3,49 €
Rose Thorburns ständige Begleiter ihrer Kindheit waren Demütigungen und Scham. Sie verließ Glencoe kaum, dass sie ihren Schulabschluss in der Tasche hatte. Doch der Tod ihrer geliebten Tante holt sie in ihre Heimat zurück. Dort wartet nicht nur ihr Erbe, sondern auch Alick, der junge, attraktive Nachbar ihrer Tante. Rose ahnt nicht, dass Alick ihrer Tante nicht nur half, alles für ihre Rückkehr vorzubereiten... Während seine Gefühle für sie wachsen, muss sie sich ihrer Vergangenheit stellen. Ob Alick Roses Herz ebenso gewinnen kann, wie sein treuer Sheltiekumpel?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2022
Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Über das Buch
Red, Red Rose
Rose
Alick
Rose
Alick
Rose
Alick
Rose
Alick
Rose
Alick
Rose
Alick
Rose
Alick
Rose
Alick
Rose
Alick
Rose
Alick
Rose
Alick
Rose
Alick
Rose
Alick
Rose
Alick
Rose
Alick
Rose
Alick
Rose
Alick
Rose
Alick
Rose
Alick
Rose
Alick
Rose
Alick
Rose
Alick
Rose
Alick
Rose
Alick
Rose
Alick
Rose
Alick
Rose
Alick
Epilog
Glossar
Sissis GeDANKEn
Liebe Leserin
Über die Autorin
Impressum
SISSI STEUERWALD
Sheltieküsse
in den
Highlands
Über das Buch
Rose Thorburns ständige Begleiter ihrer Kindheit waren Demütigungen und Scham. Sie verließ Glencoe kaum, dass sie ihren Schulabschluss in der Tasche hatte. Doch der Tod ihrer geliebten Tante holt sie in ihre Heimat zurück. Dort wartet nicht nur ihr Erbe, sondern auch Alick, der junge, attraktive Nachbar ihrer Tante. Rose ahnt nicht, dass Alick ihrer Tante nicht nur half, alles für ihre Rückkehr vorzubereiten ... Während seine Gefühle für sie wachsen, muss sie sich ihrer Vergangenheit stellen. Ob Alick Roses Herz ebenso gewinnen kann, wie sein treuer Sheltiekumpel?
Red, Red Rose
O my Luve’s like a red, red rose
That’s newly sprung in june;
O my Luve’s like the melodie
Tht’s sweetly play’d in tune;
As fair art thou, my bonnie lass,
So deep in luve am I;
Ans I will luve thee still, m dear,
Till a’ the seas gang dry;
Till a’ the seas gang dry, my daer,
And the rocks melt wi’ the sun;
I will luve thee still, my dear,
While the sands o’ life shall run.
And fare thee weel, my only Luve
Ans fare thee weel, a while!
And I will come again, my Luve,
Tho’ it were ten thousand mile.
Robert Burns
Das gleichmäßige Rattern des Zuges lullte mich ein. Draußen war es kaltes Herbstwetter, allerdings schaffte es streckenweise immer wieder ein Sonnenstrahl, durch die graue Wolkendecke zu brechen. Dort, wo das Licht auf die Natur traf, wurde diese viel bunter und die Farben leuchteten intensiver.
In den letzten Jahren hatte ich mir zu selten frei genommen, um wieder aufs Land zu fahren. In der Stadt war der Herbst trist und grau, selbst wenn ich am Ufer von Water of Leith spazieren ging. Doch auch dazu fand ich kaum Gelegenheiten. Falsch, wenn ich ehrlich war. Ich nahm mir für solche Dinge einfach keine Zeit mehr. Es stimmte mich traurig. Wann hatte ich angefangen, mich von den positiven Seiten meines früheren Ich‘s derart zu entfernen?
Bedauern machte sich in mir breit. Wie ein großer Knoten, der wuchs, drückte es mich hinter meinem Brustbein. Ich hatte nicht nur versucht, alle negativen Erinnerungen hinter mir zu lassen, als ich meine Heimat verlassen hatte, sondern ließ auch die Verbindung zu guten, lieben Menschen schleifen. Wiederholt hatte ich mir vorgenommen, nachdem meine Mutter gestorben war, diese Bande neu zu festigen. Nun war es zu spät. Ich hatte immer viel zu tun. Außerdem mussten die neuen Beziehungen gepflegt werden. Alle Ausreden, es hinauszuzögern, hatten dazu geführt, dass es nun keiner mehr bedarf. Meine Tante und zugleich Namenspatin war gestorben, ohne, dass ich sie je wieder hatte in den Arm nehmen können. Die Chance war vertan und schmerzte unendlich.
Tante Rosie war immer für mich dagewesen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit hatte ich zu ihr kommen dürfen. Mit einer heißen Schokolade hatte ich mit ihr auf der kleinen dunkelroten Zweisitzercouch vor dem prasselnden Kaminfeuer gekuschelt. Sie hatte mit ihrer ruhigen, sanften Stimme zu mir gesprochen. Manchmal hatte sie mir alte Märchen von den Sturmhexen, den Feen oder Ian und den Brownies erzählt. In diesen Momenten hatte ich mich geborgen gefühlt, weit weg von meiner volltrunkenen Mutter und den Dingen, die sie getan und gesagt hatte.
Doch der Schmerz war zu groß geworden. Die Schande und die Blicke der Dorfbewohner hatten mich erstickt. Und dann war diese eine Nacht gekommen, in der … Nein, ich mochte nicht daran denken. Es war richtig gewesen, abzuhauen.
Doch je näher mich der Zug an Fort William brachte, desto mehr wollten sich mir diese Erinnerungen aufdrängen. Schlimmer noch: Das schlechte Gewissen Tante Rosie gegenüber, zu Beginn der Reise eine winzige Glut, loderte größer und heißer in mir.
Warum, verdammt, tat ich das überhaupt? So musste ich mich allem stellen, ganz vorne dieser emotional heftigen Tatsache, dass meine geliebte Tante gestorben war ohne, dass wir uns noch einmal gesehen hatten. Wie oft hatte ich ihre Einladungen ausgeschlagen, einzig weil der Gedanke mich schmerzte zurückzukehren und wieder die kleine, verletzliche, dumme Mini-Rose zu sein.
Egal wie oft sie betont hatte, dass ich als erwachsene Frau gar keine Angriffsfläche mehr bieten würde; egal, dass der Anstand es geboten hätte, bei der Beerdigung meiner Mutter anwesend zu sein – ich blieb egoistisch und damit Glencoe fern. Laut Gordon war das richtig gewesen. Kurz schüttelte ich den Kopf. Nicht jetzt.
