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Die Wiederentdeckung eines beunruhigenden Meisterwerks: Dieser lange verschollene Roman von 1977 erzählt von einer Gesellschaft, in der jede Kunst von einer anonymen Masse gewaltsam verhindert wird. An der englischen Küste in einer nahen, unbestimmten Zukunft: ein toter Hund, ein verschwundenes Buch, ein paar flüchtige Spuren, so fängt es an. Dann räumen SIE die Galerien und schließen die Museen. SIE wollen keine Freiheit des Einzelnen, SIE wollen keine Kunst. SIE zeigen sich selten und doch sind SIE scheinbar überall. Wer es noch wagt, zu malen, zu singen oder zu schreiben, den bringen SIE zum Schweigen. Doch eine kleine Gruppe von Menschen kann und will nicht anders, als weiter kreativ zu sein – was IHNEN nicht verborgen bleibt. "Ein gespenstisch hellsichtiger Text, in dem ein anonymer Mob Kunstschaffende attackiert und deren Werke zerstört. Das vermeintliche Verbrechen: eine individuelle künstlerische Vision. Abgründig und erschreckend!" Margaret Atwood
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Seitenzahl: 146
Veröffentlichungsjahr: 2022
Kay Dick
SIE
Szenen des Unbehagens
Roman
Mit einem Nachwort von Eva Menasse
Aus dem Englischen von Kathrin Razum
Hoffmann und Campe
Für Judith Burnley und Francis King
Im ersten Septemberlicht wirkte Karrs Haus imposant. Und es war tatsächlich grandios. Von seinem Dach aus hatte man freie Sicht aufs Meer. Karr ging mit mir hinauf, damit ich mir einen Überblick verschaffen konnte. Der Eindruck war der eines spitz zulaufenden Dreiecks. Man konnte sich vorstellen, Karr lebe auf einer Insel: ein vorragendes Stück Land zwischen zwei schmalen Flüssen, deren einer sich verbreiterte, bevor er ins Meer mündete, der andere ein Kanal, auf dem ein paar Schwäne umherglitten. Teils Wiesen-, teils Marschland, mit Dickichten aus hohem Schilf und kleinen Sandflächen hier und da. Ein natürliches Vogelschutzgebiet, man nahm Flugbewegungen als Teil der Landschaft wahr.
Karrs Haus stand erhöht, von einer Mauer umgeben, zum Schutz vor Überschwemmungen. Riesige Hortensien, eher kleine Bäume als Sträucher, wurzelten, strategisch angepflanzt, zwischen den ovalen Platten der Terrasse; Blüten in verschiedenen Rosatönen glitzerten in der Herbstsonne, eine unverschämt üppige Pracht, nach Süden gewandt. Als wir hinuntergingen, um sie näher zu betrachten, konnte ich erkennen, dass Karr jeden Tag nach ihnen sah. Sie strahlten Ritual und Pflege aus.
»Mir gefällt der Kontrast«, sagte ich. Karr verstand, was ich meinte. Er hatte in der offenen Haustür gestanden, als ich die Zufahrt hochkam, durch einen kleinen Hain, eine Oase im Mündungsgebiet.
»Dieser Hain wurde vor langer Zeit angepflanzt«, sagte er. »War es schwierig, hierherzufinden?«
»Am Anfang schon, aber als ich bei der alten Seemannskapelle angelangt war, wusste ich, dass es nicht mehr weit ist.«
»Bist du hineingegangen?«
Ich erzählte ihm, was ich in der Kapelle getan hatte: Ich hatte die Bibel aufs Geratewohl aufgeschlagen und mit geschlossenen Augen den Finger irgendwo auf die Seite gesetzt. Das Weissagungsspiel, das wir als Kinder gespielt hatten.
»Und wo bist du gelandet?«, fragte Karr.
