Sie dürfen den Nachbarn jetzt küssen - Julie James - E-Book

Sie dürfen den Nachbarn jetzt küssen E-Book

Julie James

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Beschreibung

Scheidungsanwältin Victoria Slade hat zwar schon genug hässliche Trennungen mitangesehen, um zu wissen, dass sie niemals heiraten will - aber nicht genug, um den Männern per se abzuschwören. Nur ihr neuer Nachbar Ford Dixon ist absolut tabu für sie, seit der atemberaubend attraktive Journalist sie in einem Fall um Unterstützung bat. Dass Ford die Suche nach der großen Liebe ebenfalls längst aufgegeben hat, kommt da gerade recht. Doch je mehr Zeit Victoria mit ihm verbringt, desto deutlicher spürt sie, dass ausgerechnet derjenige, der Gefühlen gegenüber genauso skeptisch ist wie sie, vielleicht der Mann fürs Leben sein könnte ...

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Inhalt

TitelZu diesem BuchWidmungProlog1234567891011121314151617181920212223242526272829303132EpilogDanksagungDie AutorinDie Romane von Julie James bei LYXLeseprobeImpressum

JULIE JAMES

Sie dürfen den Nachbarn jetzt küssen

Roman

Ins Deutsche übertragen von Stephanie Pannen

Zu diesem Buch

Victoria Slade ist erfolgreiche Scheidungsanwältin und hat so manchen Ehestreit miterlebt. Aus diesem Grund macht sie sich keine Illusionen über die Liebe und genießt lieber ihr Leben, als auf den Richtigen zu warten. Bei ihrem neuen Nachbar Ford scheint das Singleleben allerdings deutlich besser zu laufen als bei ihr: Schon in der ersten Nacht reißen sie laute Geräusche aus ihrer wohlverdienten Ruhe. Offenbar geben sich bei ihm die Frauen die Klinke in die Hand. Unweigerlich kriegen sich Victoria und der attraktive Journalist bei ihrem ersten Kennenlernen in die Haare – und beide lassen keinen Zweifel daran, was sie voneinander halten. Victoria ist daher alles andere als begeistert, als Ford ihre Hilfe für einen Fall in Anspruch nehmen will, nimmt den Auftrag aber zähneknirschend an. Doch je mehr Zeit sie mit Ford verbringt, desto klarer wird ihr, dass der Mann, der der Liebe ebenso skeptisch gegenübersteht wie sie, es vielleicht wert sein könnte, ihr Herz zu riskieren.

Für Mr James

Prolog

Auch wenn die Leute oft sagten, eine Scheidung sei eine unangenehme Angelegenheit, sah Victoria Slade das ein wenig anders. Wenn die Mandanten das erste Mal in ihrem Büro standen, war es normalerweise die Ehe, die unangenehm geworden war. Die Scheidung war einfach nur der Teil, bei dem die Wahrheit ans Licht kam.

Victoria befand sich in einem Taxi auf dem Weg zu ihrem Stadthaus im nördlichen Teil Chicagos. Sie lehnte sich zurück und dachte an den Fall, den sie heute abgeschlossen hatte. Ihre Mandantin, eine fünfundvierzigjährige Hausfrau und Mutter, war drei Monate zuvor aus allen Wolken gefallen, als sie nach vierzehn Jahren Ehe einen Scheidungsantrag ihres Mannes in die Hand gedrückt bekam. Laut den Bedingungen ihres Ehevertrags hatte Victorias Mandantin kein Anrecht auf das beträchtliche Unternehmensimperium, das ihr Gatte während ihrer Ehe als einer der erfolgreichsten Fernsehköche aufgebaut hatte. Bei den drei lukrativen Restaurants, den beliebten Kochbüchern und dem Einkommen aus seinen Kochshows handelte es sich laut Ehevertrag um »Sondervermögen«. Damit war es im Fall einer Scheidung für seine Frau unerreichbar.

Es sei denn natürlich, Mr Berühmter Fernsehkoch verletzte die Fremdgehklausel des Ehevertrags und machte damit die gesamte Vereinbarung null und nichtig.

Daher hatte Victoria natürlich ein paar Nachforschungen angestellt.

Eins musste sie Mr Berühmter Fernsehkoch lassen: Er hatte seine Spuren besser verwischt als die meisten fremdgehenden Ehemänner, mit denen sie es bis jetzt zu tun gehabt hatte – und das kam von jemandem, der aus untreuen Ehepartnern praktisch eine eigene Industrie gemacht hatte. Die meisten wurden erwischt, nachdem sie eine SMS oder E-Mail verschickt hatten, andere wegen verdächtiger Kreditkartenaktivitäten oder Kontoauszüge. Aber dieser Kerl war schlau gewesen: Er hatte seiner sechsundzwanzigjährigen Geliebten eine Eigentumswohnung im Ritz-Carlton-Gebäude gekauft, und das über eine unter Vorspiegelung falscher Tatsachen gegründete GmbH, einem angeblichen Nahrungsmittellieferanten, an den seine Restaurants zweimonatliche Zahlungen von zwanzigtausend Dollar getätigt hatten.

Sein Pech war allerdings, dass der Finanzsachverständige, den Victoria angeheuert hatte, um seine Geschäftsbücher zu durchforsten, noch schlauer war.

Und der Rest war Geschichte.

Aufgrund der gewissenhaften Arbeit von Victoria Slade & Partner war ihre Mandantin an diesem Nachmittag mit beträchtlich mehr Geld aus der Vergleichsbesprechung gegangen als nur mit der Unterhaltszahlung, die sie bekommen hätte, wenn man ihrem Mann nicht auf die Schliche gekommen wäre. Um zu feiern, hatte Victoria ihre sechs Partner – und Will, ihren Assistenten und ihre rechte Hand – auf einen wohlverdienten Abend mit gutem Essen und Drinks eingeladen.

Einer Menge Drinks, wenn Victoria nach der Rechnung ging, die sie beim Verlassen des Restaurants unterschrieben hatte.

Sie selbst war praktisch nüchtern, als das Taxi vor ihrem dreistöckigen Stadthaus hielt. Normalerweise wusste sie einen guten Bourbon auf Eis ebenfalls zu schätzen, aber heute Abend war sie als Chefin dabei gewesen, und so weit es sie anging, betranken sich Chefs vor den Augen ihrer Angestellten nicht hemmungslos.

Als das Taxi stehen blieb, gab sie dem Fahrer zwanzig Dollar extra. »Würde Sie bitte noch warten, bis ich drinnen bin?« Angesichts der aktuellen Einbruchsserie in Lincoln Park und Lakeview ging sie lieber auf Nummer sicher. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass es ein Uhr nachts war.

Er nickte. »Klar. Kein Problem.«

Nachdem sie ausgestiegen war, ging sie über den Bürgersteig zu den Eingangsstufen des Reihenhauses, in dem sie seit zehn Monaten lebte. Ihr erstes eigenes Zuhause. Angesichts des Erfolgs ihrer Kanzlei hätte sie sich das Haus wahrscheinlich schon ein paar Jahre früher kaufen können. Aber aufgrund ihrer Kindheitserinnerungen an eine Zwangsvollstreckung hatte sie wirklich sicher sein wollen, dass sie sich mit der Hypothek nicht übernahm.

Victoria schloss die Haustür auf, löste damit das Warnsignal ihrer Alarmanlage aus und tippte sofort den Sicherheitscode in das Tastenfeld ein. Als der Alarm verstummte, drehte sie sich um und winkte dem Taxifahrer zu.

Alles in Ordnung.

Sie nahm die Post mit hinein, legte sie auf die Küchentheke und ging nach oben. Nachdem sie die Alarmanlage von der Konsole in ihrem Schlafzimmer aus wieder aktiviert hatte, zog sie sich ein T-Shirt und Shorts an, schminkte sich schnell ab, putzte sich die Zähne und ging zu Bett. Sie überlegte kurz, ob sie noch ein paar E-Mails abarbeiten sollte, entschied dann aber, dass sie sich für den Erfolg bei der heutigen Verhandlung ein paar Stunden Ruhe verdient hatte.

Mit einem zufriedenen Lächeln kuschelte sie sich unter ihre Decke und schlief bald ein.

BIIIIEP.

Victoria richtete sich ruckartig im Bett auf, als sie das Warnsignal ihrer Alarmanlage hörte, das durch das Öffnen der Haustür ausgelöst wurde.

Dann hörte sie, wie unten die Tür geschlossen wurde und Schritte erklangen.

Oh Gott. Jemand war in ihrem Haus.