Ich starrte aus dem Fenster, bemüht die Tränen zu unterdrücken. Meine Augen brannten. Mein Herz drohte zu explodieren. Das Feuer in mir schien mich verzehren zu wollen, so dass ich es kaum schaffte, mit den Gedanken in der Gegenwart zu bleiben. Ich war furchtbar egoistisch gewesen. Diese Erkenntnis warf Brandbeschleuniger in meine Seele. Meine liebe Tante hatte nie auch nur ein negatives Wort verloren. Immer hatte sie versucht, mich trotz unserer Distanz zu ermutigen. Und ich hatte sie stolz machen wollen. Es war mir gleich, was meine Mutter über mich gedacht hatte. Ihr war es auch egal gewesen, warum ich gegangen war. Hauptsache sie hatte jeden Tag etwas Hochprozentiges zu trinken gehabt. Dieser Sucht blieb sie bis zum letzten Tag ihres Lebens treu. Ich spürte einen uralten Schmerz, den ich nicht, wie gehofft, überwunden hatte. So sehr mir meine Tante ihre Liebe hatte angedeihen lassen, so sehr hatte ich mich gewehrt und als nicht liebenswert erachtet. Wer streicht schon seine Mutter aus seinem Herzen? Warum war ich nicht genug für sie gewesen, um nicht zu trinken, um gemeinsam ein gutes Leben aufzubauen?
Harte Worte vermögen Wunden in die Seele zu schlagen, deren Narben ein Leben lang bleiben. Wehe man berührt dieses empfindliche Gewebe, bricht es auf und die Schmerzwelle ist kaum zu ertragen. So ist jedenfalls meine Erfahrung, die mich zudem gelehrt hat, dass ein gutes Leben daraus besteht, so vielen Wunden wie es geht, aus dem Weg zu gehen. Denn überall warten Menschen nur darauf, andere zu verletzen.
Ich öffnete meine Handtasche, um den mittlerweile zerknitterten Brief hervorzuholen. Sooft hatte ich ihn bereits gelesen, dass ich den Inhalt Wort für Wort auswendig konnte. Doch die Zeilen vor Augen zu haben, gab mir das kleines Gefühl, dass Tante Rosie noch bei mir wäre. Ihre Schrift war schwungvoll und stark. Sogar das Papier, gaukelte mir mein Unterbewusstsein vor, roch ein wenig nach Kamin und heißer Schokolade mit Zimt. Mit geschlossenen Augen konnte ich mir gut vorstellen, wie sie am prasselnden Feuer saß, ihr Schreibtablett auf dem Schoß, Briefpapier neben und einen Bogen vor sich.
»Weißt du Kind«, hatte sie einmal gesagt, als ich bei ihr saß und einer Freundin eine SMS tippte, »es wird immer etwas ganz Persönliches bleiben, wenn man sich die Zeit nimmt, um einen richtigen Brief zu schreiben. Ich nehme mir Zeit, um mir meine Worte zu überlegen, weil ich keine Löschtaste habe. Meine Handschrift ist unverwechselbar, so dass der Adressat auch immer sehen kann, dass ich wirklich an ihn gedacht habe und nicht neumodisch ein paar inhaltslose Sätze aus dem Internet zusammenkopiert und ausgedruckt habe.« Dann lachte sie über ihren eigenen Gedanken.
»Ich verspreche dir, Tante Rosie, dass ich dir immer ganz oldschool schreiben werde«, gelobte ich fast schon feierlich.
Zumindest dieses Versprechen hatte ich eingehalten, wenngleich deswegen manche Antworten auch dauerten. Denn sie hatte recht gehabt: Ich überlegte mir die Sätze ganz genau, damit sie positiv klangen. Meine Briefe sollten sie glücklich machen und ihr zeigen, dass ich ein gutes Leben führte. Dazu kam das Wissen, dass Tante Rosie alle Briefe aufhob. Nicht, dass sie jemand Fremdes lesen würde, aber wenn doch? Die Sorge was andere über mich dachten, war wie ein kleiner Schimmelfleck. Bei guter Lüftung wurde er nicht größer, aber auch mit den aggressivsten Mitteln ließ er sich nicht unsichtbar machen. So würde auch meine Sorge nie ganz verschwinden.
Sachte strich ich über den letzten Brief meiner Tante. Sie würde nie eine Antwort von mir darauf erhalten. Das hatte sie gewusst. Beim Schreiben war ihr klar gewesen, dass es ihre Abschiedszeilen sein würden.
Hätte sie nur angerufen, mir erklärt, wie krank sie war, ich wäre so schnell wie möglich zu ihr gekommen. Davon hätte er mich nicht abhalten können!
Ich musste mich zusammenreißen, das Papier in den Händen nicht zu drücken. Hastig steckte ich es zurück in die Handtasche. Nur noch zwei Stationen bis Fort William. Eine Gnadenfrist, um wieder meine Beherrschung zu finden. Es war definitiv an der Zeit, um mich Glencoe zu wappnen.
Er stand auf dem Bahnsteig und wartete auf den Zug, in dem Rose sitzen sollte. Sooft hatte er sich vorgestellt, sie zu treffen. Er spürte eine leichte Nervosität, die er zu unterdrücken versuchte. Immer wieder wechselte er sein Standbein und strich sich über sein Shirt. Sie war seine Traumfrau, denn nur dort hatten sie sich bisher gesehen. Sie kannte ihn nicht oder wusste gar von seiner Existenz. Er hingegen hatte das Gefühl, sie in- und auswendig zu kennen. In all ihren Briefen, den Gesprächen mit ihrer Tante über sie und den Bildern, die er gezeigt bekommen hatte, war sie ihm nah gekommen.
Alick hätte nie für möglich gehalten, dass so etwas Wirklichkeit sein könnte. Es war wie in einem kitschigen Liebesfilm, gestand er sich ein: Ein junger Mann zieht in einen kleinen Ort, schließt Freundschaft mit seiner älteren Nachbarin, die eine junge, attraktive Nichte hat. Da die Schöne vor einer schlimmen Vergangenheit flieht, bleibt der Kontakt zwischen Tante und Nichte nur über Briefe und Telefonate bestehen, in die der arme Kerl involviert wird. Ehe er sich versieht, entwickelt er Gefühle.
