Sie ist wieder da - Michael Sohmen - E-Book

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Michael Sohmen

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Beschreibung

Wir befinden uns im Jahr 2050. Die Europäische Union ist gescheitert und der Kontinent Jahrhunderte in seiner Entwicklung zurückgefallen. Aus der ehemaligen Bundesrepublik sind drei neue Staaten entstanden. Das Experiment Euro ist Geschichte. Nach der endgültigen Staatspleite wurde Griechenland von der Türkei annektiert. Ein Vierteljahrhundert ist vergangen und die einstige Kanzlerin Merkel erwacht aus einer lang anhaltenden Bewusstlosigkeit. Und sie wird mit einer neuen Realität konfrontiert … Viel Spaß beim Lesen!

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Michael Sohmen

SIE IST WIEDER DA

(Sie war dann mal weg)

Roman     

E-Book Version 3.1

Eines Morgens in der Zukunft

»Sie ist aufgewacht!«

Es waren die ersten Worte, die ich hörte. Als ich wagte, meine Augen zu öffnen, bereitete mir das Licht intensive Höllenqualen. Sofort schloss ich sie wieder und versuchte, anhand der Stimmen eine Antwort auf die Frage zu finden, die sich mir aufdrängte. Wo bin ich?

Nebulös tauchten erste Erinnerungen auf. Szenen eines Wahlkampfs erschienen vor meinem geistigen Auge. Ich entsann mich, dass dieser der schwierigste war, den ich in meiner Karriere jemals durchstehen musste. Nun jedoch befand ich mich auf einem Krankenbett und war aus einer Bewusstlosigkeit erwacht. Offenbar hatte man mich auf einer meiner Wahlkampfveranstaltungen attackiert. Es war die logische Erklärung. Diese Bundestagswahl hatte sich derart zugespitzt, dass es zuletzt um nichts weniger ging als um unser aller Schicksal, die Erhaltung unseres demokratischen Systems und unserer christlichen Werte. Mein Land war gespalten. Parteien der extremen Rechten und der radikalen Linken waren derart stark geworden, dass ich alles daran setzten musste, unsere Wähler vor einer Riesendummheit zu bewahren. Braun und Tiefrot waren politische Richtungen, von denen man lange gehofft hatte, dass sie in der Versenkung der Geschichte verschwinden würden. Die galt es zu bekämpfen. Wer so wie ich als Politikerin ständig in der vordersten Reihe stand, war jederzeit gefährdet. Überall. Von spontanen Ausbrüchen geistig verwirrter Menschen, die hofften, es mit einer Messerattacke zur besten Sendezeit ins Fernsehen zu schaffen bis zu Aktivisten, die ein politisches Attentat verübten. Oder einen Berufskiller engagierten, der bereit war, gegen eine große Summe Geld dergleichen zu tun. Wenn letzteres der Fall gewesen wäre, hatte er seinen Auftrag nicht erfüllt. Ich war am Leben. Abermals unternahm ich einen Versuch, die Augen zu öffnen. Sehr langsam gelang es mir. Ich konnte mich an das gleißende Licht gewöhnen und erkennen, wo ich mich befand. Meine erste Annahme bestätigte sich. Dies war ein Krankenzimmer. Es sah aus wie eine Intensivstation. Von meinem linken Arm führte ein Plastikschlauch zu einem Ständer. Eine durchsichtige Flüssigkeit tropfte aus einem Beutel in einen Zylinder. Waren es Schmerzmittel? Oder nur eine harmlose Kochsalzlösung? Von meiner Position aus konnte ich keine Aufschrift erkennen. Das Kürzel NaCl hätte ich ohne medizinische Kenntnisse sofort entschlüsselt. Schließlich habe ich ein Studium der Physik absolviert.

Ein älterer Mann mit Hornbrille trat in den Raum. Eine Kompanie von Begleitern in weißen Kitteln folgte ihm. Dies war mit Sicherheit der Oberarzt, der zusammen mit seinen Kollegen meinen Gesundheitszustand begutachteten wollte. Mich erinnerten solche Auftritte immer an eine Entenfamilie auf Wanderschaft. Besser gesagt, von Schwänen. Komplett in weiß.

»Mensch Merkel?« Er lächelte. Seine Worte empfand ich als sehr befremdlich. Es war eine seltsame Art, jemanden, der gerade aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht war, zu begrüßen. Vielleicht war es eine psychologische Strategie, um einen vorsichtig auf das hinzuweisen, was man war. Falls der Patient Gehirnschäden davongetragen hätte. Es ergab Sinn, dem potentiell Desorientierten zu erklären, dass er ein Mensch war und danach seinen Namen auszusprechen. Das leuchtete mir ein. Es war schlau. »Sprechen kann sie wohl noch nicht«, flüsterte der Mann zu seinen Begleitern.

»Doch, ich kann sprechen!«, meldete ich mich zu Wort. »Nur hatte ich gerade nachgedacht, warum Sie mich nicht mit Frau Merkel ansprechen. Oder mit Doktor Merkel. Doch das erwarte ich nicht von Ihnen. So viel Wert lege ich nicht auf meinen Titel. Machen Sie sich nur keine Umstände, gerne können Sie mich einfach mit Frau ansprechen.« Die Weißkittel tuschelten untereinander. Der Anflug von Entsetzen in einigen Gesichtern wich Ratlosigkeit. Nun sprach der Arzt erneut.

»Es geht Ihnen gut, wie ich sehe. Darf ich Sie dennoch mit Mensch Merkel ansprechen? Empfinden Sie diese Bezeichnung als störend?«

»Ich bin Schlimmeres gewohnt«, entgegnete ich. Das war Ironie. Im nächsten Moment bereute ich die Antwort. Denn sie brachte Erinnerungen zurück, die ich hatte verdrängen wollen. Ständig beschimpft zu werden, das brachte mein Berufsalltag mit sich. Jederzeit hatte ich es tapfer hingenommen, das war mein Erfolgsrezept. Genau das schätzten die Meisten an meinem Charakter. Denn anders als die Sensibelchen schluckte ich Beleidigungen wie bittere Pillen und stand am Ende als moralischer Sieger da. Auf diese Weise war ich auf meiner Karriereleiter stetig aufwärts geschritten. Ganz anders als dieser Schröder, der großzügig austeilen, aber kaum etwas einstecken konnte. Dieser Mensch, der damals beim Kopf-an-Kopf-Rennen um das Kanzleramt in der Wahl knapp unterlegen war. Der sich dennoch als Sieger fühlte und in aller Öffentlichkeit so frech und beleidigend wurde, dass er sich binnen weniger Minuten in sein politisches Aus katapultierte. Sein größter diplomatischer Fehltritt. Und sehr ungeschickt, da er seinerseits vor Gericht gezogen war, als jemand behauptet hatte, er würde seine Haare färben. Eigentlich hätte ich diesem Schröder dankbar sein können, dass er derart leichtsinnig seinen Abgang von der politischen Bühne bereitet hatte … Nein! Dankbarkeit führte nun doch zu weit.

Es gab weit schlimmere Persönlichkeiten. Zur wahren Geduldsprobe wurde dieser vor Überheblichkeit strotzende Berlusconi, der mit seinen Kritikern wenig zimperlich umsprang. Ein Mann, der im Austeilen derart weit ging, dass er einen Eintrag im Guinness-Buch der Beleidigungen verdient hätte. Falls es ein solches Werk gegeben hätte. Die Retourkutsche kam von meinen Amtskollegen. Die Bezeichnung des italienischen Premiers als Clown war durchaus passend, politisch jedoch unprofessionell. Einzig und allein zählte, wie man in der Öffentlichkeit dastand. All dies war ein harter und steiniger Weg, doch musste man das Wesen der Diplomatie verstehen, sich selbst zu beherrschen lernen und ein enormes Maß an Selbstdisziplin aufbringen. Nur dann konnte es einem gelingen, in der Position des Regierungschefs viele Amtszeiten zu überstehen. Oft hatten sie mich fast so weit, dass ich alles hingeschmissen hätte. Für die Griechen hatte ich alles riskiert und meine ganze Überzeugungskraft in die Waagschale geworfen. Und womit hatten sie es mir gedankt? Mit diesen widerwärtigen Darstellungen in SS-Uniform und mit Schnurrbart. Wenn Dummheit laufen könnte, dann wäre … vielleicht ist es nicht überraschend, dass der Marathonlauf in Griechenland erfunden wurde. Ständig vor den eigenen Problemen davonzulaufen, das schien ihre Lebensauffassung zu sein.

