Zwei Streifen Blau - Martin Wimmer - E-Book

Zwei Streifen Blau E-Book

Martin Wimmer

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Erotik
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

In der bayrischen Provinz. Lehrerin Tina muss den Vater ihres ungeliebten Sohns ausfindig machen. Nicht einfach, denn es gibt gleich drei Kandidaten, aber letztlich erfolgreich: Nach allerhand Verwicklungen befreit sie sich aus ihrem eingeengten Leben. Neue beste Freundinnen, berufliche Herausforderungen sowie viel guter Sex warten auf sie. Tina findet zu ihrer eigenen Stimme und schreibt sich in einen wortgewaltigen Liebesrausch. Ein erotischer, wütender, sprachbesessener Unterhaltungsroman mit literarischem Anspruch über die Emanzipation einer jungen Frau, in dem Männer und Kinder nicht gut wegkommen.

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Seitenzahl: 214

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Zwei Streifen Blau

Meine Freiheit,

keine Kinder,

viele Männer

Roman

von Martin Wimmer

Alle Rechte vorbehalten.

Erste Auflage 2019.

Impressum / Copyright

Martin Wimmer

10119 [email protected]

Druck

epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Die Brust zieht, die Periode kommt nicht und ich hab schlechte Laune. Wieder monatelang nicht schlafen also? Hat es wieder so ein Ohrwuzler geschafft, und ich muss es ausbaden, austragen, aufsagen? Was soll ich diesmal nur tun? Ich will das nicht. Ihr seid schuld. Sobald ich auf einen Mann stoße, bekomme ich Lust, und dann folgt diese Wut im Bauch. Kann man denn nicht ein einziges Mal einfach nur mal zwei Minuten glücklich sein im Leben? Im Hier und Jetzt leben, ha. Was bedeutet das noch mit heruntergelassener Hose auf dem Klo, ungläubig das Stäbchen mit den zwei blauen Streifen in der Hand? Wird ein schönes, freies Leben denn grundsätzlich bestraft? Wie lange so ein Jetzt wohl dauert? 18 Jahre, neun Monate, einen Zyklus, eine Seite? Wann es wohl anfing, euer Jetzt? Keiner hat je von vorn angefangen. Jo wird sterbenskrank, Heinz verrät das Ergebnis des Vaterschaftstests an Anton, Matti redet Bullshit, Fred lernt Louise kennen, Robis Zeitungsartikel, Gerd kriegt doch mal einen hoch? Wenn jemand schon Lu-hu-hi-sä heißt. Wo fängt es an? Und wo ist denn schon Hier, in diesem fensterlosen Altbaubad, in eurer Geldstadt ohne Herz, in diesem westeuropäischen Kulturkreis, der Männer zu Vätern oder Heiligen und eine Frau zur Mutter oder Mörderin macht? Nur ausgedachte Geschichten haben einen Anfang und ein Ende. Jetzt und hier ist immer nur Dazwischen. Wir leben alle immer nur weiter. Dazwischen: Eine verzweifelte 32-jährige geschiedene arbeitslose Ex-Lehrerin, die aufgrund einer Östrogenstörung und einem natürlich verhütenden Mann keine Kinder mehr bekommen kann. Hast du das gehört, blöder Bauch, ich kann gar keine Kinder mehr bekommen. Wieder Schokolade fressen und Pickel bekommen? Echt nicht. Diesmal sollen die Männer nicht mehr das Lachen haben. Am meisten wird schließlich immer noch über Männer gelacht. Armselige Geschöpfe. Ich geb euch das verdammte Ding zurück.

Aber von vorn. Naja, ab durch die Mitte. Aus dem Bauch.

„Drei? Drei???“ Ich konnte ihn ja verstehen. „Drei!!! Zwei ist sozusagen normal, deshalb gibt es ja Vaterschaftstests, aber drei Proben?! Hast du den Verstand verloren?“

Heinz war damals zwar mein Arzt, aber wenn Mama je auf den Gedanken eines Vaterschaftstests wegen mir kommen hätte müssen, wäre der Gustlbayerhammerige Herr mit den Sinatra-CDs auf dem Fensterbrett neben Dad einst erster Kandidat gewesen. Er hat mir noch vor meiner Mutter in die Augen geschaut, er hat meine Masern kuriert, er hat mir die erste Pille verschrieben, meine erste und einzige Abtreibung persönlich durchgeführt - und jetzt das.

