in die sie ganz dringend mal wieder fahren muss.
Lieferbare Titel
Words I Keep
Words You Need
Words We Share
Wandering Hearts
Wildest Dreams
Fractured Fates
Josi Wismar
Shattered
Silence
Roman
Band 2 der Fallen Grace-Dilogie
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
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Die Zitate auf dieser Seite stammen aus dem Lied »The Boys Are Back« aus dem Soundtrack von High School Musical 3: Senior Year.
Originalausgabe 12/2025
© Josi Wismar 2025
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Gaeb & Eggers.
Copyright © 2025 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)
Redaktion: Silvana Schmidt
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-33370-6V001
www.heyne.de
Liebe Leser*innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet sich hier eine Contentwarnung. Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch. Wir wünschen allen das bestmögliche Leseerlebnis.
Josi Wismar und der Heyne Verlag
Für alle, denen die Stimme genommen wurde.
Für alle, die geglaubt haben, sie seien zu schwach.
Wir sind wütend, weil ihr es nicht mehr sein könnt.
Let them burn.
1 Bloody Brilliant
*** BLOODYBRILLIANT – SHOWOPENING ***
AUFNAHMEDATUM: 15.07.2025
SENDEZEIT: 22:15
HALBTOTALE
Ein glitzerndes Studio. Scheinwerfer leuchten auf das Publikum. Applaus.
Im Hintergrund eine große, blutrote Neonröhre mit schnörkeligem Schriftzug: »Bloody Brilliant«.
TOTALE – LANGSAMERZOOMAUFDIEBÜHNE
Zwei rosafarbene Plüschsessel, dazwischen ein dunkler Holztisch mit zwei dampfenden Teetassen.
KAMERASCHWENKTAUFLINKENSESSEL
MILLY S.
(lächelnd)
Good evening, Darlings, und willkommen zurück zu *Bloody Brilliant*.
Wo der Tee kochend heiß serviert wird.
CLARA B. (OFF)
Und glaubt uns, Leute, diese Woche ist er besonders heiß.
MILLY S.
(greift nach ihrer Teetasse, rührt mit dem Löffel)
Heißer als das Sommer-Sixpack von Pedro Pascal, wenn du weißt, was ich meine.
(zwinkert in Richtung Clara)
(Publikum lacht)
KAMERARAUS, BEIDEMODERATORINNENIMBILD
CLARA B.
Apropos heißer Tee. Heute geht es zurück in die Upperclass, die gerade Däumchen drehend den Spätsommer in den Cotswolds genießt.
Na, wissen Sie schon, welcher Fall uns heute beschäftigen wird?
MILLY S.
(ans Publikum gerichtet)
Ach komm, Clara. Ganz England weiß, wovon wir sprechen.
Immerhin haben wir niemand Geringeres verloren als Maxwell Theodore Davenport.
EINBLENDUNGAUFGROSSEMBILDSCHIRMZWISCHENDENBEIDEN:
Babyfotos & Familienfotos
Schlagzeilen:
*British Bachelor*
*GQ Most Eligible Man 2024*
CLARA B.
Ein Verlust, der uns alle hart erschüttert hat.
Vor allem aber, weil dem Ganzen ein kaltblütiger Mord zugrunde liegt.
ZOOMAUFMILLY, DIEANIHREMTEENIPPT
MILLY S.
Und diesmal war es nicht der Gärtner, nein! Die Nanny!
Die beiden hatten wohl mehr zu besprechen als nur die Schlafenszeit der kleinen Geneviève.
CLARA B.
Schauen wir uns das also mal an.
(Clara greift nach ihren Moderationskarten)
SPLITSCREEN: Bild von Veronica Mae Abbot
CLARA B.
Was wissen wir?
Abbot hat als Nanny die Cotswolds betreten und sie in Handschellen wieder verlassen.
Sie wurde mit einer großen Bargeldsumme gesehen, wie sie das Claridge’s in Mayfair verlassen hat.
Danach hat Maxwell niemanden mehr zu Gesicht bekommen.
Außer vielleicht … seinen Mörder?
(Publikum – vereinzelte erschrockene Laute)
MILLY S.
Du glaubst also nicht, dass es die Nanny war?
(Clara zuckt mit den Schultern)
EINBLENDUNGEN:
Weitere Bilder von V. Abbot, Schlagzeilen aus der britischen Presse
*Nanny des kaltblütigen Mordes beschuldigt*
*Davenports erleiden erneut großen Verlust – Nanny unter Verdacht*
CLARA B.
Was ich denke, spielt gar keine große Rolle.
Die entscheidende Frage ist …
ZOOMAUFCLARA, DIEDIREKTINDIEKAMERASCHAUT
CLARA B.
Was glauben Sie?
2 Holly
»Ich … Ich kann das erklären!« Ich starrte Carter an, der immer noch die golden schimmernde Türklinke fest umschlossen hielt. Wie angewurzelt stand er da, standen wir da, trauten uns nicht, uns zu bewegen, weil wir wussten, dass jede weitere Sekunde, jedes weitere Wort alles nur noch schlimmer machen würde.
»Das will ich hoffen, Holly.« Das raue Flüstern klang fremd. Carter rang sichtlich mit sich und war vermutlich genauso verwundert wie ich, dass er nicht schrie. Vielleicht schrie er innerlich. In mir jedenfalls schrie alles.
Renn, Holly.
Die Worte wiederholten sich wieder und wieder in meinem Kopf. Renn. In einer Folge Die drei ??? würdest du jetzt wegrennen, über eine Mauer springen, obwohl du noch nie Ausdauersport gemacht hast, und dann entkommen.
Aber das hier war keine Geschichte von klugen Teenager-Detektiven. Es war die Geschichte einer naiven jungen Frau, die geglaubt hatte, sie könne auf eigene Faust ihre Schwester retten. Sich gegen eine reiche Anwaltsfamilie behaupten. Gegen das englische Rechtssystem. Gegen den Rest der Welt.
»Ich …«
»Versuch es erst gar nicht.« Carters scharfe Stimme schnitt wie ein Messer durch meine Worte. Das Messer, das ich ihm mit meinem Verrat mitten ins Herz gerammt hatte. »Versuch erst gar nicht, mich anzulügen.« Er schnaubte bitter. »Auch wenn ich mich gerade frage, ob du je etwas anderes getan hast.« Etwas in mir brach. Ich wollte ihn nicht anlügen, nicht schon wieder. Dafür hatte ich zu viele versteckte Schlüssel, Schubladen und Medikamente gefunden. Ich schielte zum Schreibtisch, der so normal dastand, als hätte ich eben nicht das größte Geheimnis aus der verschlossenen Schublade gezogen. Die wenigen Dinge, die darin schlummerten, veränderten einfach alles. Wusste Carter von diesem Kasten? Wusste er, was Max unter dieser Tischplatte aus lasiertem Mahagoni versteckte?
Ich musste reden. Die Wahrheit würde so oder so ans Licht kommen. Carter musste verstehen, dass mir keine andere Wahl geblieben war. Dass ich es hatte tun müssen, für Vee und für mich. Und vielleicht auch ein kleines bisschen für ihn.
