Sherlock Holmes und die tanzenden Drachen - Christian Endres - E-Book

Sherlock Holmes und die tanzenden Drachen E-Book

Christian Endres

4,3

Beschreibung

Der Meisterdetektiv gegen Magie und Moriarty In diesem London ist alles anders: Der Premierminister heißt James Moriarty, über der Stadt kreisen die Drachen der königlichen Luftwaffe, die Faerieboten zischen durch die Straßen, und im Untergrund treiben die Zwerge aus König Oberons Reich den Bau des Schienennetzes voran. Im East End meuchelt Jack the Ripper außerdem leichte Elfendamen, während seine Sympathisanten offen zur Gewalt gegen alle Feenländer aufrufen. Die Hauptstadt des Empires ist ein Pulverfass, und ausgerechnet jetzt wird das legendäre Königsmacherschwert Excalibur aus dem British Museum gestohlen! Sherlock Holmes und Dr. John Watson versuchen, die verzauberte Klinge zu finden, damit London zwischen Intrige und Verrat nicht noch tiefer im Chaos versinkt …

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Inhalt

Sherlock Holmes und die tanzenden Drachen

Vorbemerkung

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Epilog

Danksagung

Der Autor

Weitere Atlantis Titel

Eine Veröffentlichung des

Atlantis-Verlages, Stolberg

April 2015

Dieses eBook ist auch als Paperback überall im Handel erhältlich,

sowie als Hardcover direkt beim Verlag.

Titelbild und Umschlaggestaltung: Timo Kümmel

Lektorat: André Piotrowski

E-Book-Erstellung: www.ihrhelferlein.de

ISBN 978-3-86402-250-0

Besuchen Sie uns im Internet:

www.atlantis-verlag.de

Vorbemerkung

Romane sollten nach Möglichkeit ohne große Einleitung auskommen, und »Sherlock Holmes und die tanzenden Drachen« bildet hier keine Ausnahme. Allerdings sollte wohl trotzdem besser kurz erwähnt werden, wie sich dieser Roman und meine übrigen Holmes-Pastiches zueinander verhalten. Denn natürlich wäre es verlockend gewesen, einfach an der losen Kontinuität von »Sherlock Holmes und das Uhrwerk des Todes« anzusetzen oder zumindest eine der dortigen Geschichten auszubauen. Dennoch stand vom ersten Satz an eine Wand zwischen meinen bisherigen Storys um den Meisterdetektiv und seiner Welt in diesem Buch. Hier und da ist diese Wand jedoch nur eine dünne Membran, sodass vereinzelt immer wieder vage Ahnungen aus früheren Geschichten in den Roman eindringen und hier ein neues, unabhängiges Eigenleben entwickeln konnten. Und während ich mich für gewöhnlich streng an William S. Baring-Goulds Zeitleiste für die Leben und Abenteuer von Sir Arthur Conan Doyles Helden halte, habe ich mir im Rahmen des Alternativwelt-Settings dann doch ein paar chronologische Freiheiten herausgenommen, genauso wie Watson in der Welt dieses Romans 1888 offensichtlich schon ein paar Geschichten mehr veröffentlicht hat. In diesem Sinne: Das Spiel beginnt, oder vielmehr: Das Wild ist auf …

Christian Endres

Prolog

»Willkommen zurück, alter Freund«, sagte Sherlock Holmes und schloss die Tür hinter mir.

»Danke, Holmes«, erwiderte ich und stellte den letzten meiner Koffer im Salon der mir nur allzu vertrauten Wohnung in der Baker Street ab. Anschließend ließ ich den Blick über die Räumlichkeiten schweifen, in die ich nach dem Tod der ersten Mrs. Watson mit äußerst gemischten Gefühlen zurückkehrte. Dass ich an diesem kalten Januarmorgen im Jahre 1888 wieder in 221B einzog und nicht in der nun viel zu großen und vor allem leeren Wohnung in Kensington versauerte, war zum Großteil Holmes’ Verdienst. Zwar war der Detektiv nicht der Erste gewesen, der mich nach Constance’ Tod besucht hatte, doch entpuppte er sich am Ende zweifelsohne als Besucher mit der größten Wirkung.

»Die Wohnung ist zu groß, Watson«, hatte mir mein Freund ohne große Umschweife oder Rücksicht auf meine Verfassung erklärt, als hätte es die jüngste Phase unserer Freundschaft, während derer wir einander nur selten gesehen hatten, nicht gegeben. »Von den anderen offensichtlichen Faktoren ganz zu schweigen. So scheinen Sie mir etwa nicht sonderlich viel am Herd dazugelernt zu haben und sich noch immer auf demselben kulinarischen Niveau wie während Ihrer Dienstzeit in Afghanistan zu bewegen. Jedenfalls lassen die Überreste von Rührei und Speck, die sich da in einem äußerst abwechslungsreichen Trocknungsstadium auf den Tellern in Ihrer Spüle präsentieren, darauf schließen, dass Sie auf sich gestellt keiner allzu ausgewogenen Ernährung frönen. Und wenn das sogar mir auffällt, dann will das wirklich etwas heißen, alter Knabe!«

Holmes hatte noch weitere wenig schmeichelhafte Beispiele zur Hand gehabt, die verdeutlichen sollten, dass ich nicht zum Alleinleben geschaffen war, jedoch konnte er mir trotz aller Offenheit unter Freunden zunächst nie mehr als ein desinteressiertes Murren oder ein unwirsches Knurren entlocken. Dann aber hatte mein einstiger Mitbewohner und Weggefährte mit ernstem Gesichtsausdruck erstmals etwas gesagt, dem es auch tatsächlich gelungen war, die Trauer und die Wut zu durchdringen, die meine Gedanken umhüllten wie einst Aschewolken das antike Pompeji.