Sie stieg aus dem Bett und schnappte sich ihr Handy vom Nachttisch. Der Alarm hatte aufgehört, und das Haus wurde wieder still.

Ihr Herz begann wild zu klopfen, als sie von unten eine Männerstimme hörte.

»Wir können loslegen«, sagte er.

Lautlos schlich sich Victoria in ihren begehbaren Kleiderschrank, der fast so groß wie ihr Badezimmer war. Zwischen einer Wand und einer Stange, an der ihre langen Kleider hingen, stand ihr Wäschekorb. Sie schob sich an den Kleidern vorbei und versteckte sich hinter dem Korb.

Ihre Hand zitterte, als sie auf ihrem Handy den Notruf wählte.

Eine weibliche Stimme meldete sich. »911, was ist Ihr Notfall?«

»Ich heiße Victoria Slade«, flüsterte sie schnell. »Meine Adresse ist 1116 North Garner. Jemand ist in mein Haus eingebrochen.«

»Befindet sich der Eindringling jetzt gerade in Ihrem Haus, Ma’am?«

»Ja, ich glaube, es sind zwei. Ich verstecke mich oben in einem Schrank und …« Sie stockte, als sie ein Geräusch hörte, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. »Jemand kommt die Treppe hoch. Ich kann nicht reden – sie werden es hören.«

»Ma’am, ich bleibe in der Lei…«

Victoria stellte die Lautstärke ihres Handys so leise ein wie möglich und bedeckte den Lautsprecher mit der Hand. Durch einen schmalen Spalt zwischen dem Wäschekorb und der Wand konnte sie die Schranktür sehen.

Sie hielt den Atem an, als die Schritte auf dem Parkett lauter wurden.

Vor dem Schrank erschien ein Mann in dunkler Kleidung. Er blieb stehen, griff an seine Hüfte und zog eine Waffe hervor.

»Bist du sicher, dass sie nicht zu Hause ist?«, rief er jemandem unwirsch zu.

Ein anderer Kerl trat vor den Schrank. »Ja, bin ich. Warum?«

»Das Bett ist zerwühlt.«

»Na und? Machst du jeden Tag dein verdammtes Bett? Komm schon, wir sollten uns an die Arbeit machen.«

Sie hörte, wie der zweite Mann ihr Schlafzimmer verließ, aber der Mann mit der mürrischen Stimme blieb, wo er war. Die Waffe hielt er immer noch in der Hand. Von ihrem Versteck aus beobachtete Victoria wie er in ihr Badezimmer ging und das Licht einschaltete. Er blieb einen Moment in der Tür stehen und kam dann Richtung Schrank.

Er griff hinein und betätigte den Lichtschalter. Victoria sah, dass er eine schwarze Maske mit Öffnungen für Augen und Mund trug. Er trat in den Schrank.

Ihr Herz schlug so wild gegen ihren Brustkorb, dass sie befürchtete, er würde es hören.

Sie blieb absolut regungslos und betete inständig, dass er sie nicht durch den Spalt zwischen dem Wäschekorb und der Wand sehen würde.

Von der anderen Seite des Schranks ertönte ein leises Summen.

Der Mann wirbelte herum und richtete die Waffe auf die Stelle, von der das Geräusch gekommen war. Er entspannte sich, als er einen kleinen braunen Behälter sah. Es war ihr automatischer Uhrenbeweger, der in einem Regal stand. Er steckte die Pistole wieder in das Holster an seiner Hüfte, ging hinüber, öffnete den Behälter und nahm ihre Uhr heraus. Er betrachtete sie ein paar Sekunden lang, bewegte sie in seiner Hand hin und her und zog dann einen mittelgroßen Stoffbeutel aus der Tasche seines schwarzen Kapuzenpullovers. Nachdem er die Uhr hineingeworfen hatte, machte er sich an der Schmuckschatulle zu schaffen, die neben dem Uhrenbeweger stand.

Eine gefühlte Ewigkeit lang stand er mit dem Rücken zu Victoria und wühlte sich durch ihren Schmuck. Dann ließ er den gesamten Inhalt der Schatulle in seinen Beutel fallen. Etwas fiel mit einem Klirren auf den Parkettboden, und er kniete sich hin, um es aufzuheben.

Unten ertönte ein lautes Geräusch.

Victoria zuckte im selben Augenblick zusammen, in dem der maskierte Mann aufsprang. »Was zum Teufel war das?«, rief er seinem Partner zu.

Victoria hörte etwas, das wie ein Kampf klang. Jemand rief: »Polizei!«, und dann …

Ein Schuss fiel.

Der Eindringling stürmte aus dem Schrank. Plötzlich erinnerte sich Victoria an das Handy in ihrer Hand. Victoria hielt es an ihr Ohr. »Hallo?«

»Keine Sorge, Victoria. Ich bin noch da. Hilfe ist unterwegs«, sagte die Leitstellenmitarbeiterin.

Die unerwünschte Erinnerung überkam sie mit der Wucht einer Flutwelle und trug sie viele Jahre zu der Stimme einer anderen Fremden am anderen Ende einer Telefonleitung zurück.

Bleib dran, Victoria. Hilfe ist auf dem Weg, versprochen.

Plötzlich fühlte sie sich … seltsam. Der Raum zwischen ihr und dem Wäschekorb schien sich zusammenzuziehen und auf sie zuzukommen. Die Luft war auf einmal furchtbar heiß und stickig, und ihr war schwindlig.

»Victoria? Sind Sie noch dran?«

Die Stimme klang weit entfernt, und sie wusste nicht, ob sie echt oder nur in ihrem Kopf war. Vergangenheit und Gegenwart verschmolzen miteinander.

»Sind Sie okay, Victoria?«, fragte die Stimme nun nachdrücklicher.

Bevor ihr schwarz vor Augen wurde, war ihr letzter Gedanke, dass sie natürlich okay war. Victoria Slade konnte mit allem umgehen. Sie war stark, sie war zäh, sie …

Sie wurde von ihrer allerersten Panikattacke ohnmächtig.

1

Einen Monat später

»Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir …«

Während der Priester seine Predigt beendete, fiel Ford Dixons Blick wieder auf das Foto von seinem Vater, das auf einem Ständer vor dem Sarg ruhte.

Sie hatten mit dem Bild Glück gehabt. Wie ihm, seiner Mutter und seiner Schwester Nicole bei der Vorbereitung dieses Gedenkgottesdiensts klar geworden war, hatte sich John Dixon nicht gern fotografieren lassen, besonders nicht in den letzten Jahren. Glücklicherweise hatten sie ein Foto zurechtschneiden können, auf dem er seine Enkelin, Fords Nichte, kurz nach ihrer Geburt im Krankenhaus hielt. Es war kein professionell aufgenommenes Foto – Ford hatte es mit seinem Handy gemacht –, aber sein Vater sah darauf glücklich und stolz aus.

Es war eine gute Erinnerung, eine, auf die er, seine Mutter und seine Schwester ohne das Unbehagen zurückblicken konnten, das so viele andere überschattete.

Gleich würde er seine Trauerrede halten müssen. Da es seine erste war, hatte sich der Enthüllungsjournalist in ihm natürlich entsprechend vorbereitet. Er sollte seine Ausführungen kurz, aber persönlich halten und sich auf eine besondere Eigenschaft seines Vaters konzentrieren, die er bewundert hatte, oder eine Geschichte über etwas erzählen, das sein Vater gerne getan hatte.

Doch die meisten Gäste dieser Trauerfeier wussten, dass es zwei John Dixons gegeben hatte: den legendär geselligen Mann, der immer für einen Spaß zu haben war – und dabei selten ohne ein Bier in der Hand gesehen wurde –, und den mürrischen, oft wütenden Betrunkenen, zu dem er werden konnte, wenn er ein paar Drinks zu viel intus gehabt hatte. Ford hätte über den ersten John Dixon ins Schwärmen geraten können, denn dieser Mann war sein Held gewesen, der Vater, der an den Wochenenden viele Stunden damit verbracht hatte, mit ihm Baseball zu spielen. Der Mann, der sich die besten Gutenachtgeschichten ausgedacht und sie mit unterschiedlichen Stimmen für die einzelnen Figuren vorgetragen hatte. Der Mann, der bei Familiengrillpartys Wasserballonschlachten für die Kinder organisiert hatte, der coole Dad, der ihm bei einem Spiel der Cubs seinen ersten Schluck Bier erlaubt hatte, der Kerl, der während Fords Baseballspielen in der Kinderliga immer die anderen Eltern zum Lachen gebracht hatte.

Aber der andere John Dixon?

Es fiel ihm ein wenig schwerer, sich für diesen Kerl zu begeistern.

