Sichelhenket - Wildis Streng - E-Book

Sichelhenket E-Book

Wildis Streng

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Im spätsommerlichen Hohenlohe feiert die Roßfelder Dorfgemeinschaft die traditionelle Sichelhenket. Die ausgelassene Stimmung findet ein abruptes Ende, als beim Saurennen die Leiche des Jungbauern Martin „Märtl“ Ohr auftaucht. Das hohenlohisch-westfälische Ermittlerteam Lisa Luft und Heiko Wüst stößt hinter dem Dorfidyll auf Intrigen, Eifersucht und Neid. Viele der Landfrauen, Landwirte und sogar (über-)engagierte Eltern aus dem Dorf hatten ein Motiv, den flegelhaften Casanova um die Ecke zu bringen.

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Seitenzahl: 343

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Wildis Streng

Sichelhenket

Kriminalroman

Zum Buch

»Sau los!« Sichelhenket im spätsommerlichen Hohenlohe. Der gesamte Crailsheimer Stadtteil Roßfeld befindet sich in Feierlaune. Die Dorfgemeinschaft verfolgt gespannt das Saurennen am Festsonntag, als eine junge Sautreiberin die Leiche des Jungbauern Martin »Märtl« Ohr entdeckt. Das hohenlohisch-westfälische Duo, Lisa Luft und Heiko Wüst, nimmt die Ermittlungen auf. Während sie sich in ihrer Liebesbeziehung dem nächsten Schritt nähern, stoßen sie bei dem Fall auf ein Dickicht aus Eifersucht und Neid.

Nicht nur einem Kumpel hat der berüchtigte Frauenheld »Märtl« die Freundin ausgespannt und nicht wenige Herzen gebrochen. Bei den Landfrauen hat sich der gut aussehende, aber rücksichtslose Agraringenieur ebenfalls unbeliebt gemacht, und selbst Mitglieder seiner Familie und überkandidelte Kindergarteneltern waren nicht gut auf ihn zu sprechen. Doch wer ging so weit, dem selbstsüchtigen Casanova mit einem Schlag den Garaus zu machen?

Wildis Streng ist in Crailsheim geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur studierte sie in Karlsruhe Germanistik und Malerei. Seit 2006 arbeitet sie als Gymnasiallehrerin. Nach längerem Aufenthalt im Badischen lebt sie heute wieder in ihrer Heimat und unterrichtet in Crailsheim Deutsch und Bildende Kunst. In ihrer Freizeit widmet sich die überzeugte Hohenloherin der Malerei, der Fotografie und dem Schreiben. Aus ihrer Feder stammen bereits zehn Kriminalromane rund um das sympathische hohenlohisch-westfälische Ermittlerduo Lisa Luft und Heiko Wüst.

Mehr Informationen zur Autorin unter: www.wildisstreng.de

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Ricarda Dück

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Wildis Streng

ISBN 978-3-8392-7334-0

Widmung

Für Tyler, den liebsten Hund der Welt.

An einem Tag Ende August

Das riesige Auge fixierte ihn. Es war starr, die Pupille nachtschwarz. Viel Weiß umgab sie, das Auge war ausdrucksstark und forderte Aufmerksamkeit. Martin Ohr konnte gar nicht anders, als es zu bemerken. Der Durchmesser betrug einen halben Meter, es war imposant und intensiv. Gut so.

Er trat einen Schritt zurück und betrachtete den großen Rundballen. Für die »Eiloader« verwendeten sie die mit 1,8 Metern Durchmesser. Zwei der Ballen übereinander gestellt ergaben den Körper. Der dritte, mit der flachen Seite nach vorne gedreht, bildete den Kopf. Es gab zwei von diesen Figuren, einen Mann und eine Frau. Und nur von ganz Nahem wirkte das Auge so irritierend. Denn betrachtete man die beiden Gestalten aus der Ferne, erschienen sie lustig, freundlich und einladend. Und das war auch ihre Funktion, denn sie kündigten die Sichelhenket an, die in drei Wochen stattfinden würde.

»Schaut gut aus«, fand Frank, der neben Martin getreten war.

»Gell«, bestätigte der und winkte Florian, der auf dem Bulldog mit der Ladegabel saß. »Wird sicher ein schönes Fest.« Martin strich sich durch die vollen dunklen Haare.

»Davon bin ich überzeugt«, meinte Frank und lächelte.

Grillen zirpten auf der Wiese, auf der sie standen, als wollten sie zustimmen. Martin sah zum Himmel hoch. Es war ein heißer Sommertag, schwülwarm und hell. Allerdings trübten allmählich Schleierwolken den vormals blauen Himmel. Und in der Ferne türmte sich ein gewaltiger Cumulus. Bald würde es ein schlimmes Gewitter geben.

Donnerstag

Der letzte in den Sommerferien

»Hier noch ein paar von den Blumensträußen hin«, befahl Simone Göller.

Sie hatte die Koordination übernommen, denn eine musste das ja schließlich tun. Ihr war durchaus bewusst, dass die Claudi das auch gerne gemacht hätte, aber die war dazu nicht ausreichend auf Zack. Da musste man schalten, mitziehen. Die Leute ein bisschen antreiben. Der Job war für Simone wie gemacht. Denn obwohl sie es in ihrem Beruf nur bis zur Assistentin der Geschäftsführung gebracht hatte, wusste sie, dass sie Führungsqualitäten besaß. Immerhin war sie die Chefin der Landfrauen.

»So okay?«, erkundigte sich Bettina, eine unsichere, arg dickliche Brünette, die erst seit Neustem zu den Landfrauen gehörte.

Argwöhnisch begutachtete Simone die Verteilung der Tannenzweige auf dem Gestell, rückte sie ein bisschen zurecht, nickte endlich gnädig, schenkte der Betty, die sonst eigentlich ganz hübsch gewesen wäre, ein Lächeln. Simone trat ein paar Schritte zurück. Der Bogen sah gut aus. Zufrieden verschränkte sie die Arme und betrachtete ihr Werk. Rechts von ihr nestelte Barbara an einem Blumenstrauß, der samt Vase in die Dekoration eingearbeitet war.

»Net sou«, tadelte Simone. »Des is doch ganz krumm, siehsch du des net …«

»Spiel dii net sou uff, du aldi Schachdl«, tönte es plötzlich von hinten, und als Simone sich umdrehte, sah sie Martin Ohr vor sich stehen, einen Strohballen in den Händen und sie frech angrinsend.