»Ich glaube nicht, dass Vee deinen Bruder umgebracht hat.« Carters Gesicht fror ein und mit ihm mein Herzschlag. Die Zeit blieb stehen – jedes Staubkorn stockte in der Luft, der dünne Zeiger der Wanduhr tickte nicht mehr, und ich hielt die Luft an. Wenn ich einfach nicht weiteratmete, wenn die Zeit für immer stehen blieb, würde ich nicht wissen, was Carter antwortete. Dann würden wir einfach für immer weiter in diesem Moment existieren. Ich könnte für immer daran denken, wie es sich angefühlt hatte, ihn zu küssen. Wie es sich angefühlt hatte, zu wissen, dass er mich mochte.
Aber irgendwann atmete ich aus, die Staubkörner bewegten sich wieder, und das unangenehme Ticken saß laut in meinem Hinterkopf, weil meine Zeit ablief.
»Du hast … Du nennst sie Vee.« Carter ließ die Türklinke los, trat in das Büro, und im dämmrigen Licht des Flurs erkannte ich die verschwommenen Umrisse seines verwunderten Gesichts. »Du kennst sie.« Ich wich einen Schritt zurück und keuchte leise, als ich mit dem Rücken gegen den Aktenschrank stieß. Carters Augen verschwammen mit der Schwärze des Büros, sein Blick war dunkel und lag gefährlich auf mir. Mein Mund öffnete sich, aber die Lüge kam mir nicht über die Lippen. Er würde mir nicht glauben, ganz gleich, was ich sagte. Aber ich brachte es auch einfach nicht fertig, ihn länger anzulügen. All meine Kraft war aufgebraucht, all die schlaflosen Nächte, in denen ich wachgelegen hatte, versucht hatte, Vee auf nervtötend naive Weise zu retten, holten mich plötzlich ein. Meine Lider wogen schwer, meine Schultern konnten der Last kaum standhalten, aber ich räusperte mich, bevor ich Carter eindringlich ansah.
»Sie ist meine Schwester.« Ich flüsterte die Wahrheit, und doch war es befreiend, sie endlich auszusprechen. Carter verlagerte sein Gewicht und lehnte sich leicht gegen den Türrahmen. »Gib mir eine Chance, es dir zu erklären.« Es kostete mich alle Kraft, nicht auf ihn zuzugehen, meine Hand nicht auszustrecken, auch wenn er sie sowieso nicht ergreifen würde. Er würde meine Hand nicht mehr nehmen, mich nicht mehr halten und erst recht nie wieder küssen. Die Sekunden waren unerträglich lang, und dann – endlich – nickte er sacht.
»Vee ist meine Adoptivschwester. Wir sind zusammen aufgewachsen, und eigentlich lebe ich gemeinsam mit ihr in London.« Ich schluckte schwer, vorbei an all den Worten, die ihren Weg nach draußen erst noch finden mussten.
»Deshalb ist deine Mitbewohnerin also gerade nicht da.« Carter verkrampfte seine Hand zur Faust, bis die Knöchel weiß hervortraten. Ich presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Ich musste ihm nicht erst sagen, dass er recht hatte.
»Ich war mir so sicher, dass sie das nicht getan hat. Also musste ich es einfach versuchen. Und dann …«
»Bist du mir rein zufällig über den Weg gelaufen und konntest dein Glück sicher kaum fassen.« Carter schnaubte und fuhr sich mit der flachen Hand übers Gesicht.
»Carter, ich …«
»Nicht«, unterbrach er mich, noch bevor ich einen Schritt auf ihn zu machen konnte. Fünf Buchstaben reichten aus. Fünf kleine Buchstaben, die mir zeigten, dass sich innerhalb weniger Minuten einfach alles verändert hatte.
»Es war nicht mein Plan, dich so zu hintergehen, Carter. Das musst du mir glauben!« Mein Flehen klang so lächerlich, dass ich Carter das Kopfschütteln nicht übelnehmen konnte. Er schloss die Tür hinter sich, hüllte das Büro in völlige Dunkelheit und erstickte damit den letzten Funken Hoffnung. Das Mondlicht, das durch die breiten Fenster fiel, ließ Carters Haut unwirklich silbern schimmern, und ich wünschte mir nichts mehr, als dass er mich nicht mehr so unnachgiebig hart ansehen würde.
»Du kommst jetzt besser auf den Punkt. Ich ertrage es nämlich nicht mehr, dich so anzusehen, wenn ich weiß, dass jedes Wort aus deinem Mund eine Lüge ist.« Carter drehte sich zu mir, sodass sein Gesicht fast vollständig im Schatten verschwand. »Also rede, Holly. Wenn nicht selbst das eine Lüge ist.«
»Mein Name ist Isabelle, aber Hollice ist mein Zweitname.« Wenn ich schon wollte, dass er mir glaubte, dass er mir noch eine Chance gab, fing ich wohl besser mit einer schmerzhaften Wahrheit an. »Ich glaube, dass Vee zu Unrecht im Gefängnis sitzt.«
»Das sagtest du bereits.« Die Kühle seiner Worte schaffte noch mehr Distanz, als in diesem Raum überhaupt möglich sein sollte.
»Klar, sie hat einige Dinge falsch gemacht, das will ich gar nicht abstreiten, aber sie hätte Max niemals etwas antun können. Sie hat ihn geliebt.« Carters Blick wurde weicher. Er hatte die beiden nicht oft gesehen, aber er hatte mir erzählt, dass er wusste, wie sehr die beiden sich liebten. »Du hast selbst gesagt, dass du nicht glaubst, dass Vee es war.« Ich erinnerte mich an den Moment in Carters Zimmer vor nicht mal einem Monat, als mein Herz ausgesetzt hatte, weil er Vee angesprochen hatte und ich einen kurzen Moment überzeugt gewesen war, ich wäre aufgeflogen. Und jetzt standen wir in Max’ Büro, und all das war wirklich passiert. All das war passiert, und es waren nur noch sieben Wochen bis zum Prozess.
»Wenn du glaubst, dass Vee unschuldig ist, ist es dann nicht ziemlich unüberlegt, es ausgerechnet mir zu sagen? Was, wenn ich der Mörder bin?«
»Carter, ich bitte dich …« Sicher, ich hatte ihn in Betracht gezogen. Wenn wir ehrlich waren, konnte ich niemanden in diesem Haus sicher von der Liste streichen. Aber ehrlich mit ihm zu sein, war mein einziger Ausweg. Wenn ich nicht wollte, dass er die Polizei rief, oder – schlimmer noch – Harrison weckte. Carter wandte den Blick von mir ab, ließ ihn durch den Raum gleiten, als wäre er verzweifelt auf der Suche nach etwas, das ihm Halt geben konnte. Jetzt, da ich das nicht mehr tun konnte.
»Vincent hat Max gedroht. Ich glaube, er hat ihn erpresst.« Vor meinem inneren Auge erschien der Zettel, den ich in Max’ Notizbüchern gefunden hatte. Der Zettel, von dem ich niemals jemandem erzählt hätte, wenn ich nicht herausgefunden hätte, dass das »V.« nicht für Vee sondern für Vincent stand.