»Ziehen Sie wieder in der Baker Street ein, Watson – Mrs. Hudson wird sich bestimmt freuen.«

Mehr, so wurde mir im diesem Moment klar, würde ich nicht bekommen. Zu mehr war Sherlock Holmes – bei aller Freundschaft – schlichtweg nicht in der Lage.

Trotzig hatte ich dennoch um etwas Bedenkzeit gebeten, wenige Tage später schließlich aber mit Mrs. Hudson gesprochen, einen Termin für den Umzug vereinbart und alles Nötige in die Wege geleitet.

Holmes hatte nicht besonders überrascht gewirkt.

Und hier war ich nun also, zurück am Ausgangspunkt so vieler großer und kleiner Abenteuer, die ich bis zu diesem Zeitpunkt bereits an der Seite des berühmten Mr. Sherlock Holmes erlebt hatte, ehe ich erst im Hafen von San Francisco und kurz darauf im Hafen der Ehe eingelaufen war – zurück in jener Junggesellenwohnung, in die ich sieben Jahre zuvor, nach meiner Verwundung in der Schlacht von Maiwand und meiner Rückkehr nach London, dank der Vermittlungshilfe des guten alten Stamford ein erstes Mal eingezogen war, nicht ahnend, was dies für mein weiteres Leben bedeuten sollte.

Seit meinem Auszug vor knapp drei Jahren hatte sich nicht viel in der geräumigen Wohnung im ersten Stock verändert, sah man einmal davon ab, dass Holmes sich nun überall breitgemacht und die Unordnung daher noch einmal deutlich zugenommen hatte. Auch stachen mir ein paar neue Brandlöcher in den Teppichböden, ein Halbkreis großkalibriger Einschusslöcher in der Tür zu meinem ehe- beziehungsweise abermaligen Schlafzimmer und ein hässlicher Sprung in einem der Salonfenster mit nunmehr geteiltem Blick auf die Straße ins Auge. Nicht zu vergessen die Rußflecken und Säurespritzer an der Decke sowie die Streitaxt aus blutbesudeltem Zwergenstahl, die Holmes wie ein Henker in einen seiner vielen vernarbten Arbeitstische zwischen den hoffnungslos überfüllten Buchregalen gerammt hatte.

Arme Mrs. Hudson.

Vermutlich freute sie sich wirklich über meine Rückkehr.

»Wissen Sie, was heute für ein Tag ist?«, fragte Holmes mich auf einmal, und als ich ihn in seinem weinroten Hausmantel und seinen Filzpantoffeln und mit seiner Meerschaumpfeife in der Hand lässig am Fenster lehnen und nachdenklich auf die verschneite Baker Street hinabblicken sah, schien es mir, als sei ich nie fort gewesen.

Natürlich wusste ich es besser und teilte diesen emotional gefärbten Eindruck nicht mit dem stets so rationalen Detektiv.

»Der Tag meines Wiedereinzugs?«, fragte ich stattdessen.

Kurz huschte so etwas wie ein Lächeln über Holmes’ blasse Züge.

»Natürlich, Watson.« Holmes sog geistesabwesend an seiner Pfeife. »Doch das ist nicht das einzige bemerkenswerte Ereignis an diesem Tag. Zumal ich bezweifle, dass der Rest der Stadt großartig Notiz von Ihrer Rückkehr unter Mrs. Hudsons Obhut nehmen wird. Obwohl Londons Junggesellinnen und Witwen vor unterdrückter Aufregung und Hoffnung sicherlich schon zittern und es kaum erwarten können, Ihnen ihr Beileid auszusprechen, sobald Sie sich entschließen, wieder am gesellschaftlichen Treiben teilzunehmen.«

Ich nickte unbehaglich, sowohl wegen Holmes’ vertrautem Spott als auch wegen seines Tadels.

»Ich habe in den letzten Wochen nicht sonderlich viel Zeitung gelesen, Holmes …«

»Und auch sonst nicht viel getan!«, erwiderte mein Freund mit gnadenloser Sachlichkeit. Wahrscheinlich war das seine Art, mir zu sagen, dass die Dinge von nun an wieder besser werden würden. »Heute, Watson, jährt sich die Amtserhebung unseres hochverehrten Herrn Premierminister. Zwei Jahre ist es schon wieder her, dass er sich gegen Lord Salisbury durchsetzen konnte. Kein Wunder bei den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Ein Imperium für ein Imperium, was? Ha! Er hält heute Mittag sogar eine Rede, deren erste Sätze bereits in der Morgenausgabe der Times abgedruckt wurden. Prächtig geschrieben, Watson, wirklich prächtig. Ihr Schriftstellerherz wird vor Entzücken jubilieren.«

Holmes’ scharf geschnittenes Raubvogelgesicht nahm einen harten und zugleich leicht abwesenden Ausdruck an. Ich glaube nicht, dass er noch länger die großen Schneeflocken wahrnahm, die wie Daunenfedern am Fenster vorbeitanzten.

»Heute«, fuhr mein alter und neuer Mitbewohner dafür deutlich leiser und wie an sich selbst gewandt fort, »heute ist es zwei Jahre her, dass mit James Moriarty der Napoleon des Verbrechens zum Premierminister wurde – und damit zum mächtigstem Mann im gesamten Empire …«

Eins

Als Sherlock Holmes und ich im Oktober des Jahres 1888 nach London zurückkehrten, waren wir felsenfest davon überzeugt, den brisantesten Fall dieses ereignisreichen Jahres und womöglich unserer gesamten Zusammenarbeit mehr oder minder erfolgreich überstanden zu haben. Schon bald sollte sich jedoch herausstellen, dass die später so berühmte Episode um die Geschehnisse im Dartmoor lediglich der Anfang eines unvergesslichen Jahresendspurts voller Dramen und Tragödien sein sollte, an dessen Ende London sogar seinem Untergang ins Auge blickte.