»Ach, dr Märtl, kousch du’s besser?«

»Was haschn du scho gschafft? Du glotsch doch bloß da andera zu und schwätsch dumm raus«, behauptete Martin.

Simone schnappte nach Luft. »Also, des is ja a Uuverschämtheit, des lass ii mir fei …«

Aber Martin hörte ihr gar nicht zu. Er drehte sich lachend weg und verschwand schnell.

Etwas undamenhaft und so gar nicht ihrer Art entsprechend, trat Simone gegen einen herumliegenden Strohballen. Rasch blickte sie sich um, ob das jemand gesehen hatte.

Normalerweise geriet sie nicht aus der Fassung. Aber der Martin … So was würde der nicht noch mal sagen, nie wieder! Simone beobachtete den Jungbauern, wie er den Ballen, den er soeben getragen hatte, zu den anderen Strohballen auf den Stapel legte. Nie wieder!

Martin blickte auf den Stapel Strohballen, die für den Bobby-Car-Parcours am Samstag und für das Saurennen am Sonntag verwendet werden würden. Er klopfte sich das Stroh von der Hose. Dass er fleißig war und für die Sichelhenket schuftete, daran konnte kein Zweifel bestehen. Er war ein wichtiges, wertvolles und geschätztes Mitglied der Dorfgemeinschaft. Jung, dynamisch und zupackend.

Er setzte sich in Bewegung, um beim Zeltaufbau zu helfen. Über die Schulter blickte er zu den Strohballen zurück. Dass bis Sonntag noch einige hinzukommen würden, wusste er noch nicht.

Dennis Wollmershäuser sah Martin herankommen. »Märtl, lang amol her«, rief er ihm zu und versuchte zu lächeln.

Er konnte nicht umhin, Neid zu verspüren, auch wenn das eine Todsünde war. Denn der Martin war schon gut aussehend, groß und vor allem ohne das leichte Hinken, das ihm selbst zu eigen war. Für sein Humpeln konnte der Martin nichts, nicht direkt zumindest, er hatte das ja nicht gewollt damals. Man konnte es ihm nicht verdenken. Dennis hatte ihm längst verziehen … Gut sah er aus, der Martin. Man soll nicht neidisch, nicht missgünstig sein. Sein Lächeln wurde eine Spur breiter, damit der Martin nur ja nichts bemerkte von seinen Gedanken.

Sein Eigentlich-Freund war inzwischen bei ihm angelangt. »Dennis«, grüßte er ihn und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter, mit solcher Wucht, dass Dennis beinah aus dem Gleichgewicht kam. Mit dem Bein war nicht alles so einfach.

»Heb amol«, meinte er grußlos und deutete auf die Stange, an der er die Zeltplane befestigen wollte.

Morgen Abend würde in dem Zelt wieder die Party stattfinden, die er persönlich am schönsten fand an der Sichelhenket, weil die Stimmung da irgendwie cool war. Zu schade, dass er Single war, na ja, vielleicht würde sich ja dieses Jahr was ergeben, vielleicht würde die Kessy, seine gute Bekannte, spontan mitgehen, die fand er schon lange gut. War ja eigentlich nicht mehr zeitgemäß, auf solche Dorffeste zu hoffen. Aber in Internet hatte er bisher wenig Glück gehabt. Und eigentlich war es doch auch am besten, wenn die Frau nicht mehrere hundert Kilometer entfernt wohnte. Warum in die Ferne schweifen, wenn die Kessy doch hier wohnte. Ach, die Kessy! Eigentlich spielte er nicht in ihrer Liga, dessen war Dennis sich voll bewusst. Aber die Kessy war Single, seit Langem. Und er kannte sie seit der Grundschule und wusste, dass die eine Gute war. Lieb, mit einem guten Herzen und hübsch noch dazu. Vielleicht würde sich ja morgen was ergeben, bei einem Asbach-Cola.

Harald Laukenmann saß auf der Bank am Feldrand neben seiner Scheune. Das Dach ragte ein bisschen über die Sitzgelegenheit, sodass man vor Regen geschützt war, und es war einer seiner Lieblingsplätze, am frühen oder auch späteren Abend. Er kam oft hierher, ab und zu mit seinem Bruder. Aber am allerliebsten war er eigentlich alleine an diesem Ort. Mit einem Bier, manchmal auch mit zweien, und dann schaute er einfach in die Ferne, beobachtete das Wetter, die Raben, wie sie über die Felder zogen, die leeren, abgeernteten in dieser Jahreszeit, dem Spätsommer, den er wirklich liebte.

Tage wie heute mochte er besonders, denn bereits vor einer Stunde hatte sich ein gewaltiger Cumulus am Horizont aufgebaut, schneeweiß zuerst, dann hatten sich Grau und Lila in die wattige Wolke gemischt. Höher und immer höher türmte sich die Hammerwolke, nahte heran, und für ihn war das spannend, spannender als jeder Actionfilm. Der vormals blaurosafarbene Himmel zog sich zu, mit weißen, dann grauen Schleierwolken. Die Vögel verstummten, sie wussten, was gleich kommen würde, und weil sie klug waren, hatten sich einen sicheren Platz gesucht, genau wie er. Er war hier gut geschützt, auf seinem Logenplatz. Wind kam auf, das mochte Harald besonders, erst eine leichte Böe. Er hatte keine Angst draußen, nicht vor einem Gewitter. Der Blitz würde zuerst in eine der frei stehenden Eichen in der Umgebung einschlagen und wohl kaum in seine Scheuer. Und selbst wenn … nun.

Er trank einen Schluck Bier und fühlte, wie der Wind stärker wurde, vernahm leises Grollen. Harald reckte das Kinn, schloss die Augen, spürte dem Dröhnen nach, meinte, der Boden würde unter ihm mitvibrieren. Aber es war noch nicht stark genug. Näher, das nächste war näher. Tropfen fielen herab, einzelne erst, dann brach das Unwetter los. Blitze zuckten, Donner tobte, und Harald trat unter dem Scheunendach hervor, um den nun platschenden Regen abzubekommen, den ehrlichen, klaren Sommerregen vom wütenden Gewitter. Vielleicht gäbe es ja auch an der diesjährigen Sichelhenket mal ein richtiges Donnerwetter, das so manches reinigen und klären würde.