 Immer noch konnte ich mir aber nicht erklären, was diese Bezeichnung Mensch bedeuten sollte.

»Mir ist bewusst, dass manche Dinge für Sie ungewohnt sein könnten«, riss der Doktor mich aus meinen Gedanken. »Im Zuge der Gleichberechtigung wurde die Anrede Herr und Frau durch die neutrale Bezeichnung Mensch ersetzt. Zudem verzichtet man heutzutage auf Titel, um Menschen ohne einen höheren Bildungsabschluss nicht zu deklassieren. So ist es zumindest bei uns. Im Demokratischen Bayern.«

»Hat Herr Seehofer das durchgesetzt?«, fragte ich spontan. Beim Wort Herr blickten meine Besucher mich wieder entsetzt an. Ich korrigierte mich: »Der Mensch Seehofer.« Diesen ständig polternden Ministerpräsidenten hatte ich wohl unterschätzt. Es war ein geschickter Schachzug. Als Mann konnte man mit Feminismus bei Frauen durchaus erfolgreich nach Wählerstimmen fischen. Was die Abschaffung der Titel anging, könnte es die eine oder andere Stimme von politisch Linksgerichteten für seine Christlich-Soziale Union einbringen. Doch ein Punkt war seltsam. Was sollte das? Bayern war eine Demokratie, solange ich denken konnte. Trotz langjähriger Alleinherrschaft durch die Christsozialen. »Was meinten Sie mit Demokratisches Bayern?«

»Nun, Sie befinden sich in Bayern. Das Land ist eben demokratisch.« Er lächelte. Doch ich wurde immer noch nicht schlau daraus. Man musste ihm wohl jede Information Stück für Stück aus der Nase ziehen. Unbedingt wollte ich zudem erfahren, wie es um die Wahlen stand. Vielleicht war mittlerweile alles entschieden und die Abstimmung für meine Partei erfolgreich verlaufen? Denn einem Politiker, der einem Attentat zum Opfer fiel und seinen Wahlkampf abbrechen musste, brachte dies klare Sympathiepunkte ein. Auch wenn die Wahrheit nicht angenehm sein würde, ich musste einfach wissen, wie die Lage war. Selbst wenn die Bundestagswahl schlechter verlaufen wäre, als ich befürchtet hatte. Es war wichtig, zu erfahren, ob die große Koalition wieder gelingen würde. Ob wir vielleicht noch die Freidemokraten oder die Grünen hinzunehmen müssten, damit es für eine Regierungsmehrheit reichte. Diese Ärzte werden sicher die Abstimmungsergebnisse verfolgt haben.

»Wie steht es um die Wahl? Können Sie mir etwas darüber berichten?«

»Welche Wahl?«, fragte eine der Ärztinnen verdutzt, worauf der Oberarzt sie mit einer Handbewegung zum Verstummen brachte. Diese Geste erschreckte mich. Seine Reaktion konnte nichts Gutes bedeuten. Sie hätten es mir sicher sofort gesagt, wenn die Unionsparteien sich erfolgreich durchgesetzt hätten. Oder sich zumindest auf einem akzeptablen Niveau gehalten hätten. Es war nicht auszuschließen, dass die SPD im Schlussspurt derart abgesackt wäre, dass es nicht mehr für eine große Koalition reichte. Das wäre zwar bedauerlich. Doch letztendlich waren diese Genossen selbst schuld. Hätten sie etwas mehr Profil gezeigt und den Wählern einen überzeugenden Grund angeboten, warum man sie anstelle dieser Linkspartei wählen sollte, hätten sie leicht Paroli bieten können. Zwar hatten die Linken nur Blödsinn in ihrem Programm, doch kamen ihre Sprüche bei den Wählern gut an. Kleine Leute werden stets ausgebeutet und müssen schuften wie blöde, skandierten sie immer. Denen hätte ich gerne einmal erklärt, dass es überhaupt der schwierigste Job war, Menschen auszubeuten. Doch das verschwieg ich lieber. Mit solchen Wahrheiten war keine Medaille zu holen.

»Es gibt sicher noch einiges zu erklären. Doch es ist besser, Sie erholen sich noch eine Weile«, sprach der Oberarzt mit ruhiger Stimme. Trotzdem erkannte ich, dass sich hinter seiner Stirn Unausgesprochenes verbarg. Seine Stimme wirkte unecht. Ich hörte Unsicherheit. Nach vielen Jahren im diplomatischen Einsatz hatte ich gelernt, hinter die Fassaden zu blicken. Was die modernsten Röntgengeräte der Welt nicht vermochten, das konnte ich an der Stimme und anhand der Körperhaltung erkennen. Ich konnte sehen, was im Kopf der Menschen vor sich ging. Die rechte Hand, die der Arzt in der Tasche seines Kittels verborgen hatte, ließ irgendetwas beständig klicken. Es war möglicherweise ein Kugelschreiber, den er unaufhaltsam auf- und zuschnappen ließ. Der Mann war wahnsinnig nervös … Nein! Nicht irgendwann. jetzt und sofort musste er mich über die derzeitige Lage ins Bild setzen. Ich richtete mich im Bett auf und sprach höflich, aber bestimmt.

»Mir geht es bestens!« Mein physischer Zustand machte mir keine Sorgen, obwohl ich fühlte, wie steif meine Gelenke waren. Es war wohl darauf zurückzuführen, dass ich eine lange Zeit hier gelegen haben musste. Meine wahre Sorge galt jedoch meinem Land. »Meine Damen und Herren, sagen Sie mir einfach, wie es um die Bundesrepublik Deutschland steht. Ich will die Wahrheit wissen!«

»Sie meinen die Islamische Republik?«, fragte die sehr ungeschickte wie vorlaute Ärztin. Auf den strafenden Blick ihres Chefs reagierte sie verstört und schlug sich die Hand vor den Mund.

»Entschuldigen Sie uns einen Moment. Wir müssen kurz etwas besprechen.« Der Oberarzt sprach kurzatmig. Ein Knacken in seiner Kitteltasche hörte sich an, als ob er den Kugelschreiber gerade zerbrochen hatte.

Mein Zimmer leerte sich schnell, die Tür wurde geschlossen und ich hörte sie draußen diskutieren. Durch die schallgedämmte Tür konnte ich nicht verstehen, worüber gesprochen wurde. In meinem Kopf brüteten die Gedanken über dem wenigen, was gesagt worden war. Was sollte das mit der Islamischen Republik? Machten sie sich womöglich über mich lustig? Der Islam gehört auch zu Deutschland, hatte Bundespräsident Wulff gesagt. Er tat dies angesichts der heimtückischen Morde, die von Neonazis begangen wurden. Weil erst die Falschen beschuldigt wurden, bis endlich herausgefunden wurde, dass die Täter aus der rechtsextremen Szene stammten. Es waren genau die richtigen Worte zur richtigen Zeit. Nach den brutalen Attentaten in Paris hätte man das kritischer formuliert. Vielleicht so: Wenn der Islam bereit ist, sich an unser Grundgesetz zu halten, dann ist er willkommen. Ich hatte mich in meiner langen Amtszeit mit vielen Vertretern dieser Religion getroffen. Häufig konnten wir eine gemeinsame Linie finden. Schließlich hatten wir ähnliche Grundwerte. Meine politische Einstellung ist, soweit wie möglich einen Konsens herbeizuführen und Meinungen anderer zu tolerieren. Soweit sie noch tolerierbar sind. Dazu gehört auch der Islam. Keinesfalls würde ich soweit gehen, mein Land dieser Religion zu unterwerfen und umzubenennen. Offenbar trieben diese Leute Scherze mit mir und hatten einen Heidenspaß dabei, mich vorzuführen. Vielleicht hatten sie konträre Ansichten zu meiner Politik und wollten mir eins auswischen. Das ginge eindeutig zu weit! Von seriösen Ärzten hätte ich etwas anderes erwartet, als sich über Patienten lustig zu machen. Was auch immer sie für Beweggründe haben mochten. Aus öffentlichen Diskussionen kannten sie mich wahrscheinlich als einen Menschen, der alles mit sich machen ließ. Sie konnten aber nicht sehen, was sich hinter den Kulissen so abspielte. Über die Jahre hatte ich ein Netzwerk mit Kontakten zu den einflussreichsten Bürgern der Bundesrepublik aufgebaut. So konnte ich dafür sorgen, dass Leute, die nicht erkennen wollten, wer hier alle Fäden in der Hand hielt, klein aussahen. Und zwar ganz, ganz klein!

