Siddhartha auf Tour - Martin Wimmer - E-Book

Siddhartha auf Tour E-Book

Martin Wimmer

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Beschreibung

Askese oder Ekstase – auf welcher Seite stehst du? Ob weltanschaulich oder sprachlich: Zum 100. Jubiläum von Hermann Hesses "indischer Dichtung" beantwortet Wimmers bissiger Deutschland-Roman existenzielle Fragen neu: intellektuell, poetisch und humorvoll. Als sein bester Freund stirbt, hält Siddhartha-Experte Emil auf der Beerdigung eine berauschende Rede, mit der er seine große Liebe zurückgewinnen will. Wir tauchen ein in einen überbordenden Fluss des Lebens, der sich "auf Tour" zwischen Indien und Inn, zwischen Antike und 21. Jahrhundert, zwischen erstem und letztem Kapitel öffnet. Dem Hesse-Kenner ist das Buch zusätzlich ein großer Rätselspaß.

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Seitenzahl: 284

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Siddhartha auf Tour

Roman

von Martin Wimmer

Borderlord Bücher

Alle Rechte vorbehalten.

Erste Auflage 2022.

Impressum / Copyright:

Martin Wimmer

10119 [email protected]

Covergestaltung: Nico Reszinski

Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Einführung

von Jakiv Wahl (Dublin, 16. Juni 2022)

Unter den zeitgenössischen deutschen AutorInnen zählt Martin Wimmer zu den größenwahnsinnigeren. Seine Werke schrieb er für künftige Doktorarbeiten, ja Habilitationen. „Entschuldigung, aber es wird dreidimensionale Projektionen brauchen, um die Zusammenhänge in und zwischen meinen Büchern visualisieren zu können“ wurde zu einem seiner geflügelten Worte. Siddhartha auf Tour war bei allem Anspruch sein bis dahin zugänglichstes Buch, das ihm viele treue LeserInnen und auf smart inszenierten Events begeisterte ZuhörerInnen brachte. Mehrere Handlungsstränge sind darin elegant verwoben:

Emil hält am Grab seines verstorbenen Freundes Axel in einer bayrischen Stadt am Inn eine berauschende Rede, in der er sich an dessen Witwe, seine große Liebe Claudia, und die alten Freunde wendet. Darin blickt er auf ihre gemeinsame Jugend, sein buntes eigenes Leben (vor allem die „Liara/Berlin“-Kapitel) und die letzten mit dem Sterbenden verbrachten Tage zurück. Das ist der Rahmen.

Zum 100-Jahre-Jubiläum von Hermann Hesses Roman Siddhartha. Eine indische Dichtung war Emil als Kleinkünstler unterwegs durch Deutschland. Die Beschreibungen des Tourlebens während Corona, die direkte Ansprache des Publikums im Saal, Texte aus dem Programm über einen imaginierten Siddhartha in der Jetztzeit („Traktat von Ruha“), fantastische Erzählungen von der Seidenstraße, wissenschaftliche Ausführungen, all das vermischt sich nahtlos mit der Grabrede.

Gegen Ende wird die Bühnensituation, an ein Publikum gewandt zu sprechen, sogar in einen dithyrambischen Chor gesteigert („Abraham“).

Und dann spricht da noch jemand aus den Seiten mit dem Leser. Wer dieser Erzähler ist, bleibt offen. Eine breit informierte und stets traurige Instanz, von der der Autor sagte: „Mit mir jedenfalls kann man ihn nicht verwechseln. Er verwendet exotische Wörter, deren Bedeutung ich nicht kenne und weiß Dinge, von denen ich nicht mal mehr weiß, dass ich sie geschrieben habe.“

Die Erzählidee folgt stringent der Idee, dass Raum und Zeit sich beim In-den-Fluss-Schauen, also auch dem Schreib- und Lesefluss, auflösen und verschwimmen. Man kann so wenig zweimal in denselben Fluss steigen wie zweimal dieselbe Geschichte erzählen oder zweimal im selben Buch lesen. Du blätterst um und bist schon wieder woanders. Wortkaskaden stürzen sich in die Tiefe, Ideen spritzen hoch, Erinnerungen wogen ans Ufer: Begegnungen, Entdeckungen, Sensationen. Es ist eine überbordende Vielfalt an Leben, die sich „auf Tour“ zwischen Bayern und Indien, zwischen der Antike und dem 21. Jahrhundert, zwischen dem ersten dem letzten Kapitel für den Leser öffnet. 

Dem Hesse-Kenner ist das Buch zusätzlich ein großer Rätselspaß. Was dem uneingeweihten Leser als nostalgischer Rückblick auf eine bayrische Jugendfußballmannschaft erscheint, ist eben auch eine sinngetreue Persiflage auf ein Kapitel im originalen Siddhartha. Ein scheinbarer Besuch beim Friseur kann auch als Lektürenotizen zur Ausgabe 912 des Kulturmagazins DU – ein von Oliver Prange editiertes Sonderheft zu „100 Jahre Siddhartha“ – gelesen werden. Zitiert wird die Laudatio der Nobelpreisverleihung an Hesse, die Titelhelden dessen Romans Klein und Wagner treten auf, veranstaltet wird ein Autorenabend in Saarbrücken (eine bekannte Kurzgeschichte von Hesse), zahlreiche Zeilen aus Gedichten und anderen Texten sind eingewoben; Anspielungen auf die Lebensumstände Hesses und Buddhas runden das Bild ab. Dass Ulysses und The Waste Land ebenfalls 1922 erschienen waren und Arno Schmidt beeinflussten oder dass Jack Kerouac in diesem Jahr geboren wurde, war Wimmer offensichtlich auch bekannt.

