Christa Ruland - Hedwig Dohm - E-Book
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Hedwig Dohm

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Beschreibung

Dieses eBook wurde mit einem funktionalen Layout erstellt und sorgfältig formatiert. Die Ausgabe ist mit interaktiven Inhalt und Begleitinformationen versehen, einfach zu navigieren und gut gegliedert. Hedwig Dohm (1831-1919) war eine deutsche Schriftstellerin und Frauenrechtlerin. Sie war eine der ersten feministischen Theoretikerinnen, die geschlechtsspezifische Verhaltensweisen auf die kulturelle Prägung zurückführte statt auf biologische Determination. Die Roman Christa Ruland ist eine Grundlage des Feminismus: es forderte die gleiche Bildung und Ausbildung für Mädchen wie für Jungen. Aus dem Buch: "Frau Thalheim war in ihrer äußeren Erscheinung so ultramodern wie die Hausfrau, nur ihre Haltung war steifer. Sie vertrat einen Typus, der zwar noch existiert, aber schon im Aussterben begriffen ist: Die Naturtoilettendame. Sie ging ohne Rest in ihren Kleidern auf. Wie man von einem Reisenden erzählt, der die ganze Erde nur auf Schlachtfelder absuchte, so spürte sie in allem, was sie sah, Toilettenmotiven nach. Im Zoologischen Garten lernte sie an den Papageien Farbeneffekte. Theater, Gemäldegallerien waren für sie nur Ausstellungen von Kleiderfaçons. Der Anblick einer Schneelandschaft im Abendsonnenschein reifte in ihr den Plan zu einem schneeweißen Kostüm mit rötlich goldenem Besatz."

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Hedwig Dohm

Christa Ruland

Abschluss der Romantrilogie "Drei Generationen" (nach "Sibilla Dalmar" und "Schicksale einer Seele")

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-1365-8

Inhaltsverzeichnis

Cover
Titelblatt
Text

Frau Justizrätin Harriet Ruland hatte ihren Jour. Ihre Erscheinung, vom Kopf bis zu den Füßen, war von vollendeter Eleganz, ebenso wie das zierliche Theetischchen – japanisch, mit Elfenbein eingelegt – und der Salon selbst, dem nichts zu fehlen schien. Da waren die bildhübschen Bibelots, die Gobelins, die persischen Teppiche, die alten Stickereien, die übergroßen Chrysanthemen und originellen Orchideen in allerhand phantastischen Vasen mit symbolisch-figürlichen Verzierungen, und als Perlen – echte Kunstwerke.

Jeder, der diesen Salon betrat, hatte den Eindruck: hier empfängt eine Weltdame par excellence Gleich darauf aber drängte sich die Frage auf: wo aber wohnt die Frau? Es fehlte diesem glanzvollen Salon doch etwas: das Intime, die individuelle Physiognomie. Er war oder schien die Sonntagsschöpfung eines stilgeschickten Dekorateurs, der über große Mittel verfügt. Etwas zu Absichtliches war in der vollkommenen Harmonie der Farben und Formen.

Frau Harriet Ruland warf einen prüfenden Blick über den Theetisch, ordnete die Früchte in dem Korb von Silbergeflecht und verbreiterte auf den Majolikatellern die Küchelchen und Sandwichs, damit sie quantitativer wirken sollten. Sie war eine zugleich ehrgeizige und sparsame Hausfrau.

An einem Nebentischchen, in der Nähe des Fensters, war der Theekessel an die elektrische Leitung angeschlossen. Das blasse, überschlanke junge Mädchen, das am Fenster stand, wartete auf das Sieden des Wassers.

Frau Harriet wandte sich zu ihrer Tochter: »Du sollst sehen, Christa, heute, gerade wo ich Migräne habe, werden wir einen ausverkauften Salon haben. Geselligkeit ist wirklich ein Stück Arbeit.«

»Warum hast Du denn diesen Jour eingerichtet, Mama?«

»Man erkauft damit die Freiheit der sechs übrigen Tage.«

»Du brauchst ja die Leute, die Du nicht magst, garnicht einzuladen.«

»Ach,« seufzte Frau Harriet, »man mag ja die meisten Leute nicht. Womit soll man den Salon füllen?«

»Muß man ihn denn füllen?«

Frau Harriet zuckte die Achseln.

Ein Mangel an Harmonie zwischen Mutter und Tochter sprang sofort in die Augen. Die Mutter war lebhaft in jeder Bewegung, mit immer wechselndem Mienenspiel. Junges, Kampfbereites, Lebenheischendes war in ihrer Art. Die Tochter trug ein kühles, stilles Wesen zur Schau; zuweilen klang es wie verhaltene Ironie aus ihrem Ton. Sie widersprachen sich meist, wenn Christa überhaupt auf die Bemerkungen ihrer Mutter reagierte. Meist redete die Mutter, und die Tochter schwieg.

Nach einer Pause sagte das junge Mädchen: »Es sind doch Deine Jours, Mama, warum muß ich immer dabei sein?«

»Warum? weil es chik ist, daß ein junges Mädchen den Thee bereitet. Wozu hat man denn seine Töchter?«

»Ah – dazu!« Christa sah ihre Mutter etwas mokant an.

Der Blick reizte Frau Harriet: Herr Gott, es wäre doch jetzt mit der Elektrischen keine Arbeit, Thee zu machen. Gott sei Dank wäre die Zeit des Samowar vorüber.

Durch die offene Thür, die zum Speisezimmer führte, fiel Christas Blick auf den Samowar von dunklem Kupfer, der, auf dem Büffet aufs Altenteil gesetzt, nur noch ein beschauliches Dasein führte.

»Poetischer und anheimelnder war er doch als der nüchterne elektrische Kessel.«

»Wenn Du Dich verheiratest, schenke ich ihn Dir.«

Christa fuhr zusammen. Da war ja Mama bei ihrem Steckenpferd. Sie bestieg es resolut. Unfaßlich, was Christa an dem jungen Mann – er warb seit einem halben Jahr um sie – auszusetzen habe? worauf sie denn warte? bei ihrem Charakter sei es durchaus wünschenswert, daß sie heirate.

