Sibilla Dalmar - Hedwig Dohm - E-Book

Sibilla Dalmar E-Book

Hedwig Dohm

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Beschreibung

Die junge Sibilla ist ein aufgewecktes Mädchen. Nach ihrer Hochzeit mit einem Bankier zieht sie von Berlin nach München. Intellektuell wie sie ist bekommt sie immer mehr Problem, sich in der spießbürgerlichen Schickeria zurechtzufinden ....

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Sibilla Dalmar

Hedwig Dohm

Inhalt:

Hedwig Dohm – Biografie und Bibliografie

Sibilla Dalmar

Hedwig Dohm – Biografie und Bibliografie

Schriftstellerin und Frauenrechtlerin, eigentlich Marianne Adelaide Hedwig Dohm, geboren am 20.September 1831 in Berlin, gestorben am 1.Juni 1919 ebenda. Drittes von insgesamt 18 Kindern des Tabakherstellers Gustav Schlesinger und dessen Frau Wilhelmine Jülich. Nach abgebrochener Schulausbildung mit 15 heiratet sie mit 22 Jahren Ernst Dohm, Chefredakteur der Satire-Zeitschrift "Kladderadatsch". Die Eheleute bekommen fünf Kinder. Unter den Kindeskindern findet sich auch Katia Mann, später Ehefrau des Schriftstellers Thomas Mann. Ab 1870 schreibt Dohm einige feministische Schriften, nach dem Tod ihres Manns 1883 dann Novellen und Romane.

Wichtige Werke:

Was Pastoren von den Frauen denken, Essay (1872)Der Jesuitismus im Hausstande, Essay (1873)Die wissenschaftliche Emancipation der Frau, Essay (1874)Der Seelenretter, Theaterstück (1876)Vom Stamm der Asra, Theaterstück (1876)Ein Schuss ins Schwarze, Theaterstück (1878)Der Frauen Natur und Recht, Essay (1879)Die Ritter vom goldenen Kalb, Theaterstück (1879)Lust und Leid im Liede, Anthologie (1879)Frau Tannhäuser, Novelle (1890)Plein Air, Roman (1891)Wie Frauen werden. Werde, die du bist, Novelle (1894)Sibilla Dalmar, Roman (1896)Schicksal einer Seele, Roman (1899)Die Antifeministen, Essay (1901)Christa Ruland, Roman (1902)Die Mütter, Essay (1903)Schwanenlieder, Novelle (1906)Sommerlieben, Novellen (1909).

Sibilla Dalmar, H. Dohm

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849610678

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Sibilla Dalmar

Roman aus dem Ende unseres Jahrhunderts

Frau Dalmar lag in der zwölften Nachtstunde mit einem Buch in der Hand auf der Chaiselongue ihres Schlafzimmers, und las oder versuchte zu lesen.

Ihr Gatte war mit ihrer Tochter Sibilla auf einem Ball. Vor ihrer Rückkehr mochte sie nicht zu Bett gehen. Sibilla bedurfte ihrer beim Ablegen der Balltoilette, und dann – – auf diesem Ball entschied sich vielleicht das Geschick des geliebten Kindes.

Frau Dalmar war eine kleine unscheinbare Frau mit feinen Zügen und einer schüchternen Anmut im Wesen. Etwas leicht verkümmertes, dünnes, unausgewachsenes hatte sie. Sie machte den Eindruck einer verwelkten Knospe, die nie Blume gewesen war.

In der That verbrauchte sie all ihre geistigen und körperlichen Kräfte, um ihre Pflichten als Hausfrau, Gattin und Mutter, die nicht immer leicht waren, zu erfüllen. Es galt, bei den geringen Mitteln, über die die Familie zeitweise verfügte, den Schein einer eleganten Lebensführung aufrecht zu erhalten.

Ihre Ehe war eine freundliche, friedliche, obwohl der Gatte eine frischere, robustere Gefährtin vorgezogen hätte. So wie sie einmal war, behandelte er sie mit Humor, mit gutartigem Spott, und nannte sie, wenn er mit der Tochter über die Mutter sprach, unsre schwache kleine Mutti. Bezeichnend war, daß niemand den Vornamen von Frau Dalmar kannte.

Daß sie unbeachtet blieb, war ihr gerade recht. Ohne jede Bitterkeit hatte sie sich damit abgefunden, nur die Mutter ihrer Tochter zu sein. Ihrer Tochter Sibilla! ein so süßes Geschöpf! All ihre Gemütskraft concentrierte sich in der Anbetung ihres Kindes.

Darum konnte sie auch jetzt nicht lesen. Sie legte das Buch fort, streckte sich behaglich aus, schloß die Augen und malte sich die Zukunft ihrer einzigen Tochter aus.

Wie bezaubernd hatte sie ausgesehen, als sie zum Ball fuhr, in dem Kleid von Silbergaze, mit der blaßrosa Rose in den goldbräunlichen Zöpfen. Wie hatten die großen dunklen Augen aus dem alabasterzarten Gesicht geleuchtet.

Frau Dalmar begriff nicht, daß sich nicht jeder beim ersten Blick in dieses engelhafte Geschöpf verliebte.

Sie erhob sich halb von der Chaiselongue und nahm von dem Seitentischchen ein Album. Es enthielt nichts als die Photographieen Sibillens, von ihren ersten Kinderjahren bis zur Gegenwart, zu ihrem achtzehnten Lebensjahr.

Frau Dalmar vertiefte sich zärtlich in den Anblick dieser Köpfchen. Man brauchte nicht die Mutter zu sein, um in ihrem Reiz zu schwelgen. All diese Gesichtchen, mit dem wirren Gelock, das ein Oval von zarter, weichster Rundung einrahmte, trugen den Ausdruck schalkhaft holdseliger Lieblichkeit neben sinniger Klugheit.

Als Frau Dalmar an die zweite Seite des Albums kam, waren die Krausköpfchen verschwunden und lange Zöpfe traten an ihre Stelle, und allmählich änderten sich auch die Physiognomieen ein wenig. Einige der Köpfe zeigten einen fast grübelnden Ausdruck, mit einem leisen Hauch von schwermütiger Müdigkeit. Dann aber kam wieder ein lachendes Gesicht, das Schulmädchen mit dem Ränzlein auf dem Rücken, das Barett schief in die Stirn gedrückt, keck und übermütig. Die nächste Photographie mit einem Anflug von Trotz und Gelangweiltheit. Augenscheinlich hatte das Kind da dem Photographen widerwillig gestanden.

Was schon an den Kinderköpfchen auffiel, trat jetzt noch stärker hervor: der eigentümliche Kontrast zwischen den Augen, die wie aus geheimnisvollen Tiefen heraufblickten, und der schelmischen Lieblichkeit des Mundes. Lächelnder Mund und träumende Augen.

Dann verschwanden plötzlich die Zöpfe, und drei bis vier Bilder zeigten wieder den lockigen Tituskopf.

Frau Dalmar lächelte in sich hinein, während ihr Auge auf diesen Bildern ruhte. Einmal, ein einziges Mal in ihrem Leben hatte sich Sibilla vor der Mutter gefürchtet, als sie sich heimlich eines Abends die Zöpfe abgeschnitten hatte. Das Flechten und Zöpfen des Morgens war ihr langweilig und unbequem geworden. Am Morgen nach der Unthat war sie in die Schule gegangen, ohne der Mutter Adieu zu sagen. Sie hatte ihr aber auf der schönsten Schüssel des Hauses die abgeschnittenen, zierlich geflochtenen, mit rosa Bändchen geschmückten Zöpfe ins Schlafzimmer geschickt, mit einem drolligen Gedichtchen, das ihre Verzeihung erflehte. Und dieses Gedicht und der wehmütige Anblick der geliebten Zöpfe waren der schwachen Mutter so ans Herz gegangen, daß ihre quellenden Thränen den aufsteigenden Zorn im Keim erstickt hatten.