Freitag

Vortag der Sichelhenket

Lisa sah Blau, nur Blau. Türkisblau, um genau zu sein. Türkisblau mit dunklen Streifen und hellen Flecken dazwischen. Sie bewegte sich weg vom Beckengrund, stieß sich ab, glitt nach oben, durchbrach schließlich die glitzernde Wasseroberfläche, durch die sich die Sonnenstrahlen ihren Weg suchten. Sie mochte das Crailsheimer Freibad, es war wie so vieles hier weder besonders aufregend noch spektakulär. Aber trotzdem irgendwie schön, und in seiner kühlen Funktionalität gemütlich. Sie und Heiko lagen immer auf den Betonstufen. Die waren zwar weit entfernt von der federnden Weichheit des weitläufigen Rasengeländes, das die vier zentralen Becken umgab und sich bis an den Waldrand erstreckte. Trotzdem hatten sie einen entscheidenden Vorteil: Da sie den ganzen Tag der prallen Sonne ausgesetzt waren, heizten sie sich wohlig auf und fühlten sich wunderbar warm an.

»Hey, ich dachte schon, du wärst ertrunken«, beschwerte sich Heiko, der kein passionierter Taucher war und jetzt mit ein paar Zügen neben sie schwamm.

»Ach, und dann hättest du mich nicht retten wollen?«, beschwerte sich Lisa ihrerseits mit gespielter Entrüstung.

Heiko schnappte sie und drängte sie an den Beckenrand, wo er sie stürmisch und lachend küsste.

»Bärchen! Doch nicht hier!«, protestierte Lisa, aber lächelte dabei.

Heiko ließ von ihr ab, und gemeinsam sahen sie einer üppigen Blondine zu, die soeben an ihnen vorbei ihre Bahn zog und erstaunlich schnell dabei war.

»Gut, dass Sommer ist«, sagte Lisa.

»Nicht mehr lang«, wandte Heiko ein.

»Scht, sag das nicht. September zählt noch.«

»Wenigstens ist bald Volksfest«, meinte Heiko achselzuckend. »Volksfest, Muswiese, Hammeltanz, und dann beginnt die dunkle Zeit.«

»Ist nicht dieses Wochenende noch ein Fest? Dieses Henken … Wie heißt das noch?«

»Ach ja, Sichelhenket, stimmt ja.«

»Wieso waren wir da noch nie?«, erkundigte sich Lisa.

»Da waren wir öfters mal im Urlaub.«

»Ah ja. Und was machen die bei dem Fest so? Eine Sichel … henken?«

Heiko lachte und zog sich am Beckenrand hoch, um sich darauf zu setzen, die Füße ließ er ab den Knien ins Wasser baumeln. Lisa tat es ihm gleich, die Wassertropfen auf ihrem Körper, der von einem hellblau-orangefarbenem geblümten Bikini nur notdürftig verhüllt wurde, glitzerten.

»Das ist so eine Erntedanksache irgendwie«, erklärte Heiko. »Die Sichel wird in den Balken gerammt, gehängt, wenn man so will. Die Ernte ist vorbei, und dann wird gefeiert. Weil man jetzt fertig geschafft hat.«

»Ach, dann ist das auch so ein altes Fest?«, vermutete Lisa. »So eine jahrhundertealte Tradition?«

Heiko schüttelte den Kopf. »Soweit ich weiß, nicht. Ich glaube, die Roßfelder haben das in den Achtzigern etabliert.«

»Erst? Hätte ich jetzt nicht gedacht«, wunderte sich Lisa, »aber schön!«

»Ja, doch. Gründe zum Feiern sind immer gut.«

»Gehen wir da hin? Was gibt es denn da so?«

»Saurennen.«

»Wie bitte, was?« Lisa glaubte, sich verhört zu haben.

»Das Wichtigste ist das Saurennen am Sonntag. Aber heute Abend ist auch schon eine schöne Party.«

»Und am Sonntag … rennen Schweine? So richtige, echte, lebendige?«

Heiko grinste. »Ja, was hast du denn gedacht, warum es Saurennen heißt?«

Lisa seufzte. »Ihr Hohenloher seid schon durchgeknallt.«

Heiko drückte ihr noch einen Kuss auf die Lippen. »Das, liebe Lisa, wusstest du, bevor du dich entschlossen hast hierzubleiben.« Er zog sich vollends aus dem Wasser und machte sich auf den Weg zu den Betonstufen, gefolgt von Lisa, und gemeinsam ließen sie sich von der spätnachmittäglichen Sonne trocknen.

Betty Ebert stand vor dem Spiegel. Sie war üppig, sehr üppig. Das war ihr klar. Dazu kamen die Narben von der Akne, die sie als Teenagerin geplagt hatte. Sie hatte zwar ein gutes Make-up gefunden, aber die großen Vertiefungen in ihren Wangen ließen sich damit nicht kaschieren. Trotzdem war sie mit sich zufrieden, im Großen und Ganzen.

Sie zog die Kappe vom blutroten Lippenstift ab und malte ihre vollen Lippen nach, schraubte den Stift wieder zu, richtete ihre halblangen brünetten Wellen. Zu schade, dass er auf Schlanke stand, und zwar ausschließlich auf Schlanke. Sie hatte schon mal überlegt, für ihn abzunehmen, für die kleine Chance, ihn kennenzulernen, ihm zu gefallen. Aber dann hatte sie doch nie die Disziplin aufgebracht, die Arbeit im Kindergarten war anstrengend und kostete sie alle Energie, da war für Fitnessstudios und derlei Zeug keine übrig. Und es war auch nicht so, dass sie die doch einigen Pfunde mehr störten. Im Gegenteil. Sie mochte ihren Busen, und ihr entging auch nicht die Wirkung, die der auf einige Männer hatte. Nur auf ihn eben weniger, leider. Und leider hatten diejenigen, die auf sie abfuhren, die Fünfzig meist weit überschritten.

Sie zupfte an den Rüschen ihrer roten Carmen-Bluse mit dem vorteilhaften Ausschnitt. Das sah gut aus, auch wenn der enge Jeansrock ein klein bisschen gewagt war – egal. Obwohl Betty wusste, dass die Schuhe sie nach wenigen Stunden umbringen würden, schlüpfte sie in ihre roten Lackpumps und machte sich auf den Weg zur Party.