»In der Offenbarung des Johannes natürlich!« Ich lachte befangen. »Siehe, ich komme wie ein Dieb.«
»Dir ist die Jagdhütte hinter der Kapelle entgangen«, sagte Karr. »Da schauen wir später vorbei.«
Die Bediensteten waren unaufdringlich, ich bemerkte ihr Kommen und Gehen kaum. Der Junge, Jake, führte mir seinen Welpen vor, einen schwarzen Labrador, der ihm bis ans Kinn reichte. »Er heißt Omar, nach dem Dichter, weißt du?« Wir setzten uns unten auf die schmucklose Treppe und erzählten uns Geschichten, bis Jake sagte, er müsse jetzt Omar ausführen.
Ich gesellte mich zu Karr in die Bibliothek. Die Fenster gingen auf die Terrasse hinaus. »Du kannst hierherkommen, so oft du willst«, sagte Karr. Er stand am offenen Fenster und blickte in den Himmel. »Wollen wir zu Claire gehen?«, fragte er.
Das Erdgeschoss der Jagdhütte war in ein Atelier umgewandelt worden. Ich betrachtete das Bild, das Claire gerade fertiggestellt hatte. Es war gelb, ganz und gar gelb, jede erdenkliche Schattierung und Nuance von Gelb. Ich ertrug es kaum. Ich ging hinaus und wälzte mich im Gras.
»Es ist schön, oder?«, sagte Karr.
»Unerträglich schön.« Ich ging wieder hinein und betrachtete es von Neuem.
»Wenn du willst, schenke ich es dir«, sagte Claire.
»Noch nicht.« Ich war nervös. »Noch nicht.«
»Soll ich dich zurückbegleiten?«, fragte Karr.
»Ich glaube, das wird schon gehen. Ich nehme die Brücke über den Kanal.«
An der Brücke erwarteten mich Jake und Omar. Sie winkten mir nach, als ich Richtung Küstenstraße abbog. Die Sonne raute den Horizont über dem Meer mit gebranntem Siena auf, als ich mein Cottage erreichte. Ich öffnete die Fenster und schaute auf die Felsen unterhalb des Kliffs. Gezeitenwechsel. Möwen schwebten durch die Luft, bereit für den letzten Fang des Abends, während die Wellen wieder ins Land rollten.
Ich schrieb zwei Briefe, einen an Karr, einen an Claire. Ich ging den abschüssigen Weg zum Strand hinunter und sammelte in den grünen Tümpeln zwischen den Felsen noch ein paar Lochkiesel. Kleine Krabben liefen zwischen meinen Fingern hindurch. Ich verpackte drei der Kiesel und adressierte das Päckchen an Jake. Das sind Meeresskulpturen, und du musst ihnen Namen geben, schrieb ich dazu, auf ein blaues Blatt Papier.
Ich beschloss, ins Dorf zu gehen. Auf der Bank gegenüber dem verfallenen Landungssteg saß nur ein Fremder. Ich ging zweimal an ihm vorbei, aber er schaute nicht in meine Richtung. Was es an Neuigkeiten gab, brachte ich im Laden in Erfahrung. »Jetzt sind es die Bücher in Oxford.« Ich nickte, als interessierte mich das nicht.
Am nächsten Tag wanderte ich frühmorgens den Strand entlang, der Sonne entgegen. Ich überprüfte meine Erinnerung an Keats’ Gedichte. Kurz nach Mittag erreichte ich die Flussmündung. Ich scheuchte einen Schwarm Schmetterlinge auf, als ich das Ufer hinaufkletterte. Oben erwarteten mich Jake und Omar. Während wir auf Karrs Haus zugingen, erzählte ich Jake wieder eine Geschichte, diesmal eine längere.
»Garth ist gekommen«, sagte Karr. »Er hat sein Klavier mitgebracht.«
»In die Kapelle?«, fragte ich.
»Ja, er hat sich da eingerichtet, um sich zu erinnern.« Karr blieb plötzlich stehen und spähte durch sein Zeiss Telita zum Fluss. »Du bleibst besser über Nacht«, sagte er.
Nach dem Mittagessen öffnete ich die Tür der Kapelle. Garth saß am Klavier und starrte auf die Tasten. »Es muss möglich sein, sich an alles zu erinnern«, sagte er.
»Wenn man genug Zeit hat, schon«, sagte ich.