Frau Dalmar blätterte weiter in dem Album. Und da war das erwachsene junge Mädchen von so eigentümlich berückender, märchenhafter Schönheit, daß ein Ausdruck leidenschaftlicher Zärtlichkeit Frau Dalmars Züge überflog.

Lange hafteten ihre Blicke an einer der Photographieen, die Sibilla in ihrem sechzehnten Jahr darstellte. Die Augenlider waren müde über die, wie in Träumen verlorenen Augen gesenkt. Um die feingeschwungenen Linien des etwas großen Mundes spielte wieder das halbe, kindliche Lächeln. Von der Nase zum Mund aber zog sich ein trauriger, fast bitterer Zug.

Dieser Zug, wie kam er in das Gesicht ihres so jungen und so glücklichen, so ganz glücklichen Kindes?

Frau Dalmar forschte in ihrem Gedächtnis nach einer Erklärung dieser seltsamen Traurigkeit. Sie regte sich dabei auf. Sie wollte der Erregung Herr werden und erhob sich aus der liegenden Stellung.

In dem geräumigen Schlafzimmer, das Sibilla mit ihr teilte, sah es ziemlich unordentlich aus. Ein Kommodenkasten stand halb geöffnet; auf dem Stuhle lagen allerhand Gegenstände, die das junge Mädchen für den Ball probiert hatte, ein Fächer, einige Paar Handschuhe, künstliche Blumen neben dem Karton, aus dem sie herausgerissen waren u. s. w.

Die Mutter begann die Sachen zu ordnen und in die Kommode zurück zu legen. Ein Schreibheft in Oktavform mit der Aufschrift »Tagebuch«, das in einem Winkel der Kommode lag, fiel ihr in die Augen. Sie selbst hatte es Sibilla an ihrem elften Geburtstage geschenkt, und das Kind verpflichtet, all seine kleinen Erlebnisse in das Buch einzutragen. Sie hatte ihr eindringlich vorgestellt, was für Freude sie in späteren Lebensjahren an diesen schriftlichen Erinnerungen haben würde. Im Grunde hatte Frau Dalmar noch einen anderen Zweck mit dem Tagebuch verfolgt.

Diese Frau, deren Leben kaum je durch einen Schatten von persönlicher Eitelkeit getrübt worden war, besaß eine krankhafte Eitelkeit in Bezug auf Sibilla, deren ungewöhnliche Begabung sie erkannt hatte. Das Kind sollte seine glänzenden Anlagen so vielseitig und so frühzeitig wie möglich entwickeln. In den regelmäßigen Tagebuch-Aufzeichnungen sah sie ein Mittel, den Stil und die Denkkraft der Kleinen zu üben.

Ein bis zwei Jahre lang hatte Sibilla mit größeren oder kürzeren Pausen das Tagebuch geführt. Dann war es ihr langweilig geworden, sie hatte es beiseite gelegt und vergessen.

Frau Dalmar hatte absichtlich, um Sibillas Aufrichtigkeit und Harmlosigkeit beim Niederschreiben nicht zu beeinträchtigen, nie verlangt, das Buch zu sehen, obwohl sie wußte, daß Sibilla ihr ohne weiteres den Einblick in dasselbe gestattet haben würde.

Nun fiel dieses Bedenken fort; sie nahm das Büchelchen, streckte sich wieder auf die Chaiselongue und vertiefte sich in die Tagebuchblätter, mit lächelndem Stolz über die Frühreife und die Aufrichtigkeit des Kindes.

Das Tagebuch begann mit dem 12. Oktober 1867. Sibilla war damals elf Jahre alt.

»Ich werde dies Buch heut mit dem Geburtstag des Königs einweihen. Sehr schmeichelhaft für den König. Also, lege los, würde Herr Vogel (unser Direktor) sagen. Am Freitag war ich bei Anna Reicher erst zum Kaffee eingeladen, nachher war Tanzstundenball. Beim Kaffee war es wirklich göttlich. Keiner that den Mund auf, außer um Kaffee zu trinken, oder um Konrad Reicher – der einzige Knabe, die andern waren noch nicht da – zu flüstern. Als aber nachher getanzt wurde, da thauten wir gleich alle auf. Wir tanzten auch Cotillon, und ich bekam natürlich die meisten Bouquets.

Ein Knabe aber, der Jesko von Stubnitz, der war sehr hübsch, tanzte aber schlecht. Alle Übrigen mir unbekannt. Was wäre sonst noch zu erzählen? Ach was – ich werde jetzt lesen.

15. Oktober. Am Sonntag waren wir bei Grünaus eingeladen. Nach dem Kaffee spielten die andern: ›wie gefällt Dir Dein Nachbar‹ und anderes, während Johanna und ich Theaterstücke von Körner lasen, was mir viel besser als das ewige Spielen gefällt. Ich habe eine himmlische Puppe bekommen, in die ich verliebt bin. – Ich wickle ihr den Kopf immer in ein Taschentuch, damit er nicht zu sehr verstaubt.

1. November. Heut waren wir wieder in der Schule, wo es mir schrecklicher vorkam denn je, so laut, und ein Geschwirr durcheinander, nicht zum aushalten. Wir hatten Schreibstunde, und ich wollte nicht schreiben; darum gab ich mir Mühe, unartig zu sein, um einen Punkt zu bekommen und den Kopf auflegen zu können, als weinte ich; aber ich hatte dann doch nicht den Mut zu der Heldenthat. Gestern habe ich nachbleiben müssen, bei Frl. Gerster in der Religionsstunde, woraus ich mir ebenso wenig gemacht habe, wie aus einem Kuß von ihr. Ich kann sie nicht leiden, weil sie sich an der Nase herumführen läßt wie das unschuldigste Kind, und Frau Hegel nicht, weil sie so heuchelt und fromm thut und es dabei gar nicht ist. Mutter sagt, ich schreibe gut, und darüber freue ich mich. Ich freue mich unsäglich aufs Examen, ich sage nämlich ein Gedicht auf: ›Das Glöcklein des Glücks‹, und ich werde mein blaues Kleid anziehen.

Den 3. November. Ich laufe alle Tage Schlittschuh und amüsiere mich himmlisch. Heut bin ich einem Herrn in die Arme gelaufen, und das finde ich so hübsch.

Wir waren bei Kreislers eingeladen und haben abends Chocolade getrunken. Ach, eine herrliche Erinnerung ist diese Chocolade. In der Schule fehlen drei Fräuleins; es ist große Not, da man die Lehrerinnen nicht auf der Straße findet. Wenn ich manchmal an das Leben in der Schule denke, so kommt es mir so vor, als ob das, was man sonst im Leben Klatscherei nennt, in der Schule am meisten gepflegt wird, als lerne man in der Schule erst die schlechte Denkungsart, als wäre alles Schlechte daselbst in großen Behältern aufbewahrt.