Ich werde sie zur Rede stellen. Zuerst musste ich mich von dem Zeug befreien, das in meinem linken Arm steckte. Vorsichtig zog ich das Pflaster ab und drückte einen Finger fest auf die Armbeuge, um die Nadel vorsichtig herauszuziehen. Meine Beine waren beim ersten Versuch sehr wacklig, doch nach einigen Streckübungen konnte ich aufstehen und mich ohne größere Einschränkungen frei im Zimmer bewegen. Ich wollte nun auch wissen, was mir aus den Beuteln eingeflößt worden war. Das eine war Natriumchlorid. So, wie ich vermutet hatte. Dies wird fast jedem verabreicht, der über mehrere Tage bewusstlos dahindämmert, damit er nicht dehydriert. Der zweite Beutel war beschriftet mit Nährlösung. Diese wurde Patienten zugeführt, die mehr als eine Woche versorgt werden mussten. Keine Schmerzmittel waren dabei. Also war ich nicht ernsthaft krank, nur längere Zeit ohne Bewusstsein gewesen. Wie lange? Ohne Zögern öffnete ich die Tür. Schreckhaft wie Kaninchen zuckte die weißgekittelte Versammlung zusammen.

»Nun mal Klartext! Was wird hier gespielt?«, forderte ich und setzte darauf, dass mein energisches Auftreten die entsprechende Wirkung erzielen würde. Ich war keine Patientin mehr, sondern eine resolute Frau, der man Rechenschaft schuldete. »Es wäre das Beste, Sie holen mir einfach einen meiner Berater. Von mir aus auch den Gabriel.«

»Wen meinen Sie? Den Erzengel?«, fragte die Ärztin mit großen Augen. Das fand ich nun völlig daneben. So abstinent von Politik konnte einfach niemand sein, dass er meinen Vize nicht kannte. Speziell, wenn man der gehobenen Bildungsschicht angehörte. Doch wie sie mich alle stumm wie Goldfische ansahen und nichts erklären wollten, beziehungsweise ahnungslos mit den Schultern zuckten, brachte mich aus der Fassung. Fast konnte ich mich nicht mehr beherrschen, ihnen noch deutlicher die Leviten zu lesen. Hier war der Punkt erreicht, an dem meine Gutmütigkeit endete. Jetzt war endgültig Schluss mit lustig. Sollten diese werten Herrschaften mich weiter auf den Arm nehmen, dann würden sie schon sehen, mit wem sie sich angelegt hatten und bald erkennen, wer von allen hier Anwesenden den meisten Einfluss über ihre zukünftige Karriere hatte.

»Wenn Sie nicht in der Lage sind, einen meiner Berater hierher zu bringen, dann bleibt mir nur übrig, dies selbst zu tun.« Nach einem Blick herab auf diesen Schlafanzug, in den ich gekleidet war, gab ich noch die Anweisung. »Bringen Sie mir meine Kleidung. Ich fahre sofort nach Berlin!«

»Mit Sicherheit wollen Sie nicht dorthin. Das ist eine sehr, sehr schlechte Idee.« Der Oberarzt schüttelte den Kopf. »Es ist derzeit unmöglich, dorthin zu gelangen.«

»Was ist denn das Problem? Wird im öffentlichen Personenbeförderungswesen mal wieder gestreikt? Rufen Sie mir einfach ein Taxi, das mich ins Kanzleramt chauffiert.«

»Nein. Derzeit weiß ich nichts von einem Streik. Das Problem ist …« Er dachte kurz nach. »Es geht nicht. Wegen der Grenzanlagen im Osten. Da kommt keiner durch. Weder von Bayern aus, noch mit einem Umweg über das islamische Restdeutschland. Keiner wird hineingelassen. Selbst auszureisen soll nicht möglich sein.«

So langsam machte mich die Situation konfus. Es drängten sich in meinem Kopf immer mehr Fragen in eine Warteschlange und bisher gab es keine einzige Antwort, die mir gefallen hätte. Eines war glasklar: die Bundesrepublik befand sich in einer schwierigen Lage. Es musste sich einiges verändert haben, während ich bewusstlos war. Wie lange wird dies wohl gewesen sein? Weder meinem Vizekanzler, noch seinem Kandidaten Schulz traute ich zu, dass sie in meiner Abwesenheit für derartige Änderungen gesorgt hätten. Trotz aller Äußerungen, die sie im Wahlkampf von sich gaben. Dinge, die sie zwangsläufig sagen mussten, damit sich die SPD als eigenständige Partei präsentieren konnte und sich ihre letzten verbliebenen Wähler für ihre Partei entscheiden mochten. Dennoch stand der Vize stets voll und ganz auf meiner Linie, auf Gabriel konnte ich mich immer verlassen. Übereilte Aktionen passten ganz und gar nicht zu ihm. Es musste also deutlich mehr Zeit vergangen sein, als ich bis zu diesem Augenblick vermutet hatte. Offensichtlich hatte ich nicht nur die Zeit der Bundestagswahl verpasst. Es muss wohl eine neue Regierung an die Macht gekommen sein – eine, die allerlei Unfug trieb. Die alten Grenzsicherungen waren also wiederhergestellt geworden. Jemand muss sich den Spaß erlaubt haben, die DDR nach altem Vorbild wiederzuerrichten. Dafür kam nur einer infrage, dieser Sonneborn! Nicht zu fassen! Was für ein hinterhältiger Chaot! Die Partei hatte er vorgeblich als Parodie auf die SED-Einheitspartei gegründet. Alle hatten dies für Spinnerei, besser gesagt, für eine Satire gehalten. Niemand hat vor, eine Mauer zu errichten, hatte er zitiert. Dazu das Augenzwinkern – das fanden alle köstlich. Da werden einige, vielleicht zu viele, gedacht haben: der ist so witzig, den wählen wir! Keiner hätte daran gedacht, dass der Mann es ernst meinen könnte. Selbst ich nicht. Das muss ich leider zugeben. Jetzt ergibt der ganze Unfug einen Sinn. Wie naiv war ich, dass ich seine Strategie nicht durchschaut habe! So viele Staatslenker hatte ich getroffen, die als Komödianten großartig gewesen wären, die sich und ihre Possen sehr ernst nahmen. Die ich ernst nehmen musste, da sie sich selbst für Wesen mit Vernunft und Verstand hielten. Bizarre und narzisstische Persönlichkeiten, bei deren Auftritten manch einer laut gelacht hätte. Das hatte ich mir jedoch niemals erlaubt. Damals in der widersprüchlichen Zeit der DDR hatte ich gelernt, wie man Menschen genau einschätzen konnte. Ich wusste, wer von ihnen ein Pappenheimer war und wer nicht. Solch eine Heimtücke wie bei diesem Herrn Sonneborn habe ich in meinem ganzen Politikerleben noch niemals erlebt. Das war ein Geniestreich. Ich musste dringend handeln! Zuallererst brauchte ich jetzt einen aktuellen Lagebericht.