»Was?« Carters Flüstern klang bedrohlich. »Was hast du da gerade gesagt?« Carter verengte die Augen, die Umrisse wirkten trotz der Dunkelheit plötzlich stechend scharf.
»Vincent. Ich …« Ich stockte, zwang mein Gehirn ein letztes Mal, meine Möglichkeiten abzuwägen. Aber noch bevor ich ein zweites Mal ausgeatmet hatte, wusste ich, dass ich ihm alles erzählen würde. Na ja, … fast.
»Vincent hat Max gedroht, ich habe seine Handschrift erkannt, und es gibt irgendwas, das nicht an die Öffentlichkeit gelangen soll.« Ich löste mich vom Aktenschrank, der unangenehm in meinen Rücken stach, und ging einen Schritt auf den Schreibtisch zu. Der Schreibtisch, der das wichtigste Geheimnis so lange vor mir verborgen gehalten hatte. »Es gibt so viele offene Fragen, Carter. Max war einmal im Monat in New York, die Daten sind in seinem Kalender vermerkt, aber niemand kann mir sagen, was er dort gemacht hat. Es gibt ein Konto auf seinen Namen, von dem jeden Monat Unsummen überwiesen werden, an einen Anwalt, der sich urplötzlich zur Ruhe gesetzt hat. Und dann wäre da noch das Klapphandy, das er vor allen versteckt gehalten hat und auf dem unzählige Chats gelöscht waren. Er hatte etwas zu verbergen, da bin ich mir sicher!« Mit jedem meiner Worte veränderte sich Carters Gesicht ein bisschen mehr. Von Unglauben über Gewissheit zu bitterer Enttäuschung. Dabei hatte ich ihm von Max’ Unfruchtbarkeit noch gar nichts erzählt. Wobei er das vielleicht wusste. Vermutlich sogar. Wusste er womöglich sogar alles, was ich ihm gerade offenbart hatte? Fuck. Mein Herz raste.
»Du warst das mit dem Handy, das plötzlich bei der Polizei abgegeben wurde.« Carter starrte mich an, und ich zwang mich zu einem Nicken. Es brachte nichts, irgendetwas abzustreiten. Ehrlichkeit war meine einzige Waffe. Das, und die Gewissheit, dass Theo nicht von Max sein konnte. Die Gewissheit, dass Florence plötzlich ganz oben auf meiner Liste der Verdächtigen stand.
»Hör zu.« Wow, Holly. Carter tut seit zwanzig Minuten nichts anderes. Isabelle, verbesserte ich mich selbst in Gedanken. Ich hieß Isabelle, und das wusste Carter jetzt. »Ich weiß, du hast keinen Grund, mir zu vertrauen.«
»Nicht einen.« Dieser Einschub von ihm tat weh, auch wenn ich ihn verdient hatte.
»Aber hier ist etwas los, hier liegen Geheimnisse, von denen irgendjemand will, dass sie nicht an die Oberfläche kommen. Ich bin mir sicher, dass Vee nichts damit zu tun hat, das weiß ich einfach.« Ich musste mich bremsen, drosselte die Lautstärke, weil es schon genug war, dass Carter mit mir in diesem Büro stand. Ich brauchte keinen anderen Davenport, der wusste, was ich hier tat.
»Was genau verlangst du von mir?«
»Ich verlange nichts, Carter. Dafür bin ich nicht in der Position.« Carters Augen weiteten sich bei meinen Worten, er konnte die Überraschung nicht verstecken.
»Was dann?«
»Ich bitte dich, Carter.« Ich sah ihn an, dachte an all die Momente zwischen den schlaflosen Nächten, die ich mit ihm verbracht hatte. »Ich flehe dich an, Carter, gib mir noch eine Chance. Ich muss herausfinden, wer Vee in die Sache mit reinzieht.« Meine Augen brannten heiß, und ich spürte, dass ich den Wellen der Emotionen kaum länger standhalten konnte. »Wenn ich es nicht länger hier tun kann, werde ich andere Wege finden. Ich muss, Carter.« Eine Träne löste sich aus meinem Augenwinkel, meine Sicht verschwamm, genau wie jede Grenze zwischen Gut und Böse. Zwischen richtig und falsch. »Sie ist meine Schwester.« Meine Worte gingen in einem Schluchzen unter. Die Wahrheit auszusprechen, nach den Wochen voller Lügen, war so schmerzhaft, so befreiend und so verdammt angsteinflößend. »Ich muss, Carter«, schob ich hinterher, konnte nicht mehr aufhören, ihm die Wahrheit zu sagen, jetzt, wo ich endlich damit angefangen hatte. »Sie würde das Gleiche für mich tun.« Die Tränen rannen mir übers Gesicht, während das Schluchzen meinen ganzen Körper erzittern ließ. Meine Knie gaben nach, ich sank in die Hocke und versuchte mich an der Schreibtischkante festzuhalten. Ich klammerte mich verzweifelt an das polierte Mahagoni, während einfach alles zusammenbrach. Während ich zusammenbrach. »Wenn ich versage, wenn ich es nicht schaffe, sitzt meine Schwester für immer im Gefängnis.« Mein Kopf sank schwer auf meine Brust, ich kniff die Augen zusammen und versuchte, die Gedanken zu vertreiben. Aber es war zu spät. Ich hatte die Tür geöffnet, der Wahrheit einen winzigen Spalt gelassen, aber all die Ängste, die ich mit ihr zusammen eingesperrt hatte, traten die Tür auf, brachen über mich herein und ließen mich nicht mehr los.
»Sie darf nicht im Gefängnis sitzen, sie ist doch meine Schwester.« Meine Finger lösten sich vom Holz, glitten an der Seite entlang, zu schwach, um den Anker zu greifen. Ich trieb ziellos auf dem Ozean meiner Gefühle, wurde von meterhohen Wellen überrollt und minutenlang unter Wasser gedrückt.
»Ich brauche sie doch.« Ich wusste nicht, ob ich die Worte nur dachte oder in die stille Dunkelheit flüsterte. Meine Ohren rauschten, meine Lunge war mit schwerem Wasser gefüllt, während mein Körper nach Sauerstoff verlangte. Ich wollte atmen, wollte auftauchen und Luft holen, aber die Gewissheit, dass ich versagen würde, drückte mich immer weiter in Richtung Grund. Ich schlug auf dem Boden auf, war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, und konnte einfach nicht atmen. Mein Brustkorb war wie zugeschnürt, die Schuld, die mich zerfraß, verbot mir, Luft zu holen. Ich hatte es nicht verdient. Ich hatte das alles nicht verdient. Und doch kauerte ich auf dem Boden von Max’ Büro, spürte, wie ausweglos diese Panikattacke mich im Griff hatte, und ließ es geschehen. Ich ließ es einfach über mich ergehen. Vielleicht würde es irgendwann wieder vorbei sein. Vielleicht würde ich dann endlich wieder Luft holen können. Vielleicht würde ich aber auch für immer auf den Grund sinken. Beschwert mit Steinen, einen für jede Lüge, die ich den Menschen um mich herum erzählt hatte. Vergessen gehen in der Dunkelheit, die mich zu sich zog und dort behalten würde, wo ich hingehörte. In Dunkelheit. In Vergessenheit.