1. Dezember. Wie schade, das Eis, das mich gestern mit so viel Freude erfüllte, heut ist es gebrochen; man sieht wie alles Irdische vergänglich ist. Prinzens quälen immer so, daß wir zu ihnen kommen sollen, und ich möchte gar nicht gern, weil ich sie nicht mag.

Aus meiner Klasse aber möchte ich gern zwei Mädchen zu Freundinnen haben, aber ich weiß gar nicht, wie ich es anfangen soll, besonders Emmy Kaiser. Es kommt mir manchmal vor als gehöre sie gar nicht in die Schule, als sei ihr Geist zu groß für einen so kleinen Wirkungskreis. Camilla Weller ist ein reizendes Mädchen, sehr fleißig, aber sie hat nicht so viel Geist wie Emmy; Camilla ist der Liebling der ganzen Klasse, so sanft ist sie, während Emmy manchmal hart und stolz ist. Vorgestern waren wir wieder bei Kreislers, wo diesmal die Chocolade angebrannt war. Ich trank aber drei Tassen, weil die andern sie ganz verachteten, das that mir so leid. Wir verkleideten uns, und ich war zu nackig, da sagte die Mutter: ›aber Sibillchen‹. Das habe ich so übel genommen, daß ich mich gleich auszog; später versöhnte ich mich wieder.

Ich habe neulich mein ›Soll und Haben‹ in der Schule verborgt, ich meine das Buch; das hat Frau Hegel erfahren, die hat es der Frau Direktor erzählt, und nun dürfen wir keine Bücher mehr verborgen. Um Frau Hegel zu versöhnen, habe ich ihr das Buch geborgt. Ich lese jetzt ›In Reih und Glied‹ und bin ganz bezaubert davon. Ich denke immer bei mir, wem ich ähnlich werden möchte: Leo, Silvia, Amalie, oder Josepha. Ich möchte Leo ähnlich werden, da ich aber ein Mädchen bin, muß ich unter den drei Mädchen wählen, und da gefällt mir Silvia am besten. Ich werde wohl leider Gottes nicht so werden, aber wer kann die Zukunft lesen.

1. Dezember. Am Dienstag in der Religionsstunde war Frl. Peschke so sehr enthusiastisch und schlug immer dabei den Takt mit der Faust auf dem Klavier. In der Geographie sitze ich ziemlich weit unten. Als ich das vorige Mal mit der Straße von Piombino angriff, glaubte ich mit Bestimmtheit heraufzukommen, aber die Erste wußte es, und da sitze ich noch, wo ich saß. Es that mir sehr leid; ich thue dann immer so, als ob es mir gleich wäre, das ist aber nur Heuchelei. Mit Anna Prinz bin ich noch böse, und sie zeigt mir ihre Feindschaft durch verächtliche Blicke und Worte. Ich freue mich aber sehr darüber, denn es bringt uns immer weiter auseinander. Mutter möchte, daß ich mich versöhne, das kann ich nicht. Ich kann ihr nicht die Hand reichen, nachdem ich die ihre schon zurückgewiesen habe. Das kommt mir ganz furchtbar vor. Sie hat auch noch mein ›Soll und Haben‹; ich glaube nicht, daß ich es ganz wiederbekomme. Ich lese jetzt ›In Reih und Glied‹ zum dritten Mal und bin ganz hingerissen, und ich nehme mir fest vor, wie Leo oder Silvia zu werden. Das Ende ist so rührend, daß ich es gar nicht beschreiben kann. Als ich das Buch aus der Hand legte, kam mir unser alltägliches Leben so unwürdig vor.

Zu Ostern waren wir bei Dorns eingeladen. Wir suchten auch da Ostereier, aber wie armselig, nur ungefärbte. Zum Kaffee bekamen wir nur Zwieback und nur eine Tasse und – – Kochzucker. Gott wie pauvre.

Wir haben in der 2b einen neuen Lehrer, der uns Rechnen und Geographie giebt. Er ist ganz nett, hat mich gefragt, ob ich mit dem Komponisten Dalmar verwandt sei, und ob ich dichten könne. Das erstere habe ich bejaht, das letztere verneint.

3. Dezember. Am vorigen Donnerstag kam Tante Emma mit ihren beiden Kindern an. Lotte ist noch etwas magerer geworden, und Eva hat sich nicht zum Vorteil verändert. Eigentlich waren wir nicht viel zusammen, ich vormittags in der Schule, sie nachmittags aus. Am Montag reisten sie wieder ab. Eigentlich ist es besser so, alles in der alten Ordnung. Es ist doch nicht angenehm, wenn man immer und immer rücksichtsvoll sein muß, ewig thun, was der andere will, denn die Bitte eines Gastes kann man doch nicht gut abschlagen; und sie wird doch zum Befehl.

Ich habe jetzt Tanzstunde und amüsiere mich sehr dabei. Wenn ich sagen sollte, was mich denn eigentlich amüsiere, so wüßte ich nicht zu antworten. An dem Hopsen allein kann man doch kein Vergnügen finden.

Den 4. Dezember. Gestern, das war wieder schrecklich in der Schule. Bertha Giese ist ein armes Würmchen und immer so murklich angezogen, und ein schlimmes Auge hat sie auch. Sie bekommt immer nur eine trockene Schrippe mit in die Schule. Gestern aber hatte sie eine Schrippe mit Kuhkäse belegt, und sie schmatzte so recht vor Vergnügen beim Essen. Da ging Frau Hegel an ihr vorüber und schnüffelte so, und da entdeckte sie den Kuhkäse. ›Pfui‹, sagte sie, ›Übelriechendes gehört nicht in die Schule,‹ und riß ihr die Schrippe weg. Die Bertha, die stand da mit so gräßlich hungrigen Augen und wäre beinahe an dem Bissen im Munde erstickt. Ich weiß nicht, mir stieg das Blut so in den Kopf und ich sagte zu Frau Hegel: ›Es giebt noch viel Übelriechenderes in der Schule als Kuhkäse.‹ Ich meinte damit ihr Benehmen, das wagte ich ihr aber nicht zu sagen. Ich mußte eine ganze Stunde nachsitzen. Es machte mir Spaß, das Nachsitzen, wirklich Spaß.

Ich hasse Ungerechtigkeiten. Darum thun mir immer die Armen so sehr leid. Ich weiß überhaupt gar nicht, warum es Arme geben muß. Es ist zu dumm. Wenn ich groß bin, entdecke ich es vielleicht. Am andern Tage kam ich auch mit einem Käsebutterbrot in die Schule; es war nicht gerade Kuhkäse, nur holländischer. Und ich aß es so recht vor Heglers Nase. Und sie schnüffelte nicht, und that, als sähe sie es nicht. Etsch, Frau Hegler, etsch! etsch!

30. Dezember. Lange, lange habe ich nichts eingeschrieben; ich will aber auch sagen warum, damit ich mich später über den langen Zwischenraum nicht ärgre. Das Tagebuch war weg. Ich habe Auerbachs Dorfgeschichten gelesen, sie gefallen mir himmlisch. Übrigens, was ich da neulich über die Tanzstunde eingeschrieben habe, hatte ich bloß aufgeschnappt; das Hopsen und Springen macht mir doch Vergnügen.

Den 1. Januar 1868. Ein neues Jahr hat angefangen, – jetzt schreibt man 1868. Das kommt mir ganz wunderbar vor. Wie schnell das geht. Und wenn ich erst darüber nachdenke, was habe ich denn eigentlich in dem langen Jahre gethan? Nicht einmal das dumme Büchlein konnte ich ausschreiben, und ich will Schriftstellerin werden. Ich will mich aber ändern und in diesem Jahr fleißiger werden.