»Bitte! Ich muss wissen, was im meinem Land passiert ist. Gibt es in Ihrem Haus einen Internetzugang? Oder wenigstens einen Fernseher, damit ich mich über alle Neuigkeiten auf den aktuellen Stand bringen kann?«

»Damit kann ich Ihnen leider nicht dienen. Zudem muss ich mich noch um andere Patienten kümmern.« Der Oberarzt vollführte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber ich kümmere mich darum, dass Sie in dieser schwierigen Situation nicht im Regen stehen gelassen werden. Jetzt, da Sie nach langer Zeit zu Bewusstsein gekommen sind. Ich werde einen Termin mit unserem Hauspsychologen vereinbaren.«

Er ließ mich alleine stehen und zog die weiße Mannschaft hinter sich her. Was sollte ich tun? Abwarten, das kam für mich nicht infrage. Ich ging auf mein Zimmer und öffnete den Wandschrank. Dort hing mein rotes Jackett und die anderen Kleidungsstücke. Auch meine Handtasche befand sich darin. Ohne lange Suche fand ich mein Handy. Es ließ sich nicht einschalten. Was mich nicht überraschte, denn spätestens nach einer Woche, die sicher vergangen war, musste der Akku leer sein. Das Ladegerät hatte ich immer dabei und schloss es an die Steckdose an. Nun konnte ich mein Gerät direkt einschalten.

Ich wählte Herrn Altmeier und aktivierte die grüne Taste. Es tat sich nichts. Der Balken, der die Verbindungsqualität zeigte, leuchtete rot. Kein Netz verfügbar. Nun konnte ich die Beschwerden vieler Patienten über die Tricks der Weißkittel verstehen. Dieses Krankenhaus stand wie viele andere wohl unter permanentem Zwang, zusätzliche Einnahmen zu generieren, um seine Kosten zu decken. Also hatten sie einen Störsender installiert, damit die Leute gezwungen waren, die fest installierten Festnetztelefone zu benutzen. Wahrscheinlich, wie üblich, für einen Wucherpreis. Doch in meiner aktuellen Situation war der Preis irrelevant. Selbst, wenn ein einziger Anruf hundert Euro kosten würde. Ein Zimmertelefon fand ich in meinem Raum leider nicht. Wahrhaft ein miserabler Service! Ich kam mir vor wie eine Gefangene, die von jedem Kontakt zur Außenwelt abgeschnitten war. Irgendwo in dieser Anstalt sollte es doch eine Möglichkeit geben, einen Anruf nach Außerhalb zu tätigen. Ich musste mich einfach auf die Suche begeben.

Nachdem ich meinen Klinikanzug gegen meine seriösere Kleidung ausgetauscht hatte, mit der ich mich auch in die Öffentlichkeit wagen durfte, betrachtete ich mich vor dem Spiegel. Das rote Jackett sollte dringend gebügelt werden. Meine Frisur war eine absolute Katastrophe. Ich sah aus wie eine Vogelscheuche. Was für eine Frechheit! Während ich bewusstlos war, hatte man mein Äußeres völlig vernachlässigt. Um solche Dinge schien man sich in dieser Klinik einfach nicht zu kümmern. Die Bewohner dieser Einrichtung wird dieses nachlässige Äußere zwar nicht stören, aber in diesem Zustand konnte ich mich nicht in die Öffentlichkeit wagen. Als Politikerin, die Deutschland repräsentierte, auf keinen Fall. Ich muss dahingehend etwas unternehmen. Bügeln würde ich notfalls selbst tun. Einen Frisör würde jedes halbwegs vernünftig organisierte Krankenhaus irgendwie auftreiben können. Was diese Einrichtung anging, da stand es nicht gerade zum Besten. Doch wenn man die Leute sanft unter Druck setzte - so richtig sanft - dann ging fast alles.

»Mensch Merkel!« Die Tür flog auf und eine der weißgekleideten Damen stand plötzlich im Raum. Das war kein Stil, so frech hereinzuplatzen. Ohne anzuklopfen! Solch ein Verhalten an den Tag zu legen, war äußerst fragwürdig und fast dekadent. Eine Kanzlerin hatte ein Recht auf Privatsphäre wie jeder Normalbürger auch. »Der Psychologe hat gerade Zeit, ich soll Sie zu ihm bringen!«

»Nun gut, dann gebe ich diesem Menschen eine Chance. Vielleicht kann er mir erklären, was hier vor sich geht.« Jetzt war ich gespannt, was der Mann mir zu sagen hatte. Weit größere Herausforderungen hatte ich schon gemeistert. Obwohl man mir häufig vorgeworfen hatte, ich würde stur an einer einzigen Lösung festhalten und wäre wie eine eiserne Lady, wäge ich jedoch stets alle möglichen Alternativen ab. Wenn mir Leute stolz ihren Plan A2 präsentierten, arbeitete ich längst an Plan B. Oder Plan B2 … Doch bevor man große Reden schwang, sollte man sich ein genaues Bild von der Lage verschaffen. Und das war jetzt mein Ziel.

Die Vorführdame klopfte an die Tür des Raums 210. Nach einer Weile öffnete sich langsam die Tür. Ein völlig verlebt wirkender Mann stand auf der Schwelle und blickte zu Boden. Oje! - ich hoffte, das war nicht der Psychologe, sondern sein Patient, der gerade die Therapiestunde beendet hatte.

»Unser Psychologe, Mensch Strang!«, stellte sie mir die armselige Figur vor. Also doch! Gerade im letzten Moment konnte ich meinen Unterkiefer am Herunterklappen hindern. Wenn jemand auf dieser Welt so etwas wie eine Seelsorge benötigte, dann war es dieser Mann. Es war allgemein bekannt, dass Psychologiestudenten dieses Fach wählten, um mit sich selbst zurechtzukommen und ihre eigenen Probleme zu verstehen. Diese Sitzung wird Zeitverschwendung sein, war mir in diesem Augenblick klar. Vielleicht half der Umstand manchen anderen, wenn er sah, dass es diesem Psychiater, offensichtlich noch viel schlechter als ihnen selbst ging. Um zu denken: im Vergleich zu ihm bin ich eigentlich ziemlich gut dran. Danach gingen sie therapiert hinaus. Eine andere Erklärung wäre der Gedanke: bevor ich mir noch so eine Sitzung zumute, reiße ich mich lieber zusammen und höre auf mit dem Jammern. Was sollte ich jedoch bei dem Mann? So ein Psychologe wird genauso wenig dem Land dienen wie dessen Kollegen und Vorgesetzte. Hier wäre ich selbst die Therapeutin. Mit hängendem Kopf bat er mich hinein und wies zu einer Ecke, in der eine Couch stand. Aus reiner Höflichkeit nahm ich Platz.

Er setzte sich mir gegenüber. Der Mann war auf den zweiten Blick noch wesentlich therapiebedürftiger. An weißen Streifen, die sich von seinem Handgelenk bis zum T-Shirt zogen, erkannte ich, dass er seine Arme geritzt hatte. Zwei davon waren rot und sehr frisch. Er war demnach noch aktiv, seine psychischen Schmerzen durch körperliche Qualen zu überdecken. Vielleicht hatten sie den armen Menschen gerade erst aus der Psychiatrie geholt. Warum setzte man mir einen Patienten als Psychiater vor? Mitleid hatte ich mit ihm - okay - aber ich war hier nicht die Betreuerin. Weder hatte ich ein psychiatrisches Beratungsgespräch nötig, noch half mir dies alles irgendwie weiter, um meine Sorgen um das mir liebgewonnene Land zu lindern oder mir die Befürchtungen zu nehmen, dass es um diese bewährte Demokratie schlecht stand.