Doch ich eile den Ereignissen voraus.

Am Nachmittag des 8. November, da Holmes und ich am Esstisch beisammensaßen, auf dessen gestärktes weißes Tischtuch die fabelhafte Mrs. Hudson Tee, Sandwiches und Gebäck gestellt hatte, wussten wir noch nichts von den Schrecken, die vor uns und der Stadt lagen.

Holmes hatte sich hinter der dünnen Nachmittagsausgabe des Telegraph verschanzt, der er schon zwei oder drei Mal mit der allzeit bereitliegenden Schere zu Leibe gerückt war, um ein paar Schnipsel für sein Archiv zu sichern.

Als ich von meinen Notizen zum Fall des spurlos von einem Luftschiff verschwundenen Tenors aus Mailand aufsah, konnte ich ohne Mühe die Schlagzeilen der mir zugewandten Titelseite entziffern.

Wie es schien, hatte es in der Nacht wieder massive Ausschreitungen zwischen Feenländern und Jacks gegeben – mittlerweile waren alle größeren Londoner Zeitungen dazu übergegangen, die Sympathisanten des Rippers, die dessen Taten guthießen und selbst die gewaltsame Konfrontation mit Elfen, Zwergen, Trollen und anderen Einwanderern aus König Oberons Reich suchten, dem Vorbild der Times folgend so zu nennen.

Natürlich gehörte die größte Schlagzeile der Titelseite dennoch dem Vorbild der Jacks, das immer für neue Schreckensmeldungen oder neue Spekulationen gut war.

Ein anderer Artikel berichtete von einer Gruppe betrunkener Trolle, die sich am frühen Morgen mit ein paar bedauernswerten Beamten des Yards angelegt hatten.

»Was macht eigentlich Ihr Troll?«, fragte ich Holmes, da ich prompt an einen seiner aktuellen Fälle denken musste.

»Er ist nicht mein Troll, Watson«, erwiderte Holmes und legte die Zeitung bei Seite. »Aber wo Sie es schon erwähnen …« Der Detektiv blickte flüchtig auf seine Taschenuhr und verstaute sie sogleich wieder in der Westentasche. »Würden Sie gern der Auflösung dieses Falles beiwohnen, alter Knabe?«

Ich nahm bedächtig einen Schluck Tee. Beim Absetzen der Tasse antwortete ich:

»Wie könnte ich da widerstehen, Holmes?«

Tatsächlich interessierte es mich brennend, ob es meinem Freund wirklich gelingen sollte, den Täter zu überführen, der Mr. Willinghams stattlichen Leibwächter so übel zugerichtet hatte, dass dessen Durchkommen trotz seines harten Trollschädels noch immer nicht als sicher galt.

Mr. Willingham war ein exzentrischer Anwalt aus Knightsbridge, der sich auf Rechtsfälle spezialisiert hatte, in die Feenländer involviert waren – und Partei für diese ergriff. Vorgestern hatte der junge Jurist meinen Mitbewohner aufgesucht und um dessen Hilfe gebeten. Es käme nicht infrage, so Willingham empört, dass der Täter, der seinen Angestellten angegriffen hatte, ungeschoren davonkommen sollte, nur weil die Polizei sich nicht um die brutale Attacke auf einen Troll scherte, der nichts weiter getan hatte, als vor neun Jahren durch eines der Portale getreten zu sein. Ihm ginge es darum, so Willingham weiter, ein Exempel zu statuieren, und zwar für alle Seiten.

Das außerordentliche Gerechtigkeitsempfinden des ebenso ehrgeizigen wie entrüsteten Anwalts mit dem nicht minder außerordentlichen Familienvermögen im Rücken in allen Ehren, schien es mir allerdings selbst für den großen Sherlock Holmes eine schier unlösbare Aufgabe zu sein, dieser Tage eine einzelne Person auszumachen, die einem Feenländer gewaltsam zu Leibe gerückt war.

Es war, traurigerweise, die prominente Nadel im Heuhaufen.

Mein Freund liebte jedoch genau solche Herausforderungen, und so griffen wir nach unseren Wintermänteln, Lederhandschuhen, Hüten und Spazierstöcken und saßen kurz darauf in einer wendigen Droschke, deren Kutscher sich mit mutigen Manövern und lautem Geschimpfe durch den chronisch chaotischen Londoner Verkehr kämpfte.

»Wohin fahren wir?«, fragte ich Holmes.

»Nach Osten, Watson«, erwiderte der Detektiv, der gedankenverloren aus dem Fenster blickte, lakonisch.

Manchmal war Holmes’ Humor so schwarz wie das Gefieder der Raben auf dem Tower, die angeblich Augen und Ohren der Magier in Diensten der BMA waren, die nicht bloß über die Portale im Erdgeschoss, sondern auch über den Rest der Stadt wachten.

»Wohin genau, Holmes?«, versetzte ich laut, um den großen Growler zu übertönen, der mit seinen vier Rädern und genauso vielen Pferden gerade unser kleineres Gefährt überholte und seinem Namen alle Ehre und ferner einen Höllenlärm machte.