6. Januar. Gestern nahm mich Vater zu einem Kaffee mit, wo nur Erwachsene waren. Ich habe mich sehr gut unterhalten; zwar unterhalten eigentlich nicht, sondern zugehört. Dann schmeckte mir auch der Kuchen und das Eis herrlich. Am Sonnabend bin ich in Englisch in die erste Abteilung gekommen. Alle Kinder murrten und meinten, sie hätten ebenso gut in die erste Abteilung kommen können; ich habe mich aber nicht daran gekehrt. In der Schule werde ich von Emmy Kaiser der angehende Blaustrumpf genannt. Unser Direktor, Herr Vogel, lobt immer Emmy Kaiser und Sibilla Dalmar, und die anderen müssen zuhören.

31. Januar. Meiner Treu! Bin ich aber ein Faulpelz. Über vierzehn Tage nichts eingeschrieben, Noch nicht das neue Buch angefangen! Aber was soll man denn eigentlich einschreiben? Richtig, ich war am vorigen Sonntag bei Prinzens. Gar nicht amüsiert. Wir thaten gar nichts, sondern mußten mit anhören, wie Herr Prinz ein Karnevalsfest beschrieb, Frau M.s himmlischen Nacken in den Himmel erhob und ähnliches. Herr Prinz ist immer so albern zu mir, ich kann wirklich seine Späße nicht anders nennen. Z. B. sagte er immer: ›Ich bete Dich an, Sibilla, Du machst mich unglücklich,‹ und noch mehr solch Zeug, das doch, wenn es auch ein Scherz sein soll, ganz unsinnig ist.

Wenn Camilla und Emmy bei mir sind, kochen wir oft auf der Kochmaschine. Neulich kochten wir zuerst höchst wohlschmeckende Chocolade, dann ganz prächtigen Eierkuchen mit Apfelmus und Apfelschnittchen und zum Nachessen Chocoladencrême.

Nein, was kann ich denn bloß noch schreiben, denn später wird es mir doch nicht mehr interessant erscheinen, daß Frau Hegel fehlt und daß wir deshalb in der Stunde von 12–1 Uhr großen Unsinn gemacht haben, oder soll ich schreiben, daß am Sonnabend die Tanzstunde bei uns war und daß Cousine Anna, die gekommen war, uns so gut unterhielt, daß alle bis 9 Uhr blieben. So, nun steht es doch wenigstens hier und ich kann mich in meinem späteren Alter daran ergötzen. Anna ist ein außergewöhnliches kluges, liebenswürdiges Mädchen, die ich mir zur Freundin wünsche, denn eine Freundin genügt mir nicht. Die eine, die ich habe, ist mein Camillchen. In der Schule gefällt es mir gar nicht, wenigstens nicht die Kinder. Es sind fast alle Strohköpfe! Sogar Emmy Kaiser, die ich früher anbetete, ist eingebildet und zänkisch, sie weiß nur mehr als die andern. Wäre ich doch nur erst aus der Schule! Ich kann es manchmal nicht aushalten, wenn die andern so jedes Wort herauswürgen, und dann sage ich es, und dann heißt es wieder: Gott nein, immerzu sagt Sibilla Dalmar vor, weil sie sich einbildet klüger zu sein als wir alle.

3. Februar. Heute rief mir ein Junge ›Judenschicksel‹ nach. Ich weiß nicht, warum, vielleicht weil meine Zöpfe sehr lang waren und mit roten Bändern eingeflochten. Ich lief ihm nach und wollte ihm etwas thun, er lief aber schneller. Wenn mich einer beleidigen will, so könnte ich ihn – totschlagen, nein, so arg nicht, aber ihn prügeln, prügeln, und mich freu'n, wenn er recht schrie. Mutter nennt mich manchmal kleine Furie.

Ich hoffe so sehr, daß ich nach der 2a komme. Ich könnte es gar nicht aushalten, wenn es nicht der Fall wäre. Ich bin so fürchterlich ehrgeizig. Dann werde ich wohl auch das englische Gedicht aufsagen, das heißt, ich will! Ich sollte eigentlich das französische mit zwei andern zusammen aufsagen, und Herr Vogel war auch schon einverstanden damit, und da wollte ich plötzlich nicht, ich glaube aus Eifersucht. Ich hätte mich so gefreut, das Ganze allein aufzusagen, und da wollte ich lieber gar nicht. Und nachher ärgerte ich mich so, nicht, weil ich nun das Gedicht nicht aufsage, sondern weil ich mich so albern benommen habe.

Am Nachmittag sagte mir Herr Simons, wenn ich das, was die erste Abteilung rechnet, nicht mit zu rechnen im stande wäre, so könnte er mich nicht in die 2a versetzen. Meine Stimmung war ohnehin schon nicht die beste, und ich weinte, ich weinte! Oh, ich Dummkopf! ich Dummkopf!!!!!!!!

5. April. Es war eine große und ereignisreiche Zeit, die letzte Woche. Am Donnerstag hatten wir das unsinnigste aller Examen. In dem Vierteljahr von Weihnachten an war uns alles schon eingelernt worden. Ich sagte das englische Gedicht auf, wie ich es mir in den Kopf gesetzt hatte. Die Martha Franz sagte dann das deutsche Gedicht; ich kann nicht begreifen, wie ein Mensch um solcher geringfügigen Sache willen so zittern kann, wie sie es gethan hat.

Abends kam Grete Stadler zu mir, die alle das Wunderkind nennen. Sie ist schon erwachsen, 16 Jahr alt; sie erzählte mir Geschichten, und sie und die Geschichten gefallen mir sehr gut.

Gestern war der große Tag der Versetzung. Nach einer langen Rede, die mich mehrmals zum Lachen brachte, wurde vorgelesen, wer versetzt würde. Als die Versetzungen nach 2a an die Reihe kamen, fing der Herr Direktor so an: ›Ich werde mit der letzten anfangen, die eigentlich noch gar kein Recht hat, nach 2a zu kommen, weil sie zu jung ist (man wirft mir bedeutsame Blicke zu), die aber meiner Meinung nach Euch alle übertrifft: Sibilla Dalmar!‹ Meine Freude war und ist noch grenzenlos. Emmy Kaiser wird jetzt nicht mehr mit verachtendem Stolze auf mich niedersehen. Sie äußerte neulich, ich wolle sie alle beherrschen. Pah, das will ich auch.

8. April. Gestern hatten meine Eltern Besuch. Die Frau von dem Dichter F. (ich schreibe keine Namen aus, sonst geht es mir am Ende wie meiner Cousine Anna; die führte auch ein Tagebuch, als sie zum Logierbesuch bei einer unangenehmen Tante war. Und das Tagebuch ließ sie einmal liegen, die Tante las all die schrecklichen Sachen, die sie über sie geschrieben, und Cousinchen wurde natürlich an die Luft gesetzt). – Also die Frau F. hatte ich mir viel jünger und hübscher gedacht. Sie hat so viel Falten um die Augen, besonders wenn sie lacht. Herr Tau ... war auch da, ein großer Virtuose und der Abgeordnete Herr Las ... Der hat mir sehr gut gefallen. Er spricht so interessant, kurz und klug, er hat mir von allen am besten gefallen.