»Worüber möchtest du mit mir Reden?« Der Mann setzte sich in den Sessel gegenüber, zog eine Rasierklinge aus der Tasche und begann, sich am Arm zu ritzen. Er begann im Handgelenk, zog die scharfe Klinge langsam seinen Unterarm aufwärts, worauf es purpurrot heraustropfte. Während er am Oberarm sein blutiges Werk fortsetzte, sprach er weiter: »Wir können über alles reden, was dich quält. Was martert dich gerade?«

Ich sprang auf, öffnete die Tür und lief hinaus. Wenn mich etwas gequält hatte, war es, ihm bei seiner Selbstverletzung zuzusehen. Ich bin zwar offen für Vieles. Jemand wie ihm eine Chance zu geben, gehörte dazu, aber in so einem Fall wäre er besser bedient, wenn er professionelle Hilfe bekäme, statt jemanden betreuen zu müssen. Es schüttelte mich, als ich daran dachte, was dieses leidgeplagte Wesen sich selbst gerade angetan hatte. Direkt vor meinen Augen. Ich wusste, dass es nicht gut um den Medizinsektor stand. Dass es aber solch katastrophale Ausmaße angenommen hatte, schockierte mich mehr als je zuvor. Man hatte mir immer wieder vorgeworfen, dass ich den Bereich kaputtgespart hätte. Als könnte ich für alles, was auf der Welt passierte, verantwortlich sein. Bis in die kleinsten Lebensbereiche. Wenn schon, hätten sie das dem Schäuble vorwerfen können – oder dem Gesundheitsminister. Wie hieß der nochmal? … Egal, der Posten ist sowieso ein Schleudersitz. Jetzt wünschte ich mir, dieser Seehofer würde immer noch dieses Amt innehaben, dann könnte er mir nicht ständig in die Bundespolitik hineinpfuschen. Doch eines musste ich ihm zugestehen: er war einer der wenigen halbwegs befähigten Gesundheitsminister gewesen. Wenn ich an seine Nachfolgerinnen Fischer, Schmidt und den Rösler dachte, kam mir immer noch das Grauen. Manchmal wünschte ich mir das Gesundheitssystem der DDR zurück. Andererseits war dies fast das Einzige, was im Sozialismus funktioniert hatte und daher hatte ich mich mit dem System der Bundesrepublik schnell anfreunden können. Man gab sich sehr viel Mühe, auch wenn nicht alles perfekt war. Doch warum - das fragte ich mich immer wieder - mussten sich alle immer bei mir beschweren und fordern, ich müsste unbedingt etwas unternehmen, wenn es jemandem irgendwo wehtat oder wenn man sich ungerecht behandelt fühlte. Als könnte es diese einzige Person richten, die gerade das Kanzleramt führte. Benzinpreise wären zu hoch und die Kanzlerin sollte dafür sorgen, dass der Sprit billiger würde. Kurz darauf waren die Ölpreise viel zu niedrig und deswegen jammerten sie alle abermals. All ihre Ersparnisse hätten sie in Öko-Energie investiert und riskante Wetten auf das vielversprechende Fracking abgeschlossen, plötzlich wäre ihre gesamte Altersvorsorge futsch aufgrund des niedrigen Ölpreises. Ich konnte eben nicht zaubern und mich nicht um jedes Wehwehchen jedes Einzelnen im Alleingang kümmern. Wir waren eine Demokratie. Regieren hieß nicht mehr oder weniger, das Land zusammenzuhalten. Anders als eine Diktatur, in der eine Person über alles bestimmte. Nicht 'der Staat bin ich' – nein, selbst als Kanzlerin war ich nur ein Rad an diesem Wagen. Vielleicht war ich ein größeres Rad als ein Durchschnittsbürger. Aber nicht das einzige. Mit einem fährt es sich zudem nicht gut. Deutschland wäre nicht Exportweltmeister geworden, wenn unsere starken Firmen Mercedes, Volkswagen, BMW, Audi oder Porsche ihre Autos nur mit einem Rad ausgeliefert hätten. Sie hatten den Dreh raus, lieferten alles mit vier Rädern. Plus Ersatzrad. Und Lenkrad – abgesehen von diesem komischen Joystick, der sich niemals durchgesetzt hatte. Solange diese Fahrzeuge noch nicht selbst fuhren. Die einzige Firma, die schwächelte, war Opel. Die Firma gehörte aber nicht uns, sondern war ein Subunternehmen unserer amerikanischen Freunde. Natürlich wollte ich nicht schlecht über sie reden, da wir ihnen den Frieden auf der Welt verdankten. Bis auf die Länder, in denen Bürgerkrieg herrschte, Staaten wie … das ginge jetzt jedoch zu weit. Gute Freunde durften auch Fehler machen. Selbst größere. Bei katastrophalen Dummheiten konnte man sich notfalls auch von Menschen trennen – denn wer wollte schon mit einem Amokläufer oder einem Terroristen befreundet sein. So einfach lief es in der großen Politik aber nicht. Da war es wie in einer Familie. Man konnte sich die Verwandten nicht aussuchen, man muss ihnen beistehen. Auch jemandem wie diesem Bush junior und selbst diesem Trump. Ursprünglich dachte ich, das gebe ich zu, der junge George wäre jemand, der vorangehen würde und den Frieden im Nahen Osten wiederherstellen könnte. Aber ich hatte dazugelernt. Die fatalen Defizite der Amerikaner hatten sich erst viel später gezeigt. Unsere Bundeswehr leistete damals Unglaubliches beim Wiederaufbau der Infrastruktur, die Ausbildungsprogramme für die innere Sicherheit waren vorbildlich. Ursprünglich hatte ich darauf vertraut, dass die Amerikaner etwas Ähnliches zustande bringen würden. Weil ihnen das in Deutschland so unglaublich gut gelungen war, würde das auch im instabilen Nahen Osten funktionieren. Die US-Marines und ihre Armee waren aber mittlerweile spezialisiert, feindliche Objekte auszuschalten. Es war ihnen geglückt, Menschen wie Bin Laden, Saddam Hussein und Gaddafi zu beseitigen – viele andere dürfen aus Gründen der Vertraulichkeit natürlich nicht genannt werden. Letzten Endes war es jedoch nur eine Show für die Medien, damit die US-Bürger sich als Weltmacht fühlen konnten, ihrem Präsidenten vertrauten und sich nicht über die immensen Militärausgaben beschwerten. Für Amerikaner ist Fernsehen das, was für uns die reale Welt ist. Die Grenzen zwischen Lüge und Wahrheit wurden dort durch Bild-Ton-Technik völlig aufgehoben, das musste ich bald schmerzlich feststellen. Geschickte Populisten konnten über dieses Medium Gerüchte streuen, die umso glaubwürdiger wirkten, je schlimmer sie waren. Zuerst war es mir recht, weil es bei uns eine aktive Gegenpropaganda durch das quasi staatlich finanzierte Fernsehen gab, um dieser plötzlich auftauchenden Reinkarnation des Nationalsozialismus Paroli zu bieten. Die Wirkung war jedoch völlig anders als erwartet und vergrößerte das Problem nur noch. Die rechtsextreme Pegida-Bewegung fand immer mehr Zulauf und gleichzeitig bekam Deutschland den Ruf, das Sozialamt der Welt zu sein. Ich wollte gar nicht wissen, wie viele antisemitische Araber von den Bildern rechtsextremer Demos in unser Land angelockt wurden. Nein! Das durfte einfach nicht sein. Definitiv kamen die meisten aus anderen Gründen. Genug der Philosophie jetzt! Ich war kein Mensch, der große Reden schwang, die sich um das Nichts drehten. Dafür waren meine Kollegen von der SPD zuständig … wie dieser Erzengel. Das nächste Mal würde ich ihn damit aufziehen und erzählen, dass ihn hier keiner kannte! Das war jetzt aber nicht wichtig, denn ich bin eine Frau der Tat. Ich hatte immer einen Plan, egal wie man ihn auch nennen mochte, Plan A oder wie auch immer. Jetzt war es wichtig, ein Telefon zu finden oder eine andere Kommunikationsmöglichkeit. Eine Verbindung zur Außenwelt. Egal was. Irgendetwas benötigte ich, um mir ein Bild zur Lage der Nation verschaffen zu können.

