Sieben Gräber für den Winter - Christoffer Petersen - E-Book

Sieben Gräber für den Winter E-Book

Christoffer Petersen

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Beschreibung

Eine Siedlung am Fuß des Bergs Inussuk. Dreiundvierzig Erwachsene leben hier, zwölf Kinder. Noch, denn der Friedhof wächst, während das Dorf schrumpft. Die Verdienstmöglichkeiten sind schlecht, die jungen Leute wandern in die größeren Orte an der Westküste ab. In eins der leer stehenden Häuser zieht Constable David Maratse. Bei seinem letzten Einsatz in der grönländischen Hauptstadt Nuuk wurde der Polizist so schwer verletzt, dass er dienstuntauglich erklärt und frühpensioniert wurde – und das mit nicht mal vierzig. Er lässt alles zurück, was er besitzt, will künftig nichts weiter tun als Fischen und Jagen. In Inussuk aufgewachsen ist Nivi Winther, inzwischen Vorsitzende der grönländischen Sozialdemokraten und amtierende Premierministerin. Als mitten im Wahlkampf ihre siebzehnjährige Tochter Tinka spurlos verschwindet, beauftragt sie Maratse, den Fall zu übernehmen. Winthers größter Konkurrent ist Malik Uutaaq, der eine neue nationale Identität und die Unabhängigkeit Grönlands propagiert und als machtgieriger Populist gilt. Und er soll die letzte Person sein, die das Mädchen lebend gesehen hat …

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Seitenzahl: 279

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Christoffer Petersen

Sieben Gräber für den Winter

Ein Grönland-Krimi

Aus dem Englischen von Sepp Leeb

Kampa

SapaatSONNTAG

1

Sie gruben die Gräber in die widerspenstige, zwischenGranitbrocken gezwängte Erde am Knie des Bergs. Der Friedhof war klein, aber groß genug, um alle Mütter, Väter, Söhne und Töchter Inussuks aufzunehmen, seit das erste Grab den letzten Steinhaufen ersetzte und Babys, die den Winter nicht überlebten, nicht mehr mumifiziert wurden. Die Winter waren genauso dunkel, die Sommer genauso hell, nur die Todesfälle waren nicht mehr so häufig, und das Essen, aus dem Meer oder dem Laden, war leichter zu beschaffen. Trotzdem hoben sie weiterhin jeden langen Sommer die Gräber aus, um sich für einen weiteren dunklen Winter zu rüsten, wenn die Tuberkulose vielleicht einen Großelternteil oder ein Enkelkind dahinraffte, ein Wintersturm einem Jäger zum Verhängnis wurde oder eine Depression jemanden dazu brachte, sich das Leben zu nehmen. In der Hoffnung, es wären zwei zu viel, hoben sie zwei Gräber für Selbstmörder aus. Eins gruben sie für eine Kneipenschlägerei, eins für einen Unfall beim Fischen, eins für das tot geborene Baby, das, nur eine schreckliche Bootsfahrt entfernt, im winzigen Leichenschauhaus des ärztlichen Versorgungszentrums wartete. Ein sechstes Grab gruben sie für Altersschwäche. Das siebte für den Krebs. Selbst in der Arktis, immer der Krebs.

Die Männer stiegen aus den Selbstmördergräbern und stützten sich kurz auf ihre Schaufeln, um zu den Eisbergen im Fjord hinauszuschauen. Vom Friedhof hatte man den besten Blick auf die Berge in der Ferne und die in den Schoß des Berges geschmiegte Siedlung. Inussuk war zwischen zwei Stränden eingekeilt, einer schwarz und weich, der andere hart, steinig und von Muscheln übersät. Der nach Süden und Osten ausgerichtete schwarze Strand, der die Wellen brach und die Wucht jedes Sturms abmilderte, war übersät von glitzernden Eisbrocken, groß wie die Hände, Herzen und Köpfe der Totengräber. Es waren aber auch größere, Growler genannte Eisbrocken darunter, die das von den Bergen herabfließende Wasser auf seinem Weg ins Meer umlenkten. Zwischen zwei solcher im Meer treibender Growler würde noch in diesem Herbst nicht weit vom Strand die Leiche eines Mädchens gefunden werden, aber davon wussten die Totengräber jetzt noch nichts.

Sie ließen den Blick vom Strand zur Siedlung wandern, aus der die abblätternden roten Holzwände des Dorfladens und der frische grüne Anstrich des Hauses der Naturkommission herausstachen, in dem zurzeit zwei dänische Künstlerinnen und ein kleines Kind wohnten. Einer der Männer deutete mit dem Kopf auf das Haus, wo das Mädchen im Sand und Schmutz unter der Veranda spielte. Die dreiundvierzig erwachsenen Bewohner von Inussuk glaubten, dass die zwei Künstlerinnen ein Paar waren. Die zwölf Kinder waren zu jung, um sich darüber Gedanken zu machen, und waren nur froh, eine neue Spielkameradin zu haben, ein Mädchen mit blonden Haaren.