»Wie ist denn mein Charakter, Mama?«

»Schwierig.«

»Und da hoffst Du, daß Dein junger Mann der rechte Petrucchio sein wird, um die böse Käte zu zähmen?«

Jedenfalls habe der Betreffende alle Eigenschaften, die sich eine Mutter für das Glück ihrer Tochter wünschen könne, sie würde keinen Zweiten finden, der so für sie passen würde.

»Aber Mama, woher weißt Du denn, wer für mich paßt, da Du doch ein ganz anderer Mensch bist als ich, mit ganz anderen Ansichten und anderem Geschmack. Du wirst doch nicht zu den altmodischen Müttern gehören wollen, die böse auf ihre Töchter sind, wenn sie sich nicht verheiraten.«

Eine solche Bemerkung würde sich Anne Marie nie erlaubt haben, die habe auf ihren Rat hin geheiratet und sei glücklich geworden.

Das Glück Anne Marie's – der älteren Ruland'schen Tochter – war ein immer wiederholtes Argument der Mutter, um Christa für die Ehe zu begeistern. Man hatte damals über die Heirat allerhand Glossen gemacht. Da aber niemand etwas Bestimmtes wußte, verstummte allmählich das Gerede.

Die Heirat Anne Marie's mit dem fünfzigjährigen Theodor Stern war in der That das Werk Frau Harriets. Stern, sehr reich, sehr angesehen, war Inhaber eines der ersten Eisenwerke Deutschlands.

So sehr Frau Harriet ihre älteste Tochter liebte, war sie doch scharfsichtig genug, um ihre Charakterfehler richtig zu taxieren und zu – fürchten. Von diesem Schmetterling konnte man allerhand Tollheiten gewärtigen. Und eine Tochter im Hause, die ihren Ruf verloren, paßte ihr nicht. Also – fort mit ihr in die Ehe. Bei Christa waren leichtsinnige Streiche unwahrscheinlich. Dieses Mädchen aber mit ihren kritischen Mienen, ihrer ablehnenden Haltung genierte sie. Also – fort mit ihr in die Ehe.

Der Justizrat Gotthold Ruland hatte die Einnahme eines Millionärs. Er ersparte aber kein nennenswertes Vermögen. Der Bedarf im Haushalt war enorm. Er dachte nicht daran, sich irgend einen Genuß – und nur die ausgewähltesten Dinge bereiteten ihm Genuß – zu versagen. Aber auch Frau Harriet legte keinen Wert auf ein großes Erbe für die Kinder. Sie glaubte das Schicksal dieser Kinder in der Hand zu haben. Ihre Herrschaft über sie hielt sie für unfehlbar, ihre berechnende Klugheit auch. Ihr Schicksal sollte eine glänzende Heirat sein, eine Partie um jeden Preis.

Die für Christa so unliebsame Unterhaltung wurde durch den Diener unterbrochen, der Frau Felix Thalheim meldete. Die Dame, die Gattin eines steinreichen Bankinhabers, wurde von der Hausfrau mit ausbündiger Liebenswürdigkeit empfangen.

Litt Frau Harriet darunter, daß sie noch nicht Geheimrätin war, so wartete Frau Adelheid Thalheim noch viel ungeduldiger auf die einfache Rätin. Geradezu unwahrscheinlich, daß Felix, ihr Gatte, der doch einen förmlichen Wohlthätigkeitssport trieb, es noch nicht einmal zum Kommerzienrat gebracht. Die arme Betrogene ahnte nicht, daß dieser Felix hinter ihrem Rücken den Titel ein für allemal abgelehnt hatte.

Frau Thalheim war in ihrer äußeren Erscheinung so ultramodern wie die Hausfrau, nur ihre Haltung war steifer. Sie vertrat einen Typus, der zwar noch existiert, aber schon im Aussterben begriffen ist: Die Naturtoilettendame. Sie ging ohne Rest in ihren Kleidern auf. Wie man von einem Reisenden erzählt, der die ganze Erde nur auf Schlachtfelder absuchte, so spürte sie in allem, was sie sah, Toilettenmotiven nach. Im Zoologischen Garten lernte sie an den Papageien Farbeneffekte. Theater, Gemäldegallerien waren für sie nur Ausstellungen von Kleiderfaçons. Der Anblick einer Schneelandschaft im Abendsonnenschein reifte in ihr den Plan zu einem schneeweißen Kostüm mit rötlich goldenem Besatz.

Sie gehörte zu den Leuten, die sich an Menschen und Dinge nur leicht anleben, die leben und sterben, ohne sich je auf sich selbst besonnen zu haben. Sie fühlte sich aber dabei schön zufrieden, und amüsierte sich, soweit es ihre Toilette nicht derangierte.

Ihr Ruf war makellos. Man sagte ihr mit Recht eine Idiosynkrasie gegen Hüte der vorigen Saison nach, und da ihr Gatte durchaus verlangte – so sagte sie – daß sie zu jedem Kostüm einen passenden Hut trage, mußte sie enorm viel Hüte anschaffen, was ja insofern ein Segen war, als sie mit ihren abgelegten Hüten verschiedenen armen Verwandten unter die Arme greifen konnte.

Christa bereitete den Thee mit einer Langsamkeit, die ihre Mutter ungeduldig machte. In derselben langsamen Weise reichte sie dann den Thee. Es lag etwas Mechanisches in ihren Bewegungen, doch waren sie von einer ernsten Anmut, wie wenn eine Prinzessin Dienste leistet, für die sie nicht geschaffen ist.

Als Frau Adelheid ihr die Tasse abnahm, bemerkte sie verwundert das excentrische Kostüm des jungen Mädchens. Christa trug ein Kleid von rosarötlichem Sammet, eine Farbe von süßer, weicher Milde, die wie eine Liebkosung berührte. Eine prangende, orientalische Stickerei faßte den runden Ausschnitt und die langen, bis auf die Mitte der Hand reichenden Aermel ein. Aus dieser leuchtenden bunten Stickerei stieg blumenhaft der schlanke, etwas zu lange Hals, auf dem wie auf einem zarten Stiel das kleine feine Köpfchen zu schwanken schien.