Lass mich in Ruhe, Junge. Hast du keine Freunde, die du nerven kannst?

Ford räusperte sich, als der Priester in seine Richtung sah.

»Ich denke, Johns Sohn Ford möchte uns jetzt etwas sagen.«

Ford stand auf und ging zum Rednerpult, das rechts vom Altar stand. Er betrachtete die nicht gerade kleine Menge aus Trauergästen. Er sah viele vertraute Gesichter, eine Mischung aus Bekannten der Familie, Verwandten und engen Freunden von ihm und seiner Schwester, die gekommen waren, um ihr Beileid auszudrücken.

Mit einem letzten beruhigenden Blick zu seiner Mutter und seiner Schwester in der ersten Reihe legte er seine Hände auf das Rednerpult. Er hatte sich keine Notizen gemacht, sondern verließ sich auf das Erzähltalent, das alle guten Journalisten in sich trugen – das Talent, das er von dem Mann im Sarg hinter sich geerbt hatte, dem Mann, der einst abends beim Zubettgehen epische Sagen über Fords Kuscheltiere erfunden hatte.

Dies war der John Dixon, an den er sich heute erinnern wollte.

»Am vierten Juli, als ich elf Jahre alt war, entschied mein Vater, dass wir das größte und beeindruckendste Feuerwerk der ganzen Nachbarschaft haben würden. Ah, ich sehe, einige von euch schmunzeln bereits … Ihr wisst genau, worauf diese Geschichte hinausläuft.«

Nach der Trauerfeier und dem anschließenden Leichenschmaus fuhr Ford seine Mutter zurück zum Haus seiner Eltern in Glenwood, einem nördlichen Vorort der Stadt. Seine Eltern – beziehungsweise jetzt nur noch seine Mutter – lebten in einer Nachbarschaft, die man die »Karrees« nannte, weil jedes Gebäude vier Wohneinheiten beherbergte. Auch wenn Glenwood als äußerst wohlhabender Vorort bekannt war – das Forbes-Magazin stufte es als zehntreichste Gegend der Vereinigten Staaten ein –, waren die »Karrees«, wo er aufgewachsen war, eindeutig ein Arbeiterviertel. Hier lebten hauptsächlich Familien, in denen beide Eltern berufstätig waren und die Gegend bewusst wegen ihres Zugangs zu den öffentlichen Schulen ausgewählt hatten, die zu den besten des Staates zählten.

»Ich mache mir Sorgen um deine Schwester«, sagte seine Mutter, als sie die Sheridan Road entlangfuhren, vorbei an den Alleen und millionenteuren Villen, die zwar noch zu seiner Heimatstadt gehörten, sich für ihn aber immer wie eine andere Welt angefühlt hatten.

Ford sah sie mit einer Mischung aus Bewunderung, Belustigung und Frustration von der Seite an. Die Bemerkung war so typisch für seine Mutter. Sie hatte gerade den Mann begraben, mit dem sie sechsunddreißig Jahre lang verheiratet gewesen war, und sorgte sich natürlich um jemand anders.

Er drückte ihre Hand. »Nicole kommt schon klar, Mom.«

Sie sah ihn streng an. »Komm mir jetzt bloß nicht mit diesen Plattitüden für trauernde Witwen. Von denen hab ich in den letzten Tagen schon genug gehört.«

Das brachte ihn zum Schmunzeln. Wie sie wollte. Im Gegensatz zu seinem Vater mit seinen wilden Stimmungsschwankungen hatte die pragmatische Maria Dixon immer fest mit beiden Beinen auf dem Boden gestanden. »Na gut. Ich mache mir auch Sorgen um Nicole«, gab er zu, obwohl er fest davon überzeugt war, dass seine Mutter heute nicht darüber nachdenken sollte.

Es war kein Geheimnis, dass seine fünfundzwanzigjährige Schwester seit der Geburt ihrer Tochter Zoe vor vier Monaten Probleme als alleinerziehende Mutter hatte. Sie arbeitete sich hauptberuflich in einem Kindertheater und nebenher als Schauspielerin den Rücken krumm, oftmals auch abends und am Wochenende, verdiente jedoch kaum genug, um ihre kleine Familie zu ernähren. Ford hatte bereits mit ihr darüber gesprochen, Unterhalt von Zoes Vater einzuklagen – einem Musiker, mit dem Nicole vor einem Jahr ein paar Monate lang zusammen gewesen war. Als Nicole ihm von der Schwangerschaft erzählt hatte, war er offenbar vollkommen ausgerastet und nach Los Angeles abgehauen, ohne ihr eine Nachsendeadresse zu hinterlassen.

Ford hatte den Scheißkerl nie kennengelernt, aber sein Kiefermuskel zuckte jedes Mal, wenn er daran dachte, wie dieser Kerl seine Schwester im Stich gelassen hatte.

»Ich habe versucht, mit ihr zu reden, aber in letzter Zeit ist es so schwer, sie zu erwischen«, sagte seine Mutter. »Ich wollte sie eigentlich diese Woche auf der Arbeit besuchen, aber dann ist dein Vater …« Ihre Unterlippe zitterte, und ihre Stimme verlor sich.

Oh Mann. Es brach ihm das Herz zu sehen, wie seine Mutter gegen ihre Tränen ankämpfte. Und auch wenn er die Vergangenheit nicht ändern konnte – was ihm angesichts der Situation zwischen ihm und seinem Vater zum Zeitpunkt von dessen Tod zu schaffen machte –, gab es zumindest eine Sache, die er in dieser Situation tun konnte.

Als er an einer roten Ampel hielt, drehte er sich also zu seiner trauernden Mutter um und sah ihr in die Augen.

»Ich werde mich um Nicole und Zoe kümmern, Mom. Das verspreche ich.«

Ein paar Stunden später fuhr Ford in die Tiefgarage seines Wohngebäudes in Wicker Park. Er hatte sich während der Fahrt nach Hause mit Musik abgelenkt, aber sobald er den Motor abgestellt hatte, herrschte nur noch Stille.

Dies war der Moment, vor dem er sich in den letzten paar Tagen gefürchtet hatte. Die Vorbereitungen für die Beerdigung waren vorbei, und er musste nicht länger bereitstehen, nicken, Small Talk betreiben und sich bei allen für ihre Beileidsbekundungen bedanken. Der Moment, in dem er schließlich wieder allein war und ihm nur seine Gedanken Gesellschaft leisteten.

Ein Mann trat vor sein Auto und winkte. »Hey, Ford.«

Oder … vielleicht war dieser Moment doch noch nicht gekommen.

Ford stieg aus und begrüßte seinen Nachbarn Owen. »Tut mir leid. Ich hab dich gar nicht gesehen.«

Owen schüttelte ihm mit einem mitleidigen Blick die Hand. »Wie ist es gelaufen?«

Ford wusste es zu schätzen, dass Owen bei der gestrigen Totenwache vorbeigeschaut hatte. Sie waren vier Jahre lang Nachbarn gewesen und hatten manchmal auch etwas zusammen unternommen. In letzter Zeit weniger, seit Owen zu seiner Freundin gezogen war und die Eigentumswohnung zum Verkauf anbot. »Es war ein netter Gottesdienst, danke.« Schnell wechselte er das Thema. »Was führt dich in die alte Nachbarschaft?«

»Ich wollte nur schnell meine Post abholen.« Owen deutete auf den Stapel aus Zeitschriften und Briefen, den er trug. »Ich hab dich gesehen und dachte, ich sollte dir Bescheid sagen, dass meine Maklerin die Wohnung über den Sommer vermietet hat.«

»Du vermietest sie?« Das war eine Überraschung.

»Ich weiß. Es ist nicht meine erste Wahl.« Owen zuckte mit den Schultern. »Aber ich habe kein einziges Angebot bekommen, das auch nur annähernd meiner Preisvorstellung entsprach. Also dachten wir, dass wir sie ein paar Monate lang vermieten könnten, um sie dann im Herbst wieder auf den Markt zu werfen. Ich wollte dich nur vorwarnen, falls du eine Fremde aus meiner Haustür kommen siehst.«

»Klar.« Ford nickte. Eine unangenehme Gesprächspause entstand, und ihm wurde klar, dass er wahrscheinlich noch etwas dazu sagen sollte.