Alick musste in Gedanken über sich lachen. Selbst, dass er hier stand, war wie in einem B-Movie. Schuld daran war seine Nachbarin, die ebenfalls Rose geheißen hatte wie die Frau, auf die er wartete. Nur, dass die Ältere der beiden darauf bestanden hatte, von Freunden Rosie genannt zu werden, um sich jung zu fühlen. Sie hatte ihm damals zugezwinkert, als sie nur kurze Zeit nach seinem Einzug ihn aufforderte, dass auch er sie mit ihrem Kosenamen ansprach. Es war der erste von vielen Wünschen, die sie geäußert und welche er gerne erfüllt hatte.
***
»Die Tapete im letzten Gästezimmer ist an der Wand«, verkündete Alick zufrieden.
Rosie klatschte in die Hände.
»Das ist ja hervorragend! Komm, ich habe Eistee gemacht. Lass uns in den Garten setzen und Muffin kann draußen schnüffeln.«
Er folgte seiner Nachbarin durch die Küche nach hinten. Vor einem halben Jahr hatten sie ihre beiden Gartengrundstücke zusammengelegt. Rundherum war eingezäunt, so dass Muffin nicht entwischen konnte.
Auf dem Tisch standen schon der Eistee, Gläser und kleine Sandwiches. Auch lag ein Umschlag dabei.
»Rose hat geschrieben«, teilte sie Alick feierlich mit. Die Briefe ihrer Nichte waren Schätze für sie.
»Du weißt, dass ich mich immer unwohl fühle, sie dir vorzulesen.«
Seit geraumer Zeit bat sie ihren Nachbarn darum. Dass er sich dabei nicht gut fühlte, stimmte allerdings nur zur Hälfte. Die andere Hälfte freute sich, Neues von Rose zu erfahren.
»Papperlapapp! Ich tu mir doch so schwer beim Lesen. Ich vertraue dir und außerdem höre ich so gerne deine Stimme.«
Sie setzten sich. Schon hielt sie ihm den Briefumschlag hin.
»Vielleicht würde dir eine neue Brille helfen«, schlug Alick nicht zum ersten Mal vor.
Rosie war erst Mitte 50. Daher musste er bei diesem Wunsch immer mit dem Kopf schütteln. Sie tat, als wäre sie eine hundertjährige Frau.
»Muss ich wirklich betteln, junger Mann?« Sie schenkte ihnen Eistee ein. Alick nahm einen kühlen Schluck. Dann öffnete er den Umschlag. Dabei ignorierte er das Flattern in seiner Magengegend.
»Dankeschön.« Sie warf ihrem jungen Freund ein breites Lächeln zu. Seufzend schloss sie die Augen. Das war sein Zeichen.
Liebe Tante Rosie,
ich hoffe, es geht dir gut. Wie versprochen, habe ich über deinen Vorschlag nachgedacht. Natürlich sollte der Wunsch nach einer gemeinsamen Zukunft und Liebe im Vordergrund stehen, wenn man zusammenzieht.
Gordon hat sich diesen Schritt sehr gewünscht. Er liebt mich und ich ihn auch. Dass dies in unseren Telefonaten nicht so rüberkam, liegt gewiss daran, dass du davon ausgehst, dass jeder im Leben seine große Liebe findet, die über allem steht. Ich wünschte, du hättest deine nicht so früh verlieren müssen. Aber wie ich dir schon so oft gesagt habe: Eure Liebe war etwas Seltenes und Außergewöhnliches. Wir Normalsterblichen müssen uns damit zufriedengeben, wenn wir das Glück haben, einen treuen Partner zu finden. Gordon ist treu und steht zu mir. Er weiß, was gut für mich ist. Du solltest seine Wohnung sehen. Sie hat einen herrlichen Blick über Edinburgh. Ich habe nicht weit zum Hotel.
Dank ihm kommt keine Langeweile auf. Seine Freunde kommen oft zum Diner oder wir treffen sie.
Leider ist er, wie auch ich derzeit, beruflich sehr eingebunden. Daher werden wir es nicht schaffen, dich demnächst zu besuchen. Ich überlege, eine Weiterbildung zu machen, um mehr im Management tätig sein zu können. Gordon hatte die Idee, dass ich so eine höhere Position erreichen könnte und danach unter Umständen auch weniger Wochenenddienste in meinem Plan stehen. Er wünscht sich sehr, dass ich bei seinen Wochenendveranstaltungen präsenter bin und dann an seiner Seite stehe. Ich bemühe mich, so lange wie möglich dabei zu sein, aber noch geht die Arbeit im Hotel vor. Du siehst, ich werde gebraucht, und zwar nicht nur beruflich.
Wenn du ihn kennenlernst, wirst du sehen und von ihm hören, dass er unsere Zukunft fest vor Augen hat.
Ich rufe dich bald wieder an.
Bis dahin fühle dich fest umarmt.
Deine dich liebende Rose
Alick legte den Brief zur Seite. Still musterte er das Gesicht seiner Nachbarin und Freundin. Sie dachte über den Inhalt nach. Das tat sie jedes Mal, bevor sie ihm ihre Meinung mitteilte. Doch heute wollte er ihr zuvorkommen. »Rosie, ruf sie an. Sprich mit ihr. Egal, was du denkst, du solltest es ihr, nicht mir sagen.«
Sie öffnete seufzend die Augen. »Rose filtert meine Sorgen und das, was ich zu ihr mitteilen möchte. Das, was sie hören will, hört sie. Das, was ihr weh tut, überhört sie.«
»Dann musst du es vielleicht oft genug wiederholen.«
»Sie ist unglücklich und verdrängt das. Es tut mir weh. Dieser Mann bestimmt ihr Leben. Ihr ist wichtig, dass alles perfekt nach außen hin scheint: Karriere, Partner, ... Womöglich wird sie diesen Kerl heiraten, um auch noch eine glückliche Ehe vorzuspielen.«
Alick teilte ihre Bedenken. Rose schrieb immer von ihr oder ihm, seinen Plänen, seinen Wünschen und betonte, dass alles so sei, wie es eben sein musste. Das Wörtchen „wir“ fielselten. Eine verliebte, glückliche Frau sollte seiner Meinung nach anders schreiben. In den vergangenen Briefen hatte sie ihn auch nur kurz erwähnt. Schwärmten Frauen nicht unentwegt, wenn sie sich verliebt hatten?
