Showdown - P. D. Martin - E-Book

Showdown E-Book

P. D. Martin

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Beschreibung

Du wirst sterben! Ihr erster Fall hätte Sophie Anderson beinahe das Leben gekostet. Doch auch während des längst überfälligen Urlaubs kommt die FBI-Profilerin nicht zur Ruhe: Eine unheimliche Mordserie erschüttert Tucson, Arizona, und Sophies Freund und Kollege Detective Darren Carter kann ihre Hilfe gut gebrauchen. Die Handschrift des Killers variiert von Fall zu Fall – ein ungewöhnlich cleverer Täter, dessen Profil unmöglich zu erstellen ist. Bis sie endlich auf eine Spur stoßen. Sie führt zum «Club der Mörder» ...

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Seitenzahl: 540

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P. D. Martin

Showdown – Der Club der Mörder

Aus dem Englischen von Anja Schünemann

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Du wirst sterben!

Ihr erster Fall hätte Sophie Anderson beinahe das Leben gekostet. Doch auch während des längst überfälligen Urlaubs kommt die FBI-Profilerin nicht zur Ruhe: Eine unheimliche Mordserie erschüttert Tucson, Arizona, und Sophies Freund und Kollege Detective Darren Carter kann ihre Hilfe gut gebrauchen. Die Handschrift des Killers variiert von Fall zu Fall – ein ungewöhnlich cleverer Täter, dessen Profil unmöglich zu erstellen ist. Bis sie endlich auf eine Spur stoßen.

Sie führt zum «Club der Mörder» ...

Über P. D. Martin

Philippa D. Martin ist Verhaltensforscherin und lebt in Australien. Im Rowohlt Taschenbuch Verlag erschien bereits ihr erfolgreiches Debüt ‹Body Count›.

Inhaltsübersicht

Prolog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. KapitelEpilogDanksagung

Prolog

Ein paar Wochen zuvor

SchwarzeWitwe hat den Raum betreten.

AMERICANPSYCHO:

Willkommen, SchwarzeWitwe, du bist die Letzte unserer kleinen Gruppe … und die einzige Frau.

SCHWARZEWITWE:

Entschuldigt die Verspätung. Habe ich was verpasst?

AMERICANPSYCHO:

Nein. Wir sind auch noch nicht lange online.

SCHWARZEWITWE:

Gut.

BEIANRUFMORD:

Also, womit fangen wir an?

NEVERCAUGHT:

Ja, los geht’s.

AMERICANPSYCHO:

Heute klären wir vor allem grundsätzliche Fragen.

NEVERCAUGHT:

Okay, schieß los.

AMERICANPSYCHO:

Erstes Thema ist die Sicherheit. Ich habe einige Vorkehrungen getroffen, in dieses System kommt kein anderer rein. Aber ihr müsst auch euren Teil beitragen. Hat jeder meine Anweisungen aus dem Begrüßungspaket befolgt?

BEIANRUFMORD:

Sicher.

NEVERCAUGHT:

Klar doch.

SCHWARZEWITWE:

Ja.

AMERICANPSYCHO:

Hervorragend. Das ist unsere erste Verteidigungslinie – eure Notebooks sind jetzt alle speziell abgesichert.

NEVERCAUGHT:

Yep, die Anleitung kapiert ja wohl jeder.

AMERICANPSYCHO:

Um die übrigen Sicherheitsfeatures habe ich mich schon gekümmert. Man kann nie vorsichtig genug sein.

NEVERCAUGHT:

Bestens. Damit NeverCaught auch ‹never caught› bleibt.

AMERICANPSYCHO:

Zusätzlich habe ich ein Filterprogramm installiert, das bestimmte Wörter wie eure Berufe, Realnamen, Städte, Staaten usw. durch eine zufällige Anzahl *** ersetzt. Praktisch ohne dass dadurch eine Verzögerung entsteht.

NEVERCAUGHT:

Mann, ich bin echt beeindruckt.

AMERICANPSYCHO:

Geheimhaltung ist ALLEROBERSTES GEBOT. Keine Andeutungen, keine Prahlerei, kein Wort zu irgendjemandem außerhalb dieses Chats! Hier seid ihr sicher. Hier könnt ihr sagen, was ihr wollt. Tut euch keinen Zwang an – im geschützten Rahmen unserer handverlesenen Gruppe dürft ihr euren dunkelsten Fantasien freien Lauf lassen. Sämtliche Kontakte zwischen uns müssen über diesen Chatroom laufen. Versucht niemals, mich oder sonst jemanden aus der Gruppe auf einem anderen Weg zu erreichen, auch nicht über Chats, in denen wir sonst noch aktiv sind! Ich werde alle Neuigkeiten hier posten, und die Profile sind auch über diese Site abzurufen. Und dann ist da natürlich noch unser wichtigstes Feature, Videostreaming. Noch Fragen?

BEIANRUFMORD:

So weit ist alles klar. Danke, AmericanPsycho.

SCHWARZEWITWE:

Was ist mit dem FBI? Ist diese Site auch vor denen sicher?

AMERICANPSYCHO:

Die Site ist in Sachen Datensicherheit und Verschlüsselungstechnik auf dem allerneuesten Stand. Selbst für das FBI ist sie nahezu unmöglich zu hacken … Und wenn es jemand versuchen sollte, würde ich eine Warnmeldung erhalten. Aber ein Restrisiko besteht immer. Falls es dazu kommen sollte, habe ich noch das eine und andere Ass im Ärmel. Und vergesst nicht – wenn etwas schiefläuft, haltet euch an den Notfallplan in eurem Paket.

NEVERCAUGHT:

Logo.

AMERICANPSYCHO:

Okay, damit wäre der langweilige Part abgehakt. Jetzt heißt es warten … nur noch ein paar Wochen. Die Vorbereitungen sind fast abgeschlossen.

NEVERCAUGHT:

Genial.

AMERICANPSYCHO:

Sonst noch Fragen? Oder Anmerkungen?

NEVERCAUGHT:

Ja, eine. DU kennst unsere Namen!

AMERICANPSYCHO:

Ja, ich und nur ich. Eure Geheimnisse sind bei mir bestens aufgehoben. Schließlich bin ich der Vorsitzende des Clubs.

1

Ich hebe meine Smith & Wesson 9 mm Semi-Automatik, stehe mit schulterbreit gespreizten Beinen und ziele auf seine Brust – auf das Herz, um genau zu sein. Die Visierlinie zeigt über Kimme und Korn genau auf den Haltepunkt. Ich hole noch einmal tief Luft, halte dann den Atem an und drücke den Abzug. Die Waffe ruckt, doch nach jedem Rückstoß ziele ich neu und feuere abermals. Ich leere das ganze Magazin – acht Schuss – und genieße das gedämpfte, rhythmische «Klack … Klack … Klack», mit dem die Hülsen vor mir auf den Boden fallen.

«Gute Serie, Anderson.»

Ich zucke ein wenig zusammen und umklammere die Waffe instinktiv noch fester. Doch ich widerstehe dem Drang, herumzufahren und die Pistole erneut in Anschlag zu bringen. Stattdessen drehe ich mich langsam um. Hinter mir steht Andy Rivers, der Leiter der Abteilung Verhaltensanalyse – der Behavioral Analysis Unit, kurz BAU. Ich entspanne mich. Rivers’ dunkles, drahtiges Haar ist an den Schläfen ergraut, das einzige Anzeichen dafür, dass die Jahre – oder auch der Stress – nicht spurlos an ihm vorübergehen. Mein Vorgesetzter ist Mitte vierzig, leitet die Einheit seit fast zehn Jahren und wird wohl noch geraume Zeit auf diesem Posten bleiben, denn er leistet hervorragende Arbeit. Ich nehme den Gehörschutz und die Schutzbrille ab, um mich besser mit ihm unterhalten zu können.

«Hi, Boss.» Mit einem Blick auf den Pappkameraden stelle ich fest, dass sämtliche Einschusslöcher dicht um das Herz herum gruppiert sind. «Danke.»

Ich stehe in Kabine zwölf auf einem der FBI-Schießstände in Quantico, Virginia. Unsere Einheit ist Teil des National Center for the Analysis of Violent Crimes (NCAVC), und wir sind ebenso wie das Ausbildungszentrum für neue Rekruten und einige weitere Einheiten auf dem fast hundertsechzig Hektar großen Gelände der FBI Academy untergebracht. Dieser eindrucksvolle Komplex umfasst drei Wohnheime, einen Speisesaal, eine Bibliothek, einen Hörsaal, eine Kapelle, eine Sporthalle, eine große Aschenbahn, ein Fahrtrainingsgelände, mehrere Schießstände und die berühmte Hogan’s Alley – einen nachgebauten Straßenzug, in dem Einsätze geprobt werden. Seit ich vor einem Jahr zum FBI gekommen bin, habe ich hier eine Menge Zeit verbracht … Inzwischen ist es fast meine Heimat.

Ich betätige den Knopf für den Seilzug, und das Ziel gleitet auf mich zu. Jede der fünfzehn Kabinen ist mit einem solchen System ausgestattet, mit dem man die Ziele zwischen der Kabine, der Fünfundzwanzig- und der Fünfzig-Yards-Markierung hin und her bewegen kann. Als ich noch neu in den Vereinigten Staaten war, musste ich ständig ins metrische System umrechnen, aber inzwischen habe ich mich an die amerikanischen Maßeinheiten gewöhnt. Auf der Zielscheibe ist in Schwarz die Silhouette eines menschlichen Oberkörpers aufgedruckt. Ich betrachte sie näher. Nachdem ich drei Magazine geleert habe, ist die Herzgegend von den vielen Einschüssen völlig zerfetzt.

Ich habe schon immer Wert auf regelmäßiges Schießtraining gelegt – nicht nur in den letzten paar Wochen vor unserer jährlichen Prüfung, wie manche Kollegen. Aber seit ich an einem speziellen Fall gearbeitet habe, der mir besonders naheging, trainiere ich noch viel mehr. So viel, dass es über das übliche Maß weit hinausgeht. Manchmal bringe ich Stunden hier auf dem Schießstand zu und feuere wieder und wieder meine Waffe ab, rhythmisch, wie in Trance.