„Tina, bitte. Das soll doch wohl ein Witz sein?“ Wart nur auf die Pointe, Heinz, kommt gleich. „Wie willst du das denn Anton erklären?“

„Anton werden weder ich noch du das jemals erklären, weil er das natürlich nie erfahren darf.“ Natürlich hat mein lieber Ex-Ehemann es dann trotzdem erfahren. Heinz ist nun mal sein bester Freund bei uns im Dorf. Und Männer müssen doch zusammenhalten!

„Sag mir lieber, was ich jetzt brauche. Blut, Urin, Sperma?“

„Du solltest lieber von dir mal eine Hormonprobe nehmen lassen. Das gibt’s doch nicht. Drei. Das kannst du doch nicht machen.“

Es ist immer tröstlich, in einer Verzweiflung nicht allein zu sein. Heinz’ ziellosem Blick auf die Praxisjalousien nach zu urteilen war er mindestens so fassungslos wie ich es war, als ich das Krankenhaus verlassen hatte. Eine seltene Entzündung des Knochenmarks hatte bei Jo zu hohem Fieber und einer Fehlfunktion der Nieren geführt. Das ist deshalb an dieser Stelle erwähnenswert, weil unser geschätzter Facharzt Heinz ursprünglich auch das Blut in Jos Urin auf „Er kriegt seine Zähne, da ist das ganz normal“ zurückgeführt hatte. Geht aber ruhig weiter zu ihm, er ist dafür recht einfühlsam und ein wunderbarer Mitleider. Im Krankenhaus waren sie dann nach eingehenden Untersuchungen einer etwas überlebenssichernderen Meinung und erwogen als Therapie eine Knochenmark-Transplantation. Für den Ernstfall wäre der Idealspender der Vater gewesen, der, wie zu diesem Zeitpunkt nur ich wusste, nicht nur Anton hätte sein können. Ob er es war, musste ich nun rauskriegen. Und zwar schnell. Und dafür brauchte ich Heinz.

„Es gibt also drei mögliche Väter? Das heißt“, hier kommt der wissenschaftlich und lebenspraktisch geschulte Mediziner durch, der stolz darauf ist, noch mehr in Fachbücher als in Tageszeitungen zu lesen, „Du hattest mit drei Männern, mit drei unterschiedlichen Männern innerhalb der fraglichen Tage Geschlechtsverkehr? Ganz sicher?“

„Einem.“

„Wieso willst du dann drei Proben untersuchen lassen, wenn’s nur ein Mann war?“

Mit der nächsten Antwort konnte ich viel von meiner Verzweiflung auf seine Schultern abladen, es ist eine sehr erleichternde Antwort. „Es waren drei Männer, Heinz, aber es war nur ein Tag, sogar nur achtzehn Stunden, wenn du es genau wissen willst.“

Als ich die Praxis verließ, fühlte ich mich bei weitem wohler als beim Kommen. Wir hatten vereinbart, dass ich die Proben von Matti und dem dritten möglichst schnell ranschaffe. Zwei Tage später würde der Befund da sein und ich würde wissen, wer in der Genspende für mein verabscheutes Knuddelbärchen das Rennen gemacht hatte. Ob es mehr ändern würde als den Umschlag von Ungewissheit in Sicherheit? Für Jo jedenfalls. Im Moment hatte er zumindest einen Vater, der ihn liebt. In einer Woche konnte das schon ganz anders aussehen.

Als erster war Wini dran. Noch im Auto, wofür gibt es Handys, mal schauen, was der sagen würde nach all der Zeit.

„Netkokett AG, Schleggel, was kann ich für Sie tun?“ Seine Dienstnummer also. Und der Name der Firma stimmt, darf man jetzt ruhig sagen, weil sie ohnehin pleitegingen. Sorry, natürlich Impotenz anmeldeten, oder wie immer das heißt. Und Schleggel, na ja, so will man auch nicht heißen müssen.