»Sie heißt Victoria«, sprach Owen schließlich weiter. »Und sie ist eine bekannte Scheidungsanwältin oder so etwas. Ich habe sie noch nicht getroffen, aber wenn ich es richtig verstanden habe, hat sie sich gerade eine Eigentumswohnung in River North gekauft. Die ist allerdings wohl erst Ende August bezugsfertig. Sie wollte offenbar dringend aus ihrem derzeitigen Haus raus. Keine Ahnung, was da für eine Geschichte dahintersteckt.«

Das alles waren interessante Informationen, und Ford wusste, dass Owen nur freundlich sein wollte. Aber die höflichen Unterhaltungen der letzten Tage gingen ihm langsam an die Substanz.

»Danke fürs Bescheid sagen.« Er deutete auf die Tür, die ins Innere des Wohngebäudes führte. »Leider muss ich mich noch um ein paar Dinge kümmern …«

»Oh! Natürlich«, sagte Owen schnell. »Ich wollte dich nicht aufhalten.«

Nachdem er Owen versprochen hatte, in Kontakt zu bleiben und sich zu melden, wenn er irgendetwas brauchte – das war erst das hundertdreißigste Mal, dass er das diese Woche hatte versprechen müssen –, konnte Ford entkommen und stieg in den Aufzug.

Während der Aufzug in den vierten Stock fuhr, atmete er erleichtert auf. Er hoffte inständig, dass er nicht noch einem anderen Nachbarn in die Arme laufen würde, bevor er seine Wohnung erreichte.

Er hatte Glück.

Der Flur war leer. Leise ging er mit dem Schlüssel in der Hand zu 4F, der Wohnung ganz am Ende des Korridors. Er schloss die Tür auf und trat hinein.

In seinem Schlafzimmer zog er die Krawatte und das schwarze Jackett aus, die er für die Beerdigung getragen hatte. Dann begann er, auf und ab zu gehen, und spürte, wie ihn seine Emotionen langsam einholten.

So hatte es zwischen seinem Vater und ihm nicht enden sollen.

Ihre Beziehung war zugegebenermaßen schon seit langer Zeit kompliziert gewesen. Aber irgendwie hatte er immer noch die leise Hoffnung gehegt, dass etwas passieren würde, um das Zerwürfnis zwischen ihnen wieder beizulegen. Eine Entziehungskur wäre so etwas gewesen. Oder ein Gesundheitsrisiko, natürlich nichts allzu Ernstes, das seinen Vater dazu gebracht hätte, für immer mit dem Trinken aufzuhören.

Doch das war offenbar Wunschdenken gewesen.

Das letzte Mal hatte er seinen Vater vor zwei Wochen auf der Party zum Schulabschluss seines Cousins gesehen. Es hatte jede Menge Bier gegeben, und sein Vater hatte zu viel davon getrunken. Ford war auf Abstand geblieben, da er an diesem eigentlich schönen Tag nichts mit den Stimmungsschwankungen seines Vaters zu tun haben wollte.

Er konnte sich nicht erinnern, worüber er und sein Vater an diesem Tag geredet hatten. Auf jeden Fall war es nichts Wichtiges gewesen, keines der Dinge, die Ford gesagt hätte, wenn er gewusst hätte, dass seine Mutter zehn Tage später weinend anrufen würde, um ihm mitzuteilen, dass sein Vater, während sie einkaufen war, nach einem schweren Herzinfarkt in der Küche tot umgefallen war. Es hatte keine Vorwarnung gegeben. Die Ärzte sagten, man hätte nichts tun können. Die Herzmuskeln seines Vaters waren erheblich geschwächt gewesen, wahrscheinlich infolge seines jahrelangen starken Alkoholkonsums.

So viele Dinge waren unausgesprochen geblieben. Und jetzt … würde sich das niemals ändern.

Verdammt.

All die Gefühle, die Ford in den letzten Tagen zurückgehalten hatte, überkamen ihn jetzt. Ohne nachzudenken, griff er sich den Kerzenhalter aus Glas und Metall auf seiner Kommode und schlug ihn gegen die Wand.

Zu sehen, wie das Glas zersplitterte, war seltsam befreiend.

Doch es gab ein kleines Problem. Offenbar war der Kerzenhalter ein wenig massiver gewesen, als er gedacht hatte. Zumindest dem zwanzig Zentimeter großen Loch nach zu urteilen, das er gerade in die Schlafzimmerwand geschlagen hatte.

Er begutachtete den Schaden.

Na ja. Wenigstens war das ein Problem, das er tatsächlich beheben konnte.

2

Am nächsten Donnerstagmorgen betrat Victoria in aller Frühe den Eingangsbereich ihres Bürogebäudes im Stadtzentrum. Sie nahm einen Aufzug in den dreiunddreißigsten Stock, den sich ihre Kanzlei mit zwei anderen Unternehmen teilte, einer Beratungsfirma und einem Ingenieurbüro.

Als sie damals nach einem Ort gesucht hatte, an dem sie sich beruflich niederlassen konnte, hatte sie sich wegen der klaren, modernen Linien und des großartigen Einsatzes von natürlichem Licht sofort zu diesen Räumen hingezogen gefühlt. Das Büro wirkte offen und hell, was ihren Mandanten entgegenkam, die in den meisten Fällen gerade eine schwierige Phase in ihrem Leben durchmachten. Nach dieser Scheidung wird es Ihnen gut gehen. Dafür wird Victoria Slade & Partner sorgen, vermittelte die sonnendurchflutete, elegante Einrichtung.

Nachdem sie die Milchglastüren, auf denen der Name ihrer Kanzlei prangte, aufgeschlossen hatte, schaltete sie das Licht im Empfangsbereich an. Sie war gern vor allen anderen da, um diese kurzen Momente zu genießen, in denen die Kanzlei so still war und ganz ihr gehörte.

Ihr persönliches Büro bot eine spektakuläre Aussicht auf die Stadt und den Chicago River. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und checkte ihre E-Mails. Dabei trank sie den Kaffee, den sie sich auf dem Weg ins Büro geholt hatte. Eine halbe Stunde später hörte sie ihre Kollegen eintrudeln, gefolgt von Will, ihrem Assistenten.

Sie vernahm ein Klopfen und sah Will in der offenen Tür stehen.

»Raus damit: Wie schlimm ist sie?«, fragte er und berührte den Rahmen seiner neuen Drahtgestellbrille. Er war dieses Jahr vierzig geworden, und sein Augenarzt hatte ihm zu seinem Verdruss eine Lesebrille verschrieben.

»Oh … gefällt mir«, sagte Victoria anerkennend. »Erinnert mich an Gregory Peck.«

»Hmpf«, war Wills einzige Erwiderung, auch wenn ihr auffiel, dass in seinem Gang ein gewisses Selbstbewusstsein lag, als er vor ihrem Schreibtisch Platz nahm.

»Morgen ist der große Tag. Gibt es noch etwas, dass ich für dich erledigen soll?«, fragte er.

Sie lächelte, da sie wusste, dass es mehr oder weniger eine rhetorische Frage war. Wenn es noch etwas geben würde, das zu erledigen war, hätte Will bereits selbst daran gedacht. Dieser Mann war ein Organisationsgenie. »Ich denke, wir sind so weit.«

Morgen würde sie in ihr vorübergehendes Zuhause ziehen, ein Loft in einem umgebauten Lagerhaus in Wicker Park. Sie hatte seit der Uni nicht mehr in einem Mehrparteienhaus gewohnt und als relativ private Person freute sie sich nicht übermäßig auf die Aussicht, einen Gemeinschaftsraum mit einem Haufen Fremder zu teilen. Aber so sah ihr Leben nun mal aus, zumindest in nächster Zeit, also musste sie sich wohl einfach daran gewöhnen.

Seit dem Einbruch hatte sie nachts nie länger als drei oder vier Stunden am Stück schlafen können. Stattdessen lag sie wach im Bett, lauschte nach fremden Geräuschen und stand immer wieder auf, um ihre Alarmanlage zu überprüfen – schließlich hatte ihr Sicherheitssystem die Einbrecher schon einmal nicht abgeschreckt.

Ein Furcht einflößender Gedanke.

Laut der Polizei – die aufgrund ihres Notrufs glücklicherweise sehr schnell am Tatort eingetroffen war – hatten die maskierten Männer ihr Haus fast die ganze Nacht lang beobachtet. Es hatte nur eine kurze Unterbrechung gegeben, als der Mann mit der mürrischen Stimme die Toilette in einem rund um die Uhr geöffneten Lebensmittelladen nutzen musste, weil ihm die Burger, die sie zuvor gegessen hatten, nicht bekommen waren.

Toll.