Siddhartha auf Tour erschien kurz nach dem neo-eurasiatischen Ereignis. Wimmer war bewusst, dass Hesse 1922 mit seinem „unpolitischen“ Roman in die Kritik der im Interesse des deutschen Volkes argumentierenden Politiker, Medien und Mitbürger geriet, denen Krieg und Gewalt als Mittel der Verteidigung höherer Werte akzeptabel erschien. Als unerbittlicher Widersacher aller militärischer Auseinandersetzungen, aller Unterdrückung und Unfreiheit verachtete er jene Kräfte, die individuelles Glück und sozialen Frieden auf dem Altar ihrer eigenen dunklen Perfidie opfern.

Vielleicht deshalb stellte er der Erstausgabe seines Buchs auf Anraten seiner Testleser ein selbstironisches Vorwort voran, in dem er verkündete, einen Literaturpreis an Wladimir Sorokin weiterreichen zu wollen.

Auf der Beerdigung

So, dann bin jetzt wohl ich dran. Glaubt mir, für den besten Freund ist das eine Ehre, aber auch eine Herausforderung. Aber ich bin gut vorbereitet, wird nur etwas dauern. Ich weiß, der Wirt, 15.00 Uhr, aber da müsst ihr jetzt durch. Wo ich euch schon mal alle zusammen habe. Toby, Janine. Lydia, Mina. Hans sogar extra aus Kalifornien angereist. Michaela, wobei ein paar Ex fehlen, oder ich erkenne euch zumindest nicht wieder. Sandra, irgendwo? Frau Södeck, schade dass ihr Mann das nicht mehr erleben kann, oder vielleicht auch besser, wer will schon seinen Sohn überleben. Die Geschwister mit Familien, neuen, alten. Das Kollegium vermutlich, Eltern, Schüler. Da hinten die Theatergruppe, Moni, lang nicht gesehen. Die Fußballer, Alfons, ist das lang her. Das ganze Dorf. 200 Leute, würd ich sagen, soweit ich das von hier heroben übersehe. Selbst für eure engen Verhältnisse in Mühldorf am Inn hier ist das viel. Axel war beliebt, Axel war bekannt, Axel, Axel, Axel, Axel, so ging das halt immer schon.

Und Claudia natürlich. Wer will schon seinen Ehepartner überleben. Ach Claudia. Du brauchst gar nicht wegschauen. Jetzt ist es doch egal. Ich habe immer gedacht, ich hätte dich geliebt. Seit über dreißig Jahren glaubte ich dich zu lieben. Aber heute, hier, ganz ehrlich, ich habe Axel geliebt. Och, nein, mein Gott, dieses Geschau gleich wieder, doch nicht so geliebt. Wobei das ja wohl auch nicht schlimm gewesen wäre. Nicht alle Künstler sind schwul. Ich habe ihn geliebt, wie man eben einen besten Freund liebt. Wie man sich selbst liebt. Weil er einen Pfad des eigenen Lebens betreten hat, der einem selbst verborgen geblieben ist. Axel hat eine Möglichkeit meines Lebens gelebt, und vielleicht war es das Bessere. Vielleicht aber auch nicht. Darum geht es. Genau darum. Am Fluss hocken und den Wahnsinn des Lebens vorbeitreiben lassen. Zur Ruhe finden. Zu sich finden. Ertragen. Weise sein. Oder rausgehen, leben, scheitern, neu anpacken, die Welt verändern?

Scheitern, ja, da war ich gut, das habt ihr mich auch immer spüren lassen. Der verlorene Sohn. Der Tor, der auszog, das Fürchten zu lernen und trotzdem ohne Frau heimkommt. Die große Enttäuschung des Dorfes. Der eine, der es zu was bringen hätte können. Und dann doch geendet hat wie alle hier. Als Niemand, als Gescheiterter, eine Märchenfigur mehr, die sich anmaßte, man könne auf die andere Seite des Inn, raus aus dem schattigen Forst, auf saftige Wiesen. Aber wisst ihr was, ich wenigstens hab mir ein paar Jahre die Sonne auf die Haut brennen lassen. Hier, seht ihr die Narben, das war ein Sonnenbrand in Goa. Indien, alles nur wegen Axel. Ich schlief morgens nach einer durchtanzten Nacht auf einer Hängematte ein, die zwischen zwei Hippiebusse gespannt war. Das sind Verletzungen, die will man haben.

Ja, Claudia, du kennst die Stelle gut, ich weiß. Wie oft hast du mich genau hierhin geküsst, hast deine Finger über die kleine Wulst gleiten lassen und dich weggeträumt in diesen Traum, in den dich dein blasser Axel nicht verführen konnte. Jaha, Ohnmacht und Wut, Scham und Verachtung, das sind noch Gefühle, hm? Seid dankbar. Heute stand doch zu befürchten, dass das schwarze Loch des Begräbnisses alle Emotionen, alle Wahrheit in sich aufsaugt. Stattdessen seid ihr nach fünf Minuten schon zum Leben erwacht. Alle auf 180, alle haben wieder Puls, trotz der Scheißkälte hier. Man sollte nur Frühjahr bis Herbst sterben dürfen. Ist der Arzt von Axel hier? Sie? Merken Sie sich’s für den nächsten. Sterben ja alle hier. Vergisst man auch gern. Ihr alle werdet abkratzen. Einer wird sogar der nächste sein. Einen wird es sicher in den nächsten Monaten, Wochen, Tagen erwischen. Die Frau von Silas sieht schon aus, als würde sie die nächste Stunde nicht überstehen. Herzkasperl auf der Beerdigung, ist das jetzt ein besonders paradoxer oder besonders sinniger Tod? Sorgen Sie also beim nächsten Morbiden dafür, dass es nicht wieder eine Winterbeerdigung wird, bitte.