Doch Alick schwieg darüber. Er wollte nicht, dass ihre Tante sich noch mehr sorgte. »Rosie, wir wissen es nicht. Das sind nur Worte. Sie istsicherlich glücklich mit ihm, sonst wäre sie nicht zu ihm gezogen.«
Seine Nachbarin schüttelte traurig mit dem Kopf. »Sie weiß nicht, was Liebe ist.«
Er beugte sich zu ihr und legte seine Hand auf ihre. »Rosie, du hast alles für sie getan. Du hast ihr gezeigt, was Liebe ist. Sobald hier alles renoviert ist, hole ich sie höchstpersönlich in Edinburgh, damit sie eines der Gästezimmer bezieht und ihr euch wiedersehen könnt.«
Als Tränen über Rosies Gesicht liefen, erschrak er.
»Alick, du musst mir etwas versprechen.«
Er drückte ihre Hand sanft. »Aye, alles, was du willst.«
Herrliches schottisches Wetter begrüßte mich bei der Einfahrt in den Bahnhof. Die Sonne bohrte sich durch die Wolkendecke und ein leichter Nieselregen fiel zur Erde. Ich hoffte inständig, dass Tante Rosies Nachbar nicht nur pünktlich war, sondern auch nicht allzu weit entfernt parkte. Mein Koffer war groß und schwer, da mir nicht klar war, wie lange mein Aufenthalt sein würde. Ganz davon abgesehen, dass ich alles Wichtige bei mir hatte. Ich war mir ziemlich sicher, dass mein anschließender Weg mich nicht zurück nach Edinburgh führen würde.
»Hoffentlich erkenne ich ihn überhaupt«, murmelte ich.
Da es Spätsommer war, gab es in dieser Region Touristen wie Midges, wodurch der Zug zum Bersten voll war mit Menschen und Reisegepäck. Ein junges Mädchen hielt die Hand ihres Vaters. Beide hatten nur einen Rucksack, den er trug. Sie strahlte ihn an. Offensichtlich hatten sie einen schönen gemeinsamen Tag gehabt. Ich spürte einen winzigen Stich. Es waren immer ganz besondere Tage voller Lachen und Magie gewesen, wenn meine Tante mich zu einem Ausflugstag eingeladen hatte.
Die Türen öffneten sich und rissen mich damit aus einem Bild meiner Vergangenheit, das sich gerade hochkämpfen wollte. Ich hatte mich in den letzten Jahren so bemüht alles in den Tiefen zu verräumen. Schlechte Erinnerungen taten mir weh, gute leider ebenfalls, weil ich auch diese hinter mir gelassen hatte und damit Tante Rosie.
Tief durchatmen. Haltung annehmen. Lächeln aufs Gesicht und diesen Alick finden.
Ich hievte den Koffer auf den Bahnsteig. Das Mädchen vor mir rannte zu einer Frau, die sich mit geöffneten Armen zu ihr beugte. Wahrscheinlich war es ihre Mutter. Wie glücklich sie aussahen. Der Mann trat dazu und umarmte beide, um der Frau einen Kuss zu geben. Ich hasste und liebte solche Szenen an Bahnhöfen und Flughäfen zugleich. Hand in Hand ging die kleine Familie vor mir her.
Ich blieb stehen, strich mir eine Strähne hinters Ohr und sah mich um. Stand irgendwo ein älterer Herr und schaute sich wartend oder suchend um?
Menschen gingen an mir vorbei. Andere standen am Bahnsteig gegenüber und warteten auf das Highlight der Schienenfahrzeuge. Hier fuhr die berühmte Jacobite Stream Train, mittlerweile besser bekannt als „Hogwarts Express“ ab. Dreimal war ich in ihm bis Mallaig gefahren, um dort mit Tante Rosie einen herrlichen Tag zu verbringen.
Ich schüttelte den Kopf, um die Erinnerung loszuwerden. Kaum hatte ich Edinburgh hinter mir gelassen, ploppten sie unentwegt und unerwünscht auf. Gleichzeitig erschütterten sie mich. Wie ein Spiegel zeigten sie mir die Maske, mit der ich lebte. Diese durfte nicht verrutschen. Es galt jetzt eine starke, selbstbewusste Miene zu zeigen.
Na, wenn das keine Ablenkung ist, dachte ich beim Anblick eines gutaussehenden Mannes, der am Ende des Bahnsteigs stand. Dunkelblonde Haare, zu einem kurzen Zopf zusammengebunden und ein etwas zu enganliegendes Langarmshirt. Mehr sah ich nicht, da vor mir ein Businesstyp in Anzug lief und dadurch die Sicht auf ein Komplettbild nahm. Die Ablenkung wirkte wie ein sehr sportlicher Typ mit einem muskulösen, aber nicht aufgepumpten Körper.
Leider die Sorte Mann, die zwar sehr lecker anzusehen war, aber entweder intellektuell nicht auf der Höhe oder, viel schlimmer, extrem schnell von mir gelangweilt war.
Ich lächelte ihm zu, als er in meine Richtung schaute. Ein kleiner Flirt, auch wenn nur in meiner Wunschvorstellung, wäre definitiv das, was ich jetzt gegen schwermütige Gedanken bräuchte.
Dachte ich gerade Wunschvorstellung? Dieser heiße Typ erwiderte eindeutig mein Lächeln!
Der Mann, der schräg vor mir gelaufen war, ging mir aus der Sicht, so dass ich nun ein komplett freies Sichtfeld hatte. Die Slim-Fit-Jeans harmonierte perfekt mit dem Oberkörper. Das Fellknäuel daneben passte so gar nicht ins Bild. Da saß ein kleines wuscheliges Hündchen, das wie eine Miniausgabe von Lassie, dem Filmcollie aussah. Irgendwie so keine männliche Hunderasse, aber extrem süß. Nun kam er auch noch mit seinem Hund, der brav neben ihm lief, auf mich zu.
Wahrscheinlich blamierte ich mich, weil ich ihn dämlich anlächelte. Höchstwahrscheinlich holte er seine ebenso heiße Freundin ab, die auf High Heels direkt hinter mir her stöckelte und natürlich gleichzeitig die Besitzerin des Wuschels war. Ich traute mich nicht, auch nur in den Augenwinkeln zu suchen, ob da ein Schatten in meinem toten Winkel lief. Eine Millisekunde wollte ich mir vorstellen, dass dieses sehr sympathische Lächeln mir galt.
Allmählich sollte er einen Schritt zur Seite gehen, sonst liefen wir ineinander. Ich verlangsamte wie er mein Tempo.
»Hallo, Miss Thorburn?«
Was ein angenehmes Timbre. Hoffentlich hatte ich den Mund zu. Ja, gut.