Sein Partner hatte früher offenbar für eine Alarmanlagenfirma gearbeitet und wusste daher, wie man gewisse Systeme austrickste – darunter auch ihres. Die Polizei hatte beide Männer festgenommen. Einer von ihnen war dumm genug gewesen, auf die Polizisten zu schießen, und stand daher nun nicht nur wegen Einbruchs, sondern auch wegen versuchten Mordes vor Gericht. Während des Verhörs gaben sie zu, für eine Reihe von Einbrüchen in der Nachbarschaft verantwortlich zu sein. Sie würden voraussichtlich eine lange Zeit im Gefängnis verbringen.

Victoria wusste, dass sie sich, was beängstigende Einbrüche durch maskierte Männer mit Schusswaffen anging, glücklich schätzen sollte, so glimpflich davongekommen zu sein. Aber als zwei Wochen ohne Schlaf zu drei Wochen wurden und nachdem Will sie mehrfach auf ihrem offenen Laptop dösend vorgefunden hatte, war ihr klar gewesen, dass sie etwas unternehmen musste.

Sie fühlte sich nicht wohl in einer Wohnung, die mehr als eine Etage hatte.

Sie konnte sich in ihrem Reihenhaus nicht mehr entspannen und befürchtete, dass sie nachts immer angespannt daliegen und nach dem Alarm oder Schritten auf der Treppe lauschen würde.

Sobald sie sich das hatte eingestehen können, hatte sie ihr Haus sofort zum Verkauf angeboten und mit ihren zwei besten Freundinnen Audrey und Rachel ein Wochenende lang nach Wohnungen gesucht. Sie hatte sich für eine Dreizimmerwohnung im Trump Tower entschieden. Sie sagte sich, dass die Einbrecher am Ende die Verlierer waren, wenn sie dafür jetzt in ein neues Zuhause mit eigenem Pool und Fitnessclub zog.

Und es gibt sogar eine Sauna, ihr Arschlöcher.

In ihrem Kopf hatte sie jede Menge schnippischer Bemerkungen für die bewaffneten Männer, die in ihr Haus eingebrochen waren.

Aber da gab es ein Problem: Der derzeitige Besitzer der Wohnung im Trump Tower konnte sie erst Ende August freimachen. Sie hatte den Kauf deswegen schon abbrechen wollen – sie musste wirklich so schnell wie möglich ausziehen, bevor sie aufgrund des Schlafmangels irgendeinen nachlässigen Fehler auf der Arbeit machte –, aber dann hatte ihre Freundin ihr den Tag gerettet. Rachel kannte eine Maklerin, die gerade verzweifelt versuchte, das Loft ihres Klienten über den Sommer zu vermieten, und die Wohnung war sofort bezugsfertig. Victoria unterschrieb den Dreimonatsvertrag, sobald die Maklerin ihn ihr zufaxte, Will tat eine Firma auf, die all ihr Zeug zusammenpackte (sie wollte gar nicht wissen, wie viel sie das alles kosten würde), und heute würde sie die letzte Nacht in dem Haus verbringen, das sie so stolz als ihr erstes eigenes Zuhause gekauft hatte.

Ja, sie war wütend. Im Grunde genommen hatten die Einbrecher sie aus ihrem eigenen Haus vertrieben, und das passte ihr gar nicht. Darüber hinaus hatte sie es erst vor zehn Monaten gekauft, also würde sie es wahrscheinlich mit Verlust verkaufen müssen. Aber sie musste hier praktisch denken – sie war eine viel beschäftigte Frau, leitete eine Kanzlei, und wenn es um die Arbeit ging, musste sie einfach in Bestform sein.

Und, oh Gott, sie konnte es kaum erwarten, endlich wieder schlafen zu können.

Kurz vor Mittag winkte sie Will zu, als sie auf ihrem Weg aus dem Büro an seinem Schreibtisch vorbeikam.

Er war gerade am Telefon, legte jedoch eine Hand über den Hörer und flüsterte: »Alles Gute.«

Sie verspürte einen Anflug von Schuld, weil dies das erste Mal in den fünf Jahren ihrer Zusammenarbeit mit Will war, dass sie ihn anlog. Sie hatte ihm erzählt, dass sie für die nächste Stunde nicht zu erreichen sein würde, weil sie einen Zahnarzttermin hatte. Doch in Wirklichkeit ging sie zu einem ganz anderen Arzt.

Es war keine große Sache. Nur dieses … klitzekleine Problem, das sie seit dem Einbruch hatte.

Ihre Internetrecherche zu dieser Art von klitzekleinen Problemen hatte sie zu Dr. Aaron Metzel geführt, offenbar einem der besten Psychologen der Stadt für kognitive Verhaltenstherapie. Seine Praxis befand sich im Stadtteil Gold Coast, nur eine kurze Taxifahrt vom Zentrum entfernt.

Während sie mit dem Aufzug zu Dr. Metzels Stockwerk hochfuhr, richtete Victoria das Revers ihres Jacketts. Sie hatte keine Ahnung, was sie von diesem Termin erwarten sollte. Ihr letzter Besuch bei einem Psychologen war über zwanzig Jahre her. Aber sie trug bewusst ihr liebstes graues Maßkostüm und hochhackige Schlangenlederschuhe. Es war ein Outfit, in dem sie sich besonders selbstbewusst fühlte.

Vor Dr. Metzels Praxis befand sich ein kleiner Vorraum, auf dessen Tür »Machen Sie es sich gemütlich« stand. Sie fand »gemütlich« ein wenig zu hoch gegriffen – schließlich war sie nur aus Notwendigkeit hier –, nahm aber auf einem der leeren Stühle Platz und lenkte sich ein wenig ab, indem sie auf dem Handy ihre E-Mails checkte.

Kurz nachdem sie sich gesetzt hatte, öffnete sich die Innentür. Ein Mann Mitte vierzig mit beginnender Glatze, der einen Blazer, eine Chinohose und ein Hemd trug, lächelte sie an.

»Victoria?« Er streckte ihr die Hand entgegen, als sie zu ihm kam. »Aaron Metzel. Schön, Sie kennenzulernen.« Er deutete in den angrenzenden Raum. »Kommen Sie rein. Setzen Sie sich hin, wo Sie wollen.«

»Danke.« Als sie den Behandlungsraum betrat, sah sie sich neugierig um. Die Jalousien waren heruntergezogen, aber aufgestellt, sodass immer noch genug Tageslicht hereinkam. Es war kein großer Raum, aber er bot ausreichend Platz für einen Schreibtisch und ein Bücherregal an den Fenstern, ein Sofa an einer Wand und zwei Lederarmsessel mitten im Zimmer. Sie wählte den Sessel, der der Tür am nächsten war, und nahm Platz. Da sie nicht wusste, wo sie ihre Handtasche hinstellen sollte, legte sie sie auf dem Boden ab.

Sie sah zu, wie sich Dr. Metzel – oder sollte sie ihn Aaron nennen? – einen Notizblock und einen Stift von seinem Schreibtisch nahm. Sie tauschten ein paar Nichtigkeiten aus – Ja, sie hatte die Praxis gut gefunden; Nein danke, sie wollte nichts trinken –, bevor sie zur Sache kamen.

Dr. Metzel setzte sich ihr gegenüber in den anderen Sessel und schlug die Beine übereinander. »Lassen Sie uns darüber reden, was Sie zu mir führt. Aus unserem Telefongespräch weiß ich, dass Sie ein Problem mit Panikattacken haben.«

Mal langsam, Doc. Das klang ja ganz so, als würde da jemand ein wenig vorschnell urteilen. »Eigentlich gab es bisher nur eine Panikattacke, und zwar in der Nacht, in der bei mir eingebrochen wurde.« Es war ihr wichtig, das zu betonen.

Er klickte die Mine seines Kugelschreibers heraus. »Erzählen Sie mir von diesem Erlebnis.«

»Na ja, ich erinnere mich daran, dass mir plötzlich ganz schwindlig und heiß wurde, und dann bin ich wohl einfach ohnmächtig geworden.«

»Ist Ihnen so etwas schon mal passiert? Dass Sie das Bewusstsein verloren haben?«

»Nein.«

»Was passierte, als Sie wieder zu sich kamen?«, fragte er.

»Zwei Polizisten beugten sich über mich und fragten, ob ich irgendwelche medizinischen Vorerkrankungen hätte. Es dauerte einen Moment, bis ich ihnen antworten konnte, weil ich zuerst nicht wusste, wer oder wo ich war.« Sie atmete tief durch. »Aber nach ein paar Sekunden fiel mir alles wieder ein.«

»Ist es unangenehm für Sie, daran zurückzudenken?«

»Natürlich«, sagte Victoria, die der Meinung war, das sei doch wohl offensichtlich.

»Auf welche Weise?«, fragte er.