16. April. Ich muß doch eigentlich auch in das Buch schreiben, wenn ich mich schlecht benommen habe, und mich nicht immer loben. Cousine Anna, die seit einigen Monaten bei uns wohnt, und ich, wir waren also am Mittwoch sehr ungezogen. Anna las im Bett aus einem verbotenen Buch. (Ich muß zu meiner Schande gestehen, ich würde es auch thun, wenn ich nicht mit Mutti in einem Zimmer schliefe.) Ich machte Anna heftige Vorwürfe, und als sie da weiter las, schlug ich sie und hielt die Thür zu, weil sie mich wieder schlagen wollte; da zerschlug sie das Glas in der Thür und that sich sehr weh. Vater war, ich glaube zum ersten Mal, sehr böse auf mich. Nachher bat ich ihn um Verzeihung; er ist so gut und verzieh mir. Ob ich Anna wohl geschlagen habe, weil sie das Buch las und nicht ich? So, nun steht doch wenigstens eine Schandthat von mir hier.

Ich lese jetzt ›Die Pickwicker!‹ Sie gefallen mir sehr gut, trotzdem Mutti lachte, als sie das Buch in meiner Hand sah, und meinte, ich könnte es unmöglich verstehen. Vorher blätterte ich in der Bibel, sie ist gar nicht so langweilig, wie ich immer dachte, sondern im Gegenteil sehr unterhaltend.

30. April. Seit 14 Tagen habe ich dich, holdseliges Buch, nicht in Händen gehabt. Damals waren noch Ferien, nun sitze ich schon seit 1 1/2 Woche in 2a. Es gefällt mir recht gut, wenn auch anfangs ein paar Gänschen über mich lachten, was sie jetzt hübsch bleiben lassen. Die drei Lehrer sind recht nett, am besten gefällt mir Doktor Heckel, der ist am energischsten und weiß zu erreichen, was er will. Dann kommt Doktor Bender, der sich alles gefallen läßt. Höchstens sagt er: ›Sie bringen mich zur Verzweiflung‹ oder ›Ich bitte Sie um alles in der Welt, das geht nicht so.‹ Darüber muß ich immer lachen, daß er anstatt g, j sagt. Der dritte, der Doktor Schell – ein Murrkopf.

30. Mai. Ich habe hier ein Blatt ausgerissen, auf dem lauter Unsinn stand, und daher hat das, was ich jetzt schreibe, gar keinen Zusammenhang mit dem Vorhergehenden.

Was will ich eigentlich schreiben? Mir ist so wirr im Kopf. In der Schule reden immer alle über mich. Neulich war Frau Hegel sehr ungerecht gegen mich. Ich mußte mich die ganze Stunde in acht nehmen, nicht zu weinen. Als aber alle weg waren, außer Frau Hegel und Nette Günzer, da fing ich an fürchterlich zu weinen, und dann lachte ich wieder, und das Ende vom Liede war, daß ich Frau Hegel bat, niemandem zu erzählen, wie albern ich gewesen war, und ich glaube, Frau Hegel und Nette ängstigten sich etwas, ich glaube, das war mir nicht unangenehm. Warum war sie so ungerecht!!

17. Mai. Gestern feierten wir das herrlichste Fest, das vor 49 Jahren der Welt den großen Künstler Dalmar (mein Vater) schenkte. Grete und ich, wir hatten zu dem Geburtstag ein Theaterstück gelernt – ›Rotkäppchen‹ von Tiek. Ich war das Rotkäppchen, ich glaube ein recht hübsches. Wir spielten es vormittags, und nachmittags noch einmal, und Cousine Else war der Wolf. Sein Fell war aus lauter Pelzkragen zusammengeheftet. Else weinte erst, sie schämte sich herauszukommen.

31. Mai. Erster Pfingstfeiertag. Wir haben das Vorderzimmer ganz mit Maien geschmückt. Sieht das hübsch aus! und wie es duftet! Nachmittag fuhren wir nach einem Ort, der Lichterfelde heißt. An und für sich ist der Ort nichts weniger wie hübsch, ein paar kahle Villen und verkrüppelte Kiefern. Das Essen aber in der Restauration, das schmeckte mir sehr gut.

Dann aber kam ein Gewitter. Ich fürchte mich immer schrecklich vor Gewittern.

5. Juni. O, mein Gott, ist das heut' langweilig. Vater und Mutter sind nach Charlottenburg gefahren und wir können in der schönen Luft keinen ordentlichen Spaziergang machen. Ich war zwar unten, aber wo sollte ich denn hin? immerzu bei Milenz vorbeigehen, wo so viele Leute sind?

Im Hintergarten sitzen die Wirte, im Vorgarten ein altes Fräulein mit dem Gesangbuch in der Hand. Wohin? Ich wollte, ich könnte auch ein wenig spazieren fahren, oder in irgend einem Lokal wie ›Krugs Garten‹ oder ›Moritzhof‹ Kaffee trinken. Aber nichts. – Lesen mag ich auch nicht mehr, über uns klimpern die Kinder auf dem Klavier, und so heiß ist es, so heiß. Ach, ich habe schon solches Kopfweh, und bin so müde, trotzdem es noch ganz früh ist. Ich dächte gerade, ich hätte nun genug geklagt. Buch zu.

23. Juni. Ich habe schon wieder seit vielen Tagen nichts eingeschrieben. Heut vor 8 Tagen hat unsere ganze Klasse eine Partie nach den Pichelsbergen gemacht. Wir fuhren dabei über die Havel, die viel breiter ist, als ich mir gedacht habe. Ich habe mich sehr gut amüsiert, weiß aber doch nicht, was ich darüber schreiben soll. Ach, ich bin so müde, und es ist so heiß, ich habe so viel gearbeitet. Frau Hegel hat heute gesagt, ich wäre nicht mehr die fleißige Schülerin von ehemals, ich fühle, es ist wahr. Ich weiß gar nicht, wie das gekommen ist. Ich habe mir vorgenommen, nun ganz anders zu werden, darum habe ich auch jetzt in der Hitze so viel gearbeitet.

Ich wollte bloß, die Cousine wäre erst weg, denn es ist bald nicht mehr zum aushalten mit dem Kinde, ich hasse sie, und die anderen lieben sie auch nicht.

16. September. Wieder habe ich fast ein viertel Jahr nichts in das Buch geschrieben. Ich bin jetzt 12 Jahr. Als ich das vorige Mal einschrieb, war ich noch 11 Jahr. Wie schnell das wechselt, ich denke immer, ich bin noch 11, ich weiß nicht warum. Außer vielen Geschenken wurde mir zum Geburtstag noch etwas sehr Hübsches aufgebaut, und das war Gretchen. Am Tag vor meinem Geburtstag waren wir abends bei Günzers eingeladen gewesen, und so kam es, daß ich nicht merkte, daß Grete die Nacht über bei uns geblieben war.

Als ich am nächsten Morgen aufgebaut bekam, stand sie auf dem Tisch, in ein weißes Laken gehüllt, mit einem grünen Kranz über dem aufgelösten Haar.

Am Nachmittag kam Camilla, wir amüsierten uns sehr.

Ich bin so entsetzlich matt und müde, aber ich kann nicht schlafen. Ach, es ist so heiß heute und ich habe so viel gelesen.