Im Krankenhaus war Axel am Schluss nur noch Haut und Knochen. Habt aber ein schönes Sterbebildchen ausgesucht. Mann in besten Jahren. Wie alt war er da? Vierzig, Fünfundvierzig? Noch vor dem ersten Fett und den Falten. Gut sieht er aus. Blondes Haar, die kräftigen Augenbrauen, die vollen Lippen, ein verschmitztes Lächeln, ein Junge als Mann. Meine Freundinnen fanden ihn immer sofort sexy. Weckte den Mutterinstinkt. Harmlos, aber mit Potenzial. Tiefe. Und dann laberte er sie zu, und fragte, und interessierte sich, und wusste, und erzählte, Mister Charme persönlich. Hat bei Claudia schon funktioniert. Ich und eifersüchtig? Oh ja. Neidisch. Axel war mein Vorbild. Axel hatte, was ich nie bekam. Und Axel war Siddhartha. Als wir das Buch lasen, war es noch gar nicht so alt, ein Menschenleben, da konnte man noch dabei gewesen sein. Jetzt: ein Jahrhundert. Das ist schon eine andere Dimension. Axel und Hesse und Siddhartha, große unerreichbare Lieben. Und Claudia.

Claudia ruft an

Ich stand im Volkspark, einen Becher Cappuccino mit Hafermilch in der Hand. Dass Claudia so früh anrief, war ungewöhnlich. WhatsApp ja. Die gingen auch mal schnell nebenbei, in den unaufmerksamen Sekunden unserer Partner. Am öftesten schrieben wir uns aber wohl vom Klo. Das war die unwürdige Facette unserer Liebe. Die große, unerfüllte Liebe, die auf Toilettenbrillen in Smartphones getippt wurde. Anrufe dagegen ließen sich in der Regel nur geplant realisieren. Unser Medium war das Schreiben. Ganz früher, noch in der Schule, Briefe, handgeschrieben auf bunten Zetteln, im Studium schon maschinengeschriebene Ergüsse auf Schreibmaschinenpapier, sogar Ausdrucke, sorgfältig in Word editiert. Später dann E-Mails, tausende E-Mails. Seit einigen Jahren nun Messages. Ich mag das sehr. Kussmünder, pulsierende Herzchen, das verwandelt die verschwommenen Erinnerungen an unsere wenigen schönen Nächte und die verstohlenen Träume von einer Wiederholung in der Zukunft in eine glühend rote, erfüllte Gegenwart. Mit den Selfies waren wir uns wieder sehr viel nähergekommen, präsenter. Nur anfangs versuchte ich noch, die Zeichen des Alters zu verbergen, die ausgedünnten Haare, das manchmal etwas aufgedunsen wirkende Gesicht, den leichten Bauchansatz. Sie dagegen war in jeder Einstellung wunderschön, so wie sie jetzt dasitzt, schlank, mit immer neuen Frisur- und Haarfarbenexperimenten, ein Lachen, eine Grimasse, ein sehnsüchtiger Blick in die Ferne, ein Handstand, aufgenommen von einem Dritten, sicher von Axel. Immer noch war sie launisch. An guten Tagen sah ich sie vor einer sonnigen Bergkulisse strahlen, an schlechten Tagen schickte sie ihr Miesepetergesicht, oft genug mit dem Spülkasten ihres alten Bads im Hintergrund. Frau mit Klopapier. Wenn du nicht zusammenlebst, ist das ein seltenes Bild.

So frühmorgens von ihr angerufen zu werden war jedenfalls sehr ungewöhnlich. Ich meldete mich mit einem dummen Scherz, den sie einfach überhörte, sofort brach sie in hemmungsloses Schluchzen aus. Axel hatte sie mitten in der Nacht mit einem Schreikrampf aufgeweckt, fürchterliche Kopfschmerzen warfen ihn unansprechbar hin und her und schließlich sogar aus dem Bett. Panisch hatte sie den Rettungsdienst angerufen, er war ins Krankenhaus gebracht worden. Sie hatte die Nacht vor der Intensivstation verbracht und lief jetzt offensichtlich auf dem Parkplatz der Klinik auf und ab. So war das mit uns. In guten wie in schlechten Tagen.

Herzlich willkommen bei Emil Eclair

Liebe Gäste, ich heiße Sie sehr herzlich willkommen zu Siddhartha - einem indischen Abend mit Emil Eclair. Bitte schalten Sie jetzt Ihre Handys aus, vergessen Sie aber nicht, noch vorher unseren Newsletter zu abonnieren.

[Gelächter bitte. Mein Publikum lacht sonst immer an der Stelle.]

Genießen Sie Ihr Kingfisher oder Ihren Mango Lassi. Bis zur Pause werden wir den Service jetzt einstellen. Wer es gar nicht aushält, bekommt auf dem Weg zur Toilette an der Bar aber immer Unterstützung. Wir Trinker und Blasenschwachen müssen doch zusammenhalten.

[Gelächter bitte, wirklich. Ihr bekommt jetzt kostenlos, wofür andere Eintritt zahlen. Um Karten anstehen vorher und um Autogramme danach.]

Und nun geht es los. Meine Damen und Herren, Trommelwirbel in der Nacht, ratatata, hier ist er, der einzigartige, der unvergleichliche, der Mann, auf den Sie gewartet haben, Emil Eclair!