»Osten ist Ihnen nicht genau genug?« Holmes’ Lippen kräuselten sich zu einem dünnen Lächeln. »Whitechapel. Im Bloody Butcher gibt es ein paar aussichtsreiche Kandidaten, was die Täterschaft angeht. Ich bin mir sicher, dass wir dort fündig werden.«

»Wieso ausgerechnet dort? Hoffentlich nicht allein wegen des einladenden Namens.«

Holmes warf mir einen dieser Blicke zu. »Angesichts der Schwere der Verletzungen, die dem Opfer zugefügt wurden, ist davon auszugehen, dass die Tatwaffe einmal mehr Aufschluss über den Täter geben könnte«, dozierte mein Freund dann aber doch in seiner unvergleichlichen Art. »Deshalb besah ich mir persönlich die Wunden von Mr. Willinghams Leibwächter, die ohne Zweifel von einem Spitzhammer stammen. Willinghams Arzt Dr. Laurie – kennen Sie ihn? – ist ein guter Mediziner, aber er wird kaum die nötige Expertise für einen solchen Fall besitzen. Erinnern Sie sich noch an meine aufschlussreiche Testreihe mit den Kürbissen?«

Wie könnte ich das nicht! Holmes hatte seinerzeit ein ganzes Wochenende lang vier Dutzend Kürbisse mit allen nur erdenklichen Waffen, Werkzeugen und anderweitigen Gegenständen malträtiert, was zur Folge gehabt hatte, dass Mrs. Hudson sonst so abwechslungsreiche Küche bis zum Ende des Monats in orangefarbener Monotonie gefangen war.

»Die Gasse, in der Willinghams Schatten gefunden wurde«, erklärte Holmes unterdessen weiter, »liegt genau zwischen dem Butcher und einem Armenhaus, das seit Anfang vergangener Woche renoviert wird und unter anderem ein neues Dach bekommt. In den Zeitungen wurde sogar über die großzügige Spende von Lord Claremont berichtet, die diese dringend nötigen Baumaßnahmen ermöglicht hat. Da haben wir also schon mal unsere Tatwaffe.«

»Damit es wie ein Überfall von Zwergen und nicht wie das Werk von ein paar Jacks aussieht?«

Holmes seufzte genervt, wenn auch nicht wegen der Finesse des Rippers und seiner brutalen Anhängerschaft.

»Jetzt denken Sie wieder wie ein Schriftsteller. Der Täter war ein einfacher Arbeiter, Watson, kein kriminelles Genie. Und hätte es wirklich wie ein Übergriff von Zwergen aussehen sollen, wären die Wunden an den Beinen und im Unterleib des Opfers. Das Ganze war mit Sicherheit nicht geplant. Willinghams Leibwächter, der hier in der Nähe einen Botengang zu erledigen hatte, wird mit einem der Handwerker Streit bekommen haben. Gut denkbar, dass der Täter ein Jack ist, aber nicht von grundlegender Bedeutung. Eines kam zum anderen, der Mann verfolgte sein Opfer, und in der Gasse schwang er wie Thor seinen Hammer. In dieser Gasse wäre der Troll auch wie vom Blitz getroffen gestorben, hätte ihn nicht zufällig ein Constable gefunden, dem Herkunft und Rasse egal sind. Oder der noch ein paar Skrupel hat.« Holmes sah mich an. »Es war nicht schwer, sich verkleidet unter die Arbeiter auf der Baustelle zu mischen. In der kurzen Zeit, die ich gestern bei ihnen verbracht habe, bekam ich zwar kein Geständnis zu hören und auch mit Prahlereien hielten sie sich zurück – aber es genügte, um herauszufinden, wann die Männer täglich Feierabend machen und geschlossen den Butcher aufsuchen, der in höchstem Maße geeignet ist, um denjenigen zu überführen, der jemandem wegen seiner feenländischen Herkunft fast den Schädel eingeschlagen hat.«

Wir verspürten wohl beide einiges an Unbehagen ob dieser hässlichen Wahrheit über den moralischen Verfall und die wachsende Macht des Hasses in unserer Stadt, denn den Rest der Fahrt nach Whitechapel schwiegen wir.

Ich nutzte die Stille zwischen uns, um über die Situation in London nachzudenken, für welche die Gewalttat, die Holmes aufklären wollte, sinnbildlich stand.

Die Unruhen zwischen Briten und Feenländern waren schon vor unserer Abreise nach Devon das große Thema in den Schlagzeilen, im Parlament und auch sonst überall gewesen. Sie waren so allgegenwärtig und beharrlich wie der Londoner Nebel, der auch an diesem Tag an der Schwelle zum Winter durch die Straßen im kalten Herzen des Empires zog.

Es war demnach nicht weiter verwunderlich, dass sich die Lage während unserer Abwesenheit weiter zugespitzt hatte, da in den Tiefen des East Ends schon zu viele Elfendamen bestialisch ermordet worden waren, ohne dass Scotland Yard der Auflösung der Morde mit der blutigen Handschrift des Rippers auch nur einen Schritt näher gekommen wäre. Für die Feenländer, die sich in London aufhielten, musste es zuweilen wirklich so aussehen, als interessierte sich die hiesige Polizei keinen Deut für die Gefahr, in der sie alle schwebten, bedroht vom Ripper und denen, die unverhohlen zur Gewalt gegen alle aufriefen, die durch die Portale nach London gekommen waren.

Vielleicht sollte ich für die Leser der ausländischen Übersetzungen meiner Werke bei dieser Gelegenheit noch einmal ausführen, dass seit jeher vor allem Elfen und Zwerge in unsere Welt übergesiedelt sind, obwohl natürlich auch Trolle, Dryaden, Oger, Satyrn, Gnomen, Feen, Goblins und allerhand anderes Volk aus Oberons magischem Reich den Schritt in die für sie neue Welt gewagt haben, seit der Portal Act von 1810 verabschiedet worden ist.