Rivers lächelt flüchtig, dann deutet er auf den Pappkameraden. «Jemand, den wir kennen?», fragt er ruhig.

Ich weiß, worauf er anspielt, will jedoch nicht darüber sprechen. Schlimm genug, dass ich auf seine Anordnung noch immer alle zwei Wochen zu einer Sitzung bei der FBI-Psychologin Dr. Amanda Rosen muss. Die Sache liegt ein halbes Jahr zurück, ich sollte endlich darüber hinweg sein.

Ich zucke die Schultern. «Reines Routinetraining.» Das ist gelogen, und er weiß es. Ich beiße mir auf die Lippe und beginne, die Pistole neu zu laden, um meinen Chef nicht ansehen zu müssen.

Rivers beobachtet, wie ich die Patronen nacheinander ins Magazin drücke. «Reines Routinetraining, soso», wiederholt er hörbar skeptisch.

Ich bemühe mich um eine gelassene Körpersprache und sage so unbeschwert wie nur möglich: «Sie wissen doch, ich bin Perfektionistin.»

Er schiebt die Brille hoch und mustert mich mit seinen dunkelbraunen Augen. «Gerade deshalb wollte ich Sie ja in meinem Team haben.»

Ich nicke und lächle, und das Lächeln ist echt. Ich empfinde es als Ehre, dass Rivers gerade mich für sein Profilerteam ausgewählt hat. Die Victoria Police hatte mich zum sechswöchigen International Program der FBI Academy hergeschickt, und auf diese Weise bekam ich unverhofft ein Jobangebot. Seltsam, wie manchmal eins zum anderen führt.

«Tja, ich fange jetzt wohl besser auch an zu trainieren. Meine jährliche Schießprüfung steht bevor.» Er zwinkert mir zu und geht in die Kabine neben meiner.

«Sie können mir nichts vormachen. Sie kommen bestimmt öfter als einmal im Jahr hier runter.»

«Kann schon sein. Aber behalten Sie es für sich, Anderson.»

Ich lache, setze Gehörschutz und Brille wieder auf und befestige einen neuen Pappkameraden in der Halterung. Als er die Fünfzig-Yards-Marke erreicht, hebe ich die Pistole und durchlöchere seine Brust.

 

Heute trägt Dr. Amanda Rosen den Hosenanzug mit den Nadelstreifen – eine gerade geschnittene, elegante Hose, dazu eine weiße Bluse, die über der Brust ein wenig spannt. Das helle Oberteil bringt ihren kräftigen Teint besonders gut zur Geltung. Über ihrer Stuhllehne hängt die dazu passende kurze Bolerojacke. Die Psychologin geht Verschiedenes, worüber wir bereits gesprochen haben, noch einmal durch, vergewissert sich einiger Details. Sie ist sehr gründlich. Der Fall, an dem ich vor einem halben Jahr beteiligt war, ist aus dem Ruder gelaufen, und Dr. Rosen will sicher sein, dass ich das Geschehene inzwischen verarbeitet habe.

Normalerweise werden wir FBI-Profiler in Fällen hinzugezogen, in denen die Polizei nicht weiterkommt. Wir arbeiten selten direkt vor Ort, sondern meist anhand von Fotos und Berichten vom Tatort, die manchmal bereits Monate oder sogar Jahre alt sind. Aufgrund dieses Materials erstellen wir ein Täterprofil und schicken es den zuständigen Cops. Wir haben allerdings auch manchmal Außeneinsätze, so wie in dem besagten Fall. Es handelte sich um eine besonders spektakuläre Angelegenheit, die Jagd nach dem so genannten D.C.-Slasher, dem «Schlitzer von Washington». Zwei Profiler wurden eigens dafür abgestellt. Doch die Sache ging schief, der Killer nahm das FBI aufs Korn … und schließlich mich.

Dr. Rosen beobachtet mich aufmerksam, versucht, meine Körpersprache zu deuten, meine Fassade zu durchdringen. Und ich bemühe mich, ihr den Eindruck zu vermitteln, es gelinge ihr. Normalerweise fallt ihr dunkelbraunes Haar locker um das Gesicht, doch heute trägt sie es zu einer Rolle aufgesteckt, aus der sich kleine Strähnen gelöst haben. Sie hat mir eine Frage gestellt, und während sie auf meine Antwort wartet, sieht sie mich mit ihren einfühlsamen dunkelbraunen Augen an. Diese Augen sind ihre stärkste Waffe. Wenn ich ihr gegenübersitze, fühle ich mich manchmal nackt, als würde sie mich und meine Scharade auf Anhieb durchschauen.

«Ja, es läuft gut», sage ich.

Ich habe ihr nicht erzählt, was mich an diesem Fall am meisten erschüttert hat, und werde das auch nie tun. Ich kann der FBI-Psychologin unmöglich anvertrauen, dass ich Träume und Visionen hatte, die Wirklichkeit geworden sind. Verdammt, ich kann es ja selbst kaum glauben, erst recht, da ich seitdem nie wieder etwas Derartiges erlebt habe.

«Sie haben also das Gefühl, mit dem Fall abgeschlossen zu haben, Sophie.»

Ich atme ruhig durch, hüte mich, zu hastig zu antworten. Sie darf nicht merken, wie verzweifelt ich sie zu überzeugen versuche. «Das alles war natürlich nicht leicht für mich, aber ich mag meinen Job. Ich mag es, diesen Kampf zu führen.»

«Ja.» Sie wirft einen Blick in ihre Notizen, dann sieht sie mich wieder an. «Der Kampf. Sie verbringen neuerdings viel Zeit auf dem Schießstand und im Fitnessraum.»

Ich zucke die Schultern. «Ich bin eben gern aktiv.» Eine Halbwahrheit. «Untätig herumzusitzen und fernzusehen ist nichts für mich.»

«Nein, das passt nicht zu Ihrem Persönlichkeitsprofil. Aber vielleicht gibt es noch andere Gründe?»

Sie lässt die Frage im Raum stehen. Ich weiß, was sie hören will, und beschließe aus taktischen Gründen, ihr entgegenzukommen.

Ich nicke. «Ja, ich habe in letzter Zeit ein verstärktes …» – ich suche nach dem richtigen Wort – «… Sicherheitsbedürfnis.»

«Geht es Ihnen dabei um das Gefühl, die Kontrolle zu besitzen?»

«Ja», antworte ich langsam, so, als müsste ich erst darüber nachdenken. «Stark zu sein, körperlich fit und zielsicher mit der Pistole, das gibt mir Sicherheit.»

«Wie viel Zeit widmen Sie dem Training?»

Mir ist klar, dass sie die genaue Auflistung meiner Trainingszeiten vor sich liegen hat. Wir müssen bei jedem Betreten und Verlassen des Fitnessraums unsere Ausweiskarte durch den Scanner ziehen, und die Daten werden automatisch erfasst. Dasselbe gilt für den Schießstand.

Ich zucke erneut die Schultern, bemühe mich, locker zu wirken. Nach einer längeren Pause antworte ich: «Wohl so eine Stunde täglich.» Allerdings verschweige ich Dr. Rosen meine morgendlichen Dauerläufe und die mitternächtlichen Ausflüge in den Fitnessraum meines Apartmentkomplexes. Sie weiß nichts Genaues von meinen Schlafstörungen … und das soll auch so bleiben.

«Das erscheint mir ziemlich viel.»

«Ach, eigentlich ist das ganz normal. Man muss eben zusehen, dass man in Form bleibt», sage ich mit einem gezwungenen Lächeln. «Und dann ist da noch der ewige Kampf mit den Kalorien …» Ich klopfe mir mit der Hand auf den Bauch. Dabei bin ich in Form wie noch nie in meinem Leben. Mein Tagesprogramm umfasst Kung-Fu-Übungen und sogar Body Conditioning, damit ich Schläge durch Körperspannung abdämpfen und härter blocken kann. Niemand kommt an mich ran.

Ich schließe die Augen und sehe einen Moment lang, wie er sich über mich beugt. Zum Teufel mit diesen Erinnerungen.

 

AMERICANPSYCHO:

Das sind die letzten zwei.

BEIANRUFMORD:

Susie Dean und Jonathan Cantor.

AMERICANPSYCHO:

Yep. Wir werden sie und die anderen sechs in den nächsten acht Wochen sehr genau kennenlernen.

BEIANRUFMORD:

Acht Personen, acht Wochen.

AMERICANPSYCHO:

Genau.

BEIANRUFMORD:

Und gerecht aufgeteilt. Zwei für jeden.

NEVERCAUGHT:

O Mann, ich kann’s kaum erwarten!

SCHWARZEWITWE:

Aber es sind drei Männer – Jonathan, Danny und Malcolm. Das bedeutet, drei für mich!

NEVERCAUGHT:

Stimmt. Hey, warum eigentlich?

AMERICANPSYCHO:

Sechs Frauen und zwei Männer wäre eine komische Zusammensetzung gewesen. Die Frauen so deutlich in der Überzahl – das hätte womöglich jemanden stutzig gemacht.

BEIANRUFMORD:

Du bist wahrhaft umsichtig, Psycho.

NEVERCAUGHT:

Sch*** geschwollenes Gelaber.

NEVERCAUGHT:

Was zum ***?

AMERICAN PSYCHO:

Meine Software zensiert auch Kraftausdrücke, Never.

NEVERCAUGHT:

Mir doch egal.

AMERICANPSYCHO:

Zur Sache. Habt ihr euch die Lebensläufe angesehen?

BEIANRUFMORD:

Ja.

NEVERCAUGHT:

Yep. Mann, ist das geil. Wir haben Cindy das Showgirl aus Vegas, Malcolm den Gigolo, Danny den besch***** Macho, Brigitte die exotische Sexbombe, Ling die Schüchterne, Claire die Sängerin, Susie die Möchtegern-Schauspielerin und Jonathan den Computerfreak.