»Na ja, erstens war es peinlich, so hilflos auf dem Boden zu liegen. Und erschreckend. Wie ich bereits sagte, bin ich noch nie zuvor ohnmächtig geworden. Aber ich verstehe, warum es passiert ist. Mein Herz hat zu schnell geschlagen, ich habe hyperventiliert und stand unter starkem emotionalen Stress.«

Dr. Metzels Lippen verzogen sich zu einem Schmunzeln. »Da hat jemand aber seine Hausaufgaben gemacht.«

Natürlich hatte sie das. Und außerdem hatte sie herausgefunden, dass das Nachschlagen von Symptomen im Internet der schnellste Weg war, um sich davon zu überzeugen, dass man jede existierende Krankheit der Welt hatte. »Mir ist theoretisch schon klar, dass ich während des Einbruchs wegen der extremen Umstände in Ohnmacht gefallen bin.«

Er wartete. »Aber …?«

»Aber seitdem finde ich mich gelegentlich in Situationen wieder – ganz normalen Situationen –, in denen ich plötzlich Angst davor habe, eine weitere Panikattacke zu erleiden.«

Dr. Metzel schrieb etwas auf seinen Notizblock und sah dann auf. »Können Sie mir ein Beispiel geben?«

Sie nickte. »Das erste Mal, als es passierte, fuhr ich gerade mit der U-Bahn von der Arbeit nach Hause. Der Zug war sehr voll, und es war heiß und stickig. Sie kennen das ja bestimmt. Und die stickige Luft erinnerte mich an diese Nacht in meinem Schrank, als ich das Bewusstsein verloren habe, und als ich darüber nachdachte, fühlte ich mich plötzlich … ganz seltsam.«

»Auf welche Weise seltsam?«

»Nervös. Schwindlig. Mein Herz begann wild zu schlagen, wie damals im Schrank.«

»Was ging Ihnen in diesem Moment durch den Kopf? Erinnern Sie sich daran, was Sie gedacht haben?«

»Ich dachte, dass mindestens zwanzig Leute zwischen mir und der Tür sind und dass ich furchtbares Aufsehen verursachen würde, wenn ich hier im Zug schon wieder eine Panikattacke bekäme.«

Wieder machte er sich Notizen.

»Was haben Sie getan?«, fragte Dr. Metzel.

Victoria zuckte mit den Schultern. »Ich habe mir gesagt ›Pfeif drauf‹. An der nächsten Haltestelle habe ich mich einfach zum Ausgang durchgekämpft und dann für die restliche Strecke ein Taxi genommen.«

»Sind Sie seitdem noch mal mit der U-Bahn gefahren?«

Sie versuchte, die Situation mit einem Lächeln herunterzuspielen. »Eine schöne klimatisierte Taxifahrt nach Hause ist gar nicht so teuer. Ich dachte mir, warum soll ich es überhaupt mit der U-Bahn versuchen, solange es so heiß ist?«

Dr. Metzel machte sich so eifrig Notizen, dass sie das Gefühl bekam, bei der Frage versagt zu haben.

Mist.

Nervös rutschte sie auf ihrem Sessel hin und her. Ihr gefiel es nicht, so … hinterfragt zu werden.

»Gab es noch weitere Vorfälle?«, wollte Dr. Metzel wissen.

»Na ja, neulich musste ich einen Fitnesskurs verlassen.« Sie errötete. Diese Dinge zuzugeben war ihr peinlich. Ohne sich selbst loben zu wollen, hatte sie im Gerichtssaal den Ruf, furchtlos und hartnäckig zu sein. Zum Teufel, ein verärgerter Anwalt der Gegenpartei hatte sie sogar mal als »Mannweib« bezeichnet. Und doch saß sie jetzt hier und gab zu, dass sie nicht mehr mit der U-Bahn fahren oder einen Fitnesskurs besuchen konnte.

Dr. Metzel legte den Kopf schief. »Was ist beim Kurs passiert?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Im Grunde das Gleiche wie in der Bahn. Nach zwanzig Minuten merkte ich, wie heiß es im Raum war, mir wurde schwindlig und so weiter. Ich dachte die ganze Zeit ›Oh, oh, geht das schon wieder los?‹ und ›Was, wenn ich gleich hier im Kurs ohnmächtig werde? Das wäre echt seltsam, und ich würde furchtbares Aufsehen erregen.‹ So in etwa.«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Waren Sie seitdem noch einmal im Fitnesskurs?«

»Wenn ich Nein sage, fangen Sie dann wieder an, etwas auf Ihren Notizblock zu schreiben?«

Das tat er wirklich.

Als Dr. Metzel mit seinen Notizen fertig war, sah er sie an. »Was wäre denn passiert, wenn Sie in Ohnmacht gefallen wären? Wenn Sie mitten in der Stunde und vor allen Leuten umgekippt wären? Wäre das so furchtbar gewesen?«

Victoria erschauderte schon bei dem bloßen Gedanken daran. »Ich denke doch, dass niemand solches Aufsehen erregen will, oder?«

Er nickte. »Wahrscheinlich nicht. Aber mir fällt auf, dass Sie immer wieder davon sprechen, ›Aufsehen zu erregen‹ und ›seltsam‹ zu wirken. Ist es für Sie sehr wichtig, wie andere Menschen Sie sehen?«

Nun ja.

Das war eine Fangfrage, oder?

»Ähm … vielleicht, schätze ich.« Sie hatte keine Ahnung, warum diese Frage relevant sein sollte.

»Könnten Sie das eventuell etwas genauer ausführen?«, bat Dr. Metzel.

Muss das sein? »Ich denke, ich versuche, mich vor anderen auf eine gewisse Weise zu präsentieren. Aber tut das nicht jeder? Die Sache ist die, Doktor.« Als er sie nicht korrigierte, nahm sie an, dass es in Ordnung war, ihn so zu nennen. »Ich führe eine erfolgreiche Kanzlei und habe einen professionellen Ruf zu wahren. Ich kann nicht einfach aus dem Gerichtssaal rennen, weil mir plötzlich schwindlig ist oder ich Angst habe, wieder eine Panikattacke zu bekommen.«

Er nickte. »Ich verstehe.«

Gut. Jetzt kamen sie langsam voran. »Mir ist vollkommen klar, dass diese … Ängste« – sie stockte vor dem Wort, weil sie nicht wusste, ob es zu extrem war – »nur in meinem Kopf sind. Und ich bin sicher, dass sie wieder verschwinden werden, wenn der Einbruch eine Weile zurückliegt. Aber da sie, na ja, ziemlich nervig sind, hatte ich gehofft, dass Sie mir vielleicht ein paar Tricks beibringen können, um den Prozess zu beschleunigen. Sie wissen schon, Atemtechniken, Entspannungsübungen, so was in der Art.« Sie versuchte es mit einem Scherz. »Sie dürfen mir als Teil meiner Behandlung auch gerne einen Saunabesuch oder wöchentliche Massagen verschreiben.«

Dr. Metzel lachte leise. »Bei der Sauna bin ich mir nicht sicher, aber bei der Behandlung einer Panikstörung können sowohl Entspannungsübungen als auch imaginative Methoden äußerst hilfreich sein. Eine Sache, die ich gerne …«

Moment mal. »Sagten Sie ›Panikstörung‹?«, unterbrach sie ihn.

»Ja. Panikstörung.«

Sie lehnte sich zurück. Aber … sie hatte keine Störung. Sie hatte nur ein paar kleinere Panikproblemchen. Der gute Doktor musste da wirklich etwas falsch verstanden haben.

Dann begriff sie, was vor sich ging. »Ah. Tut mir leid, das hätte ich gleich erwähnen sollen. Es geht hier nicht um irgendeine Diagnose für die Versicherung. Ich bezahle die Behandlung aus eigener Tasche.«

»Das ist gut zu wissen«, sagte er. »Und es handelt sich zugegebenermaßen nur um eine Ersteinschätzung. Aber basierend auf den Dingen, die Sie mir erzählt haben, lautet meine derzeitige Diagnose Panikstörung.«

Hm.