Die Band Red Fat Cat hatte schon aufgebaut und machte einen Soundcheck. In den beiden Garagen, die in das Zelt integriert waren, befand sich die Bar. Sie war bereits voll besetzt, ebenso wie der Getränkestand. In der Garage gegenüber dem Zelt wurden Bratwürste und Rote im Weckle sowie Schmalzbrote verkauft. Es war noch hell und einigermaßen warm, obwohl sich allmählich eine beinah schon herbstliche Kühle über das Dorf senkte. Trotzdem war da noch das Gefühl von Sommer, weil Grillen in der einsetzenden Dämmerung zirpten und hier und da Schwalben zwischen den Häusern umherschwirrten. Die Kirche gegenüber hatte etwas von einer Burg, erhob sich als imposanter schwarzer Schatten oberhalb des Dorfbrunnens und wirkte, als wache sie über den Trubel zu ihren Füßen.

Wenige nahmen diese Präsenz allerdings wahr, denn die meisten orientierten sich zum Zelt hin, auch Martin war mit seinen Kumpels Dennis und Frank schon da. Die drei hatten sich am Bierstand je eine Halbe vom guten Franken Bräu besorgt und sahen jetzt, jeweils eine Hand in der Hosentasche, der Band bei ihren ersten Gitarrenriffs zu.

»Die sind echt gut«, befand Martin und trank einen Schluck.

»Ich fand die vom letzten Jahr auch nicht schlecht«, warf Dennis ein.

Martin stieß einen abschätzigen Laut aus. »Wirst sehen, die rocken das Ding. Und dann finden wir für euch zwei auch endlich mal eine Tussi.«

»Wenn du sie nicht wieder ausspannst, Martin«, gab Frank zu bedenken. Er lachte dabei, aber die Augen machten nicht mit.

Claudia zog vor dem Spiegel ihren braunen Lidstrich nach. Der Trick war, ungeschminkt auszusehen. Sie wollte ja nicht angemalt wirken, sondern wie das Mädchen von nebenan, süß, hübsch, aber durchaus sexy. Sportlich, deshalb der hohe Pferdeschwanz, den mochten die Männer, der wirkte so neckisch. Sie zupfte das Jeansjäckchen über dem blauen Shirt zurecht. Sie fand ihre Figur schön, ihre Körbchengröße passte zu ihrer schmalen Taille und den schlanken Hüften, die aber nicht knabenhaft wirkten. In der Jeans steckte ein Knackpo, recht perfekt geformt vom vielen Training im Studio und ihrem Zumba, für das sie sich neben ihrem Job als Kauffrau so viel Zeit wie möglich freischaufelte.

Claudia klimperte mit den Wimpern und lächelte, testete den Augenaufschlag, wandte den Kopf ruckartig, um zu sehen, ob der Pferdeschwanz auch schön wippte beim Gehen. Sie gefiel sich, und womöglich würde auch erwieder auf sie aufmerksam werden. Sie ärgerte sich, dass sie ihn nicht wirklich vergessen konnte, dieses kurze Techtelmechtel. Für ihn war es das wohl gewesen, sie hatte sich damals, an diesem Wochenende, verliebt und hatte lange daran zu knabbern gehabt, dass er sich nicht mehr gemeldet hatte. Denn das war ihr immerhin gelungen: ihm nicht zu schreiben, nicht anzurufen, ihren Stolz zu wahren. Vielleicht ergab sich heute die Gelegenheit, mal unverbindlich zu reden. Vielleicht sogar mehr, denn auf der Sichelhenket-Party war vieles möglich. Claudia lächelte ihrem Spiegelbild erneut zu und verließ ihre Wohnung.

Heiko parkte den BMW M3, den er auch als Dienstwagen nutzte, auf Höhe der Krone, denn weiter hinten war die Straße bereits gesperrt. Ein mit Tannenzweigen geschmückter Bogen mit einem Schild, auf dem »Roßfelder Sichelhenket« stand, wies den Weg zum Fest. Lisa stöckelte auf hohen Sandalen neben ihm her. Heiko war schleierhaft, wie Frauen in diesen Dingern laufen konnten. Das sah schon gut aus, das musste er zugeben, aber sicherlich tat das auch weh.

Seine Verlobte und Arbeitskollegin zupfte an einer ihrer blonden Haarsträhnen und sah zu ihm her. »Alles klar, Bärchen?«

Heiko brummte unbestimmt als Antwort. Lisa streichelte ihm daraufhin über die Wange.

Im letzten Juli hatte er ihr einen Antrag gemacht, hochromantisch, zwar ohne Ring, aber nachts am Ufer der Jagst an der Heinzenmühle. Zwar hegte Lisa den leisen Verdacht, dass Alex’ Interesse an ihr die Verlobung beschleunigt hatte, aber unterm Strich spielte das keine Rolle.

»Schaut gut aus«, lobte Heiko und deutete auf ihr rotes Neckholder-Kleid mit den weißen Streifen, dessen A-Linie ihre Taille wunderbar betonte.

Lisa schob ihre Hand in seine, und die Glocke am Kirchturm schlug acht Uhr.

Als die Glocke neun schlug, hatten Lisa und Heiko bereits jeweils eine Bratwurst im Weckle verzehrt. Heiko hatte sich ein Bier gekauft, Lisa ein Cola, und so standen sie im Zelt, in dem die Band Red Fat Cat alles gab.

»Seid ihr bereit für … Highway to Hell«, rief Pasi ins Mikrofon, und die vielleicht 150 Gäste im Zelt johlten begeistert.

Schon erklangen die ersten Akkorde, und Lisa beobachtete zwei Mädels, die vor der Bühne tanzten. Eine war etwas üppiger und die andere eine schlanke Brünette mit Pferdeschwanz. Lisa sah zu ihrem Verlobten – der leider die Bewegung zur Musik wie der Teufel das Weihwasser mied – und spielte mit dem Gedanken, rüberzugehen und mitzutanzen.

Betty beobachtete Claudi, die ihr gegenüber tanzte und ihr beständig zulächelte. Sie konnte sie gut leiden, eigentlich. Aber blöd war, dass sie andauernd heiße Blicke zu Martin hinüberwarf, der an einem der Stehtische in der Nähe des Bierstandes lehnte. Und noch blöder war, dass der diese mit einem leicht anzüglichen Lächeln erwiderte. Was ihn aber ganz offensichtlich nicht daran hinderte, mit einer hübschen Blondine zu flirten, die sich zu ihm gestellt hatte.

Das hätte sie auch tun sollen, einfach hingehen – was hatte sie gehindert? Stolz? Feigheit? Die Männer von heute waren lethargisch, die unternahmen nichts mehr. Nahmen mit, was von selbst zu ihnen kam. »Seit wann kommt der Knochen zum Hund?«, hätte ihre Mutter jetzt gesagt. Aber so einfach war die Rechnung nicht mehr. Man musste aktiv werden. Nachher vielleicht.