22. September. Ach, ich bin jetzt so faul in der Schule, beim Aufstehen und überhaupt immer.

Heut war ich sehr ungezogen und bin in abscheulicher Stimmung, weil Vater böse auf mich war. Ich dachte, er wüßte von meiner Unart nichts. Ich begreife gar nicht, wie Mutter es ihm sagen konnte. Als er nach Hause kam, sagte ich ihm ganz ahnungslos ›Guten Tag‹, er aber antwortete mir gar nichts, auch abends nicht.

Ich muß nur schnell von etwas anderem sprechen.

Neulich an Annas Geburtstag war Grete da. Wie habe ich die eine Zeit lieb gehabt, doch jetzt ist die Liebe verrauscht und sie ist mir gleichgültig, manchmal kann ich sie sogar nicht leiden. Ich mag nicht, daß sie zu Muttern so zärtlich ist und sie ›Mama‹ nennt, überhaupt an Zärtlichkeit fehlt es ihr nicht, es ist das mit ein Hauptgrund, warum ich sie nicht mehr leiden kann.

Ich habe jetzt eine neue Freundin in der Schule, Hedda Rank, ein sehr kluges Mädchen. Sie ist erst seit Ostern in der Schule, und da sie klug ist, ist sie natürlich den anderen verhaßt, und wenn die Dummen dann über sie lachen, dann weint sie. Das ist freilich nicht klug.

Wir haben Ferien. Gott sei Dank. Leider nicht lange.

Ich habe jetzt keine Lust zum Schreiben.

13. Januar 1869. Mein Gott, wie lange habe ich nichts in dies Buch geschrieben, recht dumm von mir, denn welche kleine Mühe macht es mir, und welche große Freude werde ich später einmal davon haben, wie Mutter wenigstens sagt. Weihnachten war es sehr vergnügt. So viel Geschenke bekam ich.

Grete hat wieder vom 2. Feiertag bis gestern hier bei uns gewohnt.

Ich kann sie jetzt wieder besser leiden, ich liebe sie nicht, aber ich bin ihr ziemlich gut. Eigentlich glaube ich nicht, daß sie viel Talent hat, denn neulich las sie uns ein ganz einfaches Gedicht vor ›Das Grab am Busento‹ und ›Die Grenadiere‹, und sie las es so herzlich schlecht, daß alle sagten, ich hätte es besser gelesen, und das muß ich auch selbst sagen, ohne mich loben zu wollen.

Was aber Grete bei ihrem Lehrer durchgenommen hat, macht sie recht gut, manchmal sogar sehr ergreifend. Ich bin heut aus der Schule geblieben, weil mir nicht wohl war. Ich gehe so ungern in die Schule, ich kann gar nicht sagen wie. Ich will ja fleißig sein, will viel, sehr viel lernen, aber es geht ja nicht in der Schule. Frau Hegel hat uns die Bibel als das beste Buch empfohlen, in dem wir fleißig lesen sollen. Nun befolgen wir ihr Gebot. Grete, Anna und ich, wir haben uns neulich Abend hingesetzt und die schönsten Stellen ausgesucht von – aber nein, das ist zu häßlich, ich schreibe es nicht. Nun, so thun wir doch Frau Hegels Willen. Außer der Bibel lese ich jetzt Zschokkes Novellen. Zum Teil recht niedlich, zum Teil ein bißchen langweilig.

9. Februar. Ich erlebe jetzt sehr viel und doch wird mir die Zeit so erschrecklich lang, nein, eigentlich sehr kurz, denn wenn ein Tag vorbei ist, weiß ich gar nicht, was ich überhaupt die ganze Zeit gethan habe, ich bin so überdrüssig.

Prutz meinte neulich in seinem Vortrag, ein jeder Mensch müßte so eine Zeit einmal haben, in der er ohne Grund traurig wäre, in der er tot sein möchte.

Na, zu Grabe getragen werden möchte ich doch noch nicht.

Es thut mir sehr leid, daß die Vorträge von Prutz schon zu Ende sind. Sie haben mir sehr gefallen. Ich freute mich immer schon auf den Tag, und war ungeduldig; schade, daß es nun vorbei ist. Ich habe sehr viel dabei gelernt, ich habe einigermaßen einen Begriff bekommen von der Litteratur des 18. Jahrhunderts, von der ich nicht das geringste wußte.

Ich weiß nicht, mir schwebt immer ein ganz gleichgültiger Vorfall vor, bei dem mir aber unrecht geschah. Ich war erst 5 Jahre alt. In unserem Hause wohnte eine alte Frau, bei der hatte der kleine Knabe vom Wirt schrecklich geklingelt, die alte Frau lief auf den Hof, mir wurde die Schuld zugeschoben, und ich bekam eine fürchterliche Strafrede. Dieser geringfügige Vorfall ist mir nie aus dem Gedächtnis geschwunden; Kinder behalten ja immer, wenn ihnen unrecht geschieht. Jetzt bin ich nicht mehr so, im Gegenteil, ich behalte besser im Gedächtnis, wenn jemand etwas Gutes und Hübsches zu mir oder von mir sagt.

Neulich war Gesellschaft bei Löwes. Vater nahm mich mit, obgleich es Mutter sehr unrecht fand. Ich habe mich noch nie so gut amüsiert. Es war eine ausgewählte Gesellschaft, meist Schriftsteller und Kritiker. Fr ... vertrat das letztere Fach. Mit dem habe ich Brüderschaft getrunken und auch mit Auer ... Auer ... ist ein reizender Mensch. Ich kann ihn nicht nur gut leiden, ich habe ihn auch lieb. Wolt ... war auch da. Grete neckte mich eine Zeit lang mit Wolt ... Zu dumm! Wenn man jemand gern mag, muß man darum verliebt in ihn sein?

Dann war Julius M .... da. Er findet mich sehr hübsch, er hat es mir gesagt. Es macht mich sehr, sehr glücklich, wenn mich jemand hübsch findet. Er hat mir immerzu Schmeicheleien gesagt, das macht mich verlegen, und ich gerate nicht gern in Verlegenheit. Uebrigens ist unser Gefallen aneinander gegenseitig. Ich finde ihn sehr nett. Nett ist ein dummes Wort, ich meine etwas ganz anderes, ich kann mich gar nicht ausdrücken Er hat uns auch schon einen Besuch gemacht. Er hat eine Tochter, ebenso alt wie ich.

Auerb... habe ich auch gebeten, uns zu besuchen, und er hat versprochen zu kommen. Ich habe ein Vielliebchen von ihm gewonnen und mir eines seiner Werke gewünscht. Ich hoffe, er wird's nicht vergessen.

Wie langweilig war dagegen die Geburtstagsfeier von Cousine Anna. Wenn man das Fest mit der Gesellschaft am Tage vorher vergleicht, muß man lächeln. Und ich lächelte auch, als Anna zu mir sagte, daß ich mich doch unzweifelhaft heut besser amüsierte als gestern. Das gute Kind kam mir so naiv vor mit seiner Frage. Sie kann sich nichts vorstellen, das über eine Punschtorte und ein Glas Champagner geht.

Ich legte gestern Prutz einen Lorbeerkranz hin zum Abschied. Nachher that's mir leid, daß ich es übernommen hatte, denn der Kranz sah schrecklich ruppig aus.