[Applaus bitte. Jetzt überrascht sein, denn statt mir kommt ein weiterer Ansager in farbenprächtigem Ornat]

Willkommen zur großen Siddhartha-Show. Das einzigartige Spektakel. Der Zauber des indischen Subkontinents. Sehen Sie. Staunen Sie. Wunder der Welt. Mit dabei: Der purpurne Maharadscha eng umschlungen mit dem schwebenden Sultan. Zwei gezähmte Schneetiger. Wunderlampen aus Bengalos. 1001 Tänzerinnen aus 1001 Nacht. Der Anker des Schiffes von Vasco Da Gama. Ein gelber Mönch aus Tibet. Ein fliegender Teppich. Der Quetzalcoatl des letzten malaysischen Königs. Ein Asket legt sich auf sein Nagelbrett. Mitglieder des indischen Staatsorchesters an Sitar, Bodhran und Oud. Rote Korallen aus dem Taj Mahal. Die Wasserpfeife von Sindbad. Schwarzes Salz aus dem Himalaya. Eine Rikscha aus Rishikesh. Ein sternförmiger Maorit aus Rajasthan. 12 Meter lange Dreadlocks eines Fakirs. Eine Originalpressung von Kalkutta liegt am Ganges. Der Zwerg aus der Bollywood-Verfilmung von Cleopatra. Lederne Totems aus der Traumzeit. Ein tanzendes Kamel. Teejongleure aus Ceylon, Kautschukzauberer aus Sri Lanka. Monsundatteln aus dem Golf von Bengalen. 5000 Jahre altes nichtschmelzendes Eis aus Nepal. Ein Urdu-Dichter. Heiliges Wasser vom Assam-Staudamm. Glückskekse aus Bhutan. Die berückendsten Stellungen des Kamasutra. Ein Sidhi mit einem Apadravja-Piercing. Haschisch aus Kathmandu. Das Schwert eines Mongolen. 108 Perlen von der Sannyasin-Kette, die Marie Laveau auf ihrer Reise nach Mumbai (damals Bombay) trug. Versteinerte Mangroven. Ein Spinnrad aus dem Ashram, in dem Gandhi lebte.

Kurz: Die älteste Kultur der Erde. Wunder über Wunder. Erleben Sie die Zauberwelt Indiens. Meine Damen und Herren, Ladies and Gentlemen, begrüßen Sie: Siddhartha!

[Vorhang öffnet sich. Ein Stuhl, ein Lesetisch. Auftritt Emil Eclair. Und kein Wort davon hätte ich geschrieben ohne Axel.]

Halbzeitpfiff

In der B-Jugend war er als neuer Torwart zu uns gestoßen. Er ging auf meine Schule, aber erst auf dem Rasen nahm ich ihn das erste Mal wahr. Bolzte traumhafte Bälle in den leeren Raum, die ein schneller Mann im Laufduell gegen zwei, drei lahme Verteidiger, einen zu offensiven Libero und einen schwachen Fliegenfänger zu so vielen Torchancen verwerten konnte, dass genug Treffer auf mein Konto gingen, um als Traumpaar der Liga bekannt zu werden. Axel verdiente sich bei einem Ferienjob in einer biologisch-dynamischen Gärtnerei paar Mark dazu. Schubkarrenfahren, Schaufeln und palettenweise Pflanztröge umwuchten hatten seinen Rücken breit gemacht. Seine Hände waren dunkel und hart, weil er weder in der Arbeit noch auf dem Platz Handschuhe trug. Seine blonden Haare hingen ihm unter dem dunkelblauen Bandana in das von Sonne, Regen und Wind gegerbte Gesicht, als wäre er ein altgedienter Seemann. Manche Mädchen zog diese Patina magisch an, manche stießen die dreckigen Fingernägel ab. Claudia gehörte dummerweise zu ersteren.

Mit dem Halbzeitpfiff begann es heftig zu schneien. Eine dichte weiße Schicht legte sich über das Spielfeld. Axel schüttete mir heißen Tee aus seiner Thermosflasche in einen Plastikbecher. Es war schon hilfreich, eine Mutter zu haben, auch wenn er das oft anders sah. Der Trainer, Dr. Schmidhuber, manche haben ihn ja noch erlebt, redete auf uns ein, aber ich fror einfach nur erbärmlich in den kurzen Hosen und dem dünnen Trikot, wärmte meine Hände am Tee und dachte an Claudia, das wärmte, trotz allem, auch. Die zweite Halbzeit verlief einseitig wie die erste, eine einzige Abwehrschlacht gegen die physisch und spielerisch überlegenen Favoriten von Wacker München, kein Spiel für einen Mittelstürmer. Axel stand wie ein Baum. Kein Freistoß, den er nicht wegfaustete, keine Flanke, die er nicht runterfing, kein Abstauber, den er nicht doch noch von der Linie kratzte. In unserer Hälfte war der Schneeflaum nun wieder weggepasst, weggelaufen, weggegrätscht. Die andere Hälfte war noch völlig unbefleckt, ein weißes Blatt Papier. Letzte Minute. Eine scharf hereingegebene Ecke, Axel hechtet nach dem Kopfball, unhaltbar senkt er sich ins Kreuzeck, das ganze Spiel, alles umsonst, aber Axel streckt sich, streckt sich, wächst wieder einmal über sich hinaus, drückt den Ball an den Pfosten, stürzt mit ihm zu Boden, wälzt sich aus dem Matsch, drei große Schritte, ein langgeschlagener, präziser Dropkick und ich starte durch, meine ersten Ballberührungen in der zweiten Hälfte, eine einzige Spur zieht sich durch den Schnee, in meinen Fußstapfen abgeschlagen mein Gegenspieler, ich laufe auf den Keeper zu, er rast mir entgegen, macht sich breit, sein Körper eine Wand, seine Handschuhe mächtige Segel, das Tor ein winziges Loch am Horizont, der Ball ein unkontrollierbarer Stein aus schwerem Eis, die nassen Zehen gefühllos im Leder, ich ziehe trotzdem ab, Claudia, für dich, denn der Appell ans Schicksal in so einer Situation muss doch belohnt werden, Claudia, denke ich, wie immer, wenn etwas aussichtslos ist, weil meine Liebe zu Claudia ist aussichtslos, in dem Moment holt mich der Verteidiger ein und säbelt mich brutal um, aber die Kugel rollt schon, sie rollt zwischen den Beinen des Goliaths hindurch auf das Tor zu, wird am Elfmeterpunkt langsamer, bremst im Fünfmeterraum ab, trudelt auf die Torlinie zu und - überschreitet sie im vollen Umfang. Der Schiedsrichter pfeift ab, wir gewinnen Eins zu Null.