SCHWARZEWITWE:

Jonathan ist süß.

BEIANRUFMORD:

Mir gefallen sie alle. Gute Wahl, einer wie der andere. Du verwöhnst uns, Psycho.

AMERICANPSYCHO:

Ich sag doch, mein Plan ist genial.

SCHWARZE WITWE:

Ja, gut gemacht. Das ist so richtig was zum Genießen.

NEVERCAUGHT:

Macht viel mehr Spaß als Stalking.

BEIANRUFMORD:

Und die Krönung ist: Sie sind wirklich vollkommen ahnungslos.

NEVERCAUGHT:

Genau. Ich halt’s kaum noch aus, bis ich den Ersten umlegen kann.

2

Als ich in die Tiefgarage meines Apartmentblocks fahre und meinen Buick auf dem reservierten Stellplatz parke, ist es noch früh, erst sechs Uhr abends. Mein Apartment liegt in Alexandria, praktischerweise genau auf halber Strecke zwischen Washington D.C. und Quantico.

Ich trage meine Handtasche und die Einkaufstüte absichtlich mit links, damit ich die rechte Hand frei habe: um das Auto abzuschließen, den Aufzugknopf zu drücken, die Tür zu öffnen … und nach der Pistole zu greifen. Eine Frau muss schließlich auf alles gefasst sein.

Während ich die Tiefgarage durchquere, klacken die flachen Absätze meiner Stiefeletten leise auf dem Beton. Ich betätige den Aufzugknopf, warte und schaue mich wachsam um. Tiefgaragen und Parkplätze sind die Orte, an denen Frauen am häufigsten von Fremden vergewaltigt werden. Ein kurzer Blick auf das Display – der Aufzug ist in der vierzehnten Etage und bewegt sich im Schneckentempo abwärts. Als er endlich kommt und sich die Tür öffnet, atme ich erleichtert auf. Bis jetzt war mir kaum bewusst, dass ich vor Anspannung die Luft angehalten habe.

Der Aufzug fährt fast geräuschlos zur zweiten Etage hinauf, wo die Tür mit dem vertrauten «Ping» zur Seite gleitet. Die Flure in meinem Apartmentblock sind blaugrau gestrichen, die Böden grünlich blau gefliest. Teppichboden würde im Winter durch den Schnee, den man an den Schuhen hereinträgt, zu stark verschmutzen. Da ich in Australien aufgewachsen bin, habe ich bislang noch nie in einer Stadt gelebt, in der es schneit. Letztes Jahr habe ich zum ersten Mal weiße Weihnachten erlebt – meinen ersten «richtigen» Winter, wie man hier sagt.

Ich steuere auf die Tür mit der Nummer 310 zu und zücke im Gehen den Schlüsselbund. Um die Schlüssel zu unterscheiden, benutze ich ein System mit farbigen Ringen: In das oberste Schloss passt der rote Schlüssel, darunter kommt der gelbe, dann der grüne. Wie bei einer Ampel. Nachdem ich alle drei Schlösser geöffnet habe, drehe ich den Türknauf, trete ein und lege schnell meine Handtasche und die Einkäufe auf der Küchentheke ab. Dann ziehe ich meine Pistole und inspiziere die Wohnung. Leider muss ich gestehen, dass ich diese Angewohnheit bereits vor dem Slasher-Fall hatte.

Nachdem ich mein Einzimmerapartment gründlich durchsucht und sichergestellt habe, dass ich allein bin, stecke ich meine Waffe zurück ins Halfter und lasse die Stille in der leeren Wohnung auf mich wirken. Aber ich werde nicht ruhiger, im Gegenteil. Seufzend denke ich an den Kollegen aus meinem Profilerteam, Josh, der neulich umgezogen ist. Er war mehr als nur ein guter Freund. Es heißt zwar immer, man solle Beruf und Privatleben voneinander trennen, aber ich fand, dass es zwischen uns etwas Besonderes gab. Jedenfalls so lange, bis dieser Fall alles zunichtegemacht hat. Kann man gebrochenes Vertrauen jemals wieder aufbauen? Er hat behauptet, er habe nicht um die Versetzung ins Philadelphia Field Office gebeten, aber ich konnte das nicht recht glauben. Und als er dann noch sagte, es sei «vielleicht ganz gut, für eine Weile auf Abstand zu gehen», war mein Verdacht bestätigt. Mir scheint, es ist Zeit, den Tatsachen ins Auge zu blicken: So wunderbar unsere Beziehung auch begonnen hat, letztlich hat es mit uns beiden eben doch nicht geklappt.

Ich verdränge die Gedanken an ihn und mache mich daran, das Abendessen vorzubereiten. Eine halbe Stunde später sitze ich vor einem Teller mit gegrilltem Lachs und Couscous-Salat und nippe an einem Glas Wein aus einer eben erst geöffneten Flasche Semillon. Normalerweise trinke ich lieber Rotwein, aber zu Fisch passt weißer einfach besser.

Während des Essens nehme immer wieder einen kleinen Schluck Wein. Als das Glas leer ist, fülle ich es nach, schwenke es und beobachte, wie die Flüssigkeit darin kreist. Selbstverständlich werde ich die Flasche nicht austrinken; das dürfte ich gar nicht. FBI-Agenten müssen, wenn sie nicht gerade Urlaub haben, jederzeit «diensttauglich» sein, und diese Vorschrift betrifft auch den Alkoholgenuss. Dies ist mein drittes und letztes Glas für heute. Allerdings könnte ich mir gut vorstellen, die Flasche zu leeren. Vielleicht würde mir das helfen, mich endlich zu entspannen. Ich habe Psychologie studiert; mir ist klar, dass ich in Bezug auf Alkohol einer Risikogruppe angehöre. Ein Hoch auf die Konsumbeschränkungen des FBI – ich bin einfach zu brav, um gegen Dienstvorschriften zu verstoßen.

Ich verschließe die angebrochene Flasche mit einer Weinpumpe, damit das Bouquet erhalten bleibt, und mache es mir auf der Couch bequem. Da mir die Stille nicht behagt, schalte ich den Fernseher ein und zappe durch die Kanäle auf der Suche nach einer Sendung, die mich interessiert und mich von meinen düsteren Gedanken an Vergewaltigungsstatistiken und dergleichen ablenkt. Keine Sendung schaue ich länger als ein paar Sekunden, nichts kann mich fesseln. Das sagt allerdings wohl mehr über meine Stimmung aus als über das Fernsehprogramm. Schließlich bleibe ich bei den Nachrichten hängen, trinke dabei mein Glas aus und spüle dann das Geschirr.

Später rufe ich zu Hause an.

«Hi, Mum.»

«Hallo, Liebes.» Meine Mutter klingt ganz aufgeregt. «Schön, von dir zu hören. Und, wie geht es dir so in den Staaten?»

«Hervorragend, alles bestens.» Ich habe Mum und Dad nichts von den Vorfällen erzählt. Sie würden ausrasten. Und alles daransetzen, mich zu überreden, dass ich meinen Job beim FBI aufgebe. Anfangs habe ich ihnen die Sache verschwiegen, weil ich mich nicht in der Lage fühlte, darüber zu sprechen. Später wurde mir klar, dass ich eine Lawine lostreten würde, ein ewiges «Wir haben es dir ja gesagt», und dass sie mich unter Druck setzen würden aufzuhören. Und jetzt … Tja, jetzt ist es wohl zu spät.

«Und die Arbeit?» Ihr Tonfall verändert sich. Sie fragt danach, weil man sich nun einmal nach so etwas erkundigt, weil sie weiß, dass es mir viel bedeutet, nicht aus echtem Interesse. Meine Eltern wollten nie, dass ich diesen Beruf ergreife.

«Läuft hervorragend», erwidere ich, ohne ins Detail zu gehen. «Und, was gibt es Neues in Melbourne?» Ich lehne mich auf der Couch zurück.

«Mmm.» Sie überlegt kurz. «Dein Dad ist immer noch wie aufgezogen.»

Ich lache. «Das ist nichts Neues, Mum.» Dad ist vor einem halben Jahr in den Ruhestand getreten und tut sich noch schwer mit der Umstellung. Ich glaube, für ihn ist das Leben als Rentner so ungewohnt wie für einen Schwerkriminellen das Leben außerhalb eines Gefängnisses.

Ein Klacken verrät mir, dass ein zweiter Telefonhörer abgenommen wurde.

«Wie geht es meinem kleinen Mädchen?» Dads amerikanischer Akzent ist über die Jahre schwächer geworden, aber man hört noch immer unverkennbar heraus, woher er stammt.

«Prima, Dad.»

«Ich hoffe doch, du arbeitest nicht an irgendwelchen gefährlichen Fällen.» Seine Stimme klingt jetzt besorgt.

In gedehntem Singsang erwidere ich: «Nein, Dad.» Das ist nicht einmal gelogen. Im Augenblick arbeite ich an keinem gefährlichen Fall.

«Wir machen uns wirklich Sorgen um dich», sagt Mum mit einem Seufzer.

«Es geht mir gut.» Schweigen. «Wirklich.» Ich knabbere an der Unterlippe, ziehe sie mehrmals zwischen die Schneidezähne und lasse sie wieder los.

«Freust du dich schon auf deinen Urlaub?», fragt Dad, offenbar, um das Gespräch auf ein weniger verfängliches Thema zu lenken.

Ich lasse den Kopf gegen die Lehne der Couch sinken und höre auf, an der Unterlippe zu nagen. «Und wie. Auch wenn es nur eine Woche ist – es tut bestimmt gut, mal rauszukommen.»

Die folgenden zwanzig Minuten vergehen mit harmlosem Geplauder. Als ich schließlich auflege, fühle ich mich ruhiger. Aber binnen Minuten zerrt die Stille erneut an meinen Nerven. Ich schaue auf die Uhr. Zu früh zum Schlafengehen. Noch einmal zappe ich durch das Fernsehprogramm, dann entscheide ich mich schließlich dafür, etwas zu lesen. Ich drehe die Heizung auf die niedrigste Stufe und lege mich mit meinem neuesten Kathryn-Deans-Roman auf die Couch. Während ich Seite um Seite verschlinge, schaue ich nur hin und wieder über die Schulter.