Ich hielt Jake davon ab, zu Garth hineinzugehen. »Er erinnert sich gerade«, sagte ich. »Später.«
Hand in Hand gingen wir zur Jagdhütte. Omar sprang irgendeinem Tier nach, das er im Wald witterte.
»Es macht dir überhaupt nichts aus, oder?«, fragte ich Claire.
»Dafür habe ich einfach keine Zeit«, sagte sie und malte weiter.
Jake beobachtete sie aufmerksam.
»Kommst du heute Abend zu Karr?«, fragte ich.
»Kann gut sein.« Sie sah mich an und küsste mich.
Das Bild, das sie malte, war blau, ganz und gar blau, jede erdenkliche Schattierung und Nuance von Blau. Jake ging hinaus und weinte. Omar leckte ihm die Tränen ab.
»Komm, wir schauen mal nach den Moorhühnern«, sagte ich.
Wir gingen zu Karrs Haus zurück, die Treppe in der Mauer hoch und auf die Terrasse. Die Bediensteten brachten gerade Tee.
»Nach dem Essen spielen wir Schach«, sagte Karr, »bis sie ins Bett gehen.«
»Ist Claire in Garth verliebt?«, fragte ich.
»Sind wir nicht alle verliebt?« Karr lächelte Jake zu.
»Es muss doch möglich sein …«, setzte ich an.
»Übersehen zu werden?«
»Ja, das habe ich wohl gemeint.«
»Es wird uns alle treffen«, sagte Karr.
Ich ging in die Bibliothek und las bis zum Abendessen. Jake beobachtete mich aufmerksam. Karr goss die Hortensien.
Claire und Garth kamen lächelnd herein. Er hat sich erinnert, dachte ich, als ich den kämpferischen Ausdruck in seinen Augen bemerkte. Während ich mit Karr Schach spiele, wird er in der Jagdhütte mit Claire schlafen, und dann wird er wieder in die Kapelle gehen und das spielen, woran er sich erinnert. Jake wird aus dem Bett kriechen und wie ein nachtaktives Tier zur Kapelle tapsen. Er wird die Tür öffnen, sie hinter sich schließen und Garth aufmerksam zuhören. Ich wusste das alles, während wir darauf warteten, dass es Nacht wurde.
»Du hast einen neuen Bediensteten«, sagte Claire zu Karr.
»Ja, den haben sie geschickt.« Karr war ganz gelassen.
»Das war zu erwarten.« Garth sah beunruhigt aus. »Soll ich abreisen?«
»Es ist unbedingt erforderlich, dass du bleibst«, sagte Karr.
Ich erwachte im Morgengrauen, schrieb Garth eine kleine Nachricht, die ich ihm unter der Tür hindurchschob, als ich an der Kapelle vorbeiging. Auf dem Rückweg zum Cottage überprüfte ich meine Erinnerung an Henry James’ spätere Romane. In meinem Bücherregal fehlte mein Exemplar von Middlemarch. Ich setzte mich in den Garten und dachte an Garth, der sich an die Musik erinnerte, und an Claire, die malte, und hörte auf, mich zu fürchten. Ich schrieb ein Gedicht für Jake.
Am Nachmittag kam Claire mich besuchen. Sie brachte einen Korb mit Blaubeeren mit, die sie unterwegs gepflückt hatte. Wir aßen die Beeren und lasen einander dabei Gedichte vor. In jedem Gedicht war ein Teil unseres jeweiligen Lebens enthalten.
»Ich schließe meine Tür nicht mehr ab«, sagte ich. »Gestern Nacht haben sie wieder ein Buch mitgenommen.«
»Ja, sie werden aktiver«, sagte Claire.
»In diesem Teil des Landes gehen sie langsamer an die Sache heran«, sagte ich.
»Ein Heckenschütze hier und da«, sagte Claire lachend.
»Die Vorhut ist auf der Hut.« Hysterisches Gelächter schüttelte uns.