»To the Highway to hell«, sang Betty lauthals mit, und es tat irgendwie gut, mal alles rauszulassen.

Martin stand mit Dennis und der Blondine, die der angeschleppt hatte, am Stehtisch und nippte an seinem Bier. Geil sah die aus, hatte eine üppige Oberweite für die schlanke Figur, die fast aus dem roten Shirtlein fiel, in das sie sich gequetscht hatte. Dennis glaubte offenbar allen Ernstes, bei der landen zu können. Und dass Frank immer wieder zu Claudi hinübersah, war Martin auch nicht entgangen. Aber derenSache war nun wirklich erledigt, das hatte die Claudi ihm am Rande gesteckt, als sie sich zufällig in der Krone getroffen hatten. Die könnte er, Martin, auch wieder haben, wenn er wollte, jederzeit, dessen war er sich durchaus bewusst. Aber die kannte er ja schon, das war ja langweilig, obwohl sie heute schon gut aussah …

Aber die Kessy neben ihm, die eigentlich Kerstin hieß und ihm jetzt wieder so verführerisch zulächelte, sah noch besser aus. Deshalb beschloss Martin, sich heute mal auf die Kessy zu konzentrieren.

Als die Kirchenglocke zehn schlug, war die Stimmung schon deutlich gelöster. Lisa hatte ein bisschen getanzt, auch ohne Heiko, und der unterhielt sich jetzt mit Bernd, einem alten Klassenkameraden, der unter die Hobbykleintierzüchter gegangen war und meinte, dass Alfred, Heikos und Lisas Deutscher Riesenschecke, den sie bei ihrem ersten gemeinsamen Fall von einem Züchter bekommen hatten, vielleicht doch eine Freundin gebrauchen könnte. Die würde dann ihren kleinen Zoo, der zudem noch aus Rauhaardackel Sita und Kater Garfield bestand, bereichern.

»Ii hobb a boor Hoosa, wo doa bassa däda, der oone haaßt Grauerle, weil er grau is, ooner haaßt Brownie, der is braun, und noa käm noch die Birka in Frooch, die schaut wie a Birke aus.«

»Hm«, erwiderte Heiko, seine Universaläußerung, die er immer dann von sich gab, wenn er nicht so recht wusste, was er sagen sollte, und die buchstäblich alles bedeuten konnte.

Martin hatte inzwischen zwei weitere Bier intus und war dazu übergegangen, Kessy ab und zu am Arm zu berühren, was die sich gerne gefallen ließ. Die Band spielte Summer Nights aus Grease, und Martin sang an den richtigen Stellen lautstark mit, was die schöne Kessy zum Kichern brachte und Dennis dazu, gequält zu lächeln.

Claudia hatte sich mit Betty zusammengetan, denn es konnte nicht schaden, eine weniger Attraktive an der Seite zu haben, wenn man mit Jungs redete. Sie hatten sich an einem Stehtisch positioniert, unweit von Martin, der schon wieder eine Neue anvisiert hatte. Claudia rührte missmutig mit dem Strohhalm, ihrem »Röhrle«, in ihrem Asbach-Cola und war froh, dass wenigstens der Harald, der die Fünfzig schon überschritten und noch nie eine Freundin gehabt hatte, sich offenbar auf Betty und nicht auf sie eingeschossen hatte. Die hielt gequält lächelnd der Konversation mit ihm stand.

»Und mir henn an ganz moderna Putastall«, erklärte Harry soeben. »Doa gibt’s nix. Ii fraab mii schon, bis der Houf mir ghärt, des dauert nimmi lang, sou, wie dr Vadder doahängt, der kou ja nimmi sou, waasch …« Er trank einen Schluck Bier, schluckte ausgiebig und fragte dann: »Moochsch du Puta?«

Betty nippte an ihrem Fanta und meinte: »Ich bin Vegetarierin.«

Harald wirkte entsetzt. »Sou, noa isch du gor koa Flaasch? Net amol a Puta?«

»Nein, auch keine Pute.«

»Bloß Puta, des kennt ii ja noch verstänna, also ii perseenlich mooch souwiesou a halwi Sau liawer wia des druckichi Glump, awwer gor koa Fleisch …«

Betty seufzte und entschuldigte sich, sie müsse zur Toilette. Dringend war es zwar nicht, aber gehen konnte sie schon.

Im Toilettenwagen traf Betty am Waschbecken Kessy, die ihre Wimpern nachtuschte und ihr eben jenen mitleidigen Blick schenkte, mit dem Frauen wie sie Frauen wie Betty ab und zu bedachten. Betty ignorierte die Dame, trocknete die Hände ab, rauschte an Kessy vorbei und wählte einen Weg zurück, bei dem sie an Martin vorbeikam. Sie überlegte kurz, dachte dann aber, dass sie nichts zu verlieren hätte und sich ärgern würde, wenn sie es nicht zumindest versuchen würde.

»Hey, Martin«, begann sie also, und er sah aus, als würde er überlegen müssen, wie sie hieß.

Dennis, der dabeistand, nickte ihr hingegen als Gruß zu und murmelte ihren Namen. Dass Martin sie nicht kannte, war vollkommen ausgeschlossen, denn sie waren zusammen im Kindergarten und in der Grundschule gewesen.

»Betty«, meinte er endlich, seine Stimme schwankte bereits ein bisschen.

Betty hatte nicht mitgezählt, wie viele Bier er schon getrunken hatte, aber es mussten einige sein.

»Ii muss soocha, du schausch heit echt guad aus«, fuhr Martin fort und blickte anerkennend auf ihr rotes Carmen-Top.

»Danke, ich …«

»Wemmer uff Fette stätt«, fügte er hinzu, während ein Lachen seine Gurgel hochkroch, sodass er sich beinah am Bier, das er soeben nachgeschüttet hatte, verschluckte. Er fing sich aber gerade noch und brach dann in Gelächter aus.

»Danke«, murmelte Betty, vollkommen perplex, drängte sich vorbei und ging zurück zu Harald und Claudi.

Als die Glocke elf schlug, spielte die Band soeben Wild Thing, und das nutzte der inzwischen doch merklich schwankende Martin, um der schönen Kessy an den Arsch zu fassen und ihr beim Refrain bedeutungsvolle Blicke zuzuwerfen.