Axel und ich waren ein gutes Team. Gut in die Mannschaft passten wir nicht. Sorry Jungs, aber Feuerwehr, Weiber und Whisky-Cola, das war nicht unsere Welt. Im Bus unterschieden wir uns von den Mitspielern. Während sie sich auf das erste Weißbier, einen Schweinsbraten beim Hinterecker Wirt und einen Schnaps auf Kosten eines der Spielerväter freuten, blätterten wir in Bänden der endlosen bunten Suhrkamp-Taschenbuch-Reihe, deren Inhalt wir dann an einem Katzentisch bei vegetarischen Käsespätzle und Limo diskutierten. Wir waren die zwei Gymnasiasten im Dorf. So hatte ich auch meine erste Berührung mit Siddhartha dank Axel.

Zweimal abends Training, am Wochenende das Spiel, das waren die Zeiten mit den anderen Jungs. Aber morgens bis mittags in der Schule, das waren lang die Zeiten mit Claudia gewesen. Früher, bevor Axel und Claudia ein Paar und ich das dritte Rad am Wagen wurden. In der Schulzeit sind die Rhythmen schneller. Beziehungen werden nicht in Jahren gemessen, sondern in Ferienwochen, Tagen am See, Geburtstagspartys. Ein Abend zu zweit ist noch eine ganze Erzählung wert, wenn man seine Erfahrungen und Abenteuer auflistet. So vieles ist vom Zauber des Verbotenen umgeben. Geheimhalten vor den überfürsorglichen Eltern, den regelbesessenen Lehrern, den hämischen Mitschülern. Claudia und ich kamen zudem aus unterschiedlichen Cliquen und Milieus. Sie hier aus der Stadt, fortschrittlich, wild, frühreif. Ich Fahrschüler, ahnungslos, abgeschlagen. Ein Brot-für-die-Welt-Projekt bestimmte unser Schicksal. Bald waren wir die einzigen beiden aus dem Team, die sich nachmittags noch trafen, sich über die gelesenen Materialien austauschten, stritten, zueinander fanden, Gefallen aneinander fanden, über uns redeten, über die Welt, Freundschaft, Pläne, und an einem dieser Nachmittage in diesem Projektraum des Jugendzentrums im Souterrain berührten sich zufällig (was ich minutiös vorbereitet hatte) unsere Hände, wir hielten inne, küssten uns, und von da an wanderten ein paar Wochen lang Zettelchen und Briefe und Kassetten und Bücher hin und her, stundenlange Telefonate, Eisessen in Neuötting, damit uns niemand erwischt, nachts nach dem Kino mit dem Rad zum Steg am Kanal hinten in Hölzling, ihre Hand, abgewischt am Gras, eine Szene, die mich nie mehr verließ, die Hand, ihre selbstverständliche Hand, die milchigen Finger, abgewischt am Gras. Splitter, die sich zusammenfügen zu einem Bild: ihr Zimmer, fröhliche gelbe Zitronenbettwäsche, das erste Mal. Eine heimliche, harmlose Jugendfreundschaft, unverbindliches Ausprobieren.

Eine Box mit hellblauen Romanen

Dann brachte Axel zu meinem Geburtstag zwei Überraschungen mit. Ein schweres Geschenk, üppig verpackt. Und die neue Freundin, von der er in den letzten Tagen schon viele Andeutungen gemacht hatte. Sie hatten sich bei einem Kino Open Air in Wasserburg kennengelernt. Axel war großer Kino-Fan, jobbte sogar in einem. Er war hin und weg gewesen. Vom ersten Tag an waren sie ein Herz und eine Seele. Seelenverwandte. Jetzt stand sie hinter ihm, mit denselben grünen Augen und den dichten, dunklen Augenbrauen wie heute, und schaute mich liebevoll-bittend an, versau es nicht, sei kein Spielverderber, wir kriegen das hin.

„Ihr kennt euch ja.“ Axel nahm es locker.

„Ja, so‘n bisschen.“ Claudia vermittelte.

„Mhm.“ Ich war ziemlich einsilbig. Das sollte mein Geburtstag werden? Ich verzog mich erst mal auf mein Zimmer und ließ die anderen unten Party machen. Ich hatte keine Ahnung gehabt. Ausgerechnet die beiden? Im Nachhinein scheint es komplett logisch, aus der Entfernung der Jahre und Kilometer ist es nachvollziehbar: Wie viele sportliche Intellektuelle in dem Alter gab es wohl im Einzugskreis? Dass die beiden aufeinandertrafen, war kein Wunder. Aber an dem Abend war ich am Boden zerstört. Alkohol trank ich nicht, ich wollte Herz und Verstand nicht verlieren, ich schrieb ein Gedicht, das ich Claudia zusteckte als sie wieder gingen. Ein sicher sehr schönes, wütendes, verzweifeltes, sehnsüchtiges Liebesgedicht, leider hab ich keine Kopie behalten. Am nächsten Morgen erst öffnete ich das Geschenk, von uns beiden, ha, und hielt die Hermann-Hesse-Box mit den kleinformatigen hellblauen Romanen in den Händen.

So blieb es unser halbes Leben lang. Axel pflückte die reifen Früchte vom Baum. Die beiden heirateten, führten eine glückliche Ehe, Haus, Amen. Und ich irrte mein Leben allein durch den Matsch und wurde regelmäßig von irgendwelchen Idioten umgesäbelt. Naja, so mies war es auch nicht. Selbstgewähltes Schicksal des einsamen Wolfes. Ich hatte es wirklich versucht. Richtige Brotberufe. In die Arbeit gehen. Meetings. Aufgaben erledigen. Geld verdienen. Ich hatte Freundinnen im Studium, im Büro, aus der Tochterfirma und vom Kunden. Ich wohnte in einem Altbau, ich besaß immer ein Auto. Ich ging einkaufen, ich wählte bei jeder Wahl, ich half mit, Kleinkunstbühnen am Leben zu halten. Aber ich fühlte mich nie verbunden mit dieser Welt. Wann immer es ernst wurde, war da ein coolerer, erfolgreicherer, begabterer Mann, der mich wegwummte. Das Projekt wurde erfolgreich beendet, die Wohnung war renoviert, das erste Konzert fand statt, aber ich war da schon mit der Nase im Dreck.