22. März. Was habe ich nicht alles erlebt in diesen letzten Monaten! Es war eine ereignisreiche, darum nur allzu schnell vergangene Zeit. Womit soll ich meinen Bericht anfangen? Ich werde mit etwas beginnen, was uns auch für die nächste Zeit wahrscheinlich viel beschäftigen wird. Vater wünscht nämlich, wir sollen Berlin verlassen. Ich fände es wahrhaft schrecklich, wenn wir in einer kleinen Stadt leben sollten. Vater ist zu einem Musikfest nach Weimar gefahren. Ich kann mir recht gut denken, daß es ihm dort gefällt, wenigstens für einige Zeit. Er wird bewundert, gefeiert, aber wir? Wir sind nicht berühmt, man wird uns kaum beachten. So egoistisch es auch ist, ich ärgere mich manchmal darüber, daß Vater sich so gut amüsiert, und besonders über eine Äußerung von ihm, daß er sich so wohl fühlt, wie seit 20 Jahren nicht. Wenn es ihm gefällt, wenn er sich amüsiert, gut, das thue ich ja auch, aber daß es ihm ohne uns besser gefällt, das kann ich ihm nicht verzeihen.

Gestern bekamen wir Censuren. Meine ist sehr schlecht, ich bin aber ganz zufrieden. Nämlich alle geben zu, daß ich erzfaul gewesen bin und zerstreut und unaufmerksam, aber meine Fortschritte loben sie alle. Das ist mir eine rechte Befriedigung, denn es beweist mir, daß ich nicht dumm bin, was ich übrigens längst wußte. Fräulein Glaser verließ die Schule mit einer rührenden Abschiedsfeier. Unsere Klasse hatte ihr den Goethe geschenkt und ich hatte ihr ein Gedicht dazu gemacht, ein bißchen hat mir Mutter dabei geholfen. Es lautet:

Du scheidest, und Du wirst nicht wiederkehren,

Was Dein an Glauben und an reichem Wissen,

Du gabst es uns, in Beispiel und in Lehren.

Ach, Teure, schmerzlich werden wir dich missen.

(Na, na!)

Fahr wohl! Es lächle Dir zu allen Zeiten

Das Leben nur im heiteren Festgewand,

Und unsere Wünsche mögen Dich geleiten,

Hast Du Dich treulos auch von uns gewandt.

(Hier fing sie an zu heulen und sich zu verteidigen.)

Und wandelst Du auf Goethes Zauberfluren

Am Wunderstrom, wo nie versiegt die Quelle,

So denke derer, die jetzt Deinen Spuren

Nachweinen, Vorbild Du, uns leuchtend helle.

Und bist Du leiblich uns auch längst entschwunden,

Du lebst in unserm Herzen jetzt und immer,

Du wirkest fort – wir sind an Dich gebunden

Und uns umstrahlt von Deinem Geist ein Schimmer.

(Gut gelogen, Sibillchen.)

Dies Gedicht habe ich eigentlich nur eingeschrieben, um Raum zu füllen. Ich habe mir nämlich vorgenommen, in möglichst kurzer Zeit dies Buch auszufüllen.

Ich war in einer Gesellschaft bei Rosa Bär. Dort war auch Trudchen Henning, die so fremd und herablassend zu mir that. Auch ihre Schwester Alice hat, wenn ich ihr einmal begegne, ein eigentümliches Wesen zu mir, so leutselig. Sie haben bei Vater Musikunterricht. Es macht mir immer den Eindruck, als ob ihr Vater zu ihnen gesagt hätte: ›Seid recht freundlich zu den armen Dalmars.‹ Ich will ihre Freundlichkeit nicht. Sie sollen sie für sich behalten, die geldstolzen Hennings. Geld! Geld! kommt mir manchmal so ordinär vor.

Heut, als ich mit Mutter im Tiergarten spazieren ging, sahen wir einen sehr prachtvollen Kinderwagen, in dem lag ein prachtvoll geputztes Kind mit dicken, rosigen Bäckchen, und eine noch viel prachtvollere Spreewälderin schob den Wagen. Als wir das Kind und den Wagen und die Amme bewunderten, kam eine arme Frau heran mit einem zerrissenen Umschlagetuch. Sie hatte auf dem Arm ein Kind, das war nur Haut und Knochen und nur in eine Art Lumpen eingewickelt. Das vermagerte Ding kreischte vor Vergnügen über den schönen Wagen und wollte dem prachtvollen Kind Händchen geben. Ganz empört stieß die prachtvolle Amme das magere Händchen – schmutzig war es ja – zurück und fuhr schnell davon. Was Kinder für sonderbare Augen haben können. Ich kann die Augen von dem Haut- und Knochenkind nicht vergessen. Ob es wahr ist, was in der Bibel steht: ›Der Herr, der die Lilien wachsen läßt u. s. w.‹ Frau G. ermahnt uns immer, recht bibelgläubig zu sein. Wenn nur die armen Kinder von Bibelsprüchen satt würden!

Eisenach, den 29. April 1869. Wenn ich nach langen Jahren dieses Buch überlesen werde, so werde ich mich natürlich fragen, wie kam ich damals so plötzlich nach Eisenach? Um dann nicht lange darüber nachdenken zu müssen, schreibe ich hier einfach den Grund.

Mutter ist im Winter recht krank gewesen: Gelenkrheumatismus; sie sollte früh aufs Land. Sie wählte Eisenach, weil da eine sehr gute Pension für mich sein soll. Ich passe doch gar nicht in eine Pension. Vater ist in der Nähe von Dresden auf den Landsitz eines Freundes gereist, um, wie er sagt, die letzte Feile an seinen Merlin zu legen. Es ist recht häßlich von mir, aber wie ich Vatern kenne, legt er die Feile doch nicht an.

Die Gegend um Eisenach ist sehr schön. Jeden Tag entdecken wir neue Schönheiten. Die Wartburg haben wir immer vor Augen. O, es ist wundervoll, wenn sich die letzten Strahlen der untergehenden Sonne in ihren Fenstern wiederspiegeln. Es scheint dann, als ob ein flammendes Meer sich darüber ergösse, bis der Schein nach und nach matter wird und endlich die glühende Röte sich in ein dunkles Lila verwandelt und der Abendstern hoch und hehr darüber schwebt.

Unsere Wohnung ist hübsch und geräumig. Und die Schule – besser als unsere in Berlin ist sie jedenfalls. Auch eine Bibliothek giebt's hier und was für eine! Ein paar Novellen und Romane, hauptsächlich aber Ritter- und Räubergeschichten.

10. Juni. Als ich eben das Vorhergehende überlas, wollte ich die paar Seiten ausreißen, nur, um mich nicht immer über meine Albernheiten ärgern zu müssen; etwas schildern zu wollen, was ich nicht kann, und etwas empfinden zu wollen, was ich nicht empfinde.

Ich finde es ja hier recht schön, aber ich kann nicht sagen, daß mich die Natur sehr ergriffe oder rührte, wie ich mir in den letzten Seiten den Anstrich geben will.

Vater war hier. Wir haben eine kleine Reise durch Thüringen gemacht. Zu Haus konnte ich mich gar nicht wieder an das langweilige Leben gewöhnen. Tag für Tag in die Schule zu gehen, Schularbeiten zu machen und mit Amanda Schulz, meiner Freundin (weil ich keine andere habe), spazieren zu gehen. Ich möchte wohl noch etwas schreiben, aber da ruft schon wieder die dumme Schule.

31. Juli. Wie die Zeit so rasend schnell verstreicht. Schon wieder über einen Monat voller Langweile, seit ich zum letzten Male eingeschrieben habe. Viel ist seitdem nicht vorgekommen. Das vorige Mal sprach ich mit meiner Freundin Amanda Schulz, jetzt muß ich von meiner Feindin Amanda Schulz erzählen.