Eine fremde Stimme, die ich nicht erinnere. Ich kenne Wini nur hauchend, säuselnd und dann hechelnd, stöhnend. In Spielfilmen wird der Umstand, dass sich flüsternde Stimmen alle gleich anhören, gern für Komödien oder Krimis ausgebeutet.

„Bist du Wini?“

Im Bett hilft uns das vielleicht, die Nähe einer Person zu ertragen, indem wir ihn uns austauschbar machen, wieder zu irgendjemand machen wie durch das Schließen der Augen beim Küssen oder das Ausmachen des Lichts beim Sex.

„Höchstselber. Und mit wem Hübsches habe ich das Vergnügen?“

Oh Mann. „Tina, Tina aus Freising. Das Stichwort ist Massing, das Bauernhofmuseum. Vor zwei Jahren.“

„Oh, hi, Tina? Was kann ich für dich tun, Tina aus Freising?“

Das Tina klingt nach „groß oder klein? blond oder braun? einmal oder zweimal? wo zum Teufel ist Freising?“ Er hat keine Ahnung, wer ich bin. Neugier und Lust auf ein nettes Gespräch fingen schnell an, mir zu vergehen. „Du könntest mir eine Blutprobe schicken. Ich habe ein Kind und du könntest der Vater sein.“

„Kann ich nicht. Tschüss“ und legt auf.

Ist das möglich? Ich rufe jemand an, um ihm zu sagen, dass er vielleicht Vater eines lebendigen Kindes ist, und er legt einfach auf. Das wollen wir doch mal sehen. Wahlwiederholung.

„Hör mal, Wini aus Starnberg, schwing dich gefälligst zum Arzt und lass dir Blut abnehmen, sonst zapf ich höchstpersönlich dich an.“

Warum tu ich das? Wo ist meine Selbstachtung geblieben? Es passt überhaupt nicht zu mir, noch mal anzurufen. Und woher kommt diese Sprache? Ich klinge nach Brigitte-Dossier und es sollte doch eine ernstgemeinte Drohung sein.

„Wenn du die bist, für die ich dich halte, verstehst du durchaus was vom Anzapfen.“ Haha, du Vollidiot. „Nein, im Ernst, Tina aus Freising, hast dir nen verdammt ungünstigen Moment ausgesucht für so nen Spaß.“ Er wird leiser, duckt sich hörbar in den Hörer. „Hör mal, ich heirate am Wochenende hier am See. Und ich werd mir die Partie meines Lebens nicht versauen lassen von irgendeiner durchgeknallten Partyschickse.“ Zurück aufrecht am Schreibtisch. „Und jetzt tschüß.“

Panik. „Wart noch einen Satz, hey, hörst du mich, hey, ein Satz.“ Ich schreie ihn zurück.

„Ein Satz.“ Gnädiger Herr.

Tief durchatmen. Konzentrieren. „Mein Sohn ist krank. Er braucht einen Spender. Und du bist vielleicht der einzige, der ihm helfen kann. Eine Spermaprobe tät es auch, wenn dir das leichter fällt, dazu brauchst du nicht mal einen Arzt. Ich will kein Geld. Ich will, dass mein Kind überlebt. Vielleicht deines.“

Kurzes Schweigen.

„Er heißt Jo.“

„Das waren fünf Sätze. Ruf nicht mehr an.“ Biep.

Dafür verachte ich dich so, Wini aus Starnberg, du beschissener prototypischer spaßfickender Mann. Ich habe nie in meinem Leben jemand gehasst. Aber diese Hilflosigkeit gegenüber dieser unverfrorenen männlichen Unmoralität bringt mich heute noch aus dem Gleichgewicht. Ich war so voller Frust und so völlig konsterniert und so hilflos und so angewidert und voller Scham, dass ich jemals mit diesem Schwein im Bett gelandet war.