Er war nicht nur vor mir stehen geblieben, sondern streckte mir die Hand entgegen und hatte tatsächlich mich angesprochen. »Sie sind nicht Rose Thorburn?«
Mein Überraschungsmoment hatte wohl zu lange gedauert. Ich fuhr mir mit der Zunge kurz über die Lippen. Plötzlich fühlte sich mein Mund trocken an. Ich schüttelte ihm knapp seine Hand. »Doch, das bin ich. Verzeihung. Es ist nur so ... Wie soll ich das sagen ohne, dass es seltsam klingt?«
Er grinste und ein Grübchen bildete sich. »Ich schlage vor, einfach gerade heraus.«
»Ich hatte einen alten Mann erwartet«, gestand ich und senkte verlegen den Blick. Dabei schaute ich eine Etage tiefer in dunkelbraune, mandelförmige Augen. Der Hund blickte neugierig zurück. Seine Lakritz-Nase zuckte und schnüffelte in meine Richtung. Trotzdem blieb er wohlerzogen neben seinem Herrchen sitzen. Ich musste lächeln, es ging gar nicht anders.
»Meine Tante hatte geschrieben, dass ihr wunderbarer Nachbar mir den Brief zusenden und mich am Bahnhof abholen würde. Es wohnte ein älterer Herr in den vergangenen Jahren neben ihr.« Ich dachte kurz nach. »Mister Dow?«, erklärte ich meine falsche Vorstellung.
»Mister Dow ist vor vier Jahren gestorben. Ich habe ungefähr ein Jahr danach das Haus gekauft, als ich meine Stelle in Fort William antrat. Alick Craig ist mein Name«, antwortete er. Dabei deutete er tatsächlich eine leichte Verneigung an.
Ich musste kichern. Du Himmel, wann hatte ich das letzte Mal in meinem Leben gekichert?
»Und das«, fuhr er fort, während er auf seinen Begleiter deutete, »ist mein treuer Freund Muffin.«
»Muffin?« Nun wurde aus meinem Kichern ein Lachen. Sofort verstummte ich, als es mir bewusst wurde. Großartig. Keine drei Minuten in der alten Heimat und schon den ersten Menschen, der vielleicht noch keine Vorurteile gegen mich hatte, verärgert. Ich biss mir auf die Zunge. Der Schmerz holte mich immer sofort in eine ernste Stimmung zurück. Das hatte mir schon einige Male mehr als geholfen.
Mein Gegenüber hatte allerdings in mein Lachen eingestimmt. Er zwinkerte mir zu, als ob ich ihn nicht soeben beleidigt hatte. Er schien ein besserer Schauspieler in der Öffentlichkeit zu sein, als so mancher Kerl, den ich bisher kennengelernt hatte. Ich nahm ihm die gelöste Stimmung sogar fast ab.
»Ich bekam ihn, als er schon drei Jahre alt war, und er hatte bereits diesen Namen. Da er sehr gut darauf hörte, durfte er ihn behalten. Passt doch zu dem süßen Teilchen irgendwie, nicht wahr? Jetzt nehme ich aber Ihr Gepäck, Miss Thorburn. Sie sind bestimmt erschöpft von der Reise und wollen nach Hause.«
Ich schob ihm den großen Koffer auf seinen Rollen entgegen. »Nennen Sie mich bitte Rose.«
Er nickte und gesellte sich neben mich. Zwischen uns lief Muffin. »Nur, wenn du mich auch Alick nennst.«
***
Der Regen hatte aufgehört, kaum, dass wir unter dem Dach herausgetreten waren. Ich schwieg auf der kurzen Fahrt. Er hatte es nach Hause fahren genannt. In meinen Gedanken nannte ich Glencoe immer noch Heimat. Egal, wie wichtig es mir gewesen war, es hinter mir zu lassen und nach vorne zu blicken. Bisher hatte ich nirgends einen Ort gefunden, der sich für mich nach einem Zuhause angefühlt hatte. Ich fuhr nach der Arbeit in Gordons Wohnung, aber nach Hause hatte ich, soweit ich mich erinnern konnte, nie gesagt oder gedacht. Auch nicht bei der kleinen Zweizimmerwohnung zuvor.
Vielleicht war Schottland allgemein meine Heimat, denn ich hatte es nur einmal kurz verlassen. Womöglich hatte ich ein Zuhause einfach noch nicht gefunden. Tante Rosie hatte mehr als nur einmal mit einem seligen Lächeln im Gesicht gesagt: »Kindchen, Heimat ist dort, wo dein Herz zu Hause ist.«
Ihre Ehe hatte nur wenige Jahre bestanden und war kinderlos geblieben, bevor ein Autounfall meinen Onkel viel zu früh aus dem Leben riss. Ich kannte ihn nur von den Bildern. Doch wie sehr sie ihn geliebt hatte, sah man in ihrem Gesicht, wenn sie von der gemeinsamen Zeit sprach. Sie hatte mit ihrem Mann einen seltenen Jackpot geknackt.
Doch was hatte es ihr unterm Strich gebracht? Wenige Jahre voller Freude, um dann den Verlust ihrer Liebe durchleben zu müssen.
Er kannte sie von Fotos. Daher wusste er, dass sie schön war. Doch ihre natürliche Ausstrahlung ließ diese Bilder nur wie schwache Kopien erscheinen. Alick fand, dass sie zu der Sorte Frauen gehörte, die kein Make-up brauchten. Gottlob ging sie damit dezent um. So betonte sie ihre Schönheit noch viel mehr. Sie bot eine schrecklich anziehende Mischung aus überspielter Schüchternheit, unaufdringlicher Intelligenz und unbewusster sexy Ausstrahlung. Allein dieser Blick von unten durch ihre langen Wimpern. Alick musste sich zwingen, nicht zu offensichtlich zu starren.
Nun war sie da. Saß real neben ihm. Und er konnte ihr nicht all die Fragen stellen, die in seinem Kopf waren.
Er konzentrierte sich auf die Straße, um nicht ins Plaudern zu verfallen. Er hatte keine Ahnung, wie sie es auffassen würde, wenn sie auch nur ahnen würde, wie viel er von ihr wusste.
Alick blickte zu ihr. Sie hatte ihren Kopf gegen die Fensterscheibe gelehnt. Sicherlich war sie müde von der Anreise.
Er wollte sie nicht aus ihren Gedanken reißen und Fragen bei ihr aufwerfen, die er noch nicht beantworten konnte.
Es tut mir leid, dass deine Tante gestorben ist. Ja, das wäre ein Anfang. Aber als Einstieg zum Kennenlernen? Ungünstig, dachte er leicht frustriert.