Ich begab mich hinunter zum Empfang. Die Dame, die gelangweilt in ihrem Glaskasten saß, erhob sich sogleich und lächelte. Hoffentlich fragte sie nicht nach einem Selfie mit der Kanzlerin. Im Moment hatte ich absolut keine Lust auf dieses Ich-will-auch-ein-Foto-mit-Merkel. Nicht in diesem Zustand.

»Kann ich etwas für Sie tun?«

»Ich würde gerne telefonieren!«

»Dann tun Sie es doch!« Sie schaute mich neugierig an. Menschenkenntnis schien ihre Stärke nicht zu sein.

»Ich habe kein Mobilfunknetz. Sonst hätte ich diese Frage ihnen gar nicht gestellt.« Die Dame war wohl begriffsstutzig. »Es ist wichtig!«

»Wenn es dringend ist, kann ich Ihnen auch mein Gerät leihen.« Sie zog einen Stöpsel aus ihrem Ohr und reichte das Ding durch das Sprechfenster. Ich warf einen Blick darauf. Ohrenschmalz klebte daran. Was sollte das? »Bitteschön, Sie wollten doch telefonieren? - Benutzen Sie es ruhig.«

Ich nahm den Gegenstand in Augenschein. Es entsprach dem Gummiteil eines In-Ohr-Kopfhörers. Wenn dies ein Scherz sein sollte, dann verstand ich ihn nicht. Hatten sich hier alle abgesprochen und gegen mich verschworen? War das hier die versteckte Kamera? Ich sah mein Gegenüber erneut an. Da fiel mir ein Fotokalender im Hintergrund auf. Februar 2050 stand dort. Diese Pharmaproduzenten verschenkten jährlich solche Kalender, die ihnen wiederum von Marketingfirmen aufgeschwatzt wurden. Die so reichlich mit Druckfehlern gespickt waren wie das Diktat eines Erstklässlers.

»Nein, Danke! Aber wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf: dieser Kalender stimmt nicht.«

»Meinen Sie?« Nachdem sie diesen kurz betrachtet hatte, nickte sie und drehte ein paar Blätter weiter. »Um den schert sich keiner. Er hängt dort nur dort wegen der Bilder.«

Ich betrachtete nun das Foto von Neuschwanstein. Den Kalender hatte sie geändert auf Mai. Doch stand darauf immer noch das Jahr 2050. Die Dame nahm das Gummiteil vom Tresen und steckte ihn in ihr Ohr.

»Ich meinte den Druckfehler!«

»Welchen Druckfehler?«

»Das Jahr!« Sie war wohl schwer von Begriff. Warum fiel ihr das nicht auf?

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.« Erneut wandte sie ihren Blick zum Kalender und betrachtete ihn länger. »Also. Der Mai hat 31 Tage. An den Wochentagen kann ich keinen Fehler erkennen. Mir ist nicht bekannt, dass der Mai 2050 irgendwie anders sein sollte.« Sie zuckte mit den Schultern.

»Das Jahr! Genau das meine ich. Ist es vielleicht ein Fehldruck aus dem Jahr 2015? Oder sogar von 2005?«

»Ach so, Sie meinten das Jahr.« Sie lachte auf. »Aber das stimmt, 2050! Warum sollte hier ein uralter Kalender hängen? … was ist mit Ihnen? Geht es Ihnen nicht gut?«

Ich hatte mich soeben am Empfangstresen festgeklammert, da mir einen Augenblick lang schwindelig geworden war.

»Es geht wieder. Ich war nur ein wenig überrascht. Es ist alles wieder okay.« Das war eine Notlüge. Nichts war in Ordnung. Ganz und gar nichts. Es hatte mich durchdrungen wie ein Schock. Was für eine Katastrophe!

So ergab sich aus dem ganzen Puzzle plötzlich ein klares Bild. Das merkwürdige Verhalten dieser Leute, die mir keine vernünftigen Antworten geben wollten. Sie taten dies, weil sie es nicht konnten. Wir hatten auf zwei unterschiedlichen Ebenen kommuniziert. Auf verschiedenen Zeitebenen. Ich befand mich bis soeben im damals und sie in der Gegenwart. Beide Seiten hatten völlig aneinander vorbeigeredet.

Ich durchforstete mein Gedächtnis auf das, was sich zuvor ereignet hatte. Es war Bundestagswahl. Ich erinnerte mich mit Grausen daran, wie sich die ersten Hochrechnungen entwickelt hatten. Ein entsetzlicher Tag. Die SPD war weit abgeschlagen und wurde sogar von der Linken überholt. Gleichzeitig schossen die Wahlergebnisse für die Rechtsextremen in die Höhe und überholten zeitweise sogar die Union. An diesem Punkt endeten meine Erinnerungen. Dort setzte wohl mein Blackout ein. Seitdem waren Jahrzehnte vergangen und ich lebte nun in einer vollkommen anderen Zeit. War das gruselig! Ich musste einiges nachholen. Das mit dem Telefonieren hatte sich nun erledigt. Nach so vielen Jahren würde wohl keiner meiner Berater noch im Amt sein.

»Gibt es hier irgendwo die Möglichkeit, eine Zeitschrift zu erwerben?«

»Sie suchen Lektüre? Am Ende des Klinikgeländes finden Sie einen Kiosk.«

»Danke für Ihre Hilfe.« Erleichtert trat ich aus dem Gebäude heraus. Es tat mir gut, ein Ziel zu haben und ich war froh, die kalten weißen Hallen hinter mir zu lassen und nicht mehr den Geruch von Desinfektionsmittel in meiner Nase zu haben. Angenehm frische Luft wurde von dem leichten Windzug herbeigetragen, der meinen Geist aufleben ließ und die düsteren Gedanken fortnahm. Ein Hauch von Sonnenlicht fiel auf den kurzgeschorenen Rasen, als ich die gepflasterte Einfahrt hinabging. Über der Ebene ragte eine Gebirgskulisse. Die Berge, um deren Gipfel sich Wolken versammelt hatten, schienen so nah zu sein, dass sie möglicherweise zu Fuß erreichbar waren. Der mit Klinikum Garmisch-Partenkirchen beschriftete Wegweiser erklärte mir auch, wo genau ich mich gerade befand. Dies waren die Münchner Hausberge am Rand der Alpen. Ein schöner Ort, um aufzuwachen.

Diese kleine Bude an der Ecke fand ich sogleich, hielt darauf zu und betrachtete die Auslagen. Das Meiste war mir jedoch unbekannt. Nur diese alten Groschenromane liefen offensichtlich immer noch. Zwischen den Sportzeitschriften und diversen Fan- und Hobbyzeitschriften konnte ich seltsamerweise kein einziges politisches Magazin finden.

»Kann ich Ihnen helfen?« Ein freundlicher Herr mit verfilzten Haaren blickte mich durch seine Brillengläser an. Ihm war schon aufgefallen, dass ich in diesen Druckwerken ohne Erfolg nach etwas gesucht hatte. Der Mann sah aus wie ein Grüner. Wie einer der Ursprünglichen, die ich auf Archivbildern aus Zeiten vor dem Mauerfall gesehen hatte.

»Ich suche ein politisches Magazin. Den Stern, Spiegel oder Focus. Von mir aus auch die Bildzeitung.«

»Bis auf den Spiegel sagen mir diese Namen nichts. Aber den verkaufen wir in Bayern nicht. Die Zeitschrift erhält man nur in der Islamischen Republik Deutschland. Deren Politik unterstützen wir auf keinen Fall und verkaufen deswegen auch nicht ihre Propagandablätter.« Er sah mich an und wartete offenbar auf die nächste Frage. Doch ich war sprachlos. »Ein politisches Magazin also …« Er zeigte zu den Zeitschriften auf der Ablage. »Wie wäre es mit der Titanic?«

»Nein!« Alles in der Welt, nur das nicht! Warum musste gerade dieses widerliche und von Schmierfinken produzierte Machwerk das Einzige sein, das immer noch verkauft wurde? Ich las den Titel der Zeitschrift, die daneben lag: O'zapft is! Was für ein lustiger Name. »Manche Dinge ändern sich wohl nie. Mag der Rest der Welt untergeh'n, auf der Wies'n wird g'feiert!« Ich versuchte, etwas Schwung in unseren Dialog zu bringen und hoffte, der Mann nahm mir den kleinen Scherz in Pseudo-Bayrisch nicht übel. Doch er starrte mich entsetzt durch seine schmale Brille an.