Frau Adelheid fand, sie sähe wie eine Märchenprinzessin aus. Ob sie Abends in Gesellschaft oder in die Oper ginge? »Nein.« – »Sie müssen wissen,« nahm Frau Harriet das Wort, »das ist Christas Hauskleid. Sie trägt es alle Tage, geht sie aber in Gesellschaft, so zieht sie sich möglichst langweilig und konventionell an, das Kleid bis ans Kinn geschlossen. Sie kann es garnicht geschlossen genug kriegen, das scheint de rigueur, wenn man originell sein will. Als Kind schon wollte sie Sonntags, wenn sie schön geputzt war, mit der Kinderfrau nicht auf die Straße gehen, sie schäme sich so vor den Leuten.«

Christa schwieg. Frau Adelheid hatte Takt genug, von dem Thema abzulenken, indem sie die Schneiderinnenfrage anschnitt, wobei sich herausstellte, daß sie endlich die Silbermeier, ihre bisherige Schneiderin, abgeschafft habe; die wollte nämlich nicht mehr zum Anprobieren kommen, weil ihr die Thalheimschen zwei Treppen zu hoch waren, und da die berühmte Silbermeier ihre drei Treppen nicht abschaffen wollte, verzichtete Frau Adelheid auf die Silbermeier, wozu sie eigentlich verpflichtet war, um Felix willen, der ihr nur noch Pariser Toiletten erlauben wollte.

Frau Harriet fand es unpatriotisch, das Geld ins Ausland zu tragen.

O, sie wäre nicht für Lokalpatriotismus. Es sei ihr ein Bedürfnis, zwischen den Nationalitäten versöhnend zu wirken.

»Und sind doch Antisemiten?«

»Aber nur aus Ueberzeugung,« beteuerte sie.

Nachdem die Toilettenfrage von der Dame, die noch nicht Rätin war, hinreichend ventiliert worden, brachte die Dame, die noch nicht Geheimrätin war, die Litteratur – ihre eigenste Domaine – auf's Tapet, wobei sich herausstellte, daß Frau Adelheid sich auf diesem Gebiete naivster Unkultur erfreute. Da Bücher keine Hüte waren, gehörte es nicht zu ihren Gepflogenheiten, sie zu kaufen. Sie erkundigte sich in der Leihbibliothek immer nach den Romanen, die am meisten gelesen wurden, und die las sie.

Frau Harriet benutzte die Gelegenheit, um ihren litterarisch geschulten Geist leuchten zu lassen, wurde aber verstimmt, als sie ein paarmal dem Blick Christas begegnete, der, wie sie meinte, mit malitiösem Ausdruck auf ihr ruhte. Unausstehlich, daß dieses Mädchen dieselben Journale las wie sie. Zwar versteckte sie sie in der Regel, vergaß es aber auch oft. Von einer belesenen Tochter immer belauert zu werden, – mein Gott, man ist doch keine Spinne, die immer alles aus sich selber heraus arbeitet.

Frau Adelheid, die höflicherweise das schweigsame junge Mädchen ins Gespräch ziehen wollte, fragte nach dem Stand ihrer Studien.

»Ich besuche die Gymnasialkurse nicht mehr. Mama will, daß ich zum Diner zu Hause bin. Sie mag nicht, daß man mir nachserviert. Sie hält das für eine Untergrabung des Familienlebens.«

Sie sagte das gleichmütig, ohne Anstrich von Spott.

»Habe ich nicht recht?« verteidigte sich Frau Harriet, »ja, wenn die Kurse in den Vormittag fielen, aber Nachmittags von 4–7 Uhr. Und um 6 ist unsere Dinerstunde. Zu der Zeit kann ich auch weder die Jungfer, noch den Diener entbehren, die sie doch hinbringen und abholen müßten.«

»Da natürlich ein einundzwanzigjähriges Mädchen nicht allein über die Straße gehen kann,« sagte Christa mit demselben kalten Gleichmut.

»Nein, das kann sie nicht, wenn sie das Glück hat, zu den oberen Zehntausend zu gehören.«

Die Thür wurde aufgerissen, und wie vom Wind hereingeweht, erschien eine nicht mehr ganz junge, ungemein interessant aussehende Dame, die von der Hausfrau gönnerhaft und obenhin begrüßt wurde: die Malerin Anselma Sartorius.

Anselma Sartorius war vorläufig noch nicht berühmt, Geld hatte sie keins. Frau Harriet hatte ihr kürzlich notgedrungen ein Bildchen abgekauft – für ein Hinterzimmer natürlich. Unberühmter Leute Bilder waren nicht für den Salon, selbst wenn diese Bilder Kunstwert gehabt hätten. Uebrigens hatten Anselmas Bilder noch keinen Kunstwert.

Als sie sich Frau Harriet näherte, lag in ihrem Gang etwas von der geschmeidigen, sich schlängelnden Vorwärtsbewegung junger Tiger. Sie hatte große, glühende Augen. Atlasglatte, schwarze Scheitel rahmten ihr ganz weißes Gesicht ein. Unter ihren Bekannten hieß sie »der Vampyr«.

Anne Marie war der Meinung, Anselma dichte sich einen Dämon an, und spiele mit diesem imaginären Kobold wie ein Kind mit der Puppe. Christa aber glaubte an Anselmas Dämon und lauschte mit intensivem Interesse ihren Seelenentblößungen.

Die Malerin lebte wie in einem feurigen Dunst, flatterte, haschte, ahnte, glühte, durstete und brütete auf einsamen Spaziergängen über süperben Plänen. Die belebtesten Straßen Berlins, wo es rasselte, brauste und wie in einem Hexenkessel um sie her brodelte und brandete, das war für sie die rechte, die tiefste Einsamkeit. Da schritt sie hindurch, wie Orpheus durch die Unterwelt, die Harfe im Arm, dithyrambische Akkorde auffangend, Entwürfe koncipierend.