Zwerge und Elfen waren seit dem Portalpakt jedoch mit Abstand am zahlreichsten, und längst wurden viele von ihnen hier in London geboren. Dies führte – genauso wie der illegitime Halbelfen-Sprössling des einen oder anderen Earls – zu anhaltenden Debatten über die Frage der Staatsbürgerschaft eines in London geborenen Kindes mit mindestens einem feenländischen Elternteil.

Letztlich haben sich neben den Zwergen und den Elfen nur noch die Faerie – die Feen, wie sie im Volksmund heißen – in die hiesige Gesellschaft einfügen können. Während die Elfen in erster Linie als Schauspieler oder Musiker und der Liebeskunst willen geschätzt wurden und die meisten Zwerge als unermüdliche Arbeiter am Ausbau des Gleisnetzes unter der Stadt schufteten, hatten sich die Faerie in der Nachrichtenübermittlung eingerichtet und damit eine für sie passende Lücke im geschäftigen Londoner Alltag gefunden. Selten größer als eine Kinderhand, schwirrten sie mit ihren halbtransparenten Flügeln durch die ganze Stadt, um Nachrichten zu übermitteln, womit sie für die Telegrafenunternehmen eine ernsthafte Konkurrenz darstellten. Selbst Holmes griff des Öfteren auf die geflügelten Boten mit ihren scheinbar direkt aus dem Spielzimmerbestand eines Puppenhauses stammenden Umhängetaschen zurück, wenn er innerhalb der Stadtgrenzen auf schnellstem Weg eine kurze Nachricht übermitteln wollte, ohne sich auf technische Verbindungen verlassen zu müssen, die ironischerweise aufgrund der magischen Auren der vielen Feenländer in unserer fortschrittlichen Stadt zugleich immer häufiger temporären Störungen unterlagen und Ausfallzeiten anhäuften.

Von diesen drei Fraktionen abgesehen, hatte sich keine Gruppe oder Gemeinschaft aus Feenland im ebenso komplexen wie komplizierten Gefüge des Londoner Lebens etablieren können.

Im Gegenteil. In Wahrheit hatte der beständige Zuwachs an Einwohnern nur noch mehr Probleme geschaffen, besonders für den Osten der Stadt.

Zynische Menschen würden an dieser Stelle zudem sicherlich darauf verweisen, dass speziell die Eingliederung der Zwerge auch nur deshalb so problemlos geklappt hatte, da das kleine Volk allzeit schwer und zumeist unter Tage plackte – und darüber hinaus auch noch auf Kosten der Trolle vonstattengegangen war.

Was uns wieder zu Holmes’ aktuellem Fall und dem Angriff auf den Troll in Diensten von Mr. Willingham bringt.

Ursprünglich hatte man nämlich gehofft, auch die kräftigen Gebirgsbewohner aus Feenland zum Bau des unterirdischen Schienennetzes einsetzen zu können, dem Lieblingsprojekt der ganzen Stadt, sah man einmal von den Eisenbahngesellschaften und Fuhrunternehmen sowie den Pionieren der Dampfwagen ab. Doch so, wie viele Zwergenclans untereinander zerstritten waren und nur an separaten Streckenabschnitten unter der Stadt eingesetzt werden konnten, waren alle Zwerge und Trolle einander Spinnefeind und hatten diese erbitterte Feindschaft – diese Tradition – aus ihrer Heimat mit nach London gebracht. Gerade als man sich an die Arbeitswut und -kraft der Zwerge gewöhnt hatte, machten diese im plötzlich gegen einen gemeinsamen Feind vereinten Kollektiv mit ein paar Streiks deutlich, dass sie niemals mit Trollen zusammenarbeiten würden. Da die Trolle, die selbst über kein Schriftsystem verfügen, sich beim Erlernen der englischen Sprache äußerst schwer taten, entschied man, lieber ganz auf die fleißigen Zwerge zu setzen und die Trolle vielleicht nicht zum Teufel, aber doch von den Baustellen zu jagen.

Damit verdammte man sie zu einem Leben in Armut. Die wenigsten von ihnen fanden eine Anstellung wie Mr. Willinghams Beschützer. Wenn überhaupt, dann fungierten Trolle eher als Leibwächter für einen Zuhälter oder den Besitzer einer Opiumhöhle. Andere verdingten sich vielleicht noch als Schläger und Türsteher in Londons Unterwelt. Der Großteil lebte fortan jedoch einfach unter den zahlreichen Brücken der Stadt oder in der Kanalisation, meist nur von Abfall, Katzen, Hunden und kleinerem Getier.

Wieder zurück in die Heimat gingen die wenigsten. Trolle blicken nur selten zurück – und wenn sie doch einmal nach vorn sahen, war das nicht immer besser.

Vor zwei Jahren hatten ein paar Londoner Trolle auf Biegen und Brechen ihrem Schicksal in Armut entfliehen wollen und sich zu einer Bande zusammengetan, die den Nordosten terrorisierte. Die äußerst brutalen Überfälle auf Droschken und Passanten hatten für großes Aufsehen und große Empörung gesorgt. Erst als Scotland Yard eine Spezialeinheit gegründet hatte, die entsprechend ausgestattet gegen die urbanen Wegelagerer vorgegangen war, und in der Folge zahlreiche Trollbanditen mit umgebauten Elefantenbüchsen getötet worden waren, hatte sich die Lage zumindest oberflächlich vorerst wieder beruhigt und waren die Trolle ohne Ambition in die Schatten zurückgekehrt.

Angriffe auf sie waren aufgrund ihrer Statur trotz allem Abscheu und aller Verachtung relativ selten. Viel öfter hörte man da schon von Elfen und Zwergen, die mit Menschen aneinandergerieten. Wenn genügend Alkohol floss, hatte es sich vielerorts schnell genug mit dem friedlichen Miteinander erledigt. Schierer Futterneid führte indes dazu, dass elfische und menschliche Schauspieler und erst recht menschliche und elfische Prostituierte einander aus tiefstem Herzen verabscheuten.