Einfach nur liegen bleiben.
Es einfach nur ertragen.
Einfach nur …
»Holly.« Ich zuckte zusammen. Carters Stimme war weit weg. Er stand irgendwo auf einer entfernten Insel und rief meinen Namen, während die Strömung mich von ihm wegzog.
»Holly, sieh mich an.« Seine Hände packten mich an den Schultern. Wie war er so schnell von der Insel aufs offene Meer geschwommen?
»Holly.« Immer und immer wieder dieser Name. Wer war Holly?
»Versuch zu atmen, Holly. Ich bin hier.« Seine Hände lagen immer noch fest auf meinen Schultern, hielten mich, während die Wellen von allen Seiten peitschten, aber es wurde einfacher, gegen sie anzukämpfen.
»Carter.« Sein Name kam kratzig aus meiner Kehle. Ich hatte zu viel Wasser geschluckt.
»Ich bin hier.« Er zog mich an sich, drückte mich fest gegen seine Brust und schlang die Arme um mich. Mein Rettungsring, den ich so dringend gebraucht hatte. Er hielt mich fest, saß mit mir in den Armen auf dem Boden des Büros und wartete ab. Wir warteten, bis mein Herz sich beruhigte und ich gleichmäßiger atmete. Wir warteten, bis aus tosenden Fluten leise Ebbe wurde. Wir warteten, bis die ersten Sonnenstrahlen sich über den Horizont kämpften und meine brennenden Lider immer schwerer wurden, bis sie fast zufielen.
»Danke«, flüsterte ich irgendwann, traute mich, auch wenn ich wusste, was jetzt folgen würde.
»Schon gut.« Carter strich mir sanft über den Rücken und sah mich an. In seinem Blick die vertraute Angst, die stumme Frage. Geht es wieder? Ich nickte und versuchte, die getrockneten Tränen aus meinem Gesicht zu wischen, aber das Salz hatte sich in meine Haut gefressen. Ich brauchte dringend eine Dusche.
»Ich …« Ich raffte mich auf, strich meine dünne Stoffhose glatt, auch wenn keine einzige Falte zu sehen war. »Ich gehe meine Sachen packen. Ich wäre dir wirklich sehr dankbar, wenn du die anderen nicht weckst und … keine Ahnung. In meiner Wunschvorstellung sagst du ihnen nichts, und ich verschwinde einfach.« Ich schnaubte und zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Es tut mir leid, Carter«, schob ich hinterher. Das Sonnenlicht tauchte das Büro in ein hoffnungsvolles Gelb-Orange. Das Universum machte sich über mich lustig. Was wollte ich jetzt noch mit Hoffnung? Ich sah Carter noch einen Moment an, nahm mir diese kurzen Sekunden der Erinnerung.
Was wäre aus uns geworden, wenn mein Leben anders verlaufen wäre? Wenn ich ihm zufällig über den Weg gelaufen wäre, nicht weil ich meine Schwester aus dem Gefängnis holen wollte? Hätte ich mir erlaubt, mich in ihn zu verlieben? Ich spürte das vertraute Brennen in meinen Augen und beschloss, dass ich für heute genug geweint hatte. Potenzielle Szenarien, die nie passieren konnten, weil das hier nun mal mein Leben war, würden mich nicht aus der Bahn werfen. Nicht noch mal.
Ich wandte meinen Blick ab, zwang mich, meine Gedanken auf das zu lenken, was vor mir lag. Verschwinden. So schnell es ging. Mein Blick glitt zu den Papieren aus der Schublade, die zwischen unwichtigen Quittungen und Kalenderseiten kaum auffielen. Was machte es jetzt schon, sie einfach liegen zu lassen?
»Leb wohl, Carter.« Wie komisch es sich anfühlte, Lebewohl zu sagen. Kein auf Wiedersehen, nur die Gewissheit, dass das das Ende war. Ich sah Carter an, ließ meine Fingerspitzen über das glatte Holz tanzen, nur um sie dann zur Faust zu ballen. Ich spürte Carters Blick auf meinen Händen brennen, aber ich musste es dennoch versuchen. Ich hob den Kopf, zwang Carter, mich anzusehen, und legte in diesen Blick die flehende Entschuldigung, die ihm zustand. Für alles, was ich ihm angetan hatte. Und dafür, dass ich ihn wieder betrog, während ich im Bruchteil einer Sekunde das Rezept und das Medikament in meiner Hand und dann in meiner Hosentasche verschwinden ließ. Carter die Wahrheit zu sagen, war wichtig.
Vee zu retten, war wichtiger.
»Warte …« Fast in Zeitlupe drehte ich mich um. Bildete ich mir das ein, weil ich mir RomCom-Carter wünschte, der mir hinterherrannte und mir sagte, dass er mich liebte? Dass wir das alles schon schaffen würden und er ab jetzt mit mir Undercover-Detektiv spielte?
»Ja?« Meine Stimme war zwei Oktaven höher als sonst und immer noch kratzig.
»Geh erst mal schlafen.« Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen. »Zumindest ein paar Stunden, ich entschuldige dich beim Frühstück.« RomCom-Carter war echt. Und er bot mir gerade an, mich nicht zu verraten. Zumindest … nicht direkt?
»Aber …«
»Wir sollten jetzt keine Entscheidungen treffen. Nicht … so.« Ich nickte ungläubig. Er hatte recht. Natürlich hatte er das. Aber ich hatte nicht erwartet, dass einer von uns noch in der Lage dazu war.
»O Gott, danke! Danke, Carter.« Erleichterung durchströmte mich, und beinahe hätten meine Knie erneut nachgegeben. »Carter, ich …«
»Ich vertraue dir nicht.« RomCom-Carter hatte mir einen schmerzhaften Stich versetzt. Ich griff verzweifelt nach der Türklinke. Vor wenigen Stunden hatte er hier gestanden, hatte mich erwischt, und jetzt stand ich hier, hoffnungslos verloren, ihm ausgeliefert, und doch gab er mich nicht ganz auf. Das sanfte Schimmern in seinen Augen gab mir Hoffnung, auch wenn es vielleicht nur die Reflexion der aufgehenden Sonne war.
»Das ist okay.« Es fühlte sich nicht okay an.
»Ich vertraue dir nicht«, wiederholte er sich, aber ich bildete mir ein, dass es diesmal sanfter klang. »Ich verzeihe dir nicht.« Carter fuhr mit den schmalen Fingern die Kanten seines Kinns nach. »Aber ich verstehe, warum du glaubst, es sei das Richtige gewesen.« Seine Worte waren so distanziert, so bedacht gewählt und kühl, aber es war der verzweifelte Versuch einer Annäherung.
»Danke.« Was sollte ich sonst sagen? Ich verstand es. Ich verstand, dass er mir nicht mehr vertraute, es vielleicht nie mehr würde. Aber er verstand auch mich. Zumindest versuchte er es.