Irgendwann schrecke ich aus dem Schlaf auf und lasse meinen Blick hastig durchs Zimmer schweifen, um mich zu vergewissern, dass ich allein bin. Ich liege immer noch auf der Couch, das Buch ist mir aus der Hand gefallen. In meinem Mundwinkel sitzt ein Tropfen Speichel, und ich bemerke an dem Kissen, an das ich mich gelehnt habe, eine feuchte Stelle. Na herrlich. Ich sabbere im Schlaf.

Ich ziehe meine Trainingskleidung an, wie meist, wenn ich nachts nicht schlafen kann, und packe meine Pistole, eine Flasche Wasser, ein Handtuch und meine Handschuhe in eine kleine Tasche. Oben im Fitnessraum in der vierzehnten Etage mache ich ein paar Aufwärmübungen, dann steige ich auf das Laufband. Während der ersten fünf Minuten steigere ich allmählich das Tempo bis an die Grenzen meiner Leistungsfähigkeit. Eine Stunde und zehn Meilen später schalte ich das Laufband auf Schritttempo herunter und trinke durstig von meinem Wasser. Meine Beine sind so zittrig, dass ich kaum noch stehen kann. Ich unterdrücke einen Anflug von Übelkeit, indem ich noch mehr Wasser trinke. Danach ziehe ich die Handschuhe an und begebe mich zum Sandsack, um meine Kung-Fu-Schläge zu üben.

Als ich schließlich wieder in mein Apartment komme, durchsuche ich noch einmal alles mit vorgehaltener Waffe, dann gehe ich unter die Dusche. Endlich falle ich ins Bett, starre an die Decke und warte darauf, dass sich mein Adrenalinspiegel normalisiert. Logisch betrachtet ist Sport kein gutes Mittel gegen Schlaflosigkeit, aber bei mir scheint es das Einzige zu sein, was mich beruhigt und mir hilft, meine Wut abzureagieren.

Ich könnte den Mistkerl umbringen – wenn ich es nicht bereits getan hätte.

 

NEVERCAUGHT:

Sch**, ich dachte schon, es wird nie Mittwoch.

BEIANRUFMORD:

Wirklich? Ich finde, die Tage sind ziemlich schnell vergangen.

AMERICANPSYCHO:

So, jetzt ist also fast eine Woche um. Und, wer gefällt uns am besten?

SCHWARZEWITWE:

Danny kann ich jedenfalls nicht leiden. So ein Arschloch – noch schlimmer als die meisten anderen.

NEVERCAUGHT:

Männerhasserin.

BEIANRUFMORD:

Ich mag Ling ganz besonders.

SCHWARZEWITWE:

Wegen dem australischen Akzent?

BEIANRUFMORD:

Auch, aber nicht nur. Schönheit und Bescheidenheit, das ist eine seltene Kombination.

SCHWARZEWITWE:

Was wissen wir eigentlich über sie?

AMERICANPSYCHO:

Hast du den Steckbrief nicht gelesen?

SCHWARZEWITWE:

Mit den Frauen hab ich mich nicht abgegeben.

BEIANRUFMORD:

Sie ist 18, für ein halbes Jahr in die Staaten gekommen, danach will sie zu Hause in Sydney Medizin studieren. Sie ist aus China adoptiert. Ihre Adoptiveltern stammen aus Italien.

SCHWARZEWITWE:

Danke für die Aufklärung.

BEIANRUFMORD:

Für wen bist du, Psycho?

AMERICANPSYCHO:

Brigitte.

BEIANRUFMORD:

Die ist eine Schönheit.

AMERICANPSYCHO:

Allerdings. Also, Zeit für die Entscheidung.

BEIANRUFMORD:

Wir sollten Danny nehmen. Er hat eine militärische Ausbildung, das gefällt mir nicht.

SCHWARZEWITWE:

Danny? Dann aber ohne mich. Ich spiele gern vorher ein bisschen mit meinem Opfer, und mit Danny könnte ich unmöglich.

NEVERCAUGHT:

Wieso gerade Danny? Brigitte will ich. Die ist scharf.

AMERICANPSYCHO:

Ich glaube, ich bin eher ihr Typ.

NEVERCAUGHT:

Als ob sie da was mitzureden hätte.

BEIANRUFMORD:

Eben.

AMERICANPSYCHO:

Als Ersten sollten wir doch lieber Malcolm oder Danny nehmen. So wird die Sache spannender.

BEIANRUFMORD:

Das macht doch keinen Spaß. Mir jedenfalls nicht.

NEVERCAUGHT:

Hey, Psycho, dürfen die anderen eigentlich zusehen?

AMERICANPSYCHO:

Ihr habt die Möglichkeit, Videos und Fotos hier hochzuladen, nur darf euer Gesicht darauf nicht zu erkennen sein. Aber jeder kann selbst entscheiden, ob er die anderen teilhaben lässt.

NEVERCAUGHT:

Ich find’s geil, ein bisschen damit anzugeben.

AMERICANPSYCHO:

In den Päckchen, die ihr alle bekommen habt, ist auch eine Digicam. Und eine Anleitung, wie man Fotos vom Notebook auf die Website hochlädt. Außerdem haben wir ein eigenes Haus zur Verfügung, wo ihr mit eurem Opfer ungestört seid. In dem Haus sind allerdings keine Kameras installiert.

SCHWARZEWITWE:

Du hast wirklich an alles gedacht, Psycho.

AMERICANPSYCHO:

Klar doch.

NEVERCAUGHT:

Nur noch ein paar Stunden, dann hat einer von uns das erste Opfer des Mörderclubs in den Händen.

SCHWARZEWITWE:

Ich kann es gar nicht erwarten.

3

Ich erwache vom Klingeln meines Telefons und sehe auf die Armbanduhr – acht Uhr morgens. Wie konnte ich so lange schlafen? Ich werde zu spät zur Arbeit kommen! Ich werfe meinem Wecker einen bösen Blick zu, auch wenn es wohl eher menschliches Versagen war – mein Fehler.

Hastig nehme ich den Telefonhörer ab. «Hallo.» Ich bemühe mich, wach und munter zu klingen, bezweifle allerdings, dass es mir gelingt.

«Hallo, Sophie. Habe ich dich geweckt?»

Okay, es ist also nicht gelungen. «Nein, natürlich nicht», schwindle ich.

«Wie geht es dir?»

Mein träger Verstand kommt endlich in Gang, und ich erkenne die Stimme. «Gut, danke, Darren. Und dir?»

Ich habe im Fall des D.C.-Slashers mit Detective Darren Carter vom Morddezernat in Tucson zusammengearbeitet. Er ist ein guter Polizist und ein sympathischer Kerl. Wäre ich damals nicht bereits an einen anderen vergeben gewesen, hätte sich zwischen uns vielleicht mehr als nur eine berufliche Beziehung entwickelt. Aber ich hatte nun mal einen anderen, Punkt.

«Ganz gut», sagt Darren. «Bleibt es dabei, dass du deinen Urlaub hier verbringst?» Er hört sich ein wenig unsicher an – womöglich denkt er, ich würde es mir in letzter Minute anders überlegen.

«Natürlich.» Ich steige aus dem Bett. «Ich fliege am Freitag … Himmel, das ist ja schon morgen.»

Er lacht. «Ja, allerdings.» Eine Pause. «Hattest du in letzter Zeit nochmal solche Träume?»

Darren ist der Einzige, der von meinen übersinnlichen Wahrnehmungen weiß. Er war dabei, als ich in einer besonders realistischen Vision den Mord an einer jungen Frau «miterlebte». Ich erinnere mich noch, wie er mir eröffnete, seine Tante habe ebenfalls «die Gabe» gehabt.

«Nein.»

«Ist das ein gutes Zeichen?»

«Das kann ich noch nicht sagen.»

«Hmmh», erwidert Darren.

Eigentlich bin ich unendlich erleichtert, dass ich nicht mehr von ermordeten Frauen träume, nicht die perverse Lust des Mörders empfinde. Das hat mich wirklich fertiggemacht. Aber letztendlich hat es dazu beigetragen, dass der Slasher-Fall aufgeklärt wurde, und genau da kommen die Schuldgefühle ins Spiel: Diese Visionen haben mir geholfen, Leben zu retten. Heißt das, wenn ich wieder solche Erscheinungen hätte, könnte ich weitere zukünftige Opfer vor irgendeinem mordenden Psychopathen bewahren? In diesem Fall müsste ich hoffen, wieder jene Träume zu haben.

«Und, arbeitest du zurzeit an etwas Interessantem?», erkundige ich mich, um das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken.

«Wir haben hier gerade einen Profimord. So etwas kommt bei uns selten vor.»

«Irgendwelche Anhaltspunkte?»

«Nichts Nennenswertes.»

«Tja, das haben Profimorde wohl so an sich.»

Er lacht. «Es gibt aber auch erfreuliche Nachrichten: Es ist mir gelungen, ein paar Tage freizunehmen, damit ich dir die Gegend zeigen kann.»

«Hervorragend», erwidere ich. «Tja, ich muss jetzt zur Arbeit, bin spät dran. Dein Angebot, dass ich bei dir im Gästezimmer schlafen kann, steht noch?»

«Na klar! Dann bis morgen.»

«Ja, bis morgen früh um neun.»

 

SchwarzeWitwe hat den Raum betreten.

BEIANRUFMORD:

Endlich, da ist sie wieder. War es gut, SW?

SCHWARZEWITWE:

Ja. Er hat keinen Moment gezögert, als ich mich rangeschmissen habe. Hielt sich wohl für unwiderstehlich. Ihr Männer und euer Ego …

NEVERCAUGHT:

Malcolm tut mir fast ein bisschen leid. Aber nur fast!