Sie war so nah. Und er für sie nur ein Fremder.
Die Fahrt nach Glencoe war nicht lang. Daher erachtete Alick es für sinnvoll, sich nicht zu sehr vom Fahren abzulenken, indem er ihr ein aufgesetztes Gespräch aufzwang. Offensichtlich suchte sie Ruhe.
***
Ach Rosie, schimpfte er die Verstorbene in Gedanken, was hast du uns nur angetan? Wir hätten uns früher treffen müssen. Ohne Briefe, ohne Geschichten, ohne deinen Tod als gemeinsame Verbindung.
Zum wiederholten Male fragte er sich, warum er nichts bemerkt hatte. So lange hatte seine Nachbarin ihm etwas vorgemacht. Dabei hätte er ihr gerne geholfen, nicht nur beim Renovieren oder ihren Plänen für nach ihrem Tod.
Er fragte sich erneut, ob er nicht ihre letzten Wünsche hätte abschlagen können. Doch wie? Immerhin hatte er unwissentlich schon mittendrin in ihren Abschiedsplänen gesteckt. Es waren nur noch wenige Dinge zu erledigen gewesen, bis die Renovierungsarbeiten vollständig abgeschlossen waren.
Bei dem Gedanken, dass sie alles so lange geplant hatte, verkrampfte er sich jedes Mal. Er packte das Lenkrad so fest, dass seine Fingerknöchel weiß wurden. Wieder fühlte er diesen Gefühlscocktail aus Wut, Ärger und großer Traurigkeit.
Wie ging es wohl Rose mit all dem?
Alick sah kurz zu ihr. Ihre Miene war nicht zu deuten. Nur Müdigkeit konnte er darin lesen. Als ob sie seinen Blick bemerkt hatte, strich sie sich durch ihr langes Haar. Nun lag es wie ein Sichtschutz vor ihrem Gesicht.
Immerhin konnte sie so auch nicht in seines blicken. Ihre Tante hatte in seinem Gesicht immer wie ein offenes Buch lesen können. Daher war er sich irgendwann sicher gewesen, dass es auch zu ihrem Plan gehörte, dass er Rose durch sie näher kennenlernte. Sie wollte, dass nicht irgendein Fremder an ihrer Seite war. Alick sollte es sein, der wusste, wie verletzlich die junge Frau, die nun neben ihm saß, war. Er teilte ihre Trauer und den Verlust desselben geliebten Menschen.
Es war Rosies ausdrücklicher Wunsch gewesen, dass er ihre Nichte in ihrer Zeit in Glencoe begleiten würde, für sie da war und half, positive Erinnerungen mit dem Ort zu verknüpfen. Nicht zuletzt hatte sie gehofft, dass Rose dadurch ihre Vergangenheit aufarbeiten könnte und sich zum Bleiben entscheiden würde.
Es gab Momente, wo ihm das als zu große Aufgabe erschienen war. Er hatte ablehnen wollen. Doch es war der letzte Wunsch einer sterbenden Frau, die zu einer Freundin geworden war. Es war nun seine Entscheidung, in welcher Art und Weise er diesen erfüllen würde. Roses Geschichte hatte einen Nerv bei ihm getroffen.
Alick lockerte seinen Griff am Lenkrad. Jetzt würde er sie erst einmal nach Hause bringen. Vielleicht, dachte er, konnten wir uns wirklich gegenseitig helfen. Womöglich hatte seine verstorbene Freundin hiermit ebenfalls recht gehabt.
Wir fuhren über die Einmündung von River Laroch in den Loch Leven. Rechter Hand sah ich Häuser von Ballachulish.
Manchmal, wenn mir zuhause alles zu viel gewesen war, hatte ich mir einen Rucksack mit etwas Proviant gepackt und war von Glencoe nach Ballachulish zu den Steinbruch-Seen gelaufen. Hier war es früher, trotz des Besucherzentrums, immer ruhig gewesen. Hinter dem Hügel führte ein Wanderweg durch den Wald, vorbei an einer Hausruine, die von der Natur zurückerobert worden war. Ich hatte mir sooft vorgestellt, dass hier Feen wohnten und der Verfall nur eine Täuschung sei. Oft setzte ich mich auf den dick bemoosten Boden davor, breitete meine mitgebrachte Decke aus und picknickte. Wenn die Sonnenstrahlen durch die Wipfel der uralten Tannen und Kiefern fielen, wirkte alles mystisch. Wäre eine Fee erschienen, ich hätte mir gewünscht, dass mein Onkel noch lebte und er und Tante Rosie meine Eltern wären.
»Gleich sind wir da. Bist du eingenickt?« Alick holte mich aus meinen Erinnerungen zurück. Ich hatte den Kopf ans Fenster gelehnt und mich von ihm weggedreht. Mein langes Haar hatte ich, wie ich es gewohnt war, als Sichtschutz vorfallen lassen.
»Nur ein wenig in Gedanken versunken. Es war wirklich eine lange Fahrt.« Ich wendete mich ihm zu und lächelte ein wenig.
Schon fuhr er von der Bundesstraße nach rechts ab, nachdem er zwei Autos vom Gegenverkehr hatte passieren lassen. Direkt an der Einfahrt zur Straße parkte er auf dem freien Platz. Ich stieg aus. Mit dem Blick zu Loch Leven tat ich einen tiefen Atemzug. Es roch wie früher. Hinter mir schlug Alick den Kofferraum zu. Solange ich hier wohnen würde, wäre er mein Nachbar. Ich drehte mich um, um ganz bewusst auf das Haus zu sehen, das nun kalt und unbewohnt war.
»Hier ist dein Schlüssel. Soll ich noch mit reinkommen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Vielen Dank. Du hast dir schon so viel Zeit genommen. Ich will mich eh erst etwas frisch machen und auspacken.«
Am Schlüsselbund hing eine goldfarbene Rose.
Ach, Tante Rosie, seufzte ich in Gedanken, du und deine geliebten Rosen.
»Ich wohne direkt nebenan. Du kannst jederzeit rüberkommen, wenn du etwas brauchst«, sagte Alick, wobei er das „jederzeit“ besonders betonte.
Ich nickte kurz, weil ich es schnell hinter mich bringen wollte. Einfach aufschließen, rein, Licht an und in der Realität ankommen.
»Meine Telefonnummer liegt auf dem Kamintischchen«, rief er noch hinter mir her.