»Gute Nacht, Holly.« Er schickte mich weg, ließ sich in den Schreibtischstuhl seines toten Bruders sinken und starrte ins Leere. Carter war erschöpft. Die dunklen Augenringe waren Zeugen der schlaflosen Nacht, das zerzauste Haar der Beweis dafür, wie lange wir zusammen auf dem Boden gekauert hatten.
»Gute Nacht, Carter.« Ich schloss die Tür hinter mir, ließ ihn zurück in diesem Raum voller drückender Erinnerungen und schmerzhafter Wahrheiten. Wobei eine davon nicht länger im Büro war, sondern in meiner Hosentasche. Meine Beine waren bleischwer, während ich einen Schritt nach dem anderen meinem Zimmer näher kam. Ich legte mich schlafen, während alle anderen aufwachten. Versuchte die Albträume fernzuhalten, ruhigen Schlaf zu finden, auch wenn daran kaum zu denken war.
Zu sehr kreisten meine Gedanken um die letzten Stunden. Wie hatte das alles passieren können? Mit wem hatte Florence eine Affäre? Wer war Theos Vater?
Aber bei all den Gedanken um Max’ und Florence’ Geheimnisse ließ mich vor allem ein Gedanke nicht los: Was würde Carter nun tun?
3 Vee – 28.02.25
»Du gottverdammtes Arschloch!« Ich wollte schreien, würde es aber nicht wagen, Gene zu wecken, nachdem sie endlich eingeschlafen war.
»Okay, das habe ich verdient.« Max kratzte sich am Hinterkopf und sah mich abwartend an.
»Du hast viel Schlimmeres verdient.« Er konnte froh sein, dass der breite Küchentresen der Angestelltenküche uns trennte, sonst hätte ich mich längst auf ihn gestürzt. Ein paar hundert Kilo teurer Marmor hielten mich davon ab, ein Verbrechen zu begehen.
»Vee, ich …«
»Komm mir nicht mit Vee.« Er hatte das Recht verspielt, meinen Spitznamen zu raunen. »Fick dich, Max.«
»Ich verstehe ja, dass du sauer bist.«
»Sauer?« Jetzt schrie ich doch. Ich riss die Augen auf, zwang mich durchzuatmen und senkte meine Stimme. »Willst du mich eigentlich verarschen? Ich wäre sauer, wenn du mich versetzt hättest.« Ich schüttelte energisch den Kopf. »Ich wäre sauer, wenn du mir ein schlechtes Empfehlungsschreiben ausstellen würdest oder Gott weiß was …«
Ich fuchtelte wild in der Luft herum, wusste nicht, wohin mit all der Wut, die kam, als die Trauer endlich abgeebbt war.
»Ich bin fucking enttäuscht. Du hast mich verletzt, Max. Mich verraten.« Ich spuckte ihm meine Gefühle vor die Füße, über den Tresen hinweg, an dessen kalten Marmor ich mich so verzweifelt klammerte.
»Vee, ich …« Ich setzte an, ihn erneut zu unterbrechen, aber er hob beschwichtigend die Hände. »Veronica, bitte.« Sein Flüstern war mit Verzweiflung unterlegt. Klar, seine Lügen waren aufgeflogen. Tragisch. Ich schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust, gab ihm damit aber wortlos die Erlaubnis, weiterzusprechen. Einen Satz. Oder zwei. Das würde ich mir noch überlegen, auch wenn er nicht ein Wort verdient hatte.
»Es war ein Unfall.«
»Das ist die einzige beschissene Ausrede, die dir einfällt?« Ich ließ die Hände schwungvoll sinken, und sie klatschten laut, als sie auf meine Oberschenkel trafen. »Du hättest so viele Möglichkeiten gehabt. Und jetzt erzählst du mir, du bist gestolpert und hast dabei aus Versehen deine Frau geschwängert?« Dass ihm das nicht peinlich war. Max versenkte sein Gesicht in beiden Handflächen. Er rang sichtlich um Fassung. Gut so. Ich musste mich wirklich beherrschen, nicht weiter verbal auf ihn loszugehen. Aber irgendwo in meinem Kopf flüsterte eine Stimme, dass ich dann nie die Wahrheit erfahren würde. Zumindest seine verquere Version davon.
»Das war so alles nicht geplant.«
»Ach nein? Wie dann?« Ich verlagerte mein Gewicht auf die andere Seite und zog herausfordernd eine Augenbraue hoch. »Wolltest du mich vorher absägen, mich feuern und deine Frau dann erst schwängern? Hast du den Zeitplan aus den Augen verloren? War dein Timing ein bisschen undurchdacht? Was ist schiefgelaufen?«
»Du warst nicht geplant.« Max sah mich eindringlich an. »Ich hatte nicht geplant, mich in dich zu verlieben.«
Seine Worte rissen mir den Boden unter den Füßen weg. Er hatte sich in mich verliebt. Das sagte er nicht zum ersten Mal. Er sagte es, nachdem er mich betrogen, verletzt und sitzen gelassen hatte. Und doch glaubte ich ihm. Mein verfluchtes Herz glaubte ihm, während mein Gehirn diese Gefühle abstellen wollte.
»So ein Pech aber auch.« Meine Stimme zitterte, ich hielt die Tränen zurück, weil Max es nicht wert war. Kein Mann, der meine Gefühle so verletzte, hatte meine Tränen verdient.
»Ich wollte dich nicht verletzen, das musst du mir glauben, Vee.« Da war er wieder. Mein Spitzname. Die Melodie, die diese drei Buchstaben aus seinem Mund ergaben und direkt in mein Herz flossen, das immer noch ihm gehörte.
»So wie ich dir geglaubt habe, dass du nicht mehr mit deiner Frau schläfst?«
»Ich wusste nichts von der Pressekonferenz.« Max kam um den Tresen herum, blieb nach zwei Schritten aber wieder stehen. Mein kühler Ausdruck hielt ihn auf Distanz.
»Wusstest du von der Schwangerschaft?« Es war mir scheißegal, ob irgendein PR-Berater das Interview ohne Max’ Wissen zugesagt hatte. Es interessierte mich nicht, dass sein öffentlicher Kalender mit dem seiner Affäre kollidierte. »Wag es ja nicht, zu schweigen. Ich werde die Wahrheit nicht aus deiner feigen Wortkargheit ziehen.«
»Ja.« Ich hatte es so gewollt. Ich hatte ihn aufgefordert, mir das Messer mitten ins Herz zu rammen. Ich brauchte das, um von ihm loszukommen.
»Dann wäre das ja geklärt.« Ich nickte abweisend und drehte mich um. Ich drehte mich um, wollte gehen und nie wieder zurückblicken. Wie ich das anstellen würde, während er immer noch mein Chef war, würde ich zu einem anderen Zeitpunkt klären.
»Vee.« Er packte mich am Handgelenk, drehte mich zu sich herum, aber ich entriss ihm meinen Arm, funkelte ihn böse an.