Kessy kicherte und schob seine Hand, die jetzt schon ein paarmal auf ihrem Allerwertesten geruht hatte, nicht mehr weg. Anscheinend mochte sie, was er tat, und mit einem Ruck zog er sie an sich, sehr zum Leidwesen von Dennis, dem jetzt allmählich zu dämmern begann, dass er heute Abend wieder nicht zum Stich kommen würde.

Heiko und Lisa waren bei dem Kleintierzüchter hängen geblieben und hatten sich den ganzen Abend gut unterhalten. Nicht nur hatten sie beschlossen, dass es vielleicht gut wäre, eine Freundin für Alfred zu besorgen – Birka war in der engeren Wahl –, auch kannten sie inzwischen die jeweiligen Lebensgeschichten aller Hasen und hatten zudem einiges über die Sichelhenket in Erfahrung gebracht.

»Ii mooch des Feschd«, bekannte Bernd soeben und blickte sich, wie zur Bestätigung, wohlwollend um. Im Zelt staute sich die Hitze, die der Sommer und die vielen Menschen ausstrahlten. »Und die Band is echt gut des Joahr.«

»So, Roßfeld, jetzt geht’s in eine neue Runde Party, mit dem Lied Pretty Woman vom Orbisons Roy«, kündigte der Sänger soeben durchs Mikrofon an.

Harald redete schon wieder von seinen Puten, eigentlich hatte er in der letzten Stunde nichts anderes getan.

»Also, ii waaß gor net, was die Leit an demm Fleisch finda. Des is asou moocher und druckich, des will mer doch net. Sou wie du, des is reechd. Und du bisch aa vill schänner wie sou a hässliche Puta«, schwafelte er und grinste Betty anzüglich zu. »Du bisch nadierlich aa a schääni Fraa, a pritti wumann, Claudi, awwer ii mooch halt liawer was zum Noulanga.«

Claudi lächelte dünn und murmelte irgendwas, das wie »Schon okay« klang, damit konnte sie definitiv leben, während Betty Haralds Hand auswich, die er inzwischen unendlich geschickt seitlich am Körper herabhängen ließ, um sie rein zufällig zu berühren, indem sie einen Schritt zur Seite trat.

Als die Uhr zwölf schlug, zog Martin, der inzwischen kaum noch stehen konnte, die Kessy eng an sich und knutschte sie, in dem festen Willen, die heiße Blondine heute mit nach Hause zu nehmen. Ihm entging, dass Dennis verschwunden war, aber das wäre ihm sowieso egal gewesen.

Betty fiel zu Hause aufs Bett, allein, völlig nackt und ohne eine Dusche, obwohl die nach diesem Abend definitiv nötig gewesen wäre. Aber ihr war nicht mehr danach, ebenso wenig wie nach Abschminken. Sie war innerhalb von Minuten eingeschlafen, ohne sich zuzudecken.

Claudi hatte sich erbarmt und unterhielt sich mit Markus, einem Klassenkameraden von früher, der jetzt in Karlsruhe wohnte und gar nicht mal so schlecht aussah. Er war nach dem Studium in der Stadt geblieben, und es schien ihm zu gefallen. So, wie er angab, interessierte er sich wohl für sie, und das ließ sie sich gerne gefallen. Den Harald hatte sie einfach stehen gelassen, nachdem Betty nach Hause gegangen war.

Lisa stand inzwischen wieder vorne bei der Band und tanzte, es sah wirklich gut aus, wie sie sich bewegte, aber Heiko wollte trotzdem nicht mitmachen, er hatte sich lieber noch ein Steak geholt. Er dachte an Birka, Grauerle und Brownie und wie Alfred wohl reagieren würde, ob der das überhaupt wollte oder nicht lieber ein eingefleischter Junggeselle war.

Kessys Zunge tanzte in Martins Mund, sein Körper umschlang den ihren, schlanken.

»Hey, habt ihr kein Zuhause?«, rief jemand neben ihnen, lachend.

Kessy entfernte sich wenige Zentimeter von Martin, lächelte ihm zu, verheißungsvoll. »Keine schlechte Idee eigentlich, oder?«, gurrte sie und strich an seiner breiten Brust unter dem Shirt entlang.

Martin wollte soeben zustimmen, wurde aber von einem Schulterklopfen von hinten daran gehindert. Als er sich umdrehte, stand Dennis vor ihm, der ihn wütend anstierte.

»Du bist ein Arschloch, Märtl«, murmelte er und ballte die Fäuste, was Martin zu einem Grinsen verleitete.

»Also, im Ernst, ein Krüppel wie du kann doch nicht ernsthaft glauben, dass so eine wie die Kessy …«

Weiter kam er nicht, denn der deutlich kleinere Dennis hatte ihm mit erstaunlicher Wucht einen Kinnhaken versetzt, der ihn tatsächlich für eine Sekunde außer Gefecht setzte.

Kessy kreischte und stützte ihn, schrie den Dennis an, dass der ja wohl gestört sei, aber Martin schüttelte die zierliche Blondine unwirsch ab, sah sich nach seinem Widersacher um, aber der war schon verschwunden.

Und die Band spielte Knockin’ on Heaven’s door in der Version von Guns n’ Roses.

Samstag

Erster Tag der Sichelhenket

Martin rückte das Halstüchlein zurecht. Normalerweise war er ja so gar nicht der Halstuch-Typ, allen Ernstes hatte er das letzte Mal eines als Achtjähriger getragen, als er sich beim Kinderfasching als Cowboy verkleidet hatte.

»Guad schausch aus, Bua«, meinte seine Mutter und trat hinter ihn.

Auch der Vater betrachtete ihn wohlwollend. Fritz Ohr hatte seinen Posten bei den Dreschflegelklopfern an den Sohn weitergegeben, als die Generationen gewechselt hatten. Am Volksfestumzug, der in einer Woche stattfinden würde, traten jedoch an einem Tag die Alten und am anderen die Jungen für den Roßfelder Wagen an. Elsbeth Ohr zupfte am Kragen des grünlichen Bauernkittels, dessen Farbe ein bisschen an einen Kaktus erinnerte, da sie nicht leuchtete, sondern gräulich wirkte.

»Macht doch net sou a Gschiss weecha derra Drescherei«, ertönte es plötzlich an der Türe, und Martin lächelte seinem kleinen Bruder über den Spiegel milde zu.

Er wusste genau, dass Florian seine Gleichgültigkeit vortäuschte, er hatte eigentlich auch zu den Dreschern gewollt, aber der Vater hatte an ihn übergeben. Denn er war kräftiger und machte einfach insgesamt mehr her.