Ich schritt den Kieselweg, der natürlich von Rosen gesäumt war, Richtung Eingang entlang. Das weißgetünchte Haus zerrte an meinen Erinnerungen. Fast war es, als hörte ich die Stimme meiner Patin. Ich spürte wieder den Druck hinterem Schlüsselbein, die aufsteigende Übelkeit.
Es war falsch, hier zu sein. Ich hätte das Haus einfach von einem Makler verkaufen lassen sollen, Brief hin oder her.
Aber nun war ich hier. Fertig.
Ich schloss die Tür auf. Ich hatte mit kalter Luft gerechnet, aber es war angenehm warm. Alles war sauber und fast rechnete ich damit, meine Tante in der Küche vorzufinden, so wenig machte das Haus im Inneren einen verlassenen Eindruck.
Den Koffer stellte ich in den Flur hinter der Küche, die zu den oberen Räumen oder zum Garten ging. Nachdem ich meine Jacke ausgezogen hatte, lief ich durch die unteren Zimmer.
Die Eingangstür führte direkt in einen großen Raum. Meine Patentante hatte ihn ihren „Lebens-Salon“ genannt. Die Wände waren voll von gefüllten Bücherregalen, nur unterbrochen von großen Fenstern, die ein herrliches Licht spendeten.
Wie hatte ich es geliebt, in diesen Büchern zu stöbern, um mich in das Kaminzimmer zurückzuziehen, das gegenüber des Salons war. Es führte rechter Hand nach dem Eingang eine kleine Tür hinein. Wenn ich las, konnte ich dem Hier und Jetzt entschwinden. Seit meiner Ausbildung zur Hotelfachfrau hatte ich hierfür keine Zeit mehr gehabt.
Ich strich über die Bücher, roch an dem frischen Rosenstrauß mit gelben Blüten, der auf dem Tischchen am Fenster stand, von dem aus ich auf den Parkplatz und dahinter zum Loch Leven blicken konnte.
Eine massive, dunkle Tafel in der Mitte des Raumes dominierte diesen. Tante Rosie hatte immer gern Gäste gehabt. Im Grunde war sie nie allein gewesen. Dieser Gedanke tat mir gut. Wahrscheinlich war es mir deshalb auch leichter gefallen, nicht für Besuche zurückzukehren. Ich ging ins Kaminzimmer.
»Der rote Zweisitzer!«, rief ich überrascht. Er stand noch immer vorm Kamin, in dem Holz zum Anzünden vorbereitet war. Ich setzte mich rein, nahm die Decke, die gefaltet darauf gelegen hatte, und kuschelte mich ein.
»Ich wünschte, du wärst jetzt hier, Tantchen«, flüsterte ich in das leere Haus.
Da ich seit den frühen Morgenstunden unterwegs gewesen war, überfiel mich, kaum, dass ich die Decke über meine Schultern gezogen hatte, eine bleierne Müdigkeit. Ich schloss die Augen.
***
»Tante Rosie, ich geh nicht mehr zurück. Bitte, bitte, lass mich bei dir wohnen!«
Ich flehte mit tränennassem Gesicht meine Patentante an. Es war früher Vormittag, doch meine Mutter war bereits nicht mehr nüchtern. Viel schlimmer noch, einer ihrer Männerbekanntschaften war über Nacht geblieben. Als ich meinPorridge gemacht hatte, war er in die kleine Küche gestolpert. Er stank wie ein verrauchtes Pub. Aus blutunterlaufenen Augen starrte er mich an. Die Nacht war wohl kurz gewesen.
»Deine Mutter hat mir verschwiegen, wie erwachsen du bereits bist«, war seine Begrüßung, die mir eine Gänsehaut bescherte.
Er musterte mich. Ich war dankbar, dass ich nicht im Pyjama am Esstisch saß, sondern schon komplett bekleidet war.
»Und so hübsch bist du. Hast du schon einen Freund?«
Zwei Wochen zuvor war ich vierzehn Jahre alt geworden. Dank des Rufs meiner Mutter hielt ich mich von Jungs fern. Zu oft hatten sie mir schon weh getan, wenn sie mir anboten, für Nettigkeiten etwas auszugeben. Denn das tat sie. Wer genug Alkohol für sie springen ließ, zu dem war sie besonders nett. Eine Weile hatte sie in Ballachulish im Co-op gearbeitet, doch ihre Fehlzeiten konnte sie irgendwann auch nicht mehr mit Gefälligkeiten gegenüber ihrem Boss ausgleichen. Weniger Einkommen bedeutete, noch „netter“ seinzu müssen, um ihre Alkoholsucht zu finanzieren.
»Weißt du was, Lass, ich würde dir gerne was Schönes kaufen.« Es störte ihn scheinbar nicht, dass ich ihm keine Antwort gegeben hatte.
»Nicht nötig, wirklich nicht.« Ich fühlte mich von Sekunde zu Sekunde unwohler.
»Doch, das mache ich gerne. Ihr habt ja auch nicht viel. Einen von diesen MP3-Dingern. Damit du nachts Musik hören kannst, wenn deine Mutter Besuch hat.« Er lachte, als hätte er einen besonders guten Witz gemacht. Er trat hinter mich und ich erstarrte.
»Ich weiß, ich weiß. Man soll nichts vom Fremden annehmen. Aber wir könnten uns miteinander bekannt machen.« Er strich mir über den Kopf und legte eine Hand auf meine Schulter. »Das wäre doch eine gute Idee. Deine Mutter schläft sicherlich noch ein Weilchen. War ziemlich anstrengend.«
Als er zudrückte und ein Atemschwall mich zum Würgen brachte, riss ich mich los und stürzte aus dem Haus. Ich rannte. Tränen stiegen in mir hoch. Es war mir egal, dass ich nur Hausschuhe trug. Ich wollte nur weg. Weg von diesem Mann. Weg von meiner Mutter. Weg von meinem Leben. Es gab nur einen Menschen, zu dem ich konnte. Ohne auf die Fußgängerampel zu warten, rannte ich über die Hauptstraße, um kurz darauf ins Haus von Tante Rosie zu stürzen.
»Ich kann nicht mehr zurück. Nie wieder, bitte!« Mein Weinen wuchs zu einem Heulkrampf an, der mir die Stimme raubte und meinen ganzen Körper beben ließ.
Tante Rosie war bei meinem Hereinstürzen aus der Küche gekommen. Nun führte sie mich ins Kaminzimmer, wo sie mit mir auf dem roten Sofa saß und mich im Arm wiegte.
»Schsch, nun beruhige dich erst einmal. Alles wird gut.«
Als ich wieder sprechen konnte, berichtete ich abgehakt, was geschehen war.