Sie malt einen Todesengel durch Wolken brausend, die mächtigen schwarzen Flügel vom letzten Sonnenstrahl angeglüht, aus den Augäpfeln weiße Blitze sprühend. Sie malt ein üppiges Gastmahl: Nero in einer säulengetragenen marmornen Halle, Rosen fallen von der Decke, purpurne Gewänder, funkelnde Weine in rubinfarbenen Kelchgläsern – Schönheit, Rausch. Auf der Schwelle zum Saal steht ein Gespenst, verhüllt in ein schleppendes, weißes Gewand. Unter der Kapuze ein furchtbares Gesicht, die Augen zinnoberrot: Die Pest. Oder sie malt eine Judith in den Armen des Holofernes, wie sie den Kopf mit dem Ausdruck einer begeisterten Priesterin emporwirft, den Kopf, der von dem Leibe nichts weiß.

Das heißt, sie malte das alles in Gedanken, in Wirklichkeit brachte sie es nur zu flüchtigen Skizzen. Die Ausführung wurde ihr schwer, es fehlte ihr an Technik. Ihre Schulung war eine dürftige und dilettantische gewesen. Die Akademie war jungen Mädchen nicht zugänglich, die Ateliers der ersten und vornehmsten Maler waren der mittellosen Malerin zu teuer. Sie hatte im Gewerbemuseum nach Gyps gezeichnet und hier und da dieses oder jenes Atelier besucht. In einem dieser Ateliers hatte sie Christa kennen gelernt.

»Sie müssen eine phantasiereiche Schneiderin haben,« bemerkte nach der ersten Begrüßung Frau Adelheid mit einem Blick auf das lockere, halb griechische Gewand, das die Malerin trug. »Darf man ihren Namen wissen?«

Anselma lachte. »Ich und eine Schneiderin! ich bin meine eigene Schneiderin und behelfe mich meistenteils mit Stecknadeln. Dieses mein Gewand ist aus einem alten Cachemirshawl meiner Großmutter zusammengenestelt.«

Wie üblich, fragte man auch alsbald, was Anselma unter dem Pinsel habe. Sie legte den Finger an die Lippen: »Ein Geheimnis.«

Frau Adelheid hielt es für notwendig, ihre warnende Stimme zu erheben: Fräulein Sartorius möchte sich um Gottes Willen nicht einer der neusten Richtungen zuwenden, wo man vor den Bildern immer nicht weiß, ob man lachen oder sich ärgern solle. Da habe sie neulich in einem Kunstsalon ganz verrücktes Zeug gesehen, von einem Holländer – Toroop hieße der malende Herr.

»Ja, ganz verrückt,« bekräftigte Frau Harriet, »dieser lächerliche Linienapostel mit seinen symbolischen Skeletten und tollgewordenen Strichen, die sich in grotesken Totentänzen verrenken.« Auf dem Bilde Sphinx z.B., da kribbele und krabbele es von reihenweis liegenden oder hockenden Geschöpfen, eine ganz neu erfundene Sorte von Geschöpfen, eine Art heruntergekommenener Mumien; und alle sähen unter ihren gelblichen Kapuzen wie Kürbisköpfe aus, in die man ein paar Linien gezeichnet, die Gesichter bedeuten sollen.

»Ich teile Ihre Ansicht nicht, gnädige Frau,« sagte Anselma. »Mich packen diese Bilder mit ihrer stilisierten Erhabenheit, wie tragische Chorgesänge. Gerade auf dem Bilde ›Sphinx‹. Alle diese unzähligen völlig gleichen Arme und Hände, die alle mit den gleichen abwinkenden rhythmischen Gebärden sich gegen die Sphinx emporrecken, wirken wie langgezogene Weherufe, die in unendlichen Echos wiederhallen, Traumbilder eben Gestorbener, deren Hirn noch nicht erkaltet ist. Ein Losreißen vom Irdischen in schmerzlich brünstiger, mystischer Frommheit.«

Christa nickte Anselma zu. »Ja, das finde ich auch. Stilles Grauen schleicht einem bei diesen Geister-Hallucinationen durch die Seele. Ein Rausch der Askese sind sie.«

»Natürlich,« spöttelte Frau Harriet. »Christa ist immer anti, selbst wo es sich um grimassierende Kürbisköpfe handelt.«

»Fräulein Julia König wünsche das gnädige Fräulein zu sprechen,« meldete der Diener.

Julia, eine Studienfreundin von Christa, war in Ungnade bei Frau Harriet und wurde, als nicht fein genug, von ihr im Salon nicht empfangen. Anselma sprang auf: das träfe sich gut. Sie habe etwas mit Fräulein König zu bereden.

Das junge, und das nicht mehr ganz junge Mädchen verließen den Salon.

Frau Adelheid sah ihnen mit einem leichten Kopfschütteln nach, einem sehr leichten, ein stärkeres hätte ihre Frisur derangieren können. Ihr Ton war etwas hoch, als sie sagte: »Ihre Tochter, liebe Freundin, entwickelt sich ja – sie suchte nach einem Wort – recht interessant.«

»Gott ja doch,« war die mißlaunige Antwort, »aber es ist noch nicht aller Tage Abend. Ich habe noch immer erreicht, was ich wollte. Eigentlich begreife ich nicht, wie ich zu dieser Tochter komme. Vielleicht,« meinte sie nachdenklich, »mein Mann hat in der Jugend gedichtet, und meine eigene Mutter zeichnete Köpfe nach Gyps; eben als sie zur Oelfarbe übergehen wollte, heiratete sie. Gräßlich, wie man seit Ibsens Gespenstern pietätloserweise immer seine Eltern kontrolliert.«

»Es ist Ihnen doch so gut gelungen, Anne Marie zu einer vollendeten jungen Weltdame zu erziehen.«