»Garth hat alles auf einmal verloren«, sagte Claire. »Sämtliche Noten auf einen Schlag. Hier gehen sie unauffälliger vor.«
Ich wagte die Frage, die mich am meisten beschäftigte. »Ist Jakes Gedächtnis gut genug?«
»Karr hat ihn sehr gut geschult«, sagte Claire.
»Werden sie darauf kommen?«, fragte ich.
»Nicht unbedingt.« Sie hielt inne. »Also, ich glaube es jedenfalls nicht, nicht gleich. Wir brauchen bloß etwas Glück und genügend Zeit.«
»Keine Überforderung?« Ich musste die Befürchtung aussprechen.
»Nicht in seinem Alter. Sein Gedächtnis ist in Höchstform.« Claire war zuversichtlich.
Als sie aufbrach, gab ich ihr das Gedicht, das ich für Jake geschrieben hatte. Den nächsten Tag verbrachte ich mit Schwimmen und Sonnenbaden, tankte Salz und Sonne, füllte meine Reserven wieder auf. Meine Tennisschuhe um den Hals gehängt, watete ich zum Wellenbrecher und sah zu, wie der Fischer Krabben und Krebse fing, während das Wasser über den Felsen ablief.
»Gestern war London dran«, sagte er. »Man nimmt an, dass es noch eine Woche dauern wird.«
Ich setzte meine Sonnenbrille auf.
»Üppiger Fang«, sagte ich und deutete mit dem Kopf auf seinen Eimer.
»Diese Trottel«, sagte er. »Verstecken sich unter Steinen.«
»Einige kommen davon«, sagte ich, während er zu einem anderen Tümpel ging.
Vor dem Cottage erwarteten mich Jake und Omar.
»Karr hat gesagt, ich darf über Nacht bleiben.«
Wir gaben Omar zu fressen.
»Sie sind gekommen, als ich draußen gewartet habe.« Jake sah bekümmert aus.
Shelleys Gedichte und Katherine Mansfields Tagebücher fehlten. Jetzt werden sie raffgierig, dachte ich. Während Jake zu Abend aß, erzählte ich ihm eine weitere Geschichte.
»Was ist das, eine Zeitung?«, fragte Jake.
In dieser Nacht schlief ich fest. Sie kamen nie, wenn man im Haus war. In ihren Augen war das unnötige Energieverschwendung, ein Luxus, den sie verweigerten. Stille Heimlichkeit war schmerzhafter, schwerer zu ertragen, es war ihre Art der Bestrafung. Drastischere Maßnahmen ergriffen sie nur, wenn man eine bestimmte Grenze überschritt.
Als wir die Kanalbrücke zu Karrs Haus überquerten, trafen wir Garth.
»Karrs neuer Bediensteter beobachtet Claire«, sagte er.
Das neue Bild war grün, ganz und gar grün, jede erdenkliche Schattierung und Nuance von Grün. Garth drehte sein Gesicht zur Wand. Karrs Bediensteter ging. Claire lachte. Ich war bereit, für sie zu sterben.
Karr kam herein. »Du darfst nicht übermäßig tapfer sein«, sagte er. »Das ist Prahlerei.« Er führte Jake von dem Bild weg und ging mit ihm zum Wäldchen. Claire setzte sich und stöhnte gequält.
»Wir müssen ins Haus gehen«, sagte ich zu ihr, »und das Mittagessen bestellen. Die Bediensteten müssen beruhigt werden.«
Unterwegs pflückte Claire ein paar spät blühende Rosen. »Gestern haben sie die Nationalgalerie ausgeräumt«, sagte sie.
Am Nachmittag ging Claire mit Garth weg. Karr und ich setzten uns in die Bibliothek, auch eine Art des Liebens.
»Garth ist leichtsinnig«, sagte Karr. »Sex macht ihn leichtsinnig.« Ich ging hinaus, berührte die Hortensien, setzte mich auf die Mauer und schaute auf die Flussmündung hinunter. Ich konnte Jake sehen, der seinen Drachen steigen ließ. Omar sprang hinter ihm her. Karrs neuer Bediensteter stand auf der Brücke und beobachtete Jake. Ein Schwan reckte den Hals hoch über das Wasser und spreizte die Flügel.