»So hätte ich Sie gar nicht eingeschätzt!«

»Das tut mir wirklich leid! Ich wollte Sie nicht kränken!« Der Mann hatte ausgesehen, als hätte er Humor. Doch selbst dem lustigsten Bayern schien es nicht zu gefallen, wenn jemand seine Mundart nachäffte. Ich wechselte schnell zu meinem eigentlichen Anliegen. »Vielleicht könnten Sie mich etwas beraten, da ich bei ihrem Angebot nicht so recht durchblicke. Ich hätte gerne ein politisches Magazin. Irgendeines. Nur nicht die Titanic!«

»Es gibt nur diese Beiden. Ich kann Ihnen gerne O'zapft is! verkaufen, obwohl ich die rechtsextremen Ansichten dieses Blattes ablehne.«

»Ein politisches Magazin? Ich hätte darauf getippt, dass es etwas mit dem Oktoberfest zu tun hat. Zumindest mit Bier.«

»Ach so!« Seine Miene wurde wieder freundlich. »Sie scheinen Einiges nicht mitbekommen zu haben, was sich in den letzten Jahren ereignet hat. Politik, oder was sich auf der Welt abspielt, ist wirklich nicht Ihr Spezialgebiet, oder irre ich mich?«

»Nun … ich beginne gerade, mich für solche Themen zu interessieren.« Das stimmte zwar in keinster Weise, aber ich hatte keine Lust, ihm meine ganze Lebensgeschichte auf die Nase zu binden.

»Es ist so: das Oktoberfest findet schon seit vielen Jahren nicht mehr statt. Die meisten Münchner haben sich damit mittlerweile abgefunden. Es gibt aber immer noch Ewiggestrige, die fordern die Wies'n zurück.«

»Dieses Gelände gibt es nicht mehr?«

»Natürlich nicht, nachdem an der Stelle das Migrantenstadl errichtet wurde. In der bestgesicherten Anlage von ganz Bayern werden die schwierigsten Jungs aus den nordafrikanischen Staaten untergebracht. Ich mag diese Einrichtung genauso wenig. Aber die Menschen sind nun mal da. Und wer die Wies'n zurückfordert, der macht sich das zu einfach. Man kann die Leute ja nicht einfach … verschwinden lassen! Jedem ist bekannt, dass allein der Titel dieser Zeitschrift äußerst radikal ist.«

»Jetzt kann ich Ihnen gerade nicht folgen«, gab ich zu.

»Das wissen Sie auch nicht? Der Spruch hat sich als Gruß unter den Neofaschisten durchgesetzt. In Erinnerung an alte Zeiten sagt man O'zapft is! und hebt dabei den rechten Arm.«

Jetzt hatte ich genug gehört. Das musste ich erst einmal verarbeiten. Zwar war ich niemals ein großer Fan des größten Saufgelages der Welt, dies waren jedoch keine guten Neuigkeiten. Definitiv nicht. Nun hatte man auch noch den Ausruf beim feierlichen Fassanstich zum Hitlergruß umfunktioniert. Doch war irgendein Magazin besser als gar keines. Ich war sehr gut in der Lage, mir selbst aus einer Propagandaschrift die eine oder andere Information mit kritischem Blick herauszufiltern, ohne mir den Inhalt zu eigen zu machen.

»Wenn Sie sonst wirklich nichts anderes haben, nehme ich diese Zeitschrift.«

»In Ordnung. Das macht achtzehn fünfzig.«

Ein satter Preis für so ein dünnes Magazin. Doch durfte ich nicht ignorieren, dass mittlerweile mehrere Jahrzehnte vergangen waren. Ich reichte ihm einen Zwanzig-Euro-Schein. Er zögerte.

»Wo haben Sie denn den her?« Er lachte laut. »Der hat fast schon Sammlerwert. Aber ich bin kein Liebhaber von solchem Kram. Damit kann ich leider nichts anfangen.«

»Womit bezahlt man denn sonst?«, rutschte es mir heraus. Ich wollte mich eigentlich nicht in Erklärungsnot bringen. Doch hatte ich ihm gerade den fatalen Hinweis gegeben, dass hinter meiner ganzen Geschichte viel mehr steckte, als ich zugeben wollte. Er stutzte kurz, schien jedoch zu merken, wie unwohl mir diese Situation war und ging darüber hinweg.

»Franken! In Bayern ist der Schweizer Franken die offizielle Währung. Wie in Österreich.«

Okay – soweit zum Thema Euro-Krise. Wenigstens hatte man inzwischen eine Lösung gefunden. Ich kramte in meiner Geldbörse nach einem der großen Scheine. Üblicherweise hatte ich immer etwas Geld der gängigen Fremdwährungen dabei.

»Himmel! Was für ein alter Geldschein! So einen habe ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Aber er wird wohl seine Gültigkeit noch nicht verloren haben.« Nachdem er mir das Rückgeld herausgegeben hatte, starrte er mich an, als hätte er gerade eine Erleuchtung. »Gerade kommt mir etwas in den Sinn. Ich glaube, ich weiß, was los ist. Sie kamen ja gerade aus der Klinik … aber ich will Sie nicht verhören! Wenn Sie noch mehr über die letzten Jahre erfahren wollen, fragen Sie ruhig.«

»Am meisten interessiert mich, wie es um Deutschland steht. Um unser Europa. Und den Rest der Welt.« Mir fiel ein Stein vom Herzen, dass ich ihm nicht weiter irgendetwas vorspielen musste. Allzu gerne ging ich auf sein Angebot ein. Er war in diesem Moment meine große Hoffnung und eine mögliche Informationsquelle, die ich anzapfen konnte. »Vielleicht haben Sie auch eine aktuelle Landkarte? - das würde mich auch sehr interessieren.«

»Wo findet man so etwas auf die Schnelle … lassen Sie mich kurz nachdenken. Im Magazin Sicher Reisen gab eine Karte von Europa, wenn ich mich nicht irre.«

»Dieses?« Ich entdeckte den Titel neben burka, das vermutlich eine Modezeitschrift für muslimische Frauen war und zog ein Exemplar aus dem Drehständer mit dem Titelthema 'die neuesten No-go-Areas' heraus.

Er nickte und blätterte das Reisemagazin durch, bis er kurz vor dem Ende innehielt. Er zeigte mir die aufgeschlagene Seite. »Hier ist ein Plan von Europa. Schauen Sie sich die Karte ruhig eine Weile an.«

»Danke!« Ich stutzte sofort. »Wieso steht über Griechenland der Name Türkei?«

»Wie?« Er sah mich verdutzt an. »Sie waren wirklich lange weg, oder?« Sofort wurde er wieder sachlich. »So ist es seit vielen Jahren. Nach dem Staatsbankrott wurde dieses Land von der Türkei annektiert.«

Soweit zur Rettung Griechenlands und zu dem Abkommen mit der Türkei, das nach vielen zähen Verhandlungen zustanden gekommen war. Doch mir wurde bewusst, dass sich damit ein noch größeres Problem fast in Luft auflöste. Der Ansturm der Flüchtlinge, die versuchten, über Griechenland in die EU einzureisen. Niemals hätte das Mittelmeervolk seine mehr als tausend Inseln und 15.000 Kilometer Seegrenze sichern können. Zumindest nicht mit vertretbaren Maßnahmen. Genau dies war die Lösung: dass keiner mehr dorthin flüchten wollte!