»Ja, Anne Marie!« Frau Harriets Augen leuchteten auf. »Da war ein guter Fonds vorhanden. Ich brauchte nur herauszulocken, was in ihr steckte. Aber Christa! ich denke noch immer mit Schrecken an ihr erstes Gesellschaftsdebüt. Da war ein Baron von außerhalb, den wir eingeladen hatten, ein schüchternes, ganz junges Bürschchen, ganz fremd in unserem Kreis. Er drückte sich in den Ecken herum, Christa sollte sich seiner annehmen. Sie wollte nicht. Sie wisse nichts mit ihm zu reden. So ganz obenhin sage ich: Fange damit an, ihn zu fragen, wie ihm Berlin gefällt. Was thut Christa? Sie marschiert stramm auf ihn los, pflanzt sich gerade vor ihm auf, donnert ihn an: ›wie gefällt Ihnen Berlin?‹ und – schwenkt wieder ab.«

Und dabei habe sie es doch an mütterlichen Lehren und Ermahnungen, an Eifer, ihr Gesellschaftsroutine beizubringen, – inklusive ganz diskreter Andeutungen wie sie – in feinster Weise natürlich – kokettieren dürfe – in keiner Weise fehlen lassen. Eine anmutige Haltung, Munterkeit, Liebenswürdigkeit, wie eine Konversation zu führen, ein zierliches, elegantes Briefchen zu schreiben sei, (letzteres halte sie für einen Hauptpunkt in der Töchtererziehung), für alles das habe sie versucht, das störrische Mädchen – –

»Abzurichten!« schaltete Frau Adelheit taktlos ein.

Förmliche Gesellschaftsproben habe sie mit ihr abgehalten. Bei Tisch und auf Spaziergängen sei abwechselnd französisch und englisch gesprochen worden. Und was das Mädchen gekostet! Die Graziestunde, jede Woche einmal eine kunstgeübte Haarwäscherin und eine Maniküre, warme Bäder mit Essenzen selbstverständlich u.s.w. »Sagen Sie selbst,« schloß sie das Eigenlob ihrer Erziehungskunst, »kann die vorsorglichste Mutter mehr für ihre Tochter thun?«

Mit aufrichtiger Bewunderung sagte die Dame, die noch nicht Rätin war: »Nein!« Ob vielleicht das junge Mädchen in der Wahl ihres Umganges nicht vorsichtig wäre? z.B. dieses Fräulein Sartorius mit ihrem komischen Putz...

Frau Harriet verteidigte die Malerin. Wenn Frauen kein Geld hätten, dann zögen sie sich eben malerisch an.

Frau Adelheid begriff umsoweniger Christas Sonderbarkeiten, da sie doch für ungewöhnlich klug gelte. Man sage allgemein, sie habe den Geist des Vaters geerbt.

Es beleidigte Frau Harriet, daß die Tochter nur den Geist vom Vater geerbt haben sollte, und sie sagte etwas spitz: »Wenigstens hat sie meines Mannes Eigenschaft, allen Leuten die Wahrheit zu sagen, das heißt Unangenehmes, welches letztere sich ja allerdings meistens mit der Wahrheit deckt.« Ihr Mann habe Christa den Beinamen »Madame Abseits« gegeben, weil sie immer anders wollte, als alle Andern, immer, wie er sich ausdrückte – anti – sei.

Ein neuer Besuch, der gemeldet wurde, unterbrach die Unterhaltung.

Daß Gotthold Ruland auch Christas Nase »anti« fand – abseits von der Ruland'schen Familiennase, die sich nichts heraus nahm – hatte Frau Harriet nicht erwähnt. Diese Nase hätte nicht größer sein dürfen; sie sprang etwas vor, fein und scharf geschnitten, wie gemeißelt, an der Spitze etwas kantig, im Profil kaum merklich gebogen, die Nasenflügel leicht gebläht; förmlich eine dionysisch genußsüchtige Nase, meinte der Vater. Zu dieser geistreichen Nase paßten die graugrünlichen Augen nicht recht, die unter tiefen, breiten Augendeckeln halb versteckt, leicht einen träumerischen, wie nach innen horchenden Ausdruck annahmen. Zuweilen sprach sie mit geschlossenen Augen; schlug sie sie dann, auf irgend einen Anlaß hin, groß und voll auf, so war die Wirkung dieser leuchtenden Sterne berückend.

Wie Frau Harriet jetzt das erwachsene Mädchen nicht verstand, so hatte sie auch früher das Kind nicht verstanden. In ihren Augen war Christa von jeher trotzig, impertinent und boshaft gewesen, ohne Sinn für Wohlanständigkeit und gute Sitte. Und sie hatte sich so viel Mühe gegeben, die Keuschheit in der jungen Seele zu pflegen. Nie durfte das Brüderchen mit den Schwestern, als sie noch alle drei Babys waren, in einem Zimmer schlafen. Umsonst. Eines Tages überraschte sie Christa, als sie mit kleinen Jungen Pferd spielte. Die Jungen hatten sich nackt ausziehen müssen, weil Pferde keine Kleider trügen. Und die Unanständigkeit solcher Nacktheit hatte sie nicht einmal begriffen.

Zu Frau Harriets Erziehungsprizipien gehörte das Prügeln eigentlich nicht. Christas Trotz aber schien ab und zu diese Strafart herauszufordern. Einmal war sie wegen ihrer Unordentlichkeit gescholten worden. »Aber Mama,« sagte das impertinente Kind, »der Lehrer in der Schule hat doch gesagt, die Kinder erben alles, auch alle Fehler, von den Eltern, oder auch von den Großeltern. Warum schimpfst Du mich denn so aus? Die Großmama wird sich im Grabe umdrehen, weil Du mich wegen ihrer Unordnung so heruntermachst.« Darauf die Prügel. Das Kind vergoß keine Thräne und gab keinen Laut von sich, sie sah die Mutter immer nur mit großen, drohenden Augen an, so daß – wie Frau Harriet sich später ausdrückte – einem die Lust zum Prügeln ganz verging. Und mit einem Male sagte sie zornsprühend: »Warum dürfen alte Leute so junge Kinder schlagen?« Frau Harriet war empört. Sie alt! eine Frau von kaum 30 Jahren.