Ich hielt mit dem Auto am Straßenrand und sinnierte vor mich hin. Was konnte ich schon tun? Die Polizei um Hilfe bitten und einen Staatsanwalt um eine einstweilige Verfügung anbetteln? Oder einen zu alles bereiten Privatdetektiv einschalten, um ihm seine kleine Spende mit dem Messer in der Hand abnehmen zu lassen? Was konnte ich schon tun? All diese Autos, die an mir vorbeifuhren. Ein Kleinstadtwochentagnachmittag. Auf dem Weg zum Metzger, zum Arzt, zum Kindergarten. Ich nahm mein Handy und blätterte die Einträge von A bis Z durch, wen ich anrufen könnte. Die engen Freunde schieden alle aus. Claudi, die mir nur mit irgendeinem moralischen Gesülze gekommen wäre. Heinz, was hätte er wohl gesagt, wenn ich ihm erzählt hätte, was für ein Tier sein Patenkind vielleicht zum Vater hat? Matti, der sich genauso betrogen gefühlt hätte, wie ich Anton mit ihm betrog. Ich blätterte weiter, und ich fand niemand, bis ich ganz hinten wieder über ihn stieß: Wini, Starnberg, eine Nummer. Mehr nicht. Kein Nachname. Eine Nummer. Mehr war es nicht, wir hatten nur eine Nummer geschoben. Dieser Typ konnte einfach nicht der Vater von Jo sein.

Ich war mir so sicher in diesem Moment. Plötzlich war die Erinnerung wieder da. Wie wenn man betrunken auf einer Partycouch eingeschlafen ist und durch das Schlagen einer Haustür ernüchtert aufwacht und plötzlich weiß, dass der, der eben gegangen ist, noch vor zwei Minuten neben einem lag. Ich war nach 20 Monaten auf einen Schlag nüchtern geworden. Die Schleier des schönen Rauschs lichteten sich, die Augen waren nicht mehr langsamer als der Kopf.

Ganz nah war er vor mir, schwer atmend, pumpend, hohl, leer, woanders. Leere Augen, die ins Nichts blickten, die aus Nichts blickten. Ein Blick, der aus dem Nichts kam, nicht einmal aus einer Lust, aus keinem Instinkt, aus keinem Tier. Es war gar kein Blick, keine Augen. Es waren weggeworfene blinde stumpfe staubige Murmeln, billige bedeutungslose himmelblaue Glaskugeln. Zu große Nasenlöcher mit solariumszerbrannten bebenden Wänden, die sich sinnlos blähten, wie außer Kontrolle geratene Roboterteile mechanisch zuckten. Und da war ein offener hechelnder trockener Mund mit einer am Mundwinkel festgeklebten Zunge, aus dem es nach Bier stank und dessen Lippen zusammenhanglos schief nicht zueinanderfanden. All das in Großeinstellung, Nahaufnahme, Ekel.

Ich werde nie wieder so eine widerwärtige Fratze ertragen können, nie wieder diesen Ausdruck männlicher Normalität. Ich will nie wieder Sex mit einem Mann haben, wenn ich daran zurückdenke. Wenn mir je wieder einer eine so weggetretene Fresse präsentiert, im Bett, beim Essen am Tisch gegenüber oder in der U-Bahn oder wo immer, ich schwöre, ich werde dich anspucken, ja anspucken ist demütigend, anspucken ist genau das richtige Niveau für euch spermaspuckende Lamas. Ich war so sicher, aber ich hatte keine Wahl. Vielleicht kam meine Aversion gegen Jo ja doch daher, dass dieses Vieh sich in mir breit gemacht hatte? Vielleicht war es ja doch nicht die Schuld von Jo, sondern die seines Vaters: Schwein Wini aus Starnberg?

Vielleicht sollte ich vorher doch erst mal erklären, wie es zu der ganzen Chose gekommen war. Und wer wer ist. Einfachheitshalber fange ich jetzt mal mit dem Stand an, wie er damals war, Anfang 95: ich habe also im Moment einen Mann, Anton, und einen Freund, Liebhaber, Gefährten: Matti. Dazu kommen ab und zu wechselnde Männer, die einfach nur neue Männer sind. Manchmal als Mann für Sex, manchmal als Mann zum Reden, manchmal als Mann zum Selbstbestätigen, neue Leute kennenlernen, in eine neue Welt eintauchen - es gibt viele Gründe, mit der anderen Hälfte der Menschheit in näheren Kontakt zu treten.