SCHWARZEWITWE:

Und wer redet davon, was du mit Cindy, Susie, Ling, Clair und Brigitte machen wirst?

NEVERCAUGHT:

Ich wünschte, ich könnte sie alle haben.

BEIANRUFMORD:

Wie ist das Haus?

SCHWARZEWITWE:

Herrlich. Groß, modern, ruhig.

AmericanPsycho hat den Raum betreten.

SCHWARZEWITWE:

Hi, Psycho.

AMERICANPSYCHO:

Gute Arbeit, SW. Er sah richtig zufrieden aus. Um nicht zu sagen: befriedigt.

NEVERCAUGHT:

Hey, warum kriegst du Fotos zu sehen und wir nicht?

AMERICANPSYCHO:

Das war kein Foto, was ich gesehen habe.

SCHWARZEWITWE:

Du hast also die Leiche weggeschafft?

AMERICANPSYCHO:

Er wurde heute in den frühen Morgenstunden in Tucson entsorgt, genau wie vereinbart.

SCHWARZEWITWE:

Und die Stelle?

AMERICANPSYCHO:

Auch wie vereinbart. Die Leichen werden alle in derselben Gegend gefunden, mit den gleichen Signaturen.

SCHWARZEWITWE:

Malcolm konnte fantastisch ***. Und sein Körper, Wahnsinn! 1,93 und nichts als straffe Muskeln unter der schwarzen Haut. Da braucht man sich nicht zu fragen, wie er an seinen Job gekommen ist.

AMERICANPSYCHO:

Schön zu wissen, dass die Kundschaft zufrieden ist.

SCHWARZEWITWE:

Und ob ich zufrieden bin. Gibt es auch ganz sicher keine Spuren, die auf mich hindeuten?

AMERICANPSYCHO:

Ich habe für alles gesorgt. Vertrau mir.

 

Ich durchquere den Flughafen von Tucson, bahne mir mit meinem Gepäck einen Weg durch das Getümmel zu unserem vereinbarten Treffpunkt. Es ärgert mich, dass ich bei der Aussicht auf das Wiedersehen mit Darren ein wenig Schmetterlinge im Bauch habe. Ich beschleunige meinen Schritt, um sicherer zu wirken und mich möglichst auch so zu fühlen – leider vergebens.

Noch bevor ich die Automatiktür erreiche, entdecke ich ihn. Im selben Moment bemerkt er mich ebenfalls und kommt mir entgegen. Mein Magen macht einen Hüpfer – verdammt. Darren hat sich kein bisschen verändert. Na ja, es ist auch erst ein halbes Jahr her, dass wir uns zuletzt gesehen haben. Er ist einsachtzig und hager, mit etwas unbändigem schwarzem Haar und tiefblauen Augen. Seine Augen sind wirklich außergewöhnlich; ich erinnere mich an mehrere Situationen, in denen ich mich regelrecht zwingen musste, den Blick davon loszureißen. Er lächelt, und trotz der Entfernung erkenne ich seine Grübchen, die ihn jünger erscheinen lassen, als er ist. Tatsächlich muss er etwa Mitte dreißig sein. Ich seufze – warum finde ich seine Grübchen nur so unglaublich attraktiv? Vielleicht war das Ganze doch keine so gute Idee.

Als wir einander gegenüberstehen, werde ich noch unsicherer. Soll ich ihn mit einem Kuss auf die Wange begrüßen? Mit einer Umarmung? Einem Händedruck? Es müsste für solche Fälle einen Mittelweg geben. Ich entscheide mich für die Umarmung, das erscheint mir am unverfänglichsten. Wenn ich ihm nur die Hand gebe, könnte ihn das kränken, und bei einem Kuss würde er sich womöglich falsche Hoffnungen machen. Das wäre mir zu kompliziert, auch wenn ich mittlerweile wohl offiziell als Single gelte.

«Hi.» Er strahlt mich an.

«Hi.»

Darren macht Anstalten, mir den Trolley abzunehmen.

«Das geht schon», wehre ich ab. «Er ist nicht schwer.» Außerdem weiß ich sowieso nicht, wohin mit meinen Händen.

Wir machen uns auf den Weg zum Ausgang.

«Du siehst gut aus.» Er mustert mich kurz, dann schaut er wieder nach vorn.

«Du auch. Wieder ganz der Alte.» Ich widerstehe dem Impuls, seinen linken Arm zu berühren, den er bei unserer letzten Begegnung in einer Schlinge trug.

«So eine kleine Kugel hat noch keinem geschadet», versetzt er in gespielt machohaftem Ton.

Ich lache. «Wie viele Cops das wohl schon gesagt haben?»

«Zu viele.»

Sein marineblauer Mercury Sable steht nicht weit vom Ausgang im Halteverbot. Darren öffnet den Kofferraum, ich lade mein Gepäck hinein und setze mich dann auf den Beifahrersitz.

Er lässt den Motor an. «Ich freue mich wirklich, dich wiederzusehen.» Dabei hält er den Blick nach vorn gerichtet.

«Ich freue mich auch», erwidere ich, ebenfalls ohne ihn anzusehen.

«Und dir geht es also gut?», greift er unsere gestrige Unterhaltung auf.

«Ja, ausgezeichnet.»

Er schweigt einen Moment lang. «Nicht sehr überzeugend», bemerkt er mit einem forschenden Seitenblick in mein Gesicht. Dann fädelt er sich an der Ausfahrt des Flughafengeländes in den Verkehr ein. «Wie geht es dir wirklich?»

Mit einem erschöpften Seufzer lehne ich mich gegen die Kopfstütze. «Ach, ich weiß nicht, Darren …» Ich ziehe ein Knie an die Brust. «Ich kann in letzter Zeit nicht schlafen.»

«Tja, dann ist es kein Wunder, dass du keine besonderen Träume hast», sagt er durchtrieben.

«Na ja, ein bisschen schlafe ich schon.»

«Und du träumst rein gar nichts in der Richtung?», vergewissert sich Darren, als argwöhnte er, dass ich etwas vor ihm verheimliche. Dabei ist er der einzige Mensch, dem ich nichts vormachen muss. Er kennt mein Geheimnis, und ich kann offen mit ihm reden, ohne befürchten zu müssen, dass ich gefeuert werde oder irgendeinen verhängnisvollen Vermerk in meine Personalakte bekomme.

«Nein.» Ich schaue ihn an. «Ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt will, dass diese Visionen wiederkommen.» Sofort richte ich den Blick wieder auf die Straße, um seine Reaktion nicht sehen zu müssen.

Wir folgen weiter dem Verkehrsstrom. Auf dem Highway beschleunigt Darren den Wagen auf etwa sechzig Meilen.

«An was für Fällen hast du in letzter Zeit gearbeitet?», erkundigt er sich.

«Das Übliche – Serienmörder, ältere, ungeklärte Fälle, Entführungen.»

Er nickt. «Aber keine Außeneinsätze?»

«Nein.» Durchs Seitenfenster betrachte ich die Bäume, deren Zweige sich unter der Last der Blätter biegen.

«Ich kann dir helfen, Sophie. Meine Tante hat mir viel von ihrer Gabe erzählt. Wie sie sie entdeckt hat, wie sie damit umgegangen ist und so», sagt er.

«Die Frage ist doch: Will ich all das überhaupt wissen?» Ich seufze erneut, diesmal eher erleichtert. Es tut so gut, offen reden zu können.

«Tja, das liegt ganz bei dir.»

Der überlaute Klingelton von Darrens Handy unterbricht unser Gespräch.

«Horch mal, war da nicht was?», scherze ich, froh, die Stimmung etwas auflockern zu können.

«Ha-ha.» Er klappt das Handy auf. «Detective Carter … Ja … Hmm.» Sein Tonfall wird unsicher, und er wirft mir einen seltsamen Blick zu. «Verflixt. Kann Bolson das nicht übernehmen? Ja, ja, schon gut. Bis gleich.» Er klappt das Handy zu. «Tut mir leid. Mein Urlaub beginnt offiziell erst morgen.»

Ich schmunzle. «Die Pflicht ruft.»

Darren wendet bereits den Wagen. «Wann tut sie das nicht?»

4

Darren biegt auf das Gelände der University of Arizona ab.

«Ein Student?», frage ich.

«Anscheinend.»

Schon vom Rand des Campus aus sehen wir einen großen Menschenauflauf. Wir fahren bis auf etwa dreißig Meter heran, dann stellt Darren den Wagen ab.

Er löst den Sicherheitsgurt. «Willst du hier warten?»

«Nein, du kennst mich doch – ich kann einer Leiche ebenso wenig widerstehen wie einem guten Essen.»

Er ringt sich ein schiefes Grinsen ab, und wir beide steigen aus dem Auto aus.

Darren zückt sein Handy und ruft eine Nummer aus dem Speicher auf. «Stone, ich bin’s, Carter. Ich bin jetzt an der Fourth … mhm …» Darren gibt mir ein Zeichen und beschleunigt seinen Schritt, ich folge ihm. «Yep … dann bis gleich.» Er steckt das Handy ein und sagt an mich gewandt: «Komm mit. Die Leiche liegt in der Nähe vom Stadion.» Mit vorgehaltener Dienstmarke bahnt er uns einen Weg durch die Menge. Aus der Nähe erkenne ich die Gesichtsausdrücke der versammelten Menschen: Manche wirken neugierig, andere entsetzt. Wahrscheinlich haben die meisten von ihnen kaum etwas gesehen – der Bereich muss kurz nach der Entdeckung der Leiche abgesperrt worden sein –, aber sicher genügen schon die Gerüchte, die sich unter den Schaulustigen verbreiten wie ein Lauffeuer. Niemand weiß, wer das Opfer ist; es könnte der beste Freund oder der Mitbewohner sein.

Wir erreichen die Absperrung, an der uniformierte Polizisten patrouillieren. Davor stehen in vorderster Reihe die Presseleute, die auf Bilder vom Tatort aus sind. Eine Kamera wird auf uns gerichtet, und die Reporterin hält Darren das Mikrophon hin.