Es giebt Kinder, die immer Tragisches erleben, das heißt, alltägliche Dinge verwandeln sich für sie in tragische Ereignisse. Ein Vögelchen, das aus dem Nest gefallen und das sie tot finden, ein gruseliges Märchen, das sie von einer wirklichen Begebenheit nicht unterscheiden. Ein solches Kind war Christa, ein gesundes zwar, aber ein zart organisiertes, naiv und altbärtig zugleich, und über die Maßen sensibel. Sie begrüßte einmal eine Verwandte, die den Kindern Bonbons mitzubringen pflegte, mit den Worten: »Guten Morgen, Frau Bonbon,« schämte sich aber sogleich so sehr ihrer niedrigen Gefräßigkeit, daß sie in heftiges Weinen ausbrach.

Ein anderes Mal hatte sie sich die Erlaubnis erquält, aus einem Automaten Chokolade zu entnehmen. Sie dürfe aber die Chokolade nicht essen, sagte ihr Fräulein, weil es schlechtes Zeug wäre, an dem die Kinder sich den Magen verdürben; sie solle sie einem armen Kinde schenken.

Dem ersten ärmlich gekleideten Kinde, das ihnen begegnete, gab Christa die Chokolade. An der Straßenecke aber blieb sie stehen, und ehe ihr Fräulein es hindern konnte, lief sie zu dem Kinde zurück: es soll die Chokolade wieder hergeben. Das arme Kind hatte sie schon aufgegessen. Christa konnte sich garnicht beruhigen. Nun würde das arme Kind krank werden. Sie schlug auf ihr Fräulein los, die wäre schuld daran. Und aus der Küche holte sie ein paar giftig grüne Aepfel, die zum Kochen bestimmt waren, und fraß sie mit der Schaale in sich hinein. Nun gerade wollte sie auch krank werden.

An ihren Geburtstagen versteckte sie sich. Sie hatte Furcht vor den Geschenken, das heißt, die Geschenke hatte sie gern, aber den umständlichen Apparat dabei, daß sie so feierlich ins Zimmer gerufen wurde, alles bewundern, den Eltern um den Hals fallen und sich schön bedanken mußte. Sie war immer froh, wenn die Ceremonie vorüber war. Und erst wenn sie im Zimmer wieder allein war, hatte sie die richtige, intensive Kinderfreude an den Geschenken.

Ueberhaupt interessierten die Menschen sie nicht. Alles andere in der Natur war ihr befreundeter, vor allem die Tierwelt, wenigstens so lange bis ihre Sensibilität dieser Liebe ein Ziel setzte. Im Sommer in einem Seebad hatte sie mit einer kleinen Freundin Marienwürmchen von den Blättern abgesucht. Sie nannte sie Mariechens. In einer Schachtel trug sie sie glückselig nach Hause. Sie bohrte Löcher in die Schachtel, damit die Mariechens Luft bekämen, und alle halbe Stunde öffnete sie die Schachtel, um zu sehen, ob sie noch lebten. Als sie aber eines Tages bemerkte, wie ganze Haufen dieser Tiere auf toten Fischen herumkrabbelten, und man ihr sagte, daß sie sich davon nährten, warf sie alle ihre Mariechens zum Fenster hinaus.

Eine Zeitlang hatte sie auch den Ameisen liebevoll nachgespürt, bis sie diese munteren Tierchen auf großen Käfern und Regenwürmern als Massenmörder betraf, die ihre Opfer grausam zu Tode quälten. Selbst die hübschen kleinen Vögelchen fraßen ja lebendige Würmer. »Ich kann nicht leiden, was Andere auffrißt,« sagte sie.

Die Tierwelt war ihr verleidet, und sie wandte sich anderen Naturgebilden zu. Alles hielt sie für lebendig, auch die unorganischen Dinge. Sie glaubte Anne Marie nicht, daß das Wasser kein Leben hätte. Es lief doch und bewegte sich, und es murmelte, und manch mal am Meer brüllte es sogar.

Seitdem sie in der Märchenwelt heimisch geworden, wo es von Blumengeistern, von verzauberten und erlösten Dingen wimmelte, wollte sie auch erlösen. Sie blies bis zur Atemlosigkeit auf ein Eisstück. Das tote Wasser, das da hineingezaubert war, wollte sie wieder lebendig machen. »Warum machst Du denn solchen Unsinn?« fragte Anne Marie. »Ich mache mir Gedankenspiele,« sagte sie.

Sie hatte gesehen, wie jemand auf einen Kieselstein schlug, bis Funken daraus sprühten. Aha, da in den Stein hinein war also Feuer gezaubert. Sie sann, wie sie den Zauber lösen könne. Ja, wenn sie so stark wäre, wie der liebe Gott. Der bohrt sich ein Loch in himmelhohe Felsen, und da kommen Flammen heraus, und die nennt man Vulkan. Wäre das Feuer tot, so könnte es doch nicht Andere verbrennen und das Essen gar kochen.

Sie starrte oft stundenlang in den Kamin, auf das Knistern und Prasseln des Holzes lauschend. Sie wollte die Feuersprache lernen. Jemand sagte damals von ihr: »das ist ja ein ganz verseeltes Geschöpfchen.«

Ihre Kinderfrau und später ihre Fräuleins konnte sie mit Fragen umbringen. Wie es im Paradiese aussähe, ob die Engel sich auch Sonntags putzten, und ob ihnen die Flügel angewachsen wären. Was denn aus den leeren Särgen würde, in denen die Gestorbenen gelegen? »Aber sie bleiben doch darin,« sagte die Kinderfrau. »Aber nein, Kinderfrau, sie werden doch Engel und kommen in den Himmel.«

Zum Weihnachtsfeste bekamen die Kinder gemeinschaftlich einen wundervollen Pfau geschenkt, der lief zu ihrem Entzücken durch den ganzen langen Speisesaal. Als Christa aber einmal sah, wie der Vater ihn in die Hand nahm, ihn umdrehte, und mit Geklirr eine Schraube in seinem Bauche aufzog, war der Zauber für sie gebrochen. Sie bekam sogar Angst, in ihrem Leibe könnte auch eine solche Schraube sein, und wenn sie im Bett einschlief, dann wäre eben die Schraube abgelaufen, und wenn nun der liebe Gott vergäße, sie am nächsten Morgen wieder aufzuziehen, so wäre sie gewiß tot.