Welches Unheil Deutschland widerfahren war, zeigte mir die Dreiteilung auf der Karte. Nationaldeutschland stand quer über dem, was einst das Staatsgebiet der DDR war. Hier prangte ein schwarzer Totenkopf. Am Rand wurde dieses Symbol erklärt: es war ein zur Außenwelt abgeschottetes Gebiet. Meine ostdeutsche Heimat war also zur völligen Isolation zurückgekehrt. Das Gebiet der alten Bundesländer war beschriftet mit Islamische Republik Deutschland. Ein rotes Warndreieck sprach für das Gebiet eine Reisewarnung der höchsten Stufe aus. Der südöstliche Teil, genannt Demokratisches Bayern war gekennzeichnet mit dem gelben Warndreieck. Dies war also weitgehend sicher – dort, wo ich mich jetzt befand.

»Wünschen Sie einen Kaffee? Dann gieße ich eine zweite Tasse auf.«

Ich sah kurz hoch, nickte und widmete mich wieder dem Kartenstudium.

Nicht nur die Europäische Union war zerfallen, viele andere Nationalstaaten hatten sich zersplittert. Flandern und Wallonien befanden sich dort, wo früher die Niederlande waren. Die Hauptstadt von Frankreich war jetzt Lyon, während das Gebiet der Île-de-France mit dem Totenkopf gekennzeichnet war.

»Was ist mit Paris? Kann man dorthin nicht mehr reisen?«, rief ich zur Kochecke. Der Kioskbetreiber füllte gerade heißes Wasser in zwei Tassen.

»Es gab dort Machtkämpfe verfeindeter Clans. Die Situation eskalierte regelmäßig. Anfangs konnte die Polizei noch mit Schützenpanzern eingreifen und es ist ihnen immer wieder gelungen, Aufstände niederzuschlagen. Als die Lage jedoch endgültig außer Kontrolle geriet, hatten sie einen Sicherheitszaun um diesen Moloch errichtet. Die Regierung wurde nach Lyon verlegt.«

»Aha!«, kommentierte ich. Etwas Besseres fiel mir gerade nicht ein. Ich vertiefte mich wieder in die Analyse der Karte. Die Schweiz existierte noch als Land, wie ich es von damals kannte. Italien dagegen zeichnete sich als bunter Flickenteppich mit Reisewarnstufen von grün, gelb, über orange bis gefährlich rot. Österreich war größer geworden und nannte sich jetzt wieder Kaiserreich. Meinen Geographiekenntnissen zufolge schloss das Land die Gebiete von Tschechien, Slowakei und Ungarn ein. Weiter im Westen überraschte es mich nun gar nicht, dass das Baskenland in den ehemaligen Gebieten von Frankreich und Spanien entstanden war. Genauso wenig wie das Land Katalonien im spanischen Südosten. Diese Entwicklung hatte sich schon über viele Jahre abgezeichnet. Was mich nun tatsächlich überraschte, war, dass Portugal zum Land Spanien gehörte. Es existierte also immer noch ein gemeinsamer europäischer Gedanke. Es war ein sehr kleiner und gar winziger, spärlicher Funke. Aber es gab ihn. Das gab mir Hoffnung. Noch war nicht alles verloren. Dies gab mir neuen Mut. Und wenn es ein kleines Pflänzchen Hoffnung gab, dann musste man es hegen und pflegen, damit es gedeihen und zu einem stattlichen Baum heranwachsen konnte. Einem, der alles überragte.

»Bitteschön, Ihr Kaffee!« Der Mann riss mich abrupt aus meinen Gedanken. »Und? Was ist Ihre Meinung? Es wird schlimmer und schlimmer. Jahr für Jahr geht das schon so. Immer weiter driften die Länder auseinander. Die Menschheit schlittert immer mehr in eine endgültige Katastrophe.« Das Lächeln, das mir an dem Mann so gefallen hatte, war einem besorgten Gesichtsausdruck gewichen.

»Ich denke, es ist noch lange nicht alles verloren. Man muss das Gute erkennen, sich ein Ziel setzen und hart dafür arbeiten.« Als ich einen Schluck Kaffee kostete, zog mir ein unangenehm bitterer Geschmack den Mund zusammen. Dieses Getränk war scheußlich! Es schmeckte gar nicht nach Kaffee. Eher wie verbranntes Brot, in heißes Wasser getunkt.

»Welche Sorte ist das?«, fragte ich möglichst beiläufig.

»Muckefuck. Aus Getreide.«

Das erinnerte mich an meine DDR-Zeit. Echten Bohnenkaffee gab es nur im Westen. Unsere Volksgenossen hatten behauptet, solch etwas basiere auf Ausbeutung, daher hätte man darauf ebenso verzichtet wie auf den Import von Kakao und Bananen. Später hatte sich herausgestellt, sie selbst gönnten sich dies alles. Nur reichte das Budget nicht, um das normale Volk damit ebenso zu versorgen. Dafür gab es Rohrzucker und kubanische Zigarren im Übermaß, da wir dem Klassenfreund in seiner isolierten Lage all seine Produkte abnehmen mussten, um sein wirtschaftliches Überleben zu sichern. Der Freund in Übersee existierte durch diese Unterstützung noch viele Jahre weiter. Doch die DDR war ruiniert.

»Ich hätte erwartet, Sie wären schockiert. Wenn ich Sie richtig durchschaut habe, verfügen Sie über wesentlich mehr Wissen in Politik, als Sie zuerst zugeben wollten. Und Sie hatten … aus welchen Gründen auch immer, viele Jahre verpasst. War früher nicht alles besser?«

»Eines habe ich gelernt: stets nach vorne zu blicken. Nach einer Niederlage muss man sich wieder aufrichten und weiterkämpfen. Mit ein wenig Disziplin übersteht man vieles. Aus Altem entsteht wieder Neues. Nicht umsonst setzte man in früheren Jahren auf Zuversicht und sang Auferstanden aus Ruinen oder dichtete über den Phönix aus der Asche.«

»Sie hätten Politikerin werden sollen!« Der Mann grinste breit. Hauptsache, er wollte jetzt kein Selfie mit mir aufnehmen. »Was allen Menschen heute fehlt, ist dieses positive Denken.«

»Sie haben Recht.« Meine Einstellung, auch in einer schwierigen Lage ein wenig Optimismus zuzulassen, schien ihn zu überzeugen. Jetzt war der passende Augenblick gekommen, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen. »Im Prinzip wäre es das Beste, ich würde mich so bald wie möglich der Parteiarbeit widmen. Wissen Sie zufällig, ob es eine CDU-Zentrale in diesem Ort gibt?«

»Diese Partei gibt es nur bei unserem islamischen Nachbarn. Dort ist sie eine regimetreue Blockpartei. Bei denen werden Sie nichts erreichen. In der Diktatur im Osten gab es anfangs so etwas. Seit 20 Jahren weiß aber niemand, was in dem von der Außenwelt abgeschnittenen Staat eigentlich vor sich geht. Hier in Bayern gibt es die CSU. Die ist aber eine Stammtischpartei, die nur ihr Klientel bedient.«

Das verpasste meiner kurzen Euphorie einen letzten Dämpfer. Ich konnte definitiv nicht an der Stelle wieder einsteigen, wo ich kurz zuvor - genaugenommen waren es Jahrzehnte - ausgestiegen war. Die Parteienlandschaft hatte sich verändert. Nichts war mehr wie zu meiner Zeit. Dort, wo mein Kanzleramt stand, war ein Staatsgebilde zu etwas mutiert wie Nordkorea. Ein der Welt entfremdeter Staat, der sich genauso gut auf dem Mars oder einem fernen Planeten hätte befinden könnte. Der Partei von diesem anmaßenden Seehofer werde ich auf keinen Fall beitreten, niemals! Nur über meine Leiche, und selbst dann würde ich mich mit Händen und Füßen wehren. Die FDP oder die Grünen kämen für mich auch nicht in Frage. Erstere ist ja mehr oder weniger in der Bedeutungslosigkeit verschwunden und zweitere wäre mir peinlich. Ich wollte nicht einer Gruppe gealterter Hippies beitreten, die sich für etwas Besseres hielten. Es blieb nur noch eine Möglichkeit:

»Eine SPD-Zentrale wird es hier sicher geben, nicht? Also werde ich mein Glück dort versuchen.«