«Detective Carter, was wissen Sie bisher über diesen Fall?»

Es gehört zum Job eines Kriminalberichterstatters, führende Ermittler namentlich zu kennen, deshalb überrascht es mich nicht, dass die Frau weiß, wer Darren ist.

Darren gibt keine Antwort.

Der nächststehende Polizist wirft einen Blick auf seine Dienstmarke und lässt ihn passieren.

«Detective Carter …», ruft ihm die Reporterin vergebens nach.

 

AMERICANPSYCHO:

Schaltet mal schnell NBC ein. Sie berichten live von der University of Arizona.

NEVERCAUGHT:

Cool.

SCHWARZEWITWE:

Interessiert mich nicht, was die Medien über meine Opfer berichten.

NEVERCAUGHT:

Sch****, bist du verrückt? Das ist doch der halbe Spaß. So, ich hab’s eingeschaltet. Hey, die Reporterin ist geil.

AMERICANPSYCHO:

Ich mag es, wenn die Journalisten so ernst aussehen.

NEVERCAUGHT:

Die üben das bestimmt vor dem Spiegel. Ist das da der leitende Ermittler?

AMERICANPSYCHO:

Ja. Die Reporterin hat gesagt, er ist von der Tucson Homicide.

NEVERCAUGHT:

Und wer ist die Blonde da neben ihm?

AMERICANPSYCHO:

Keine Ahnung. Aber ich werd’s rausfinden.

 

Wir überqueren eine Rasenfläche. Gut fünfzehn Meter vor uns, bei ein paar niedrigen Sträuchern, arbeitet die Spurensicherung auf Hochtouren. Ich bemerke eine Frau Ende zwanzig, von der ich annehme, dass sie Darrens Kollegin Jessica Stone ist. Die beiden arbeiten erst seit ein paar Monaten zusammen, deshalb habe ich sie bei den Ermittlungen im Fall des D.C.-Slashers noch nicht kennengelernt.

Die Frau blickt uns entgegen. «Tut mir leid, Carter. Bolson hat schon einen anderen Einsatz.»

«Natürlich, wie immer, wenn man ihn braucht.» An seine Kollegin gerichtet, sagt Darren: «Stone, das ist Anderson vom FBI.» Dann wendet er sich mir zu. «Anderson, meine Kollegin Stone.» Womit wir offiziell miteinander bekannt gemacht sind.

Detective Jessica Stone ist klein, aber muskulös, etwa eins sechzig groß und schätzungsweise fünfzig Kilo schwer. Sie hat rotbraunes, stufig geschnittenes Haar, das einen starken Kontrast zu ihren auffallend grünen Augen bildet. Ihr Gesicht ist sommersprossig, besonders über den Wangenknochen, und sie hat einen kleinen Mund mit vollen Lippen.

Nachdem ich sie kurz gemustert habe, richte ich den Blick auf die Leiche. Der Tote liegt mit dem Gesicht nach oben, die Arme hinter dem Rücken. Auf der haarlosen Brust ist bis hinunter zu den ersten zwei Wölbungen seines Sixpacks mit leuchtend roter Farbe oder Schminke ein Herz aufgemalt, etwa zehn Zentimeter im Durchmesser.

Einen Moment lang fühle ich mich ein wenig benommen, und dann überkommt es mich, plötzlich und überwältigend, so wie früher.

Ein gutaussehender Afroamerikaner liegt auf einem Bett, nackt, die Hände mit Handschellen an das Kopfteil gefesselt. Sein Körper glänzt vor Schweiß, und er schaut lächelnd zu mir auf.

Als die Vision verblasst, versuche ich noch, mich an irgendetwas festzuhalten, doch es gelingt mir nicht, und ich stürze zu Boden.

Darren fasst mich rasch am Arm und hilft mir auf. «Alles okay?»

Ich zwinge mich, die Augen zu öffnen und ihn anzusehen. «Nichts passiert.» Dann schaue ich mich um. Plötzlich starren alle mich an statt des Toten. Etwas Peinlicheres kann einem professionellen Ermittler wohl kaum passieren; für die anderen muss es so erscheinen, als bekäme ich beim Anblick eines Toten weiche Knie. Fast würde ich ihnen lieber die Wahrheit sagen, als sie glauben zu lassen, ich sei ein hypersensibles Weibchen. Aber das kommt natürlich nicht in Frage.

«Tut mir leid, ich muss über etwas gestolpert sein.» Ich blicke mich achselzuckend um, als wollte ich herausfinden, was mich zu Fall gebracht hat.

Als die Übrigen ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Leiche richten, nimmt Darren mich ein wenig beiseite. «Hast du … hast du etwas gesehen?»

«Ja.» Ich beiße mir auf die Lippe, noch immer verwirrt, Darren jedoch nimmt die Bestätigung, dass ich eine Vision hatte, völlig gelassen auf.

«War er es?» Er deutet mit einer Kopfbewegung auf den Toten.

Obwohl ich mir bereits sicher bin, betrachte ich das Opfer noch einmal genauer. «Ja.»

«Was hast du gesehen?»

«Er war mit Handschellen an ein Bett gefesselt und völlig verschwitzt.» Ich rufe mir das Bild ins Gedächtnis. «Ich vermute, er hatte Sex.»

«Hm», macht Darren.

«Sehen wir uns die Sache mal aus der Nähe an», schlage ich vor.

Wir kehren zu der Gruppe zurück und stellen uns neben Stone.

«Das Herz ist mit großer Sorgfalt aufgemalt, geradezu rituell», stelle ich fest. «Hattet ihr so einen Fall hier in der Gegend schon mal?»

Darren schüttelt den Kopf. «Was wissen wir bisher, Stone?»

Sie blickt auf. Dabei fällt ihr eine Haarsträhne ins Gesicht und wippt vor ihren Augen, bis sie sie zurückstreicht und mit einer kleinen Spange feststeckt. «Nicht viel. Das Opfer ist Afroamerikaner, männlich, bisher nicht identifiziert.»

«Wer hat ihn gefunden?», will Darren wissen.

«Ein gewisser Jack Bode von der Campuspolizei.» Stone deutet auf einen älteren Mann, der auf einer Bank sitzt, den Kopf in die Hände gestützt.

Darren notiert sich den Namen. «Hat er die Leiche berührt?»

«Nein. Er hat Meldung erstattet und ist bei dem Toten geblieben, um sicherzustellen, dass am Fundort nichts verändert wird.»

«Gut.» Darren wirft einen Blick auf die versammelte Menschenmenge. «Sonst irgendwelche Zeugen?»

«Bisher nicht.»

«Überwachungskameras?»

Stone schüttelt den Kopf. «Die einzige Kamera in diesem Bereich wurde vor ein paar Tagen demoliert. Morgen sollte eine neue installiert werden.»

Wir wenden uns wieder der Leiche zu und beobachten, wie der Coroner Klarsichtbeutel um die Füße herum befestigt, um etwaige Spuren zu sichern.

Darren beauftragt Stone, einen Trupp zusammenzustellen, der die unmittelbare Umgebung durchkämmt. Am Schauplatz eines Verbrechens suchen die Ermittler routinemäßig nach Indizien wie Fußabdrücken, einer Mordwaffe oder sonstigen Spuren – überhaupt nach allem, was ungewöhnlich erscheint. Stone und der größte Teil der Gruppe verteilen sich auf dem Gelände, nur Darren, ich und ein paar weitere Personen bleiben um die Leiche versammelt, wie Motten, die vom Licht angezogen werden.

«Okay, wir können ihn jetzt bewegen», sagt der Coroner.

Sein Assistent breitet ein paar Schritte links von der Leiche eine große, weiße Plastikplane aus – dieser Bereich wurde bereits gründlich nach Spuren abgesucht und fotografiert. Dann macht der Assistent kehrt und geht zu Füßen der Leiche in die Hocke.

«Der Tote ist ziemlich groß», bemerkt der Coroner. «Es wäre vielleicht besser, wenn jemand mit anfasst.»

Zwei Uniformierte treten vor, und gemeinsam heben die Männer die Leiche an und tragen sie behutsam zu der Plane. Anschließend macht der Fotograf weitere Aufnahmen.

Darren hockt sich hin, um besser sehen zu können. «Drehen wir ihn um.»

Sie bringen die Leiche in Bauchlage. Die Arme sind hinter dem Rücken mit Handschellen gefesselt. Dieselben Handschellen wie in meiner Vision?

Der Fotograf dokumentiert auch das, und der Assistent des Leichenbeschauers schützt die Hände des Opfers mit Plastikbeuteln, ebenso wie zuvor die Füße.

Der Coroner untersucht die violetten Male an Rücken und Gesäß des Toten – Leichenflecke. Wenn das Herz nicht mehr pumpt, gehorcht das stockende Blut der Schwerkraft. In diesem Fall deuten die Leichenflecke darauf hin, dass das Opfer in Rückenlage gestorben ist oder kurz nach Eintritt des Todes auf den Rücken gelegt wurde. Die Arme hingegen weisen keine solchen Verfärbungen auf, sie können also zum fraglichen Zeitpunkt noch nicht hinter dem Rücken gefesselt gewesen sein.

Der Coroner nimmt die Arme näher in Augenschein. «Die Handschellen müssen spätestens ein paar Stunden nach Eintritt des Todes angelegt worden sein.» Er versucht, den Arm zu bewegen. «Der Rigor mortis ist noch nicht gelöst. Das heißt, der Todeszeitpunkt liegt wahrscheinlich zwischen achtzehn und sechsunddreißig Stunden zurück.»

Ich nicke. Der Rigor mortis, die Leichenstarre, setzt wenige Stunden nach dem Tod ein, beginnend an den Augenlidern, dann übergehend auf Gesicht und Hals und schließlich auf die Gliedmaßen. Nach etwa sechsunddreißig Stunden beginnt sich die Starre wieder zu lösen, bis der Körper etwa achtundvierzig bis zweiundsiebzig Stunden nach Eintritt des Todes wieder völlig erschlafft ist. Allerdings beeinflussen zahlreiche Faktoren das Einsetzen und Nachlassen der Totenstarre, sodass man den Todeszeitpunkt daraus nur recht ungenau ableiten kann.