»Also, Bua, du waasch, iwwer da Koupf, awwer hinda oulanga«, wandte sich der Vater an ihn.

Martin nickte. Er wusste, wie er den Dreschflegel zu führen hatte. Und man brauchte Taktgefühl, alleine deshalb wäre sein Bruder schon vollkommen ungeeignet, denn der war eine Niete beim Tanzen. Ein Wunder, dass er eine Freundin abgekriegt hatte. Gut, sie war nicht grad die Schönste, aber konnte ja auch nicht jeder so viel Erfolg haben bei den Weibern wie er.

Trotz seiner Schmach gestern Abend hatte ihn die Kessy noch mit nach Hause begleitet, bei ihm übernachtet und sogar morgens mit der Familie gefrühstückt. Seine Mutter hatte seine Eroberung mit »Sie« angeredet und recht freundlich getan, in der Hoffnung, dass es diesmal vielleicht was Ernsteres werden würde, das war offensichtlich. Die hatte ja keine Ahnung, dass er nicht vorhatte, sich unter eine Regierung zu begeben. Er war ein Freigeist, ein unabhängiger Mann, der sich nahm, was er kriegen konnte, wenn er denn wollte, wenn ihm die Damen gefielen. Und gestern hatte ihm die Kessy gefallen, mal schauen, wer heute Abend so da war.

Samstag

Das Bobby-Car-Rennen

Noah, 5 Jahre alt

Gut, dass Mama erlaubt hat, dass ich mitfahre, sie hat ja Angst gehabt. Aber sie weiß ja nicht, dass ich voll gut fahren kann, ich bin Profi. Das hat Papa ihr dann gesagt. Es ist total spannend, mein Helm passt, ich finde ihn cool. Er hat Flammen drauf. Neben mir ist auf der einen Seite Matti, den mag ich nicht, der ist immer gemein zu mir. Auf der anderen Seite ist Anna, die hat einen rosanen Helm und ein rosanes Bobby-Car mit Gesicht, ist ja ein Mädchen.

»Auf die Plätze!«, ruft der alte Opa neben uns. Ich ducke mich und schaue geradeaus zum Ziel.

»Fertig!« Meine Füße sind auf dem Boden, damit ich gleich losfahren kann.

»Los!« Ich rase los, beeile mich, so arg es geht.

Mein Bobby-Car ist grau, nicht so rot wie das von Matti. Rot ist eine Babyfarbe. Ich stoße mich ab, so schnell es geht. Anna ist schon lange weg, irgendwo hinter mir. Matti ist neben mir und er guckt ein bisschen, aber ich gucke nicht. Ich beeile mich. Dann überholt er mich, ich beeile mich mehr. Er guckt kurz zu mir, aber dann fällt sein Bobby-Car um und liegt auf der Seite und er fällt runter. Ich fahre weiter, weil ich den Matti eh nicht mag und seine Mama auch schon gerannt kommt, weil er wie ein Baby weint. Das Ziel kommt näher. Die anderen sind viel langsamer. Und dann bin ich erster Sieger.

*

Hendrik, 9 Jahre alt

Das Rennen von den Babys ist jetzt endlich rum, jetzt sind wir Schulkinder an der Reihe. Ich habe ein blaues Bobby-Car, das ist okay, Rot finde ich langweilig. Eigentlich wollte ich ein schwarzes, aber Papa hat gesagt: »Nix! Ich kauf doch da jetzt nicht extra so ein neues Plastikautole. Du fährst mit dem, was da ist, aus, fertig. Ich glaub, ich spinn!« Wenigstens habe ich einen coolen silbernen Helm. Neben mir ist Nele, die ich voll gern mag. Aber Nele fährt bestimmt schlecht, weil sie ein Mädchen ist. Aber ich finde sie schön. Und rechts neben mir ist Hüseyin, der mag Nele auch. Deswegen kann ich ihn nicht leiden.

»Auf die Plätze!«, ruft der Mann, der so alt wie mein Opa ist.

»Fertig!« Ich drücke die Füße auf den Boden.

Beim »Los!« flitzt mein Bobby-Car nach vorne und ich beuge mich ein bisschen vor, ich glaube, das bringt was.

Vier Plätze weiter links ist mein Freund Roman, der ist auch gut und genauso schnell wie ich. Aber ich will gewinnen. Ich passe kurz nicht auf und haue mir den Fuß an der Straße an. Aua! Aber ich bin ja kein Baby mehr und fühle keinen Schmerz. Ich fahre noch schneller und überhole den Roman sogar. Meine Mama steht am Ziel und schreit: »Los, Henni!« Ich fahre noch schneller und gewinne. Da freue ich mich.

*

Marie, 11 Jahre

Eigentlich bin ich fast zu alt für das Bobby-Car-Rennen, aber es macht mir eben Spaß. Ich mag die ganze Sichelhenket. Aber das Bobby-Car-Rennen und das Sau-rennen sind am lustigsten. Ich habe ein schönes rotes Bobby-Car und einen türkisenen Helm. Ich mag Türkis, das ist meine Lieblingsfarbe. Und die anderen fahren da nur so mit, aber ich will auch gewinnen. Deshalb habe ich geübt, heimlich hinter dem Haus, weil, das wäre ja sonst peinlich. Und ich habe mir YouTube-Tutorials und TikTok-Videos angeschaut, wie man so schnell wie möglich fährt. Ich habe mir alles sehr gut gemerkt. Neben mir ist meine Freundin Meike, die ich voll lieb habe, sie ist mein Bestie. Und auf der anderen Seite ist Paul, der voll nervig ist.

»Auf die Plätze!«, ruft der Mann, der glaub so alt ist wie mein Englischlehrer. »Fertig!«

Der Trick ist, dass man die Arme mitnehmen muss, die meisten machen nix mit den Armen.

»Los!«

Ich rase los und das Wichtige ist: Ich nehme die Arme dazu, um das Bobby-Car unter mir weiterzuziehen, außerdem die Füße immer weit nach hinten, das macht keiner außer mir, weil, die haben ja alle die Tutorials nicht gesehen.

Nur am Anfang sind die anderen genauso schnell wie ich – Paul fährt schon nach wenigen Metern in die Bande und gibt wütend auf –, aber dann fahre ich allen davon. Ich habe mich eben gut vorbereitet. Und deshalb gewinne ich auch, da bin ich ein bisschen stolz.