»Fass mich nicht an.« Max wich erschrocken zurück. Er kannte diese Seite an mir nicht. Ich kannte sie selbst kaum. Er brachte das Schlechteste in mir zum Vorschein.
»Du willst mir wirklich erzählen, es gäbe da noch etwas zu erklären?« Ich hielt mein eigenes Handgelenk, legte meine Finger dorthin, wo eben noch seine gelegen hatten. »Deine Ehefrau schläft zwei Stockwerke über uns. Deine sehr aktuelle und sehr schwangere Ehefrau, die du sicher nicht einfach sitzen lässt. Zwei Zimmer weiter schläft deine Tochter. Die, die deine Ehefrau und du gerade erst adoptiert habt. Wo genau passe ich da rein? Wie konntest du vergessen, mir zu sagen, dass ihr noch ein Kind plant, es weiter versucht und sie deine Familie sind?« Diese Tatsache brach mich am meisten, aber meine Schwäche ging Max nichts an. Ich war naiv, ich hatte Fehler gemacht. Ich hatte Florence auch betrogen – zumindest ein bisschen. Ich hatte Gene jeden Abend in den Schlaf gesungen, ihrer Mutter eine gute Nacht gewünscht, wenn sie wieder mal mit Migräne früh in ihrem Zimmer verschwunden war und dann stundenlang ihren Vater, ihren Ehemann gevögelt. Vielleicht hatte ich gar kein Recht, so zu fühlen. Ich bekam nur endlich das, was ich verdiente.
»Ich wollte sie verlassen.«
»Diese Lüge hast du mir schon einmal erzählt.«
»Mein Gott, Vee. Lass es mich doch endlich erklären, hör mir verdammt noch mal zu!« Max so verzweifelt zu sehen, gab mir Genugtuung.
»Du kannst schon reden, ob ich dir zuhöre, entscheide ich dann immer noch selbst.« Er konnte froh sein, dass mein Handabdruck noch nicht auf seiner Wange leuchtete.
»Florence wollte es weiter versuchen. Wir haben es versucht, weil sie an dem Glauben an unsere Familie festgehalten hat, und ich …«
»Du auch?« Ich wollte schreien, wollte wütend sein, wollte meine Gefühle nicht im Zaum halten. Aber die plötzliche Leere, die mich erfüllte, war unerträglich. Alles in mir war taub, bis in die Fingerspitzen war jedes Gefühl verschwunden.
»Ich dachte doch nicht, dass es wirklich klappt. Florence kann keine Kinder bekommen, das hat der Arzt ihr schon vor Jahren gesagt, deshalb doch Gene.« Ich erinnerte mich an unser erstes Gespräch in dieser Küche, an unseren ersten Streit. Wie ich ihm vorgeworfen hatte, dass es unfair war, Gene als Pflaster für eine kaputte Ehe zu adoptieren und ihr das hier – diese Familie – anzutun.
»Das macht es noch schlimmer, Max.« Ich wollte das Gute in ihm sehen, wollte ihm glauben, dass er dieses Kind in Florence’ Bauch nicht für möglich gehalten hatte, aber ich empfand gar nichts. Keine Hoffnung, keine Abscheu, nur … Leere. »Du hast es nicht für möglich gehalten, aber es ist passiert. Du bekommst ein Kind. Mit der Frau, die du verlassen wolltest. Mit der Frau, die du betrogen hast. Glückwunsch.« Auch ich fühlte mich betrogen, aber ich hatte kein Anrecht auf diese Gefühle.
»Ich wollte sie verlassen, Vee. Das musst du mir glauben.«
»Ach, stimmt. Und dann bist du ausgerutscht und hast aus Versehen deinen Schwanz in ihr versenkt. Mehrfach.« Florence hatte es weiter versuchen wollen, und Max hatte mitgemacht. Max hatte mit Florence geschlafen, während er mich hatte überreden wollen, ohne Kondom mit ihm zu schlafen. Ich ekelte mich vor mir selbst.
»Nein, ich … Ich habe nicht …«
»Du hast nicht was, Max? Mit ihr geschlafen? In Florence’ Bauch ist ein Wunder geschehen, und in ein paar Jahren erzählen wir die Geschichte ihrer nicht ganz so jungfräulichen Empfängnis?«
»Nein, das verstehst du falsch.«
»Ohhh, ach so. Verstehe.« Ich nickte und lächelte süffisant. »Auch sie hat dich betrogen, und du warst genauso schockiert und verletzt wie ich, als du erfahren hast, dass sie schwanger ist?« Max’ Augen weiteten sich. Dass ihm diese fade Ausrede nicht als Erstes eingefallen war, war fast peinlich.
»Gott, Vee. Nein! So einfach ist das nicht.« Er kam auf mich zu, streckte seine Arme aus, aber diesmal war ich schneller. Das laute Klatschen hallte durch die gesamte Küche, und ich wäre fast stolz gewesen, wenn ich damit Florence geweckt hätte. Max hielt sich die Wange, sah mich mit schmerzverzerrtem Gesichtsausdruck an, und ich konnte nicht länger gegen das Grinsen ankämpfen.
»Nein, Max. Ich glaube, es ist ganz einfach.« Die Genugtuung hielt nur kurz. Wurde abgelöst von der Trauer, die seit Stunden tief in mir festsaß, gemischt mit Wut und Schuld.
»Du bist ein Arschloch, Max.« Er hing immer noch gekrümmt vor mir, und ich sah auf ihn herab. »Du hast zwei Frauen betrogen, sie schamlos angelogen und musst jetzt das erste Mal in deinem Leben mit den Konsequenzen deiner Handlungen leben.« Ich ging, ließ ihn einfach stehen. Sollte er doch in der Hölle schmoren.
Er hatte mich verletzt.
Er hatte Florence verletzt.
Er hatte uns beide verraten.
Und ich war schuld daran. Ich hatte es zugelassen.
Das würde mir nie wieder passieren.
Und Max würde das keiner Frau je wieder antun – dafür würde ich sorgen.
4 Florence
Je mehr Zeit verging, desto weniger Gedecke und Kränze lagen an Max’ Grab. Die verwelkten Sträuße wurden vom Friedhofsgärtner entfernt, und nur wenige machten sich die Mühe, weiterhin Blumen zu bringen. Ich wollte meine Trauer nicht länger bekunden, nicht wenn Max mich hier allein zurückgelassen hatte, aber ich würde mir meinen Status als trauernde Witwe nicht nehmen lassen. Wenn sie über mich und meine tragischen Tränen schrieben, kam es ihnen wenigstens nicht in den Sinn, andere Geschichten auszugraben. Geheimnisse blieben mit Max unter der Erde.
»Es ist schon komisch. Im einen Moment bespricht man die Übernahme der Kanzlei, im nächsten steht man vor einem teuren Stein und muss dem eigenen Gehirn das Konzept des Todes näherbringen.« Harrison hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt, stand kerzengerade vor dem Grab seines Sohnes und zeigte der Welt, dass nichts diesen Fels erschüttern konnte. Seine Trauer hatte er im Anwesen gelassen. Eingesperrt hinter der dicken Holztür zu seinem Büro, die er, so gut es ging, verschlossen hielt. Seine geröteten Augen verrieten ihn trotzdem jedes Mal, obwohl er sich stets bemühte, das Gesicht hinter der morgendlichen Zeitung zu verstecken.