«Todesursache?», fragt Darren.

«An den Augen sind Anzeichen von Asphyxie zu erkennen. Nach der Autopsie wissen wir mehr.»

Darren nickt und findet sich damit ab, dass er sich so lange gedulden muss. Er richtet sich wieder auf und wendet sich mir zu. «Tut mir leid, Sophie, aber mein Urlaub fängt wohl erst später an.»

Ich zucke die Schultern. «Da kann man nichts machen.»

«Du kommst aber noch in den Genuss unserer Touristenattraktionen, versprochen.»

Ich lache – ich weiß nur zu gut, wie es in diesem Job läuft. «Wir werden sehen.»

Darren beobachtet, wie der Coroner und sein Assistent die Leiche auf einer Bahre an uns vorbeitragen. «Ich wäre bei der Autopsie gern dabei», sagt er.

«Was soll das mit dem Herz?» Wieder habe ich das Bild von dem Herzen vor Augen, das auf der Brust des Opfers aufgemalt ist.

«Mhm.» Darren steckt sein Notizbuch ein. «Das beschäftigt mich schon die ganze Zeit.»

«Mich auch.» Wenn sich der Mörder die Mühe gemacht hat, die Leiche auf diese Weise zu kennzeichnen, muss es etwas bedeuten. «Vielleicht sollte es eine Botschaft an das Opfer sein.» Das ist die eine mögliche Erklärung. Die andere ist noch weniger erfreulich – auch Serienmörder kennzeichnen häufig ihre Opfer.

Darren seufzt und stampft mit dem Fuß auf. «Verdammt! Ich hatte mich so auf ein paar freie Tage gefreut.»

Schweigen. Wenn sich tatsächlich herausstellen sollte, dass hier ein Serienmörder am Werk war, wird Darren es sich nicht nehmen lassen, den Fall selbst zu bearbeiten. Ebenso wie ich widmet er sich der Verfolgung von Serientätern mit besonderem Eifer, denn in solchen Fällen hat man als Ermittler die Chance, Menschenleben zu retten, indem man den Täter rechtzeitig zur Strecke bringt, ehe er erneut zuschlägt.

Darren wechselt das Thema. «Geht es dir wieder gut?»

«Ja. Es war nur ein kurzer Moment.»

«Dann hat es also wieder angefangen. Das mit deinen Visionen.» Seine blauen Augen durchbohren mich geradezu.

Unbehaglich weiche ich seinem Blick aus. «Eine. Ich hatte eine Vision.» Ich nage an der Unterlippe, frage mich, warum gerade jetzt? Warum ausgerechnet beim Anblick dieser Leiche? «Ob es sich wohl einrichten ließe, dass ich auch bei der Autopsie dabei bin?»

«Unter einer Touristenattraktion stelle ich mir aber was anderes vor», neckt Darren mich.

«Ich muss herausfinden, was an diesem Opfer so Besonderes ist. Warum ich diese Vision hatte.»

5

Ich lege einen Atemschutz an und reibe mir etwas Mentholpaste unter die Nase – ein Luxus, auf den forensische Pathologen verzichten müssen, denn bei der Autopsie kann der Geruchssinn von entscheidender Bedeutung sein. Bei Nitrobenzolvergiftung beispielsweise riechen die inneren Organe nach Bittermandeln.

Die Leiche des jungen Mannes wurde bereits gemessen, gewogen und auf den Autopsietisch gebettet. Der Coroner beginnt mit der äußerlichen Untersuchung, bei der er den Körper zunächst von vorn auf Einstiche, Blutergüsse und sonstige Male überprüft, die Aufschluss über den Tathergang geben könnten. Zuerst inspiziert er den Kopf. Normalerweise wird die Leiche nach der ersten Inaugenscheinnahme geschoren, in diesem Fall jedoch ist der Kopf bereits rasiert.

Der Leichenbeschauer weist uns auf eine kleine Wunde hin. «Kopfverletzung im oberen Schädelbereich», sagt er – teils an Darren und mich gerichtet, hauptsächlich jedoch für das Protokoll, denn über dem Autopsietisch hängt ein Mikrophon, verbunden mit einem Recorder, der die Ausführungen des Coroners aufzeichnet. Dieser untersucht die Wunde nun eingehender. «Form dreieckig, Durchmesser etwa fünf Zentimeter. Der Schlag könnte den Mann betäubt haben.»

Darren nickt. «Möglicherweise wollte der Täter so verhindern, dass sich sein Opfer wehrt.»

So etwas kommt bei geplanten Morden häufig vor: Serienmörder lauern ihrem Opfer auf und schlagen es bewusstlos oder betäuben es auf andere Weise, um es in ihr Versteck bringen zu können. Dort haben sie dann freie Hand. Meist wollen sie, dass das Opfer die eigentliche Tötung bewusst miterlebt, deshalb fesseln sie es oder machen es sonst irgendwie kampfunfähig. Blitzartig strömen Erinnerungen an meine eigene Entführung auf mich ein, und ich reibe mir die Handgelenke. Manchmal spüre ich noch immer, wie die festgezurrten Stricke in meine Haut schneiden. Ich zwinge mich, ins Hier und Jetzt zurückzukehren und mich auf die Leiche auf dem Seziertisch zu konzentrieren.

Der Coroner zieht mit einer Pinzette etwas aus der Kopfwunde.

«Was ist das?», frage ich.

«Sieht aus wie ein Holzsplitter.» Er lässt ihn in ein Röhrchen fallen, etikettiert es und legt es beiseite. Methodisch sucht er den Schädel nach weiteren Auffälligkeiten ab. Als er keine findet, geht er zum Gesicht über. Er beugt sich vor, untersucht zuerst die Nasenhöhle und öffnet dann den Mund des Toten. Mit einem Wattestäbchen nimmt er einen Abstrich von der Mundschleimhaut, den er ebenfalls in ein Röhrchen steckt und zu dem Splitter legt. «Die Nasenhöhle des Toten ist unauffällig, aus dem Mund wurde eine Schleimhautprobe entnommen», diktiert er in das Mikrophon.

Anschließend inspiziert er sorgfältig den Hals. Er nimmt eine kleine Lampe zu Hilfe, um eine bestimmte Stelle eingehender zu betrachten. «Scheint, als hätten wir eine mögliche Todesursache», sagt er und deutet auf den Hals des Toten. «Durch die dunkle Haut sind Blutergüsse schwerer zu erkennen, aber ich denke, hier ist etwas. Ich muss das Unterhautgewebe untersuchen, um mir Gewissheit zu verschaffen.»

Wir beugen uns unwillkürlich vor. Der Coroner löst die Haut am Hals ab und widmet sich dem darunterliegenden Gewebe. «Ja, da sind tatsächlich Unterblutungen.» Er deutet auf mehrere kreisförmige Blutergüsse. «Der Mann wurde stranguliert. Nach Form und Lage der Hämatome zu urteilen, mit den Händen», fügt er hinzu.

Unwillkürlich stelle ich mir vor, wie jemand den Hals des noch lebenden Opfers umklammert und zudrückt. Es dauert nicht lange, ein Menschenleben auszulöschen. Dabei haben wir es hier mit einem großen Mann zu tun, der seiner Statur nach zu urteilen ziemlich stark gewesen sein muss. Aber dennoch wurde er zu Tode gewürgt.

Der Coroner richtet seine Aufmerksamkeit nun auf den Brustbereich. Er schabt eine Probe der Substanz ab, mit der das Herz aufgemalt wurde, und gibt sie für die Laboranalyse in ein weiteres Röhrchen. Dann sind die Arme an der Reihe. Als er den rechten Arm leicht dreht, wird eine kleine Tätowierung sichtbar. Etwa zweieinhalb Zentimeter lang, eine einzelne Rose. Mir fällt auf, dass nicht nur die Umrisse, sondern auch die Flächen in Schwarz tätowiert sind. Der Leichenbeschauer macht mehrere Fotos von der Tätowierung, dann untersucht er Arme und Hände gründlicher. In der Regel sind dort Verletzungen zu finden, die daher rühren, dass sich das Opfer gewehrt hat.

«Irgendetwas Auffälliges?», fragt Darren.

Der Coroner schüttelt den Kopf. «Keine Spuren von Gegenwehr.»

«Vielleicht wurde er bereits vor dem Tod gefesselt?» In meiner Vision habe ich den Mann in Handschellen gesehen, aber diese Szene muss sich nicht unmittelbar vor dem Tod abgespielt haben, sie kann ebenso gut Wochen zurückliegen.

Darren und ich beugen uns erneut vor. Außer den normalen Falten an den Handgelenken sind deutliche Einkerbungen zu erkennen, gut einen Zentimeter breit.

Der Coroner öffnet auch hier die Haut und legt ringförmige Blutergüsse um die Gelenke herum frei. «Leichte Unterblutungen an den Handgelenken deuten darauf hin, dass die Handschellen bereits vor dem Tod angelegt wurden», stellt er für das Protokoll fest, womit zugleich meine Frage beantwortet ist. Nach der Autopsie wird der Coroner seinen offiziellen Bericht für die Akte schreiben. Ich als Profilerin bekomme normalerweise lediglich diesen Bericht zu sehen, nicht die eigentliche Autopsie. In diesem Fall jedoch ist es von Vorteil für Darren und mich, selbst mit dabei zu sein: Wir bekommen dadurch einige wichtige Informationen schneller und können dem Rechtsmediziner auch direkt Fragen dazu stellen.

«Die Fesselung auf dem Rücken geschah jedoch definitiv erst post mortem», ergänzt er, und wir nicken. Das Opfer wurde also nach dem Tod in diese Stellung gebracht.