Ihre Neugierde erstreckte sich auch auf ihre eigene kleine Person. Sie mochte zehn Jahre alt sein, als sie, an einem stürmischen Tage, im Seebad einen Fischer bat, sie in seinem Kahn mit aufs Wasser zu nehmen. Ob sie sich sehr ängstigen würde, das wollte sie erfahren. Und sie ängstigte sich fürchterlich, fand aber nachher, daß die Angst eigentlich wunderschön gewesen war.

Je älter Christa wurde, je mehr wuchs ihr grüblerischer Erkenntnisdrang, ihre Neigung, an Menschen, Dingen, an sich selbst Kritik zu üben. Alles wollte sie verstehen, alles kennen lernen. Zum Entsetzen der Mutter bestand sie sogar darauf, bei der Entbindung der Schwester zugegen zu sein, eine Unkeuschheit, die – nach Frau Harriets Ansicht – mit der Idee des Aktzeichnens ihren Höhepunkt erreichte.

Christa hatte ihren Vater sehr lieb, ihre Schwester Anne Marie auch, aber ihre Mutter und ihren Bruder Dietrich, die hatte sie nicht lieb. Der Vater war ihr sehr interessant, die Mutter nicht im mindesten. Sie wußte genau, was Mama bei dieser oder jener Gelegenheit sagen würde. Sie achtete auf den Wechsel in ihren Zügen, auf das, was sie sprach, wie sie sich bewegte, und sie wunderte sich über ihre erkünstelte Lebhaftigkeit, wie glatt ihr die konventionellen Lügen über die Zunge gingen und wie sie ihre Gäste, je nach dem Wert, den sie ihnen beimaß, einfach oder splendid bewirtete.

Frau Harriet war eine typische Persönlichkeit. Ihre Mutter hatte den fossilen Einfall gehabt, sie Henriette taufen zu lassen, ein Name, der gelegentlich in Jette entartete. Sie korrigierte den mütterlichen Mißgriff, indem sie die Henriette in Harriet umwandelte, ebenso wie sie Christine (nach der Mutter ihres Gatten so genannt) in Christa veredelte.

Die Frau Justizrätin war ganz und gar ein Kunstprodukt: Selbstmache, eine bescheidene nur, denn sie begnügte sich, eine Kopie der Modelle zu sein, die sie bewunderte. Nüchternen, praktischen Sinnes, war sie außer Stande, selbst etwas zu ersinnen, zu erfinden. Sie begeisterte sich immer nur für das Allermodernste, gleichviel ob Hüte, Dichter, Komponisten, Kleiderfaçons. Wäre entsagende Tugend und Rindfleisch Mode geworden, sie hätte auch das mitgemacht. Sie trug Haartrachten, die sie entstellten, weil sie Mode waren. Seitdem in der Modewelt das Croquetspiel dem Lawn-Tennis gewichen war, rührte sie keine Croquetkugel mehr an. Sie war der Gegensatz einer Unzeitgemäßen, allzu zeitgemäß.

Sie galt für schön, war es auch, wenn sie es sein wollte. Gelegentlich, im Geheimen, wenn niemand sie sah, konnte sie auch häßlich sein. Die Inscenierung war bei ihr Hauptsache. Die Mithilfe der Natur bestand in reichem, dunkelblondem Haar, einem klaren Teint, lebhaften braunen Augen und festen, weißen Zähnen. Sie sah prachtvoll gesund aus.

Ihre bedeutenden Charaktereigenschaften: Energie, Temperament, Konsequenz, verschwendete sie an einen unbezähmbaren, kleinlichen Ehrgeiz. Um eine glänzende Rolle in der Gesellschaft war es ihr zu thun. Ihr Salon, das war der Spiegel, der ihr den eigenen Wert zurückstrahlte. Ihr Haus sollte der Mittelpunkt einer erlesenen Gesellschaft sein, sie wollte einen Salon à la Rambouillet, oder wenigstens à la Rahel Varnhagen. Sie kaufte Bilder von berühmten Malern, nicht um der Bilder, sondern um der Künstler willen, die ihren Salon schmücken sollten. Geniale junge Dichter durften ihre Erstlingswerke in ihrem Salon vorlesen; nicht selten verließen sie ihn mit Größenwahn geimpft. Sie verlor ihre Ziele nie aus den Augen, arbeitete ihre Pläne bis ins kleinste Detail aus, nichts war ihr Nebensache, und sie erreichte fast immer, was sie erreichen wollte.

Ihre Ehe war in den ersten Jahren kinderlos gewesen, trotz der jederzeit wohlausgerüsteten Kinderstube. Sie kriegte aber auch den renitenten Klapperstorch klein. Allmählich kamen die Kinder, in größeren Zwischenräumen, ein Sohn und zwei Töchter, und nach einer zwölfjährigen Pause wurde der jetzt achtjährige Heinz geboren.

Ihr Hauptziel aber, den Salon à la Rambouillet, erreichte sie nicht. Es fehlte ihr an Kritik und echtem Geist. Sie konnte Allzusterbliche von Unsterblichen nicht unterscheiden. Die Allüren der Genialität nahm sie für die Genialität selbst, eine Tagesberühmtheit für einen Klassiker der Zukunft. Eine langweilige Excellenz war ihr des Titels wegen erobernswert.

Christa sah, daß ihre Mutter immer Komödie spielte. Und es kam ihr so sonderbar, so unerklärlich vor, daß diese Frau ihre Mutter war. Sie grübelte darüber. Es konnte doch nicht wahr sein, daß die Kinder die Eigenschaften der Eltern erben. Sie fand in sich nichts ihnen Verwandtes. Und Anne Marie und sie – was hatten sie Gemeinsames? Es mußte da wohl noch etwas anderes geben, wovon selbst die Allergelehrtesten nichts wissen.