Wir waren zusammen aufgewachsen, wir liebten ein halbes Erwachsenenleben lang dieselbe Frau und jetzt liegt er da in der Grube und ich muss weiterleben. In den letzten Jahren hatten wir uns nicht mehr so oft gesehen. Doch als der Anruf von Claudia kam, wusste ich sofort, welche Verpflichtungen jetzt auf mich zukamen. Welche Bürden. Welche Hoffnung.

Deutsche Sportler

Siddhartha on tour. Das war meine letzte Chance gewesen. Wirklich alles vorher war gescheitert. Nach Mühldorf, nur damit ihr das mal gehört habt, war ja long time no see, kam ein langer Schlaf, bis ich in Berlin wieder aufwachte. Ein Studium. Keine Vorlesungen, ein paar wenige Seminare. Keine Romantik, kein Studentenleben, keine Partys. Endlose Stunden in Bibliotheken, mit Büchern in Parks und im Bett. Berufe. Büros. Chefs. Kollegen. Mitarbeiter. Geld. Endlose Stunden an Rechnern. Chefinnen, Kolleginnen, Mitarbeiterinnen, hektische Momente in Kaffeeküchen und fremdgebliebenen Betten.

Der erste Dienstwagen. Eine Fahrt durch die Nacht. Claudia an einem abgelegenen Parkplatz. Sie schon angezogen, ich noch nackt, auf der kalten Rückbank in ihren Armen, der beruhigende Geruch fabrikneuer Fahrzeuge. Ich muss jetzt wirklich gehen. Sie öffnet die Tür. Windet sich unter mir heraus. Lacht, weil ich mich extra schwer mache. Hebt mit beiden Händen meinen Kopf, lässt ihn sanft fallen. Mein Kopf hängt aus der Tür, vom Rand des Sitzes nach unten gekippt, ich schaue in den Himmel. Ich springe auf, als sie losfährt. Stehe nackt auf dem Parkplatz, winke, winke wie ein Irrer. Die Vollendung des Kampfes gegen Windmühlen: Du bist selber eine geworden. Die Rücklichter verschwinden hinter einer Kurve, der Motor verklingt. Für einen Moment ist absolute Stille auf der Lichtung. Ich ertappe mich dabei, immer noch zu winken. Wie ein Säugling in der Wiege, der nach der Mutter greift. Mit aller Kraft zwinge ich meine Hand unter Kontrolle. Sie nähert sich meinem Gesicht, eine riesige Hand vor einem blaugrünen Sternenhimmel. Als sie wieder zurückweicht, ist der Handrücken nass. Ich muss geweint haben. Kurz überlege ich, Vollgas zu geben und Claudia nachzujagen, eine wilde Verfolgungsjagd, mit quietschenden Reifen sie ausbremsen, vor ihre Tür stürzen, das heruntergerollte Fenster, ich liebe dich, wir lieben uns, geh nicht mehr, geh nie mehr, bleib endlich, lass es uns versuchen, wir. Besser nicht. Sie würde mich in den Arm nehmen und küssen und trösten und dann heim zu Axel fahren. Unsere Liebe hat immer gehalten, weil ich dich nie in genau diese erniedrigende Geste zwang, das hat unser Gleichgewicht gehalten.

Dann wieder langer Schlaf. Unsanft geweckt, als sie mich aus dem Konzern jagten. Aufgewacht vor dem Firmentor, ohne Auto. Zu Fuß den Weg in die Stadt zum Bahnhof gelaufen. Wohin. Nach Berlin! Viel Schlafen. Begonnen, Träume aufzuschreiben. Einen Traum pro Nacht. Tagsüber Traumdeutung. Die ersten Bühnen. Allein da oben. Allein daheim. Allein da oben. Allein da draußen. Allein. Nirgends kann man unter Menschen so gut allein sein wie in Berlin. Manchmal sah ich eine Claudia in einem Cafe, lachend, mit einem Fremden, um sie herum gläserne Vitrinen voller brennender Kerzen, ein Rosenteppich, livrierte Geiger. Unter den Shoppern, die sich über den Gehsteig schoben, die da, Claudia, eine Riesin, alle Passanten kopfhoch überragend, eine blutrote Federboa, vorbei. Claudia, eine Fantasie, ab und an ein Anruf, bis Messenger und Videocalls uns wieder nahebrachten. Es gab Tage, an denen ich den Bildschirm meines Handys streichelte, als wäre er Haut.