»Es ist bald vorbei.« Ich legte ihm eine flache Hand auf den Rücken und spürte, wie er unter meiner plötzlichen Berührung zusammenzuckte.
»Ich habe das dumpfe Gefühl, es hat gerade erst angefangen.« Stille Resignation schwang in seiner tiefen Stimme mit, während er auf den polierten Grabstein blickte, vor dem wieder einmal Blumen von Linnea lagen. Mein Blick glitt über den bunten Strauß, in dem ich Vergissmeinnicht erkannte. Es war seltsam, auf farbenfrohe Blüten zu schauen, während mein Leben sich wie eine Aneinanderreihung von Graunuancen anfühlte. Der Wind ließ die gelben und orangefarbenen Blüten tanzen, trug ihren zarten Duft an meine Nase, und ich fragte mich, was diese Lilien und Nelken wohl bedeuteten. Waren es überhaupt Nelken? Blumen zu unterscheiden, war schon immer Linneas Sache gewesen. Alles, was ich konnte, war auf einem Feld voller Blumen Azaleen zu finden. Weil Azaleen mich an zu Hause erinnerten. Ich fühlte mich schuldig, dass ich das Grab nie mit Linnea zusammen besuchte. Aber während ich für Max mittlerweile mehr Hass als Trauer empfand, wollte ich sie nicht daran hindern, ehrlich um ihren großen Bruder zu trauern.
»Die Verhandlung startet in fünfzig Tagen, Veronica wird verurteilt, und dann können wir endlich unsere Ruhe finden.« Ich zählte die Tage, in der Hoffnung, die Presse würde uns danach in Ruhe lassen und endlich vergessen.
»Ich hoffe inständig, dass du recht hast, Florence.« Mein Schwiegervater schenkte mir einen aufmunternden Seitenblick, und ich war ihm dankbar, dass er in all dieser Zeit für mich da war. Wir hatten nie ein sonderlich enges Verhältnis gehabt, er war nicht der Typ Mann, der dreimal die Woche anrief, um zu fragen, wie es dir ging. Aber er war immer da. Arbeitete im Hintergrund und sorgte dafür, dass es dir an nichts fehlte.
»Ich drücke uns beiden die Daumen.« Ich lächelte sanft und sah wieder zurück auf die serifenlosen Buchstaben auf dem hellen Marmor. Ich drückte uns allen die Daumen. Denn wenn irgendjemand beginnen würde zu graben, war das unser sicherer Untergang.
5 Holly
Der Umschlag in meiner Hand brannte fast noch mehr als meine Augen, die ich in dieser Nacht nicht eine Sekunde geschlossen hatte. Wie hatte alles so schnell so schiefgehen können?
Ich hatte den Brief an Linnea in der Kirche gestohlen, kurz darauf durch Vees letzten Brief endlich den Schlüssel gefunden, die Medikamente in der Schublade, nur um dann von Carter erwischt zu werden. Ich war so nah dran, verdammt noch mal.
Meine Hände zitterten, als ich die Lasche auf der Rückseite des dünnen Umschlags löste. Vielleicht machte ich mir auch zu Unrecht Hoffnung, und Harrison hatte nur ein paar nette Worte für Linnea gefunden, mit denen er sie ermutigte, ihren eigenen Weg zu gehen, wenn er eines Tages starb.
Aber so war Harrison nicht. Und ich konnte mich nicht irren. Nicht schon wieder.
Meine liebste Linnea,
Ich verdrehte die Augen und ließ den Brief in meiner Hand sinken. Harrisons schwülstige Stimme tauchte in meinem Kopf auf. Er sah Linnea nie an, übersah sie ständig, wie der gesamte Rest der Familie, sprach sie jetzt aber an, als wäre sie sein größtes Geschenk. Dabei hatte er der Zeitung doch mehrfach gesagt, dass Max schon immer sein größtes Geschenk gewesen war.
Männer.
Meine liebste Linnea,
wenn du diesen Brief in den Händen hältst, bin ich vermutlich tot. Zugegeben, es fühlt sich seltsam an, diese Worte zu schreiben und damit gezwungenermaßen über meinen eigenen Tod nachzudenken.
Vielleicht kommst du gerade von der Trauerfeier, bei der Max und Carter dich in den Armen gehalten haben. Der Gedanke beruhigt mich, dass keiner von euch jemals wirklich allein sein wird. Ihr werdet immer einander haben, so wie ich bis zum Ende meines Lebens euch haben werde.
Ich stockte, weil das letzte Wort von einem kleinen blutroten Fleck verschmiert wurde. Die Tinte war verwischt, und ich war mir sicher, dass dieser Tropfen Rotwein sicher aus Harrisons privatem Weinkeller stammte. Mein Blick fand einen blassen roten Halbkreis. Hatte Harrison sein Weinglas hier abgestellt? Wie viel Alkohol musste fließen, damit Harrison Davenport seine gefühlvolle Seite entdeckte und seiner Tochter eine Art Abschiedsbrief schrieb?
Meine liebste Linnea,
ich weiß, als meine einzige Tochter hattest du nicht immer das einfachste Leben. Für deine Brüder gab es schon immer einen Plan. Sie würden in die Kanzlei einsteigen, und ich kann den Tag kaum erwarten, da Max meinen Posten als Seniorpartner übernimmt. Du musstest schon immer deinen eigenen Weg finden, aber das kam deinem eigensinnigen Kopf sicher sehr entgegen.
Ich sage es viel zu selten – du weißt, Gefühle sind nicht gerade meine Stärke –, aber ich bin stolz auf die ansehnliche Frau, die du geworden bist. Ich kann mich glücklich schätzen, dass du meinen Namen und damit auch den meines Vaters und Großvaters trägst und ihn mit deiner Schönheit und Eleganz mit neuem Stolz erfüllst.
Ebenso stolz macht es mich, dass ich es geschafft habe, dir diese Möglichkeiten zu bieten. Ich wusste am Anfang nicht so recht, was du brauchst, was ich dir geben kann – darin war deine Mutter schon immer besser.
Aber auch deine Mutter wäre heute sicher sehr stolz auf dich, wenn sie dich so sehen könnte.
Linnea, ich wünsche mir mehr Momente, in denen sie dich erkennt. In denen sie erkennt, zu was für einer anmutigen jungen Frau du herangewachsen bist. Wie ähnlich du ihr bist. Ich weiß, wie stolz Grace wäre, zu sehen, dass du doch etwas von ihr hast, auch wenn sie dir so früh genommen wurde.
Sicher, du hast das Gefühl, sie kaum zu kennen. Aber du kennst sie, Linny-Maus.
Grace hat uns alle schon immer zu besseren Menschen gemacht.
Auch mich.
Ich musste ein angewidertes Würgen unterdrücken, ließ die zweite Seite fallen, las Harrisons Worte und starrte nun bereits auf das dritte Blatt Papier. Starrte auf all die Worte, die bewiesen, wie wenig er Linnea kannte.