»Ist für Jakes Sicherheit gesorgt?«
»Sicherheit ist unwichtig«, sagte Karr.
»Und wenn er redet?«
»Es wird ein Test sein.«
Ich brauchte vier Tage, um meine Panik zu überwinden. Ich putzte mein Cottage von oben bis unten, grub im Garten um, pflanzte und beschnitt. Fünf Bücher fehlten, darunter John Stuart Mills Autobiographie. Ich wischte den Staub aus der Lücke. Am nächsten Tag regnete es. Ich ging zu Fuß zum Dorf und überprüfte unterwegs meine Erinnerung an Tschechows Dramen. Im Café saß eine Fremde. Sie bat mich, ihr den Zucker zu reichen. Garth kam herein und setzte sich neben mich. »Ich kann nur noch an Claire denken«, sagte er.
Ich stand auf und ging. Garth folgte mir die Straße zum Strand hinunter. Wir liefen unterhalb des Kliffs zurück zu meinem Cottage.
»Karr erwartet zu viel von Jake«, sagte Garth.
Möwen kreischten. Der Regen peitschte uns ins Gesicht. Als wir den Hang zu meinem Gartentor hinaufkraxelten, sah ich, wie sie das Cottage verließen. Drinnen war ein komplettes Regal leer geräumt. In den Staub auf dem Holz schrieb Garth mit dem Finger Mahlers Namen. Ich wischte mit der Hand darüber. Ich blickte aufs Meer hinaus.
»Wenn es aufhört zu regnen, gehen wir zu Karr«, sagte ich.
Garth schlief sieben Stunden lang. Ich las Shakespeares Sonette.
»Ich habe mich im Schlaf an einiges erinnert«, sagte Garth. »Ich muss Jake finden.«
Ich ließ Garth in der Kapelle zurück, ging zu Karrs Haus, fand Jake und schickte ihn zu Garth.
Karr und ich schlenderten zur Jagdhütte.
Ein dünner Nebel trieb vom Meer heran und verschleierte die Sonne.
»Sie haben die Küste erreicht«, sagte Karr. »Du könntest hierbleiben.«
»Es macht mir nichts aus zurückzugehen«, sagte ich. »Ich habe meine Panik überwunden.«
Claire arbeitete an einem neuen Bild. Es war rot, ganz und gar rot, jede erdenkliche Schattierung und Nuance von Rot. Karr schloss Claire in die Arme.
»Ich muss nur noch ein einziges malen.« Sie sagte es eher zu Karr als zu mir.
»Du könntest es auch weglassen«, sagte Karr in einem Moment der Schwäche.
Wir hakten uns unter, als wir zum Haus zurückgingen. Der Nebel hatte sich gelichtet, und die Sonne strahlte auf die Hortensien. Die Bediensteten brachten Sekt, und wir traten mit unseren Gläsern an die Terrassenmauer. Garth und Jake kamen auf uns zugerannt, dicht gefolgt von Omar. Wir schauten zur Flussmündung hinunter.
»Jetzt kannst du mir das gelbe Bild gern geben, Claire«, sagte ich. »Ich nehme es mit nach Hause.«
»Ich muss noch das weiße malen«, sagte sie. »Das mache ich heute Abend.«
»Das wäre unklug«, sagte Karr.
»Ich werde noch ein paar Briefe schreiben«, sagte ich.
Wir kehrten dem Haus den Rücken und schauten aufs Meer hinaus. Ein Fischkutter fuhr gerade in die Flussmündung.
»Ich glaube, sie sind fertig«, sagte Karr. »Wir können jetzt reingehen.«
In der Bibliothek befanden sich keine Bücher mehr. Wir gingen langsam durch die übrigen Zimmer. Sämtliche Gemälde waren entfernt worden. Claire strich über die Stellen, wo die einzelnen Bilder gehangen hatten. Die Bediensteten waren fort. Garth stürmte durch die Haustür. Karr rief ihm zu, er solle draußen bleiben. Wir gingen zurück auf die Terrasse und setzten uns in die Liegestühle. Jake prellte Omar einen Ball zu. Garth kam wieder. Er zitterte. »Sie haben Claires Bilder alle dagelassen«, sagte er.