Samstag

Festeröffnung und Saurennen

Nach der Siegerehrung des Bobby-Car-Rennens mit tollen Preisen versammelten sich die Roßfelder und die auswärtigen Zuschauer beim Brunnen. Manche Besucher kamen erst jetzt an, aber die hatten echt was verpasst, weil das Bobby-Car-Rennen wirklich spannend gewesen war. Rechts neben dem Brunnen war der Dreschboden aufgebaut, es lagen bereits ausreichend Ähren darauf. Die vier Dreschflegelklopfer in ihren Bauernkitteln und mit den roten Halstüchern hatten mit den Dreschflegeln dahinter bereits Aufstellung bezogen. Noch richtete sich die Aufmerksamkeit des für ein Dorffest recht großen Publikums allerdings auf den Büttel, der sich am Brunnen positioniert hatte und sich nun räusperte. Er trug eine alte blaue Polizeiuniform, wie es der Rolle entsprach, dazu eine Kappe im selben Farbton.

»Bekanntmachung! Achtung, Achtung, es ist so weit!«, begann er, und die Gespräche rundum verstummten. »Versteht ihr mich alle?«, erkundigte er sich dann, und von überall ertönte ein »Ja« als Antwort.

»Die Obrigkeit hat verfügt,

Es ist mal wieder so weit.

Drum, ihr Bürger, hört gut zu:

Von jetzt an hat die Arbeit Ruh,

Mit Wein und Weib und mit Gesang

Wird uns der Abend niemals lang!

Doch wichtig ist, dass alle hier

Bei Zwiebelblootz und frischem Bier

Bei bester Stimmung immer denket:

›Des is die Roßfelder Sichelhenket!‹

In Roßfeld is a große Freud,

Des secht eich eier Büttel heut.«

Es folgten weitere Verse, die sich mit dem Einbringen der Ernte und dem Feiern sowie der Historie des Brunnens befassten. Zwischendurch fragte der Büttel mehrfach, ob ihn alle verstehen würden, auch wirklich, was mit großem Gelächter quittiert wurde. Dann kam die Aufforderung:

»Jetzt wird gefeiert, getanzt und gelacht

Und den Crailsheimern gezeigt,

Wie man die Sichelhenket macht.

Kommt und lasst euch jetzt nicht lumpa,

Hebt mit mir jetzt eiern Humpa.

In Roßfeld is a große Freud,

Des secht eich eier Büttel heut –

Prost!«

Man reichte dem Mann eine Halbe, die er tatsächlich auf einmal leerte, und auch im Publikum wurden mehrere Bierkrüge in die Luft gehalten, während ein vielstimmiges »Prost!« erklang. Ein feierliches Gefühl stellte sich bei den Umstehenden ein, denn die Roßfelder Sichelhenket war damit offiziell eröffnet. Es folgte das Schaudreschen als Symbol dafür, dass die Ernte abgeschlossen war.

»Mama, was machen die da?«, fragte Finn-Benedikt seine Mutter, als er die vier Männer mit den seltsamen Stöcken erblickte.

»Das sind Bauern, Finn-Benedikt, und die dreschen jetzt das Korn«, erklärte Isabelle Bornheimer-Wedekind ihrem Sohn.

»Welches Korn denn?«, hakte der Siebenjährige nach, ihr einziges Kind, das sie alleine großzog, nachdem der Vater entschieden hatte, sie beide sitzen zu lassen für eine Jüngere, Dümmere.

»Jetzt haben die Bauern ja die Felder abgeerntet und die ganzen Ähren eingesammelt.«

»Was sind Ähren?«

»So Getreidepflanzen. Aus denen man Mehl macht.«

»Und das Korn holt man dann da raus?«

Finn-Benedikt beobachtete weiter die Männer, die auf einmal die Stöcke umherwirbelten.

»Nein, man haut mit diesen Dreschflegeln auf die Ähren, wie die Klopfer da, und dann fliegt das Korn raus und das kann man dann zu Mehl zermahlen.«

»Kann ich das auch mal probieren?«, fuhr der kleine Finn-Benedikt fort.

Isabelle lächelte ihm zu und wuschelte ihm durch das hellblonde Haar. »Wenn du groß bist. Aber morgen darfst du beim Saurennen mitmachen, versprochen.«

Die Dreschflegel von Martin Ohr, Dennis Wollmershäuser, Frank Hartmann und Sebastian Laukenmann sausten durch die Luft und landeten auf dem Dreschboden in einem perfekten Viervierteltakt, den der Erich mit ihnen in einem halbjährigen Training einstudiert hatte. Das Korn hüpfte auf dem Holzboden, das Stroh flog zur Seite. Es hatte etwas Hypnotisches. Martin verstand in diesem Moment die ganzen afrikanischen Stämme, über die er eine Doku gesehen hatte und die sich bei Ritualen in Trance tanzten. Er war voll fokussiert, hatte sich aber trotzdem gemerkt, wo der HT-Reporter Harald Bucher stand, um für die Zeitungsfotos eine gute Figur zu machen, denn das Hohenloher Tagblatt würde sicher wieder eine Bilderstrecke bringen, online sowieso.

Er bemühte sich, seine Muskeln zu beugen und zu straffen, den Dreschflegel elegant zu schwingen, kraftvoll. Schade, dass er sich konzentrieren musste, sonst könnte er schon mal im Publikum nach Damen suchen, die vielleicht interessant waren. Dass die Kessy heute anderweitig verabredet war, kam ihm grade recht …

Klack, klack, klack, klack, machten die Dreschflegel, und es ging noch eine ganze Weile so weiter, bis endlich der Büttel Einhalt gebot und sie langsamer wurden, allmählich verklangen, bis endlich Dennis Wollmershäuser den letzten Schlag auf den hölzernen improvisierten Dreschboden setzte.

Claudia hatte heute Abend Blootzdienst. Die Landfrauen betrieben einen Blootzwagen, der im Gegensatz zu der Garage eine vegetarische Variante anbot – Blootz ohne Speck. Blootz mit Speck war natürlich Pflicht, und auf die fleischlosen wurden ein paar Lauchkringel gelegt, damit es nicht ganz so leer aussah. Die wollte eh kaum jemand, außer der Betty, die vor ihr die Schicht gehabt hatte und jetzt schon das dritte Stück kaute.

»Schaffa, net glotza, Maadle«, mahnte Simone und öffnete geschäftig die Klappe des mobilen Pizzaofens, um ein weiteres Blech herauszuziehen.