Und der Vater – ja – da war doch etwas ihr Verwandtes, sie konnte es aber nicht definieren. Sie studierte ihn förmlich, geizte nach seinem Lob. Sie genoß seinen Geist wie eine Delikatesse. Freilich kam sie allmählich auch hinter seine Schwächen. Sie erkannte den starken Dualismus seiner Natur.

Gotthold Ruland schämte sich eigentlich – trotz Lessing – seines Vornamens, er hätte gern seinen zweiten Namen, Fritz, an die Stelle des Rufnamens gesetzt; ein heimlicher Aberglaube hielt ihn davon zurück, so, als könnte ihm Gott dann nicht mehr hold sein.

Er hatte Geist und Witz, viel Geist. Er war ein vollendeter Skeptiker, mit kleinen Intermezzos rückläufiger Sentimentalitäten. Er konnte Aeußerungen thun, die cynisch klangen, obwohl er allerwegen für eine Moral eintrat, die mitunter an die rigorosen Bestimmungen der Lex Heinze streifte. Er handelte aber auch danach – meistens wenigstens.

Als junger Mann hatte er sozialistische Gesinnungen und künstlerische Neigungen gehegt, und dabei einen brennenden Ehrgeiz, in die Höhe zu kommen, in die höchste Höhe. Allmählich aber erlahmte seine Flugkraft, und er bequemte sich zu einem Aufstieg auf breiter, ebener Chaussee, und je weiter er es in seiner Carriere brachte, je mehr dachte er sich seine früheren radikalen Ansichten ab. Er wurde mit der Zeit ganz konservativ, indem er sich unbewußt der Denkweise seiner Klientel, die hauptsächlich aus der Aristokratie bestand, anpaßte. Er wollte vergessen, was er früher gedacht und geplant, und allmählich vergaß er es wirklich, mit der ganzen Hingebung des Renegaten.

Einen inneren Widerspruch ließ er nicht aufkommen, obwohl er zuviel Geist hatte, um sich nicht ab und zu zu ertappen. Ein feiner Lebenskünstler war er, der sein Gewissen in der Gewalt hatte und nie verlegen war, für sein Denken und Handeln ethische Motivierungen zu entdecken. Und belästigte ihn doch einmal eine innere Stimme, er hatte immer ein Schweigegeld bereit, das von seinem berechnenden Verstand bestritten wurde. Er war sein eigener, sehr geschickter Anwalt. Als Rechtsanwalt hatte er gelernt und lernen müssen, auch eine schlechte Sache mit scharfen Verstandesmitteln zu verteidigen. Das kam dem Lebenskünstler zu gut. Sein flacherer Geist bekämpfte unausgesetzt den tieferen, bis der letztere unterlag und es nur noch ab und zu aus der Tiefe emporklang wie von versunkenen Glocken.

Er schliff fortwährend an den scharfen Ecken seines Verstandes, damit sie ihn nicht selbst verletzten, hielt sich aber dadurch schadlos, daß er die Nebenmenschen, soweit ihn sein berechnender Verstand nicht warnte, mit der ganzen Wucht seiner Geisteswaffen anfiel, und zuckten die Getroffenen schmerzhaft zusammen, so war ihm der Anblick der Verletzten unbehaglich. Entweder sorgte er sofort für ein Pflaster, oder er kehrte ihnen den Rücken.

Wie Cäsar keine hageren Leute, so wollte er keine Unglücklichen und Elenden um sich sehen. Er bemerkte einmal wie ein armer alter Mann auf der Straße ein Stückchen Brot aus dem Straßenschmutz nahm und es gierig aß. In wütender Rede ereiferte er sich gegen den Schmierfinken, beschleunigte aber unwillkürlich seine Schritte, und als er den »Schmierfinken« an der Straßenecke einholte, drückte er ihm ein Fünfmarkstück in die Hand.

Wer ihm imponierte, gewann schnell Einfluß auf ihn, es imponierten ihm aber nur Leute, die den Erfolg auf ihrer Seite, die der Welt Anerkennung abgezwungen hatten. Ein Genie ohne Erfolg hätte ihn kalt gelassen, obwohl er befähigt gewesen wäre, es zu erkennen. Er war ein Weltgläubiger.

Interessante Vorkommnisse gab es für ihn nur in den Kreisen, die er für maßgebende hielt. Er hatte ein eigentümliches, unschönes, sich überhebendes Lächeln, wenn man in seiner Gegenwart von den Angelegenheiten oder Schicksalen von Leuten sprach, die für ihn sans conséquence waren, ein Lächeln, das sagen sollte: wie kommt Ihr dazu, mich von Hinz und Kunz zu unterhalten. Hinz und Kunz existieren für mich nicht.

Er war willensstark innerhalb des Gebietes, wo er seiner Macht sicher war, oder wenn es galt, Unannehmlichkeiten oder lästige Ansprüche von sich fern zu halten. Seine Kraft erlahmte aber an jedem energischen Widerstand, teils weil er trotz seiner tyrannischen Ader von Hause aus garnicht willenskräftig war, teils weil ihm die Sicherheit der eigenen Meinung fehlte. Er hatte ein heimliches Mißtrauen gegen sich selbst.

Karge Mittel im elterlichen Hause hatten ihm keine Muße für andere als die notwendigen Fachstudien gelassen. Als Student hatte er durch Privatstunden seine Existenz bestreiten müssen. Und er empfand den Mangel einer breiten wissenschaftlichen Ausbildung peinlich. Zwar war er, wie seine Gattin, ein Anbeter des Erfolges, er war ehrgeizig und eitel wie sie, bei ihm aber galt alles seiner Person. Harriet kämpfte wie eine Löwin für den Ruhm ihres Salons, er war bei ihr Selbstzweck. Hatte sie eine erlauchte Persönlichkeit – auf welchem Gebiet immer – für ihren Salon eingeheimst, so strahlte sie in Befriedigung, mochte die Erlauchtheit sich auch gar nicht um sie kümmern, mochte sie ihr unsympatisch sein.