Ich konnte das Mädchen von vornherein nicht leiden, und habe keine Ahnung, wie so urplötzlich unsere innige Freundschaft gekommen war, denn wir passen gar nicht, aber gar nicht zusammen. Ich war sogar ihretwegen einige Mal recht böse auf Julie Herbig, von der ich es recht unfein fand, daß sie immerfort sagte, mit einem solchen Mädchen würde sie nie umgehen, und sie wußte doch, daß ich mit Amanda befreundet war.

Es ist wahr, Amanda ist ganz oberflächlich, es ist ihr unmöglich, etwas ernstes vorzunehmen. Ihre höchste Seligkeit ist, wenn ein paar dumme Gymnasiasten sich in sie verlieben und ihr nachlaufen.

Die Ursache unseres Zankes war nun folgende. Ich ging mit aufgelöstem Haar spazieren (offen gestanden macht es mir Vergnügen, wenn die Leute sich nach mir umsehen) und Amanda, die ganz Kleinstädterin ist, wollte so nicht mit mir gehen. Es ist unanständig, sagte sie, und flechtest Du Dir nicht augenblicklich die Haare ein, so gehe ich fort und komme nie wieder.

Ich ließ sie gehen, und bis jetzt hat sie, Gott sei Dank, ihr Versprechen gehalten! Doch genug von der langweiligen Amanda.

Ich habe jetzt Consuelo gelesen. Es hat mir einen tiefen Eindruck gemacht. Ach, hätte ich doch auch eine so schöne Stimme.

31. Januar 1870. Seitdem ich nichts in dieses Buch geschrieben – es ist ein halbes Jahr her, bin ich um viele Erfahrungen reicher geworden. Vater, der noch den ganzen Winter über in Dresden an seinem Merlin arbeitet, wünschte, daß ich in Eisenach in der Pension bleiben sollte. Ich wollte aber nicht, ich wollte nicht, ich sträubte mich dagegen mit aller Macht, warum, weiß ich eigentlich selbst nicht zu sagen. Ich dachte es mir entsetzlich in der Pension zu sein, ohne freien Willen, immer mit allen anderen zum Spazierengehen ausgetrieben zu werden, wie eine Herde Schafe, pardon Lämmer, dabei tödliche Langweile. Und ich setzte es durch, nach vielen Kämpfen und vergossenen Thränen. Wir kamen glücklich in Berlin an, und nach einigen Bummeltagen wurde ich in die Schule von Frau H. gesteckt, welche Dame wir mit Tante anreden mußten. Diese Schule nun ist süß, entzückend, balsamisch, berauschend. Ich gehe mit Entzücken hin. Wir haben aber auch reizende Lehrer. Zuerst mein Liebling, der Geschichtslehrer Dr. G. Er ist ein hübscher Mann von Witz, Geist, Humor, Ironie, kurz, er hat alle möglichen Vorzüge, nur ist er ein wenig, sagen wir sehr exaltiert. Dann kommt der Professor L., der Schwarm aller jungen Mädchen, gewissermaßen meiner auch.

Bei ihm haben wir Aufsätze, die mir teils gelingen, teils auch nicht.

Lesen und Gedicht bezeichnet er in meiner Censur als talentvoll.

Professor H. unterrichtet, ist aber kein Schulmeister. Wir thun bei ihm was wir wollen.

Dr. K. Der unselige Mann unterrichtet in zwei mir verhaßten Gegenständen: Rechnen und Physik; das dient nicht dazu, ihn mir angenehmer zu machen. Professor L. ein orthodoxer Herr. Miß N. eine dumme Trine.

11. März. Nach langer Unterbrechung nehme ich den Faden meiner Erzählung wieder auf. Mutter ist fort, zu einer kranken Schwester nach Stuttgart gereist, sie bleibt vielleicht Monate lang fort, und ich bin allein hier, bei den Großeltern. Die ersten Tage glaubte ich es nicht ertragen zu können, ohne sie zu leben, heimlich vergoß ich bittere Thränen. Doch der erste Schmerz der Trennung legte sich. Wir schreiben uns ganz regelmäßig, teilen uns alle Erlebnisse mit, aber von meiner Sehnsucht schreibe ich kein Wort mehr, seitdem die kranke Tante aus Stuttgart an Großmama geschrieben hat, was ich für lamentable Briefe schriebe. Ich kann's nicht leiden, wenn eine dritte fremde Person das liest, was nur für meine geliebte Mutter bestimmt ist.

Zu Weihnachten habe ich mich hier so unglücklich gefühlt, daß ich aus Mitleid mit mir selbst hätte weinen können.

Mein einziger Trost war wirklich die Schule, wo ich mich durch Übermut und Unart für die häusliche Sittsamkeit entschädigte. Das wurde mir aber in der Censur eingetränkt, die vielen Einzelrüffel abgerechnet.

Gerade als ich 4 Wochen bei Großmama war, mußte sie nach Breslau zu einem verheirateten Sohn reisen, und ich kam zu der Familie Haller, mit der Vater sehr befreundet ist, und wo ich 4 Wochen blieb. Es gefiel mir hier ungleich besser als bei Großmama, doch glücklich war ich auch hier nicht. Marie Haller, meine Schulfreundin, und ich, wir sind zu ungleiche Naturen, um in Frieden nebeneinander leben zu können. Sie ist klug, aber sie ist ein Kind, und das bin ich nicht mehr, vielleicht bin ich es nie gewesen. Wir wurden nun auch wie Kinder behandelt, und daran bin ich nicht gewöhnt, weder von Mutter noch von Großmama.

In der Schule gefällt es mir noch immer ausgezeichnet, trotzdem ich meine Meinung in Bezug auf mehrere Lehrer geändert habe.

Zum Beispiel Professor L. ist nicht mehr mein Schwarm, sondern ist zu einem langweiligen Peter zusammengeschrumpft, der sich das Air unermeßlicher Gelehrsamkeit zu geben weiß. Die Tante selbst kann manchmal außerordentlich liebenswürdig sein und manchmal wieder das Gegenteil.

Von jemand, der mich ganz besonders interessiert, habe ich noch gar nicht gesprochen, das ist meine einzige Freundin Timäa Burg; ihre Mutter ist eine Ungarin, daher der Name Timäa. Sie ist mir ein Rätsel. Eins steht fest, sie ist sehr klug, sehr originell und sehr launenhaft. Ich habe mir schon mehr von ihr bieten lassen als von irgend wem, doch alles hat seine Grenze, und als sie sich neulich sehr unfreundlich benahm, war ich zum ersten Mal ernstlich böse; zu meiner Verwunderung fing sie am nächsten Tag an, die Versöhnung anzubahnen. Ihre Mutter habe ihr gesagt, sie müsse mich um Verzeihung bitten, und dabei sah sie mich so an, als wollte sie sagen: es thut mir leid, daß ich Dich beleidigt habe, aber ich kann nicht abbitten. Da fiel ich ihr um den Hals und sagte, daß ich ihr nicht mehr böse sei. Timäa ist nun einmal so sonderbar, gar nicht wie andere Mädchen, aber sie muß sich doch auch beherrschen lernen, denn wie Goethe sagt: ›Wer sich nicht selbst befiehlt, bleibt immer ein Knecht.‹

15. Mai 1870