Wini war so ein neuer Mann gewesen. Ein klassischer one night stand. Besoffen, in einem Hotelbett. Die ganze Wer-sich-fortbildet-wird-schneller-befördert-Meute hatte ihn sich bei diesem todlangweiligen Lehrerinnen-Ausflug ins Bauernhofmuseum ausgeguckt und ich hatte ihn gekriegt. Pyrrhus. Bei Schweinsbraten mit Chianti in der örtlichen Wirtschaft saß er mit Geschäftsfreunden am Nachbartisch, ein schnuckeliger dunkelhaariger Typ, der auch als Franzose durchgegangen wäre. Wir kamen ins Gespräch, wir kamen ins Bett, wie das halt so ist.

Unser Fortbildungsleiter, einer von der konservativ-humanistischen Fraktion, hatte die romantische Vorstellung, wir Junglehrerinnen würden wie die Schülerinnen bei den Klassenausflügen die Nacht miteinander auf den Zimmern verbringen und tratschen und uns besser kennenlernen. Er hatte dabei allerdings leicht übersehen, dass wir alle von der langatmigen Führung durchs Museum leicht angenervt waren und von seiner durchschaubaren Absicht sehr angenervt, weil wir im Konkurrenzdruck um den besten Schnitt standen und uns gar nicht kennenlernen wollten, und dass wir fast alle zwischen 25 und 30 waren und Männer und Kindern zuhause sitzen hatten, mit denen wir vor dem Einschlafen noch mal eine Stunde Kontrollanrufe abzuwickeln hatten.

Meine Abmeldung bekam Anton schon auf Winis Bettkante über Winis Hotelzimmertelefon und ahnte nichts davon, dass ein Wini während des Telefonats schon dabei war, mir Schuhe, Socken, Hose und Unterhose auszuziehen und seine Hand und seine Lippen an meinem Schenkel aufwärts gleiten zu lassen. Aber das weiß nie jemand, was wirklich vorgeht, während der andere telefoniert, was vor dem Anruf war, was danach sein wird. Das Telefon gibt einem eine Scheinsicherheit, doch man hört nur das, was einem nicht verschwiegen wird. Ich glaube, dass nirgends so viel verschwiegen und gelogen wird wie am Telefon. Auch bei Wini hat es geklingelt, Handy, hallo Schatz, kein Empfang, Funkloch, bin im Funkloch. Er war in mir. Im Funkloch. Was haben wir gelacht.

Ich hätte Wini vergessen, er hätte keinen Platz in meiner Erinnerung eingenommen, wenn ich nicht kurz darauf erfahren hätte, dass ich schwanger bin. Das hat die Nacht mit ihm immer wieder mal kurz hochgespült, wichtig für mich war er aber nie. Und das bist du jetzt auch nicht, Wini aus Starnberg, trotz der Träume, die ich in dieser Nacht hatte, und in manchen Nächten seither. Ich wachte auf mit der Wut auf seine Unverfrorenheit. Ich wollte das nicht auf mir sitzen lassen. Und so bin ich nach Starnberg gefahren am nächsten Vormittag.

Was einen so alles zur Spontaneität zwingen kann. Offiziell war ich diesmal zu einer halbtägigen stationären Voruntersuchung im Klinikum Großhadern. In Sachen Ausreden und Alibis bin ich in den letzten Jahren ja Profi geworden. Heinz deckte damit meinen angeblichen Besuch bei Matti, um die Probe abzuholen. Matti würde der nächste sein. Das sollte einfacher werden. Von Wini hatte ich ihm nichts erzählt, auf Matti war es selbst gekommen. Sein zweiter Tipp Mischa war ja auch nicht schlecht, also ließ ich ihn im Glauben. Betrogene Betrüger, keine zwei Worte gehören so oft zusammen.

Eine ewig lange S-Bahn-Fahrt von einer Endstation zur anderen, mit dem heulenden Kleinen im Arm, der noch zu klein war, um das Faszinosum des Ausflugmachens wenigstens einmal mit einer Nicht-Stink-Stunde würdigen zu können, inmitten der Geschäftsleute in ihrem Chemische-Reinigung-Anzuggeruch fast eine Wohltat. Ein kurzer Fußmarsch in die Computerfirma, bei der Mister Wini arbeitete. Ein Hochglanz-Folder erklärte mir, dass Inkubator ein neuökonomischer Ausdruck für Mutter ist und Väter jetzt Business Angels heißen. Oder so. Was interessiert das schon eine Lehrerin vom Land.