Auch zwischen Londons Droschkenfahrern und den Feen gab es reichlich böses Blut, da die geflügelten Boten keine Vorfahrt respektierten und jedes Pferd scheu machten, wenn sie unmittelbar vor seinen Nüstern umherzischten; und so mancher Dampfwagenfahrer lag nicht nur mit seinen traditionell eingestellten Kutscherkollegen im Clinch, sondern hatte sich bei voller Geschwindigkeit bereits mit fatalen Folgen verlenkt, wenn einer der unermüdlich hierhin und dorthin flatternden Faerieboten vor seiner Schutzbrille herumgeschwirrt war.

Es hat mich außerdem noch nie besonders stolz gemacht, wenn Hunde, Ratten, Füchse oder verzweifelte Männer in den Gruben der Spelunken am Hafen aufeinandergehetzt wurden, doch war es geradezu widerwärtig, die Hunde nun gegen Kobolde, Goblins, Zwerge oder sogar Feen antreten zu lassen, denen man die Flügel abgeschnitten hatte.

London hatte also auch ohne das bestialische Treiben des Rippers genügend Probleme zu bewältigen und eine große Kluft zwischen den diversen Bevölkerungsgruppen aus Feenland und England zu überwinden.

Dieser Tage spürte man überall in der Stadt die Spannungen und konnte sie wie den gefrorenen Nebel fast greifen.

Hier in Whitechapel, den Jagdgründen des Rippers und seiner Jünger, war es besonders schlimm.

Holmes kümmerte sich nicht um die aufgeladene Stimmung und führte uns zielsicher durch braune und graue Straßen, enge Gassen und stinkende Hinterhöfe, über denen an Leinen aufgehängte Wäschestücke wie Wimpel des Untergangs im Wind flatterten. Dabei gab er vor, die hungrigen Blicke der zweibeinigen Raubtiere in den Schatten genauso wenig zu bemerken wie die einladenden Gesten und Worte der menschlichen und elfischen Dirnen.

Ohne Rücksicht auf die angespannte Lage strotzte das East End vor Geschäftigkeit, die um Gerbereien, Schlachthöfe und Wäschereien kreiste, die dieser Gegend ihre markante Duftnote gaben. Ungeachtet aller Aktivität produzierte das East End jedoch vor allem Elend und Verdruss für all jene, die hier Tag für Tag gegen den Sog der Armut kämpften, wie mir beim Anblick all der verhärmten, abgestumpften, desinteressierten oder feindseligen Mienen klar wurde.

Nach ungefähr zehn Minuten erreichten wir einen kleinen Pub, der zwischen einer Tischlerei und einem Lebensmittelladen lag, dessen Auslagen im schmutzigen Schaufenster ziemlich kläglich wirkten.

Es schien mir ehrlich gesagt auch nicht gerade die beste aller Ideen, den Bloody Butcher zu betreten, der keinen besseren Eindruck machte als der Rest seiner Umgebung. Natürlich wusste ich, dass es keinen Sinn hatte zu versuchen, Holmes davon abzuhalten. Alles, was ich tun konnte, war, ihm einmal mehr zur Seite zu stehen oder vielmehr den Rücken frei zu halten.

Es waren ausschließlich Menschen anwesend, was dafür sprach, dass der Butcher ein Sammelpunkt für Jacks war.

Sobald wir die rauchverhangene, schummrige Kaschemme betraten, verstummten die Gespräche und das Gelächter.

Alle Blicke richteten sich auf mich und vor allem meinen berühmten Freund, der in diesem Teil der Stadt und dem hier anwesenden Klientel wohl eher als berüchtigt zu bezeichnen war.

»Gentlemen. Die meisten von Ihnen wissen, wer ich bin«, sagte der Detektiv dann auch ohne große Umschweife in die bedrohliche, alles in allem schon jetzt ziemlich feindselige Stille hinein. »Ich bin heute zu Ihnen gekommen, um den Anschlag auf einen Troll aufzuklären, der ganz in der Nähe dieses feinen Etablissements angegriffen wurde.«

»Verpiss dich, du Lackaffe!«, rief einer der Männer aus dem hinteren Teil des Schankraums.

Zustimmendes Gemurmel.

Holmes beeindruckte die zunehmende Feindseligkeit, die sich wie eine Sturmfront vor uns zusammenbraute, wie üblich kein Stück.

»Ich habe meinem Klienten versprochen, denjenigen zu überführen, der seinen Leibwächter fast umgebracht hat«, erklärte der Detektiv den Anwesenden gelassen.

»Selwer schuld, wenner mit ’nem Troll inne Kiste steigt!«, rief derselbe Querulant wie zuvor, und diesmal wurde nicht nur zustimmend gemurmelt, sondern auch laut gelacht und gejohlt, mit den Füßen gestapft und auf die Tische geklopft.

»Danke für Ihre profunde Einschätzung, Sir«, sagte Holmes trocken, sobald es wieder etwas ruhiger geworden war. »Jedenfalls werden wir draußen auf denjenigen warten, der uns etwas über den Angreifer erzählen möchte.«

»Wie kommter drauf, dass euch jemand was verrät?«

»Wir sin keine Verräterschweine!«

»Wir halten zusammen gechen die Pisser von da drüben!«

»Un gechen Pisser wie euch!«

»Jawoll!«

»So isses!«

Holmes, der sich schon halb herumgedreht hatte, hielt noch einmal inne – wie immer ein Meister der Theatralik und der geschickten Inszenierung seiner Person und seines Anliegens.

»Demjenigen, der mir hilft, schulde ich einen Gefallen.«

Das Gezeter erstarb.