Es tut mir leid, Linnea.
Einfach alles.
Aber vor allem tut es mir leid, was ich getan habe. Dass ich es war, der dir diese wichtige Person genommen hat.
Ich kann es dir nicht erklären, mich nicht erklären. Keine Worte dieser Welt würden ausreichen, damit du mir verzeihen könntest. Ich verzeihe mir ja nicht einmal selbst.
Aber jetzt, da ich tot bin, kann ich vielleicht Frieden mit meiner Schuld schließen.
Und vielleicht kannst du mir irgendwann auch vergeben.
Die Worte verschwammen vor meinen Augen, so stark zitterte ich. Ich hatte mich nicht geirrt. Das hier veränderte einiges – ich wusste nur noch nicht, was.
War es das, was ich aus diesem Brief las? Bildete ich mir das alles nur ein, weil ich so verzweifelt auf der Suche nach Antworten war?
Harrison gab sich die Schuld an Grace’ Unfall? Aber wieso? Alles, was ich darüber wusste, ergab Sinn. Grace war bei einem Ausritt vom Pferd gestürzt, hatte sich den Kopf angeschlagen und war erst Stunden später gefunden worden. Von … Harrison?
In meiner Hosentasche vibrierte mein Handy. Erschrocken ließ ich den Brief los, und er segelte zwei Sekunden durch die Luft, bevor er mit einem leisen Rascheln auf meiner Matratze landete.
Wir sollten reden.
Würde mein Herz je wieder aufhören, so ungesund schnell zu schlagen? Das Adrenalin rauschte durch meine Adern, während ich Carters Nachricht las.
Wo soll ich hinkommen?
Ich hoffte inständig, dass er nicht vorschlagen würde, sich in meinem Zimmer zu treffen. All die Dokumente, die hier lagen, weiter vor ihm zu verstecken, fühlte sich so schon schlimm genug an.
Ich warte bei den Ställen auf dich. Wir treffen uns in einer Stunde.
In meinem Kopf flackerte die Erinnerung an unseren ersten Abend hier auf. Wie wir nach draußen spaziert waren und er bei den Pferden vorbeigeschaut hatte, um nach dem Rechten zu sehen. Ich friemelte den Brief zurück in seinen Umschlag, schob ihn zu den anderen Papieren unter dem Bett und blieb vor dem großen Spiegel stehen. Dunkle Augenringe, strähniges Haar und verlaufene Wimperntusche.
Ich konnte verstecken, wer ich war, aber nicht länger, wie es mir ging.
»Scheiße.« Ich schreckte vor meinem eigenen Anblick zurück, stieß die Tür zum Bad auf und stellte das Wasser an. Die Eiseskälte traf auf mein Gesicht und weckte mich auf, nach einer Nacht ohne Schlaf. Ich wischte mir einige Male unter den Augen entlang, um wenigstens die gröbsten Erinnerungen an gestern im Abfluss runterzuspülen. Die schwarze Wimperntusche lief in feinen Schlieren durchs Waschbecken, während die Schuldgefühle weiter auf meiner Haut klebten, ganz gleich wie viel Wasser ich darüber laufen ließ. Ich drückte mein Gesicht in das frische Frotteehandtuch und atmete den Duft vom rosigen Waschmittel ein. Als ich jetzt das Handtuch sinken ließ und mich selbst wieder im Badezimmerspiegel erblickte, war der Anblick erträglicher. Nicht gut, aber besser.
Mal schauen, was ein Gespräch mit Carter wieder daran ändern konnte. Ich hatte noch etwa siebenundfünfzig Minuten, bis ich am Stall sein musste. Sechsundfünfzig, wenn ich ganz sicher sein wollte, nicht zu spät zu kommen. Mein Blick wanderte durchs Zimmer, während in meinem Kopf listenweise Dinge auftauchten, die ich zu tun hatte. Die ich tun musste.
Aber statt etwas davon anzugehen, ließ ich mich wieder aufs Bett fallen und starrte an die Decke.
Noch dreiundfünfzig Minuten.
Ich hatte mir Zeit gewünscht. War froh, als Carter gesagt hatte, ich sollte erst mal schlafen gehen, aber jetzt fühlte es sich an, als würden die Sekunden rückwärtslaufen … Ruckartig setzte ich mich auf und krallte meine Hände in die weiche Decke, als sich kurz alles um mich herum drehte. Mein Körper kam mit der letzten Nacht eindeutig nicht klar. Mein Handy lag mit dem Display nach unten vor mir, und die bittere Erkenntnis versetzte mir einen Stich.
Die Person, die ich sonst in solchen Situationen anrief, war Vee. Wenn ich dringend jemanden zum Reden brauchte, war meine Schwester da – ausnahmslos immer.
Irgendwie war sie auch immer noch da. Doch gleichzeitig war sie in unerreichbarer Ferne. Irgendwo in meinen Gedanken schwebte die Schwester, die ich brauchte. Die beste Freundin, die mir zuhören würde. Aber die Person, die wirklich dafür sorgen würde, dass es mir besser ging, war der Grund, warum ich kaum die Augen offen halten konnte, während meine Gedanken mich wachhielten.
Vee war schuld daran, auch wenn sie unschuldig war.
Vee hatte mich in diese Situation gebracht, und doch war es genau sie, die ich mir hier bei mir wünschte.
Vee war alles, was ich hatte. Wer war ich überhaupt ohne meine Schwester?
Ich musste nicht einmal meine Kontakte oder WhatsApp-Chats durchgehen, um zu wissen, dass mir niemand sonst mehr blieb. Niemand, dem ich erzählen konnte, dass Carter mich erwischt hatte.
Niemand, der wissen würde, dass es mich fast umbrachte, dass ich verdammt noch mal Gefühle für Carter Davenport entwickelt hatte.
Ich wollte es nicht. Nicht wahrhaben, nicht, dass es passierte, nicht, dass es so war. Aber es war passiert. Anders konnte ich mir nicht erklären, dass ich die ganze schlaflose Nacht nur an Carter gedacht hatte. An seinen enttäuschten Gesichtsausdruck, als er im Türrahmen stand. An die Hand, die er mir auf den Scheitel gelegt hatte, als ich stundenlang geweint hatte. An seine Finger um meinem Handgelenk, als er gesagt hatte, ich sollte bleiben, und an den kleinen Satz, den mein Herz bei diesen Worten gemacht hatte.
Carter hatte nicht gewollt, dass ich ging. Und doch war es meine größte Angst, dass er mich nie wieder sehen wollte.
Nun ja, jetzt wollte er mich sehen. Mein Blick wanderte zu der kleinen Uhr an meinem Handgelenk.
In siebenunddreißig Minuten.
Siebenunddreißig Minuten blieben mir noch, um ziellos an die weiße Decke zu starren und mir Szenarien auszumalen, in denen Carter mich in den Arm nahm, sagen würde, dass er verstand, und mich bat zu bleiben.
Das waren diese beschissenen Gefühle.