Ich hatte ein Bühnenstück geschrieben über die großen deutschen Sportler. Sie trafen sich zu Olympischen Spielen in Berlin. Die Szenen spielten in Umkleidekabinen, an Startblöcken, die Bühne verwandelte sich in ein Spielfeld. Bälle, Turnschuhe, Schläger als Requisiten. Leni Riefenstahl, Wim Wenders, Sönke Wortmann und eine TikTok-Influencerin liefen gemeinsam mit einer Kamera durch die Kulissen und drehten einen Film. Harry Valerien gab einen Sprecher aus dem Off, der sich manchmal zum Chor mit Werner Hansch und Sabine Töpperwien steigerte. Eine Handlung gab es auch. Startschuss, Hürden, Wassergraben, Nummerngirls, Zielband, Schlusspfiff. Ich hatte alles vor mir gesehen: Kanuten paddelten von links nach rechts, Radfahrer von rechts nach links, Diskusse und Dartpfeile schwirrten durch die Luft, von einer Rampe durch die Zuschauerränge hob ein Skispringer ab, landete im Telemark auf einer Empore, verwandelte sich in einen Turmspringer und plantschte zwischen die Wasserballetteusen. Plötzlich steht alles still. Kein Ton mehr, keine Bewegung, das Bild friert ein. In dem Moment wird die Champions League Hymne eingespielt, fadet über in die Eurovisionshymne, fadet über in die Olympiahymne, fadet über, als Krönung die Titelmelodie des Aktuellen Sportstudios. Zu dieser Musik liefen sie ein: Max Schmeling, Franz Beckenbauer, Erich Kühnhackl, Reinhold Messner, Bernhard Langer, Michael Schumacher, Dirk Nowitzki, Ulrike Meyfarth, Katja Seizinger, Steffi Graf, Franziska van Almsick, Katarina Witt. Sie schwenkten die Fahnen der 12 wichtigsten Bundesländer (Entscheidung des Regisseurs) und begannen mit dem Dialog. Szene für Szene, Akt für Akt entwickelte sich die Tragödie des deutschen Spitzensports. Aufstieg und Fall. Im Kern ging es mir um Doping. Um die Frage, wie das Doping der Sportler mit dem Saufen der Schriftsteller und den Drogen der Musiker und dem Vögeln der Bloggerinnen zu vergleichen war. Wo kam der Nachschub her? Warum trieb sie das an? Zu was beflügelte es sie? Wie machte es sie kaputt? Spitzensportler sind Top-Künstler, in von Massen gefeierten Ritualen holen auch sie das Göttliche vom Himmel und bereiten es für uns auf. Ihr Werk ihr Körper. Mit Schweiß bespritzt wie der Maler mit Farbe und der Schriftsteller mit Tinte. Schneller, höher, weiter als wir Normalsterbliche. Schöner, wahrer und besser. Das ist das Motto auf dem Rasen, im Ring und auf der Bühne. The show must go on. Dabeisein ist alles. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Siegertreppchen. Olymp. Nur dass es in der Kunst keinen Preis für Fair Play gibt. In der Kunst gibt es nicht mal Fairness. Ein völlig unbekannter Begriff in Museen. Ach, es wäre herrlich geworden. Aber kein Theater wollte das Stück haben. So zog ich weiter mit meiner Fantasie an einen anderen unwirklichen Ort und jetzt bin ich hier bei euch auf diesem schon vor Jahrzehnten verstorbenen Friedhof, mit seinen nicht barrierefreien Kieswegen und rutschigen Treppchen und rechtwinkligen Gassen und dem Unkraut und den Verbotsschildern und den verwitterten Inschriften und den Geistern der Toten, die einen mit eiskalten Fingern streicheln, wo die Socken aufhören und wo der Schal verrutscht ist und als hätten wir in einen dieser Eisgeister hineingefasst glühen unsere Fingerspitzen unter den Handschuhen vor Kälte.

Plötzlich, in einem Antiquariat in Mitte, ereilte mich im Sommer 2020 die Idee. Genau die blaue Suhrkamp-Ausgabe von Axel lag da auf einem 1 Euro Ramsch Stapel. Es gab Johnny Cash Musicals und Franz Kafka Comics, jetzt musste doch auch die Zeit für eine Siddhartha Tour gekommen sein. Also machte ich mich an einen Plan. Unter allgemeinem Gegrapsche nach Kopfbedeckung, Eschenstöcken, Degenscheiden, Zermatt-Alpenstöcken und was nicht sonst noch allem kaufte ich mir eine Lennon/Gandhi-Brille, einen Panamahut und setzte mich in den ICE nach Stuttgart. Auf nach Calw und Maulbronn. Es war nicht das erste Mal. Auf Tour sein war ein sehr alter Traum von mir. Ich denke, er geht bis in die früheste Kindheit zurück. Ritter, Cowboys, Piraten, Entdecker, Raumschiffkapitäne, Artisten, meine Helden waren alle immer unterwegs. Aber sie kamen nie hier in diesem gottverdammten oberbayrischen Kaff rechts vom Mare Crisium vorbei auf ihren Aventuren. Später dann die Bands, die Politiker, die Yogalehrer, die Unternehmensberater, die wirklich coolen Leute waren immer auf Tour. Jede Nacht eine andere Bühne. Tagsüber auf der Straße. Nur wer nichts aus seinem Leben gemacht hatte, der pendelte halt jeden Tag zwischen seiner Absteige und dem Arbeitsplatz. So wollte ich nie werden. Für Claudia war das jedoch genau das Lebensmodell. An einem Ort sein, zuhause, die Nachbarn kennen, die Straßen. Da war sie bei ihrem Hausgärtner gut aufgehoben. Ich wollte dagegen immer raus, los, weg, weiter.