Die Stille, die sich an diese Worte erstreckte, war von einer anderen Qualität als zuvor.

Und mit Sicherheit war sie um einiges nachdenklicher.

»Kommen Sie, Watson«, sagte Holmes leise, und wir gingen wieder nach draußen, wo ich zwei Zigaretten aus meinem silbernen Etui spendierte und Holmes uns Feuer gab.

Ich stellte mir vor, wie die Kerle im Butcher einander belauerten und jeder für sich überlegte, was er tun sollte, während er auf dem Boden seines Glases nach der Antwort suchte und seine großspurige Saufbruder-Loyalität gegen einen Gefallen von Sherlock Holmes abwog.

Wir hatten gerade zu Ende geraucht, als der Erste aus dem Butcher trat. Falls es Holmes irritierte oder beunruhigte, dass der massige Raufbold mit dem rasierten Schädel, den Boxerohren und dem Stiernacken schnurstracks an uns vorbeistiefelte, ohne uns eines Blickes zu würdigen, und im Gewimmel des schmutzigen East Ends verschwand, ließ mein Freund sich nichts anmerken.

Vermutlich kümmerte es Holmes auch deshalb nicht besonders, da keine zwei Minuten später ein weiterer Mann herauskam und uns mit sichtlichem Widerwillen ansprach.

»Könnt sein, dass ich Ihnen was zu sag’n hab«, schnarrte er, und an seiner Stimme erkannte ich den vorlautesten der Krakeeler aus dem Schankraum gerade eben.

Ob seiner dem reichlichen Alkoholgenuss geschuldeten Fahne verzog ich angewidert das Gesicht.

Holmes zuckte dagegen mit keiner Wimper.

»Ausgezeichnet!«, rief er nur begeistert und übertönte sogar das laute Brüllen eines Fährmannes, dem eine Horde spielender Kinder vors Pferd gelaufen war. »Ganz ausgezeichnet!« Holmes streckte den Arm aus und deutete auf eine Öffnung zwischen den hohen, windschiefen Hausfassaden, die sich einander über der schmalen Gasse entgegenneigten. »Gehen Sie doch schon einmal vor, guter Mann – wir unterhalten uns dort drüben, am Tatort. Da können Sie uns erzählen, was Sie beobachtet oder gehört haben. Wir kommen gleich nach. Ich habe drinnen noch etwas zu erledigen.«

Der Betrunkene nickte fahrig und marschierte mit starkem Seegang auf die Gasse zu. Holmes packte mich am Ärmel und zog mich in den Eingang, ohne jedoch den Butcher zu betreten.

Ich sah ihn abwartend an. Holmes hielt sich jedoch nicht mit einer Erklärung auf und sah mir lediglich in die Augen, als seien sie Uhren, die eine Zeit anzeigten, die nur in Holmes’ Welt eine Bedeutung hatte.

»Kommen Sie, Watson!«, rief der Detektiv nach einer halben Minute plötzlich impulsiv und rannte mit langen Schritten in Richtung der Gassenöffnung, wobei diesmal er es war, der fast unter die Räder des Brauereifuhrwerks geriet. »Sonst schmeckt der Boden dort drüben noch mehr Blut!«, rief Holmes, der wie die Kinder vor ihm die Flüche des Kutschers ignorierte.

Ich beeilte mich, Holmes zu folgen, doch machte mir meine Kriegsverletzung in den nasskalten Monaten des Jahres schon damals mehr Probleme, weshalb ich mit ein paar Sekunden Rückstand die Gasse erreichte.

Diese kurze Zeitspanne hatte Holmes genügt, um in eine handgreifliche Auseinandersetzung mit dem massigen Glatzkopf verwickelt zu werden, der als Erster aus dem Pub gekommen war. Sie rangen über der am Boden ausgestreckten Gestalt des Betrunkenen, den Holmes in die Gasse geschickt hatte.

Holmes war ein guter Nahkämpfer und kannte einige Tricks und Kniffe – sein Gegner war jedoch ein Bär von einem Mann und hatte selbst beinahe die Statur eines Trolls. Es war ihm gelungen, Holmes den Stockdegen aus der Hand zu schlagen und meinen Freund von hinten zu umklammern.

Ohne zu zögern, stürzte ich mich in den Kampf. Der kahle Hüne hörte mich heranrennen und schleuderte mir deshalb kurzerhand Holmes’ schlanken Körper entgegen. Ich wich meinem Freund aus, der daraufhin genauso wie mein eigener Spazierstock in den Dreck fiel, und verpasste unserem Widersacher dafür eine harte Rechte.

Der Bär taumelte einen halben Schritt zurück, ehe er sich wieder fing. Dann spuckte er zur Seite aus, wischte sich über den Mund und grinste mich boshaft an.

Ich hob die Fäuste.

Der Glatzkopf grinste noch etwas breiter.

Da erschien Holmes an meiner Seite, und auf ein stummes Zeichen hin gingen wir gemeinsam gegen den Kerl vor.

Als ich einem Schwinger nicht ganz ausweichen konnte, taumelte ich allerdings gegen die nächste Hauswand und schürfte mir beim Auffangen die Finger auf. Bevor mir unser Gegner jedoch nachsetzen und den Rest geben konnte, nutze Holmes die Ablenkung, die meine missliche Lage bot, und trat dem großen Mann brutal von vorne gegen die Kniescheibe seines Standbeins. Mit einem hässlichen Knirschen und einem kehligen Schmerzenslaut kam der Riese zu Fall. Ich warf mich sofort auf ihn und hielt ihn mit dem Gesicht nach unten im Dreck, derweil Holmes ihm die Arme hinter den Rücken drehte und dem Hünen mit routinierten Bewegungen Handschellen anlegte.