Als Nächstes inspiziert der Coroner die Hände und schabt mit einem Instrument unter den Fingernägeln des Opfers. «Hier ist etwas. Sieht allerdings nicht nach Hautpartikeln aus, eher nach Schmutz.» Er gibt die Substanz in ein Röhrchen und beschriftet es. Anschließend nimmt er die Fingerabdrücke des Opfers. Hoffentlich finden wir Entsprechungen in unserer Datenbank – wenn uns nicht ohnehin die University of Arizona zuvorkommt und den Toten anhand des Fotos identifiziert.

Die Untersuchung wird in den unteren Körperregionen fortgesetzt, doch von vorn ist weiter nichts zu entdecken. Wir drehen den Toten um, und sofort ist offensichtlich, wie er zum Zeitpunkt des Todes gelegen haben muss. Wären die Hände bereits auf dem Rücken gefesselt gewesen, dann wären dort, wo der Rücken auf Armen und Händen auflag, Verfärbungen zu erkennen. Doch die Flecke an diesem Toten sind ziemlich gleichmäßig verteilt.

Der Rechtsmediziner sucht nach Spuren einer Vergewaltigung wie Einrissen im Analbereich, jedoch ohne Ergebnis.

Anschließend nimmt er den Nacken in Augenschein und legt auch hier das Unterhautgewebe frei. «Der Mörder muss sehr kleine Hände haben.» Der Coroner sieht zu Darren und mir auf. «Womöglich handelt es sich hier um das Werk einer Frau.»

«Tatsächlich?» Darrens berufliches Interesse ist geweckt. Weibliche Mörder sind eher selten, und in der Regel handelt es sich dabei um Opfer häuslicher Gewalt, die sich nach langer Leidenszeit endlich an ihren Peinigern rächen.

Der Leichenbeschauer nickt und weist auf die Blutergüsse am Nacken des Toten. «Der Abstand zwischen dem Daumenabdruck vorn am Hals und dem Abdruck des ersten Fingers hier ist gering.» Er hält eine Hand hoch und spreizt den Daumen ab. «Bei mir beträgt der Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger etwa zehn bis zwölf Zentimeter. Agent Anderson, wenn es Ihnen nichts ausmacht …?» Er deutet mit einer Kopfbewegung auf meine behandschuhte Hand.

Ich halte sie, ebenfalls mit abgespreiztem Daumen, neben die viel größere Hand des Coroners. Der Unterschied beträgt etwa vier bis fünf Zentimeter.

Mit einem Blick auf unsere beiden Hände stellt er fest: «Also wenn Sie mich fragen: Der Mörder ist entweder ein kleiner Mann, eine Frau oder womöglich ein Jugendlicher.»

«Aber das Opfer ist groß und kräftig», wendet Darren ein. «Wie hätte eine Frau oder ein Jugendlicher die schwere Leiche zum Fundort transportieren sollen?»

Der Coroner zuckt die Schultern. «Ich halte mich an das, was die Untersuchung der Leiche mir verrät.»

Wir nicken. Darrens Frage zu klären, ist Sache der Ermittler – unsere Sache –, nicht die des Mediziners.

Nachdem die äußerliche Untersuchung abgeschlossen ist, helfen Darren und ich, den Toten wieder auf den Rücken zu drehen. Der Leichenbeschauer nimmt Haarproben von den Augenbrauen, aus dem Gesicht und der Schamregion, dann wäscht und röntgt er die Leiche. Anschließend steht die innere Leichenschau an.

Der Coroner öffnet die Leiche mit einem V-Schnitt anstatt, wie üblich, mit einem Y-Schnitt. Der V-Schnitt ermöglicht es, den Halsbereich separat zu untersuchen, um den Verdacht auf Strangulation zu bestätigen. Zu Hause in Melbourne habe ich viele Autopsien mitangesehen, aber noch immer krampft sich mir jedes Mal der Magen zusammen, wenn Haut und Muskelgewebe geöffnet werden, um die inneren Organe freizulegen.

«Zuerst die Blutprobe.» Mit einer Kanüle entnimmt der Mediziner Blut direkt aus der Halsvene. Anschließend setzt er an der Blase einen kleinen Schnitt und nimmt mit einer Pipette eine Urinprobe. Währenddessen beschreibt er für das Protokoll, was er jeweils tut. Die Blut- und Urinproben werden für das Labor verpackt, wo man sie auf Alkohol, Drogen, Kohlenmonoxid, Kohlendioxid, Glukose sowie diverse Gifte untersucht.

Nachdem das erledigt ist, wendet sich der Coroner den Organen zu. Er entnimmt den Magen, hält ihn über eine Metallschale, öffnet ihn mit einer Chirurgenschere und entleert den Inhalt in das Gefäß.

«Und, was hat unser Freund zuletzt gegessen?», frage ich, dankbar für die Mentholpaste unter meiner Nase.

Der Coroner untersucht den Inhalt der Schale. «Nicht viel, sein Magen war fast leer. Das hier sieht aus wie eine kleine Menge Fleisch.»

«Nur Fleisch, nichts sonst?», hake ich nach – kaum jemand isst Fleisch ohne irgendwelche Beilagen, sei es Brot, Gemüse, Pommes frites oder was auch immer.

«Mhm. Und wirklich nicht viel.»

«Erscheint mir ungewöhnlich für einen Mann von seinem Körperbau», bemerke ich.

Der Rechtsmediziner nickt. «Ich schicke den Mageninhalt zur genaueren Analyse ins Labor.»

Als Nächstes trennt er den Dünndarm heraus, bindet ihn an beiden Enden ab und legt ihn in eine weitere Metallschale. Wieder spricht er dabei ins Mikrophon. Er untersucht die Brusthöhle und die übrigen Organe, nimmt sie gegebenenfalls heraus und wiegt sie, dann inspiziert er sorgfältig den Hals.

«Das Zungenbein ist intakt, aber das war in Anbetracht des Alters nicht anders zu erwarten.»

Das Zungenbein, ein hufeisenförmiger Knochen, ist in der Jugend ziemlich flexibel und wird erst im Alter von Ende dreißig oder Anfang vierzig starr und brüchig. Bei älteren Strangulationsopfern findet man deshalb meist ein gebrochenes Zungenbein vor.

«Aber Erwürgen war definitiv die Todesursache», fährt der Leichenbeschauer fort. «Es sei denn, im Labor wird noch etwas Verdächtiges gefunden.»

Natürlich ist es möglich, dass das Opfer sowohl erwürgt als auch vergiftet wurde. In diesem Fall gälte es herauszufinden, welches von beidem die primäre Todesursache war.

«Können Sie jetzt Genaueres über den Zeitpunkt des Todes sagen?», fragt Darren.

Der Coroner schüttelt den Kopf. «Achtzehn bis sechsunddreißig Stunden bevor die Leiche gefunden wurde, näher lässt es sich nicht bestimmen.» In der forensischen Pathologie wird der Todeszeitpunkt aufgrund der Leichenstarre, der Temperatur der Leber sowie der Totenflecke geschätzt, aber das bleibt eine recht vage Angabe. Bei Leichen, die erst Tage oder Wochen nach Eintritt des Todes gefunden werden, kann darüber hinaus der Insektenbefall einen Anhaltspunkt bieten.

Schließlich vernäht der Mediziner den V-Schnitt wieder. «Die Leichenschau wurde um …» – er wirft einen Blick auf die Wanduhr – «siebzehn Uhr abgeschlossen.»

Während der Coroner seine Instrumente aufräumt, verabschieden Darren und ich uns und gehen durch die Flure des Pima County Medical Examiner’s Office nach draußen, wo das Wasser eines Springbrunnens in der Frühlingssonne glitzert. Mehrere Leute sitzen darum herum und genießen den warmen Nachmittag. Verglichen mit Washington ist das Wetter hier sehr mild.

«Stone hat sich noch gar nicht gemeldet.»

Darren zuckt die Schultern. «Wenn sie etwas erfahren hätte, sei es von der Uni oder aus den Vermisstenmeldungen, dann hätte sie mich angerufen, aber anscheinend ist sie noch nicht weitergekommen. Vielleicht haben wir ja die Fingerabdrücke des Toten in der Datenbank.»

Ich nicke. «Wenn wir keine Übereinstimmung finden …» Ich spreche den Satz nicht zu Ende.

«Daran möchte ich gar nicht denken. Ein unbekannter Toter.» Darren fährt sich mit einer Hand durchs Haar. «Ich würde gern noch einen ganz kurzen Abstecher zur Dienststelle machen, bevor wir zu mir nach Hause fahren. Wäre das für dich okay?»

«Klar, kein Problem.»

Wir folgen der East District Street in westlicher Richtung, biegen dann rechts ab und gelangen über die South Sixth Avenue auf die Interstate 10 in Richtung Phoenix. Nach etwa fünf Minuten nimmt Darren die Ausfahrt 258, und wenig später steuert er den Wagen in die Tiefgarage des Tucson Police Headquarters an der South Stone Avenue Nummer 270.

Mit dem Aufzug fahren wir in die zweite Etage und gehen durch die Korridore zum Morddezernat. Darren macht mich rasch mit den anderen vier Detectives seiner Abteilung bekannt, darunter auch Bolson, der vorhin nicht verfügbar war.

Wir betreten einen mit halbhohen Trennwänden abgeteilten Bereich, den sich Darren mit Stone teilt. Darrens Schreibtisch ist mustergültig aufgeräumt, jedes Blatt Papier, jeder Stift scheint seinen festen Platz zu haben. «Hier verbringe ich momentan mehr Zeit als zu Hause.»

«Sieht aber nicht sehr wohnlich aus», necke ich ihn.

Er zuckt die Schultern. «Gute Organisation auf dem Schreibtisch steht für gute Organisation hier oben.» Er tippt sich an die Schläfe.

Ich hoffe, er hat unrecht, sonst bin ich wohl ein hoffnungsloser Fall.

Stone, die gerade telefoniert, sieht auf und nickt uns beiden lächelnd zu. Es klingt, als ginge sie immer noch Vermisstenmeldungen nach.