»Kindchen, ich mach dir erst einmal eine heiße Schokolade. Dann geh ich rüber und kläre das.«
Ich schüttelte vehement den Kopf. »Mama wird ausflippen. Bitte nicht. Lass mich einfach nur bei dir einziehen.«
Tante Rosie stand auf, um mich zuzudecken. »Ich werde so oder so mit meiner Schwester reden müssen.Aber zuerst eine heiße Schokolade.« Damit verließ sie mich, um mir eine Tasse dampfenden Kakao mit viel Sahne zu machen.
Kaum hatte sie sie mir in die Hand gedrückt, ging sie wortlos aus dem Haus.
***
Ich schreckte hoch. »Irgendwo sollte ich mir beibringen lassen, Träume zu kontrollieren«, murmelte ich. Solche realistischen Besuche meiner Vergangenheit brauchte ich nun wirklich nicht.
Mein Magen erinnerte mich mit einem dezenten Knurren daran, dass ich seit dem Zwischenstopp in Dalmur nichts gegessen hatte. Daher ging ich in die Küche, in der Hoffnung, in einem Schrank ein paar Cookies zu finden. Vielleicht wäre ein Blick in den Kühlschrank auch nicht schlecht, um eventuell Verdorbenes zu entsorgen und eine Einkaufsliste zu erstellen.
»Was …«, entfuhr es mir. Kaum war das Licht nach Öffnen der Kühlschranktür an, blickte ich auf frisches Gemüse, Wurst, Käse und Äpfel. Auf einem Teller mit bereits vorbereiteten Sandwiches in Frischhaltefolie klebte ein Post-it: „Ein kleiner Willkommensgruß von deinem Nachbarn Alick“.
Da musste ich mir unbedingt ein ordentliches Dankeschön einfallen lassen.
Ich stellte die Sandwiches auf den Tisch und kochte mir eine große Tasse Yorkshire Tee. Nachdem der Teller nur noch Krümel enthielt, machte ich mich, mit der Tasse in der Hand, auf in das obere Stockwerk. Die Treppe endete in einem Flur, von dem rechts und links jeweils zwei Türen abgingen. Geradeaus am Ende des Ganges war die Badezimmertür.
Ich öffnete die erste rechter Hand – Tante Rosies Schlafzimmer. Trotz aller Wehmut in meinem Herzen musste ich doch schmunzeln. Während viele mittlerweile moderne, dezentere Tapeten nutzen, hatte sie stets eine auffällige Rosentapete gewählt. Auch jetzt dominierte an der Wand ein Rosenmeer über und über mit altrosafarbenen Blüten, unterschiedlich geöffnet. Im gleichen Farbton passten dazu die Tagesdecke und die Vorhänge.
Auf dem Boden standen einige Kartons, säuberlich beschriftet: Kleidung – Dekoration – Sortieren. Auf letzterem lag ein Brief mit meinem Namen auf dem Umschlag. Während ich mich auf das Bett setzte, öffnete ich ihn.
Liebste Rose,
es ist so weit. Ich darf endlich an der großen Tafel sitzen und bin mit meinem geliebten Archer wieder vereint. Sei nicht traurig, sondern freue dich für mich. Ich hatte ein sehr gutes Leben und gehe dankbar. Ich hatte Zeit, meinen Abschied und dein Nachhausekommen zu planen. Liebe Menschen, vor allem Alick, haben mir dabei geholfen. Meine persönlichen Sachen habe ich, soweit möglich, bereits sortiert, vieles schon weggeben. Der Rest ist hoffentlich, wie ich gebeten habe, in Kartons gepackt, so dass du entscheiden kannst, welche Erinnerungen du gerne behalten möchtest, was du brauchst und was nicht. Alle Zimmer sind in den vergangenen drei Jahren renoviert worden, sogar das Badezimmer. Ich schrieb dir bereits, dass mein letzter Wunsch ist, dass du nach Hause kommst. Damit der Alltag einfacher ist, habe ich einen kleinen Wagen für dich besorgt. Alick hat die Schlüssel. Komm zur Ruhe. Gönne dir und mir eine letzte gemeinsame Zeit. Ich werde immer bei dir sein.
In tiefer Liebe,
Rosie
Drei Jahre! Sie hatte es mindestens so lange gewusst und alles vorbereitet. Warum nur hatte sie nichts in den Briefen erwähnt? Oder war ich so oberflächlich geworden, dass ich es einfach zwischen den Zeilen nicht gesehen hatte? Ihre Briefe hatten immer unverändert mit den Worten geendet: „Du bist jederzeit herzlich willkommen. Dein Zimmer wartet auf dich. In tiefer Liebe, Rosie“ – kein „Bitte komm heim, es ist wichtig.“ Oder ein Satz wie: „Bei mir wurde Krebs diagnostiziert. Ich möchte dich noch einmal in den Arm nehmen.“
»Warum hast du mir nie etwas geschrieben oder am Telefon gesagt? Warum?«, schimpfte ich tränenerstickt. Wütend knüllte ich den Brief in meiner Hand und warf ihn mit voller Wucht gegen die Wand. Eine lachhafte Geste, denn leicht, wie Papier nun mal ist, prallte es kaum hörbar ab und kullerte auf dem Boden. Ein lauter Knall hätte mir jetzt besser getan. Die Wut in mir kochte weiter. Es tat so gut, ihr nachzugeben.
»Mistkerl!«, entfuhr es mir. Ganz klar, dieser dämliche Nachbar hatte das in den letzten Jahren alles mitgemacht, statt den Arsch in der Hose zu haben und mich zu informieren. Er hätte das tun sollen – nein müssen!
Mein Zorn hatte einen Fokus: Alick.
Ich knallte meine Tasse mit dem kalt gewordenen Teerest auf die Kommode vor den Spiegel. Ich erwiderte meinem Spiegelbild den mörderischen Blick und raste die Treppe hinunter.
»Na warte, Freundchen!«, knurrte ich, als ich die Haustür hinter mir ins Schloss warf und den Kiesweg zwischen den Rosenbüschen entlang stapfte, um zum Nachbarhaus zu gehen.
Alick hatte Muffin einen Kauknochen gegeben und war in sein Büro im ersten Stock gegangen.
Hätte ich darauf wetten sollen, ich weiß nicht, ob ich so vertrauensvoll wie Rosie gewesen wäre, dass ihre Nichte kommt, dachte er, während er die Hausarbeiten seiner Studenten vor sich legte.
Nun war sie tatsächlich hier.