Anschließend kniete ich neben unserem Informanten nieder, den der Glatzkopf vor Holmes’ Einschreiten wohl schon als Verräter in die Mangel genommen hatte. Erleichtert stellte ich fest, dass ihm nichts fehlte – Kopfschmerzen hätte er nach dieser Feierabend-Zechtour ohnehin gehabt, und die paar Blutstropfen von seiner aufgeplatzten Unterlippe fielen auf seinem fleckigen Kittel nicht weiter auf.

Ich half dem Mann auf die Beine. Holmes kam zu uns und klopfte dem benommenen Handwerker kameradschaftlich auf die Schulter. »Gut gemacht, Sir!«, lobte der Detektiv, während unser aller Angreifer, der gefesselt im Schmutz lag, wenig Nettes über unsere Mütter und ein paar Satyrn zu berichten hatte. »Rufen Sie einen Constable und erklären Sie ihm, worum es geht und dass Sherlock Holmes Inspector Gregson und Mr. Willingham grüßen lässt. Vielleicht gibt es sogar eine kleine Belohnung für Sie, wenn Sie sagen, dass Sie uns halfen, diesen gefährlichen Verbrecher dingfest zu machen. Ohne Ihren Einsatz wäre uns das schließlich nicht gelungen, nur keine falsche Bescheidenheit. Bescheidenheit ist der Tod der Wertschätzung!«

Der Mann nickte ebenso verwirrt wie benommen.

Holmes verließ indes bereits die Gasse.

Ich schnaubte, während ich mir noch die mit Blut und Matsch besudelten Fingerknöchel an einem Leinentaschentuch abwischte und meine ruinierte Hose betrachtete.

Das war wieder einmal typisch: Der Fall war gelöst, und schon verlor der große Sherlock Holmes alles Interesse daran.

Ich verabschiedete mich wortkarg von unserem irritierten Helfer und eilte Holmes hinterher.

»Ich bin beeindruckt, Holmes«, sagte ich, als ich zu ihm aufgeschlossen hatte und wir den trostlosen Kern des East Ends allmählich hinter uns ließen – und mir das Atmen aus mehrerlei Gründen wieder leichterfiel.

»Das sind Sie jedes Mal, Watson. Wieso bemerken Sie es diesmal explizit?«

»Nun … Neuerdings lösen Sie Ihre Fälle nicht mehr nur mit Ihrer Deduktionsgabe, sondern auch mit Ihrer Arroganz. Dem schulde ich einen Gefallen … das ist selbst für Ihre Verhältnisse prätentiös! Nicht zu vergessen die frappierende Hemmungslosigkeit, mit der Sie neuerdings Unwissende und unbeteiligte Dritte in Gefahr bringen.«

Holmes, dessen Hut ein wenig mitgenommen aussah, zuckte unter seinem Mantel mit den knochigen Schultern, als eine Droschke vor uns hielt, die mein Freund mit Handzeichen herbeigerufen hatte. »Immer nur mit Schirm, Charme und Melone wird irgendwann langweilig, alter Freund. Außerdem war unser Lockvogel kein Chorknabe und hat sich bestimmt schon ein oder zwei Mal in seinem Leben geprügelt.«

Damit kletterte er in die Kutsche.

Der Fahrer oben auf dem Gefährt betrachtete mich und wartete ungeduldig darauf, dass ich einstieg.

Holmes deutete einladend auf den freien Platz neben sich.

»Kommen Sie, oder möchten Sie eine eigene Droschke nehmen und Ms. Morstan einen Besuch abstatten, um sich bei Ihrer neuen Herzensdame ausgiebig über meine Methoden auszulassen?«

Zwei

»Was lesen Sie da, Watson?«

Holmes blickte nicht von seiner Zeitungslektüre auf, als er mir diese Frage stellte, und auch ich nahm den Blick nicht von den Seiten des Buches, in dem ich am anderen Ende des Tisches las, auf dem am nächsten Morgen die Überreste unseres Frühstücks standen.

»Ihr Kollege Moore hat kürzlich ein neues Werk veröffentlicht, nicht wahr?«, fuhr der Detektiv leutselig hinter dem Standard fort. »Eine klassische Rittergeschichte über einen Helden und einen Drachen, wenn ich mich nicht täusche. Das sollte doch ganz nach Ihrem Geschmack sein, alter Knabe!«

Ich zuckte andeutungsweise mit den Schultern, denn das war mal wieder bezeichnend: ein Auge für alle noch so obskuren Details, aber ein gigantisches Desinteresse gegenüber den Lesegewohnheiten seines Mitbewohners, da sie mit Sicherheit nichts zu seiner Passion beitragen konnten.

»Mir hat der humorvolle Ansatz gefallen. Jaafs Macksun ist außerdem ein interessanter Held mit vielen Konflikten«, erwiderte ich und legte den Finger zwischen die Seiten meiner Lektüre. »Ich habe das Buch bereits im Zug zurück nach London angefangen und kurz nach unserer Ankunft ausgelesen, Holmes. Aber spätestens da war Ihr Scharfsinn ja bereits wieder einmal um sieben Prozent verringert, fürchte ich.« Ich verschwieg, dass ich Holmes das nach unserer Begegnung mit ausnahmsweise einmal nicht übel nehmen konnte, obschon mein Freund sich selbstredend eher deshalb in die Stimulanz seiner verabscheuungswürdigen Kokainsucht geflüchtet hatte, da es nach diesem imposanten Fall in seinen Augen zunächst nichts Ebenbürtiges gegeben hatte, was seinen Intellekt hätte herausfordern können. Und nach seiner aktiven Mithilfe im Fall der Rippermorde fragte ja niemand.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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