Reise ins Du

Krishna. Haare. Ich fuhr noch zum Friseur, La Didel, am Marktplatz, erste Adresse in der Stadt, Waschen und Schneiden zwanzig Euro, mit Push & Pin 39 Euro. Sie waren gewachsen, um wild zu sein, aber jetzt mussten sie ab. Alte Zöpfe, immer weg damit. Hier auch ohne Termin. Dennoch musste ich lang warten. Im Spiegel dieser Mann, braune Jacke, hellblaue Krawatte, weißes Hemd, braune Längsstreifen, Clubkragen, ein herzförmiges Gesicht, braune Haare, schmale Lippen, Bleistiftbart, spitzes Kinn, eine auffällige gelbe Brille. Das bin ich also von vorn. Ich kenne mich nur von hinten, nackter Arsch in steiler Felswand. Im Hintergrund Gemurmel. Feurige Debatten über soziale Angelegenheiten und innere Politik. Eva schneidet Hajo. Horst wäscht Regina die Haare. Ehsan rasiert Karl-Josef, eine unerhörte Tat, gerade für einen Deutschen. Cristina föhnt Oliver. Marc an unbenamtem Silberhaar. Udo erzählt, er hätte seine Heimat am Fluss gefunden, seinem Freund und Lehrer, der Fluss des Lebens münde im tiefen, tiefen Ozean des Nirwana. Peter, den kenn ich noch von früher, ruft Volker vom Wartebänkchen aus zu, dass den Sinn für die Wahrheit und die intellektuelle Redlichkeit irgendeinem Interesse zu opfern, vor allem dem von Vater Land und Mutter Erde, Verrat wäre. Ich gebe ihm Recht. Vergiss Ampfing und Waxing und Sugaring, hier geht es nicht um Waden und Achseln und deinen Intimbereich. Hier geht es um deine Schädeldecke. Friseurarbeit ist Kopfarbeit. Dicke Borsten, feinste Härchen. Schnipp, schnapp, gerade noch ein lebender Teil von dir. Ab. Nachwachsen. Stopp. Und ab. Nachwachsen. Und abermals. Stopp. Nachwachsen. Und Abakus natürlich. Go.

Zwischenzeit

Mittendrin nahmen sie die Zwischenzeit. Wieder mal Letzter. Meine Haare zogen sich in meinen Kopf zurück. Mein Kopf sank durch den Hals in den Körper. Die Füße zogen sich von unten her ein. Der linke Arm von der Seite. Der Rumpf krempelte sich von unten her auf und verschwand in meinem rechten Arm. Der Arm zergrisselte, bis nur noch die Hand übrigblieb, die Finger lösten sich auf, alle, bis auf zwei, den Zeigefinger und den Mittelfinger, und die scrollten und klickten, und scrollten und klickten und scrollten und klickten. Ich zog in diese beiden Finger, und dann heiratete ich meine Maus. Die Maus fuhr mit ihrer Zunge durch das Labyrinth meiner Fingerabdrücke und fand auch nicht mehr raus. Wir reagierten gemeinsam auf Reize. Blinken. Pfeile. Richtige Platzierungen. Wo wir hinkamen, wartete das Glück. Wo wir gingen, verließen wir im Pech. Die Zwischenzeit zog sich. Summierte sich auf. Der Berg implodierte. Sehr viel Schwärze. Ich habe Ruße getan. Schwarzer Schnee. Zurück in der Sonne begann ich von Neuem. Bewährte Helfer. Glieder. Rumpf. Kopf. Nur die Haare. Die Haare blieben unter der Kopfhaut und stachen weiter ins Hirn. Sie schlugen tiefe Wurzeln, verästelten sich, saugten Nährstoffe und Wasser aus genau der Gegend, in der das Gehirn sonst Glück erzeugt. Es waren verdorrte Jahre. Aber dann kamen ja auch wieder blühende. Man kann es sich nicht aussuchen. Ihr wisst ja, wovon ich rede. Klimawandel und Rechtsrutsch. Diabetes und Gebärmutterkrebs. Als neulich das Inn-Hochwasser hier durchwütete. Der dauernde Fön. Es ist halt wie es ist. Oder man macht sich auf den Weg. Vorwärts, vorwärts. Weiter, immer weiter. Eine Schlange, ein Apfel, ein Mord. Raus aus der Hölle, rein ins Paradies. Dann kommst du zurück und stehst vor deinesgleichen, du starrst euch an, ihr starrt dich an, hochkomplexe Zusammenhänge, Paradoxien, Parodien, meine Paradedisziplin.

Hundert Jahre Siddhartha, das war der Marketing-Gag. 1922 war das Buch erschienen. Lange Zeit. Die zweiten 20er Jahre. Ich musste nicht nur seine Hauptfigur, sondern auch Hesse komplett neu erfinden. Ich musste selbst Siddhartha und Hermann werden. Das waren halt Midlife-Crisis-Bücher damals. Unsere Gesellschaft ist aber nicht mehr in der Midlife-Crisis, es gibt keine Übergänge mehr, keine Linien, nur Punkte, keine Schwellen, nur noch den Moment, das Ereignis, deine famous five minutes. Solche Helden, solche Schriftsteller wie damals gibt es nicht mehr, nicht die Verleger, nicht die Buchhandlungen, nicht die Leser. Die Boheme schon. Die Cafes waren immer voll. In Buenos Aires, Rom, im Quartier Latin. Und die Frauen in den Zwanzigern! Die Lebenshungrigen unter den jungen Frauen waren nach dem 1. Weltkrieg schön wie nie zuvor. Hungrig, selbstbewusst und lustvoll. Flapper. Voller Ekel vor den zum Krüppel zerbombten Psychowracks, die aus den Schützengräben heimkamen. München in einem sonnigen Frühjahr. Der Starnberger See. Wir gingen weiter zum Hofgarten, tranken Kaffee, redeten eine Stunde. Die Tür geht auf, zwei dieser neuen Wunderwesen in hochgeschlossenen Baumwoll-Kleidern setzten sich braungebrannt an meinen Tisch, und ohne die Hornbrillen abzulegen knutschen sie erstmal unter ihren Cloches, bis der verwirrte Kellner aus der alten Zeit die bestellten Sours bringt. Sie lachen laut. Sie rauchen laut. Jazz. So ist es heute immer noch, in Berlin zumindest, helle Acetatbrillen, Gin, Minimalist Tattoos. Sensationelle Frauen, voller Ekel vor den Psychowracks aus den Kriegen zwischen den Konzernen und den Startups und den Beratungen und den Behörden und den Redaktionen und den fundraisenden NGOs, vor den Amputationen auf Twitter, dem Wundbrand auf Facebook. Faszinierende Frauen, voller Heilkunst und Power. Dieser Wille zur Nacht. Ohne Interesse an mir.