Auf der Sitzecke in der Lobby unzählige Male derselbe Warte-Dialog über den Regen, dann kam endlich 12.30 Uhr. Wenn alle Beben so vorhersagbar wären wie Mittagspausen. Netkokett erreichte Neun Komma Fünf auf der offenen Drehtürskala. Ich erkannte ihn sofort an dem offen über der Hose getragenen Hemd, das ihm schon damals so gut gestanden hatte. Im Vorbeigehen tätschelte er ein paar Mädels, und alle lachen ihn an. Er sah gut aus, er sah aus wie ein typisches Marketingschwein, auf das nur eine Idiotin wie ich hatte reinfallen können. Mein Plan war, ihn auf dem Weg zum Mittagessen aus der Mitte seiner Arbeitskollegen raus zu kompromittieren. Aber siehe da, Mister Wini war Einzelgänger, warf den Mädels Handküsse zum Abschied zu und ging Richtung S-Bahn.

Ich folgte ihm durch das Nieseln auf den Bahnsteig, wartete im Gedränge neben ihm auf die Bahn, stieg mit ihm ein und kämpfte mich mit Jo genau ihm gegenüber auf die Bank. Langsam fuhr ich ihm mit meinen schmutzigen Sohlen über seinen Lack. Kurz streiften sich unsere Blicke, dann sah er mir auf die Titten, Jo nahm er nicht wahr. Er erkannte mich nicht. Warum auch, wahrscheinlich würde er mich nur erkennen, wenn ich mein Hemd ohne Hose tragen würde. Als er eine Zeitung aus seinem Koffer nahm und den Wirtschaftsteil über den Koffer breitete, setzte ich ihm einfach Jo mittendrauf.

„Komm Jo“, flötete ich, „sag hallo zu deinem Papi, wo wir ihn doch schon mal treffen. Schau, das ist dein Papi Wini aus Starnberg.“

Wir sahen uns prüfend in die Augen. Die mittelalte Dame rechts von mir sah verständnislos auf Jo und fasste vorsichtshalber mal ihre Einkaufstüten etwas fester, für den Schüler neben Wini hatte das alles angesichts seines Mega-Multi-Funktions-Smartphones keine Bedeutung.

„Wieviel willst du?“ Als Jo mit seinen unbeholfenen Händen auf Winis Gesicht zufuchtelte, schob er ihn ein Stück zurück und faltete seine Zeitung so, dass sie einen Schutzwall zwischen dem schmalen Babykopf und seiner durchtrainierten Brust bildete.

„Irgendwas zwischen zwei Milliliter und einem Reagenzglas voll. Was du halt so drauf hast.“ Himmelblaue Murmeln.

„Sag mal, meinst du wirklich mich? Ich kann mich beim besten Willen nicht an dich erinnern. Und ich hab seit deinem Anruf wirklich die Top 50 Revue passieren lassen.“

Die mittelalte Dame wechselte sich mit einem mitteljungen Mädchen ab, das sechs Stationen, einen Wini und einen Mr. Smartphone Jr. später vermutlich beschlossen hatte, niemals Söhne zu bekommen. Ich machte meinem Marketinglover unmissverständlich klar, dass er zwei ungebetene Hochzeitsgäste haben würde, wenn er nicht sputete, und dass er seine Chancen, das zu verhindern, immerhin auf 1:3 verbessern konnte.