Da sie schon einige Psychologen im Kreuzverhör gehabt hatte, übernahmen ihre Anwaltsinstinkte. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gerne fragen, wie Sie darauf kommen.«

»Das macht mir überhaupt nichts aus«, sagte Dr. Metzel geduldig. »Eine Panikstörung ist zusammengefasst die Angst, eine Panikattacke zu erleiden. Ihre Angst davor, ›Aufsehen zu erregen‹ oder ›seltsam‹ zu wirken, sowie die Tatsache, dass Sie Ihr Verhalten geändert haben – nicht mehr mit der U-Bahn fahren und mit Ihrem Fitnesskurs aufgehört haben –, sind alles sehr klassische Symptome.«

Vollkommen überrumpelt versuchte Victoria, das zu verdauen. »Aber … ich habe doch gar keine medizinische Vorgeschichte in dieser Richtung.« Jedenfalls keine, von der Dr. Metzel wusste – schließlich hatte sie nicht vor, über gewisse Dinge aus ihrer Vergangenheit zu sprechen. Und sie war psychisch stabil. Sie war der Fels in der Brandung. Seit sie zehn war, hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht zu beweisen, wie unerschütterlich sie war.

»In Ihrem Fall war der Einbruch der Auslöser für Ihre erste Panikattacke«, sagte Dr. Metzel. »Und wie Sie schon sagten, ist das angesichts der extremen Belastung, der Sie in diesem Moment ausgesetzt waren, keine vollkommen untypische Reaktion. Aber warum dieses Ereignis bei Ihnen nun die Angst vor weiteren Panikattacken ausgelöst hat … Nun, das ist etwas, das wir in der Therapie herausfinden wollen.«

Therapie.

Ach, verdammt.

Damals, nach dem Vorfall hatte Victoria auf Drängen ihrer Mutter schon einmal eine Therapie gemacht. Zwei Jahre lang, »nur für den Fall«, dass es etwas gab, worüber sie reden wollte. Also hatte sie eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was sie nun zu erwarten hatte: das ganze Gerede und das Zerpflücken all ihrer Gedanken und Gefühle.

Lieber hätte sie sich die Zunge an den Teppich tackern lassen, als so eine Tortur noch einmal durchstehen zu müssen.

»Können Sie mir nicht einfach irgendeine Atemtechnik beibringen und mich wieder wegschicken?«, versuchte sie sich mit Charme herauszureden und lächelte.

Dr. Metzel erwiderte ihr Lächeln und klickte seinen Kugelschreiber. »Passt es Ihnen am Wochenende besser? Ich hätte noch einen Termin am Samstag um eins frei.«

Das war dann wohl ein Nein.

3

»Ich bin’s. Ihr wisst, was zu tun ist, wenn es piept.«

Beim Klang der vertrauten Mailboxansage brummte Ford unzufrieden. Wegen des Versprechens, das er seiner Mutter gegeben hatte, war dies das zweite Mal in drei Tagen, dass er seine Schwester angerufen hatte, um nachzuhören, wie es ihr und Zoe ging. Beide Male war der Anruf direkt auf die Mailbox weitergeleitet worden.

»Hey, Nic. Ich wollte nur mal hören, wie es bei dir so läuft. Ich dachte, ich könnte am Wochenende vielleicht mal vorbeischauen – wir könnten mit Zoe irgendwo Mittagessen gehen. Ruf mich an.« Nachdem er aufgelegt hatte, starrte er noch einen Moment lang das Telefon an. Dann wandte er sich wieder seinem Computer zu.

Seit der Beerdigung seines Vaters war eine Woche vergangen, und manchmal fühlte es sich ein wenig surreal an, wie alles einfach wieder zur Normalität zurückgekehrt war. Er hatte sich ein paar Tage freigenommen, um seiner Mutter dabei zu helfen, die Sachen seines Vaters durchzusehen. Die Aufgabe hatte ihn härter getroffen, als er vermutet hätte. Aber er hatte seine Emotionen tief in sich begraben und sich auf die vorliegende Arbeit konzentriert – nicht nur seiner Mutter zuliebe, sondern auch für sich selbst. Etwas zu tun, egal was, fühlte sich gut und produktiv an.

Besonders wenn die Alternative – in seiner Wohnung zu hocken und herumzugrübeln – in einem zwanzig Zentimeter großen Loch in der Wand resultierte.

Das war keiner seiner besten Momente gewesen.

Glücklicherweise hatte er gerade genug Arbeit, um sich abzulenken. Es war ein typischer Freitagnachmittag in der Nachrichtenredaktion der Chicago Tribune, hauptsächlich ruhig bis auf das Klappern von Computertastaturen und gelegentlichen Gesprächen, wenn Mitarbeiter aufstanden, um sich Kaffee zu holen. Die Redaktion war groß und offen, ohne Trennwände zwischen den Schreibtischen, und in der Luft hing eine gewisse fieberhafte Nervosität, während jeder gegen die Uhr ankämpfte, um den Abgabetermin einzuhalten.

Heute stellte er einen Artikel fertig, der zu einer Serie gehörte, in der er eine millionenschwere Bestechung aufgedeckt hatte. Es ging um einen Beamten der städtischen Verkehrsbetriebe und die Firma, die den Zuschlag erhalten hatte, Chicago mit Rotlichtkameras auszustatten. Er hatte über ein Jahr an dieser Artikelserie gearbeitet, und der Korruptionsskandal war inzwischen Gegenstand einer FBI-Ermittlung. Wie viele Enthüllungsjournalisten machte es ihn besonders stolz, wenn seine Arbeit tatsächlich etwas bewirkte und dazu beitrug, ein Fehlverhalten oder eine Ungerechtigkeit zu korrigieren.

Nachdem er den Artikel über die Rotlichtkameras beendet und abgeschickt hatte, traf er sich mit seinem Chefredakteur Marty, um eine Idee für eine neue Story zu diskutieren, die er in den letzten Wochen entwickelt hatte.

»Der April-Johnson-Mord? Auf den Zug springen Sie aber ein wenig spät auf, Dixon. Darüber haben wir schon vor drei Wochen berichtet.«

»Nicht aus diesem Blickwinkel«, sagte Ford. Einen Monat zuvor war April Johnson, eine siebzehnjährige Schülerin mit überragenden Leistungen, in der Nähe ihrer Schule von einem Gangmitglied erschossen worden. Weil das Mädchen kurz zuvor aufgrund der erfolgreichen Teilnahme ihrer Schule am »Turnaround Arts«-Programm das Weiße Haus besucht und die First Lady getroffen hatte, war in allen Nachrichtenmedien Chicagos über den Mord berichtet worden.

Die Berichterstattung hatte sich auf das Opfer konzentriert – was unter den tragischen Umständen auch vollkommen richtig gewesen war. Doch Ford hatte ein wenig nachgeforscht und wollte einen anderen Aspekt des Verbrechens beleuchten. »Alle haben sich darauf konzentriert, inwiefern Johnsons Tod ein Symbol für die wachsende Ganggewalt in dieser Stadt ist, oder ihn als Plattform genutzt, um über Waffenkontrolle zu diskutieren. Aber ich habe mir den neunzehn Jahre alten Schützen Darryl Moore genauer angesehen. Offenbar wurde er vor einem Jahr wegen illegalen Waffenbesitzes verhaftet und zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Und hören Sie sich das an: Eine Überprüfung seines Vorstrafenregisters hat ergeben, dass der Kerl danach noch drei weitere Male verhaftet wurde. Wusste das Bewährungsamt überhaupt von diesen Verhaftungen? Wusste es davon, ergriff aber keine Maßnahmen? Ich denke, dass da jemand gründlich versagt hat.«

Marty dachte darüber nach. »Es könnte sich lohnen, mal nachzusehen, was das Bewährungsamt über Moore in den Akten stehen hat.«

»Ich bin froh, dass Sie das sagen.« Ford grinste. »Weil ich die Akte nämlich gestern angefordert habe.«

Marty schüttelte den Kopf. »Natürlich haben Sie das. Also gut, legen Sie los.«

Für den Rest des Nachmittags arbeitete Ford an der neuen Story und verlor sich in der Recherche. Um siebzehn Uhr dreißig machte er Schluss und nahm ein Taxi vom Tribune-Gebäude zum nächsten Baumarkt, wo er die fehlenden Materialien für sein Wochenendprojekt kaufte. Er hatte vor, das Loch in seiner Schlafzimmerwand zu flicken, und wollte dann gleich noch einige Bücherregale aufbauen. Ein paar Handwerkerarbeiten würden ihm hoffentlich ein Ventil für die ruhelose Energie bieten, die er seit der Beerdigung verspürte.

Während der Taxifahrt warf er einen Blick auf sein Handy. Ganz offensichtlich waren seine Freunde im »Lass uns nach Ford sehen«-Modus. Er nahm an, dass sie sich abgesprochen hatten, da sich Charlie und Tucker heute Abend mit ihm treffen wollten und Brooke am Samstag zum Abendessen. Er schrieb ihnen allen ein Ja zurück. Auch wenn es nicht besonders subtil war, wusste er es doch zu schätzen, dass sie ihm Gesellschaft leisten wollten.