»Du darfst da nicht wieder hin«, sagte Karr zu Claire.
»Ich muss jetzt das Weiß malen«, sagte sie. »Ich nehme Jake mit.«
Ein paar Stunden später kam Jake zurück.
»Du musst zu Abend essen und danach sofort ins Bett gehen«, sagte Karr.
Wir eilten zur Jagdhütte. Ein Brachvogel pfiff. Wir sahen, wie sie Claire zu dem Fischkutter führten, der im Flussbett ankerte.
»Was werden sie mit ihr machen?«, fragte ich Karr.
»Sie werden sie blenden und dann wieder zu mir zurückbringen«, sagte Karr. »Sie hat die Grenze überschritten. Sie hat weitergemalt.«
Garth rannte hinter ihnen her.
»Und mit ihm?«, fragte ich.
»Ihn werden sie taub machen«, sagte Karr.
»Und mit mir, falls …?« Ich war zu Eis erstarrt.
»Dir würden sie die Hände amputieren und die Zunge abschneiden«, sagte Karr. »Du solltest die Briefe, die du geschrieben hast, lieber vernichten. Man darf ihnen keinerlei Ansatz für eine Konfrontation bieten.« Er hielt inne. »Denk an Jake.«
Wir gingen in Claires Atelier.
»Es ist ja noch da«, sagte ich und starrte auf das weiße Bild, das ganz und gar weiß war, jede erdenkliche Schattierung und Nuance von Weiß. Die anderen Bilder waren fort.
»Ich werde morgen früh mit Jake herkommen, damit er es sich ansehen kann, bevor sie wiederkommen und es mitnehmen«, sagte Karr.
»Es ist so weiß wie die Sonne, wenn man direkt in sie hineinschaut«, sagte ich.
»Man kann sich selbst blenden, wenn man in die Sonne schaut«, sagte Karr.
»Mein Gott!«, sagte ich. »Claire hat es gewusst, sie kannte die Strafe.«
»Wir müssen sie alle kennen«, sagte Karr. »Es ist die einzige Gewissheit, die wir haben.«
Auf dem Rückweg zum Haus sagte Karr: »Deine Bücher dürften jetzt alle weg sein. Es ist sinnlos, zu deinem Cottage zurückzugehen.«
»Unter den Dielen habe ich noch Papier und Stifte«, sagte ich.
»Die müssen dort bleiben«, sagte Karr.
»Für Jake?«, fragte ich.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht.« Karr hielt inne. »Ich werde ihm einen gleichaltrigen Gefährten suchen, für alle Fälle.«
»Falls sie ihm auf die Schliche kommen?«
»Ja«, sagte Karr. »Wir haben nur noch sehr wenig Zeit.«
Ich sah sie als Erste.
»Es ist nicht ausgeschlossen«, hatte Sandy gesagt, »dass sie uns übergehen. Wir haben wenig Interessantes zu bieten.«
Es war zu spät, um umzudrehen. Ich hatte die Sonne im Gesicht, als ich auf sie zuging. Sie waren am Strand, zu neunt. Drei Wellenbrecher weiter strich Sandy gerade sein Boot. Acht von ihnen lagen ausgestreckt auf dem Kies. Der Neunte kniete und schaute in Sandys Richtung. Mein Hund bellte sie an. Es war der erste Frühlingstag. Die Sonne war warmes Wasser auf der Haut, das stille Meer ein silberner weiter Horizont. Ein Kormoran stieß ins Wasser und tauchte wieder auf, geradezu frivol. Als ich an ihnen vorbeiging, lächelte ich; das war immer das Beste. Einer von ihnen stand auf und watete bis zur Taille in die Wellen, voll bekleidet. Eines der Mädchen lachte.
»Morgen kriegt es noch einen Anstrich.« Sandy tätschelte sein Boot.
»Gehst du von hier weg?«, fragte ich.