„Coole Einlage. Eine hysterische Mama und ihr stinkendes Baby.“

„Würde dafür sprechen, dass du der Vater bist.“

Schließlich stiegen wir am Hauptbahnhof aus und er verschwand mit mir in einer der Herrentoiletten, in denen Frauenbesuch offensichtlich nichts allzu Beunruhigendes war. „Kommst du mit rein?“, fragte er grinsend, die Kabinentür in der Hand, „Beim Arzt bekommt man auch immer Wichsvorlagen.“

Er machte das mitgebrachte Döschen voll, während ich mit Jo draußen wartete. Es dauerte nicht einmal lange. Er konnte sogar in so einer Situation. Männer. Mir hätte man da mit zwei Bulldogs die Beine auseinanderziehen müssen und ich hätte immer noch gezwickt. Er übergab es mir grußlos, mit einem letzten Blick an Jo vorbei, und verschwand. „Du siehst mich nicht wieder“, rief ich ihm nach, ganz still, so dass niemand es hören konnte. Die ganze Rückfahrt über rief ich es ihm nach.

Falls eine von euch einen dunkelhaarigen Internet-Marketing-Wini aus Starnberg am zweiten März-Wochenende 2007 geheiratet hat, weißt du nun Bescheid. Das bisschen Wahrheit - ausgesprochen vor anderen, macht sie Beziehungen doch gleich viel weniger kompliziert.

Warum ich so wütend bin, so verbittert, so unerbittlich? Mir reicht es einfach, diese verlogene Art, wie wir mit uns umgehen, alle wie ihr da sitzt mit dem Buch in der Hand. Die Geheimnistuerei, das Hintenrumgerede, die Selbst-und-anderen-was-Vormacherei. Ich bringe uns jetzt alle auf den gleichen Stand der Dinge, auf den der Wahrheit. Und dann schauen wir mal weiter.

Ein paar Worte haben so eine Macht über Menschen. Wegen Worten hat man Menschen hingerichtet und Völker ausgerottet. Oh, ich sehe schon verängstigte Gesichter. Zu Recht, wundert mich gar nicht, aber macht euch keine Sorgen, ich kann ja nur meine Wahrheit erzählen, das was ihr wo anders mit wem anders treibt, das kommt heute ja nicht mal auf den Tisch. Euch bleiben heute noch genug Geheimnisse.

Mir nicht, ich erzähle euch hier Tina, tutti completti. Ich zeichne euch ein kleines Spinnennetz mit mir in der Mitte und Fäden zu jedem von euch. Mein Muster ist ein ganz anderes als eures. Weil jeder von uns anders spinnt. Und indem ich euch mein Netz beschreibe, zerreiße ich es.

Ab morgen hänge ich erst mal an einem langen Faden in der Luft. Ab morgen fangen wir ganz von neu an, an unseren Lebensfäden zu ziehen, unsere Beziehungen zu Knoten zu verdichten und uns ganz neu ins Netz gehen. Schauen wir mal, wer die Wahrheit aushält. Wer mit seinem Leben so im Reinen ist, dass ihm die Wahrheit nichts anhaben kann.

Aber ich wollte euch ja erzählen, wie Matti die Nachricht vom Väter-Triple aufgenommen hatte. Alle schlechten Dinge. Matti hatte mit der Möglichkeit einer Vaterschaft für Jo immer schon kokettiert. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich ihn als Onkel Matthias ins Leben von Jo einbinden sollen. Aber wie so oft ging es nicht nach ihm.

Ich war oft sehr ungerecht zu Matti. Gutherzige Männer, die einen bedingungslos lieben, verführen dazu, sie auszunutzen, ihnen nicht mit dem gebührenden Respekt zu begegnen. Matti hat mal behauptet, ich hätte ihn als meinen Gefährten durchweg mit weniger Rücksichtnahme behandelt, als ich mir das bei einem wildfremden Menschen auf der Straße erlauben würde.

Sorry, Matti, sorry, aber so wie du der perfekte Liebhaber warst, so bist du der perfekte Freund. Und das ist alles so langweilig, Matti. Deshalb wird es immer einen geben, der ein gleichberechtigterer Partner sein wird. Der beste Freund. Ich weiß, wie sehr du das hasst, aber das bist du, Matti, weil niemand erdulden kann wie du, wegstecken, zurückziehen. Weil niemand sich mit den kleinen Zeichen der Liebe so zufriedengibt, mit einem Kuss hier und einem sanften Wort da. Aber du bist nicht der Mann für die große Liebe. Und weißt du, was ich nie rausgekriegt hab: ob jemand wie du besonders viel Liebe braucht, und deshalb wie ein dürstender Verschütteter Kondenswasser von der Wand leckt. Oder ob ihr besonders wenig Liebe braucht, ob ihr das alles gar nicht versteht, nicht damit umgehen könnt, ob ihr in der Liebe Verirrte seid, die eigentlich nach etwas ganz anderem suchen. Ob ihr nicht eher Dürstende im Meer seid, und Nichtschwimmer dazu.