Als das Taxi vor Fords Gebäude hielt, sah er einen großen Umzugswagen.

Ach ja, richtig. Jetzt fiel ihm wieder ein, dass heute der Einzugstag seiner vorübergehenden Nachbarin war. Victoria, die Scheidungsanwältin oder so etwas. Da sie den Aufzug für die Möbelpacker reserviert hatte, schleppte er die zwei Tüten mit Materialien aus dem Baumarkt die vier Stockwerke hoch.

Als er ihre offene Haustür sah, dachte er, dass es nur höflich wäre, sich vorzustellen.

»Hallo?« Da ihm niemand antwortete, ging er hinein und traf im Essbereich des Lofts auf zwei Möbelpacker, die gerade einen runden, teuer aussehenden Tisch auf den Boden stellten. »Tut mir leid, ich kam gerade vorbei und dachte, ich sage mal Hallo. Ich wohne direkt nebenan.« Mit den vollbepackten Tüten in den Händen deutete er in die Wohnung. »Ist Victoria da?«

Einer der Möbelpacker schüttelte den Kopf und wischte sich die Hände ab, nachdem der Tisch an seinem Platz stand. »Sie ist noch mal kurz zu ihrem alten Haus gefahren.«

»Dann erwische ich sie bestimmt später. Danke.« Auf seinem Weg hinaus sah sich Ford verstohlen in der Wohnung um. Die restlichen Möbel sahen genauso teuer aus wie der Esstisch. Dem cremeweißen Sofa mit den vielen Dekokissen nach zu urteilen, war ihr Geschmack elegant und entschieden feminin. Und er schloss daraus außerdem, dass sie Single war.

Kein Mann konnte sich mit all diesen verdammten Kissen auf dem Sofa gemütlich ein Footballspiel ansehen.

»Also ich dachte, dass wir bei diesem neuen Projekt mal ein Scheunenthema ausprobieren. Statt auf Stühlen sitzen alle auf Heuballen, und wir lassen lebendige Tiere – Kühe, Schweine, vielleicht ein paar Hühner – frei im Restaurant herumlaufen, während die Leute essen. Du weißt schon, um den Bioaspekt der Speisekarte zu unterstreichen.«

Victoria riss die Augen auf, als ihr klar wurde, was Audrey gerade gesagt hatte. »Moment mal. Ihr wollt Hühner im Restaurant herumlaufen lassen?«

Als Audrey und Rachel grinsten, begriff sie. »Na gut, na gut, ihr habt mich erwischt.« Dann hatte sie eben für eine Sekunde die Augen geschlossen. Doch zu ihrer Verteidigung musste gesagt werden, dass sie seit über einem Monat nicht länger als vier Stunden pro Nacht geschlafen hatte. Ganz zu schweigen davon, dass die Bar, in der sie waren, überall mit gemütlichem Kerzenlicht aufwartete und dazu diese großen bequemen Ledersessel hatte, die zum Dösen geradezu einluden …

Sie richtete sich auf und verpasste sich eine mentale Ohrfeige.

»Du bist todmüde, Victoria. Vielleicht sollten wir für heute lieber Schluss machen«, schlug Rachel vor.

»Nein, nein, alles gut. Ich habe euch als Dank für die Umzugshilfe versprochen, dass ich euch auf ein paar Drinks einlade, also trinken wir.« Victoria schnappte sich ihren Cocktail – einen Old Fashioned, die Spezialität des Hauses – und hob ihn, um mit den anderen anzustoßen. »Und übrigens noch mal danke dafür.«

Ihre Freundinnen waren heute netterweise gekommen, um ihr beim Auspacken zu helfen. Audrey und Rachel hatten sich um den Wohn- und Essbereich gekümmert, die Möbelpacker um die Küche, und sie selbst hatte Schlaf- und Badezimmer übernommen. Bis auf ein paar Kisten mit Kleinkram, die über den Sommer wahrscheinlich eingelagert werden würden, hatten sie bis zwanzig Uhr alles ausgepackt.

Um ihre Dankbarkeit zu zeigen, hatte sie darauf bestanden, mit ihren Freundinnen auszugehen. Sie hatten sich fürs The Violet Hour entschieden, die angesagteste Bar in Wicker Park – zumindest laut Will, der sie natürlich für Victoria herausgesucht hatte. Sie war nur ein paar Blocks von ihrem Loft entfernt und wirkte wie eine moderne Flüsterkneipe mit Alice im Wunderland-Touch. Die originellen Cocktails wurden von Barkeepern mit Fliege und Hosenträgern gemixt, es gab dramatische Samtvorhänge und blaue Ledersessel mit hoher Rückenlehne, die um Cocktailtische gruppiert waren.

Victoria, die fest entschlossen war, sich den ersten Abend in ihrer neuen Nachbarschaft nicht durch ein wenig Schläfrigkeit verderben zu lassen, plauderte mit ihren Freundinnen ein Weilchen über die Arbeit. Audrey war Innenarchitektin und erzählte ihnen von dem Entwurf, den sie für ein neues Restaurant plante, das nächsten Frühling eröffnen sollte. Und Rachel, der eine kleine Modeboutique gehörte, hatte gerade herausgefunden, dass ihr Laden in einem großen Stadtmagazin vorgestellt werden würde.

Etwas links von Victoria lenkte Rachel kurzzeitig ab, und sie lehnte sich verschwörerisch vor. »Okay, ich hab einen Guten für dich gefunden«, sagte sie mit einem herausfordernden Funkeln in den Augen zu Victoria. »Der gut aussehende Typ auf neun Uhr. Dunkle Haare, blaues Hemd. Er hat dich übrigens vorhin interessiert angeschaut. Sagen wir, sein Name lautet … Carter.«

Es war ein Spiel, das sie schon seit Jahren spielten, genau genommen, seit Victoria Rachel und Audrey während des Junggesellinnenabschieds einer gemeinsamen Freundin erzählt hatte, dass sie sich nicht vorstellen könne, jemals selbst zu heiraten. Rachel, die fest an »Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage« glaubte, suchte ihr seitdem in einer Bar immer irgendeinen Typen heraus, erfand eine ausführliche Vorgeschichte für ihn und versuchte, Victoria davon zu überzeugen, dass ihr Mann fürs Leben irgendwo da draußen war.

»Also gut. Erzähl mir von Carter«, sagte Victoria.

Rachel überlegte einen Moment. »Er ist Feuerwehrmann.«

»Er rettet Menschen das Leben. Das gefällt mir.«

»Er wuchs mit drei Schwestern auf, und er ruft jede von ihnen einmal die Woche an, um zu hören, wie es ihnen geht. Er versteht sich gut mit seinen Eltern, besonders mit seiner Mutter, die er über alles liebt«, fuhr Rachel fort. »Er hat einen Hund, den er aus dem Tierheim gerettet …«

»Natürlich.«

»… und nach einem Dichter genannt hat. Wie … Emerson«, sagte Rachel.

Victoria zog skeptisch eine Augenbraue in die Höhe. Da trug jemand heute Abend aber ganz schön dick auf.

»Seine letzte längere Beziehung war vor drei Jahren und endete einvernehmlich, weil seiner Ex und ihm klar geworden ist, dass sie besser als Freunde funktionieren. Und er hat keine Bindungsängste«, fügte Rachel mit einer schwungvollen Geste hinzu.

Audrey lachte. »Du schummelst.«

Rachel sah Victoria herausfordernd an. »Also. Ehematerial oder nicht? Aber bevor du antwortest, solltest du dir den fraglichen Mann selbst ansehen.«

Victoria schüttelte den Kopf. »Nein. Brauche ich nicht.«

»Mir ist egal, wie zynisch du bist«, sagte Rachel mit einem zufriedenen Lächeln. Wir sprechen hier von einem heißen Feuerwehrmann ohne Bindungsängste, der seine Mutter liebt.«

»Und er klingt auch, als wäre es toll, mit ihm auszugehen. Wahrscheinlich zu toll für eine verlebte Person wie mich, aber ich würde es trotzdem wagen. Aber was eine Ehe angeht … Nein. Nicht für mich.«

»Das weißt du doch gar nicht«, beharrte Rachel verzweifelt.

»Oh doch. Weil ich in meinem Beruf jeden Tag zu sehen bekomme, wie spektakulär es schiefgehen kann.«

»Wie zum Beispiel?«

Victoria zögerte und war unsicher, ob sie wirklich darauf eingehen sollte. Dann legte sie ihre Arme auf den Tisch. »Also gut. So würde es meiner Meinung nach ablaufen.«

»Dann mal los«, sagte Audrey.