Ich rief ihn am Morgen nach meinem Starnberg-Trip an und traf mich mit ihm in einem unserer alten Schwabinger Studenten-Cafes in München zum Frühstück. Wir passten beide nicht mehr zwischen diese jungen, unbeschwerten, dummen Menschen, deren Gesprächsinhalt über die heiligen drei Ps nicht hinauskam: der Prof, die Prüfung, das Poppen. Nicht ich mit meinem Kinderwagen, nicht Matti mit seiner gequälten Stirn. Poppen, allein das Wort zeichnete sie schon als jung aus, und uns als alt. Wir hatten gevögelt, hauptsächlich gefickt, manchmal auch gebumst. Mattis Wort war stempeln. Anton Langweilig wollte mit mir immer schlafen, klatschen benutzte er nur am Stammtisch, einen Hasen überfahren hielt er für einen Witz. Aber diese Mädels und Jungs um uns herum poppten, ihre Vorstellung vom Erobern und Sichhingeben entsprach dem Geräusch beim Öffnen von Chipspackungen.

„Tina: sprich zu mir. Was ist los?“

„Weißt du, was passiert, wenn man zuviel poppt?“

„Man beginnt auszusehen wie der Keyboarder von Barclay James Harvest?“ Den Bay City Rollers. Britney Spears. Je nach Generation.

„Einen Tipp hast du noch.“

„Man reibt sich einen Wolf?“

„Man wird irgendwann schwanger?“

Matti lehnte sich weit zurück und schaute eine Weile aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Studentenpulks. Er war keiner mehr von ihnen. Er ähnelte jetzt mehr den Professoren mit ihren Aktenkoffern als den Rucksackträgern. Sein Mund zuckte, wie immer, wenn er erregt war. Und ich hatte Matti verdammt oft erregt erlebt, so oder so. Ich liebte Matti nicht vom ersten Tag an, es wuchs über viele Jahre, es war nicht plötzlich da, ich erkannte es nur plötzlich, und ich liebe dich auch heute noch. Ich liebe die verstreuten grauen Borsten, die widerborstig und gerade aus seinen glatten kurzen Haaren hervorstehen, ich liebe seine ängstlichen Augen und anderes mehr, aber mehr als alles andere liebe ich seinen zuckenden Mund. Seine Hand griff in die Sakkotasche und fischte eine Packung Zigaretten hervor.

„Du bist wieder schwanger?“ Er nahm eine Zigarette aus der Packung, steckte sie aber, plötzlich erinnernd, demonstrativ wieder zurück. Dann kamen seine Augen zurück zu mir, die fragenden weit offenen flussgrünen Augen, die ihre Ufer hoch schoben in die gewellte Stirn, noch gemarterter als sonst.

„Nicht wieder, sondern noch mal. In gewissem Sinn bin ich noch mal mit Jo schwanger. Und vielleicht bist diesmal du der Vater, Onkel Matthias. Kann ich eine Zigarette haben?“

Ich erklärte ihm, was los war. Ich erzählte ihm auch von Wini, Wini im Bauernhofmuseumsdorfhotel, Wini in der Bahnhofstoilette am Hauptbahnhof. Und Matti war wieder ein guter Freund. Diesmal war ich sogar froh, es wäre lästig gewesen, wenn er gerade jetzt ausgetickt wäre.

Matti ging brav zum Arzt, ließ mir die Blutprobe zukommen und schrieb mir einen vierseitigen Brief, dass er im Fall des Falles selbstverständlich ein guter Papa sein wolle. Ach Matti, wenn du nicht so armselig wärst, du wärst der Traum jeder kleinen Lehrerin, wie du sie dir vorstellst. Nur: ich bin keine. Nicht mehr.