»Achtundfünfzig Einwohner«, sagte der ältere der zwei Totengräber und zog eine Thermosflasche aus dem Tragbeutel, der neben ihm auf dem Boden lag. Ein Windstoß vom Fjord wehte den Dampf von der Öffnung der Flasche, als er den Verschluss abschraubte. Er goss dem Jüngeren Kaffee in einen Emaillebecher und füllte die Verschlusskappe der Flasche für sich selbst.

»Aap«, sagte der jüngere Mann, als er den Becher an seine Lippen hob. Er schaute zur Siedlung hinab und beobachtete das im Schmutz spielende Mädchen, dann zuckte sein Blick zu seinem Sohn, der ihm vom Anleger zuwinkte. Die Lippen des kleinen Jungen bewegten sich, und sein Brustkorb hob sich, als er etwas rief. Der Mann winkte, und wie jedes Mal, wenn er Qaleraq sah, musste er daran denken, dass der Junge gesund, wissbegierig und schwer zu unterrichten war, aber unbedingt lernen wollte. Qualeraq würde viel mehr Winter erleben als der Sohn seiner Schwester. Das letzte Grab würden sie nämlich für seinen totgeborenen Neffen ausheben, und wenn sie die Energie dafür aufbringen konnten, würden sie ihre Spaten so tief wie möglich in den Permafrostboden stoßen, damit der Junge in der Erde unter ihnen in Frieden ruhen konnte.

Er trank seinen Kaffee aus, schnippte den Bodensatz in das Grab und warf die Tasse in den Beutel seines Partners. Dann stieg er in die Grube und begann zu graben. Der ältere Mann goss die Verschlusskappe der Thermosflasche noch einmal halb voll und blickte sich auf dem Friedhof um. Der Antennenmast warf seinen dünnen Schatten auf die Gräber seiner Mutter und seines Vaters mit den von der Polarsonne ausgeblichenen Plastikblumen. Er hatte das Versprechen abgelegt, sie zu ersetzen, das gleiche Versprechen, das er im Sommer davor gemacht hatte, als sie die sieben Gräber aushoben, und dann im September, kurz vor dem ersten Schneeeinbruch des Winters, noch ein achtes. Ein altes Ehepaar war von einer Lungenentzündung dahingerafft worden, Aput, der Mann, nur eine Woche nach seiner Frau Margrethe. Als der Totengräber den Blick den Weg hinunterwandern ließ, musste er daran denken, wie sie die Särge, einen nach dem anderen, vom Haus des Paares zum Friedhof hinaufgetragen hatten und während der Trauerfeier wieder zu Kräften zu kommen versuchten, bevor sie die engsten Freunde seiner Eltern in die Gräber direkt neben ihren hinabließen. Der Weg war steil, und er kannte jede Biegung, jeden Felsbrocken und jede Vertiefung. Er hatte sich fast sechs Jahre lang die Zehen an den unzähligen Felsbrocken angestoßen, war auf losen Steinen ins Stolpern geraten und hatte an der Seite des jüngeren Mannes Stufen in den Hang gegraben.

Sechs Jahre und jedes Jahr sieben Gräber.

Inussuk schrumpfte, aber der Friedhof wuchs. Die Jungen und gut Ausgebildeten wanderten in die größeren Dörfer und Städte an der Westküste Grönlands ab. Die Kinder verließen die Siedlung, gingen in Uummannaq zur Schule und kehrten nach der zehnten Klasse im Alter von fünfzehn oder sechzehn Jahren zurück, um des beschaulichen Lebens zwischen den zwei Stränden und des Fehlens von Arbeitsplätzen und Verdienstmöglichkeiten schnell überdrüssig zu werden. Nur ein Junge war geblieben, um in denselben Gewässern zu fischen wie sein Vater, während seine Schwester und ihr Freund ein Stück die Küste hinunter nach Aasiaat gegangen waren, um an der dortigen Hochschule zu studieren.

»Hey«, sagte der ältere Mann, als er seinen Kaffee austrank.

»Was?«

»Hast du schon von dem Polizisten gehört?«

»Von welchem Polizisten?« Der jüngere Mann lehnte seine Schaufel an die Wand aus Erde und kletterte aus dem Grab.

»Er kommt nächste Woche her.«

»Hierher?«

»Aap«, sagte der Ältere und deutete auf das dunkelblaue Haus hinter dem Dorfladen. »Er hat Aputs Haus gekauft.« Und nach einer Pause: »Hast du das nicht gewusst?«

»Naamik«, sagte der Jüngere. »Schon möglich.«

»Du solltest deiner Frau besser zuhören, Edvard. Meine Frau hat es ihr erzählt.«

»Mhm.«

Der ältere Mann fing Edvards Blick auf. »Ist irgendwas?«

Edvard zuckte mit den Achseln. »Das Baby«, sagte er und schaute zu der Stelle, wo sein Sohn jetzt mit dem dänischen Mädchen spielte. »Eigentlich möchten wir noch ein Kind, aber sie hat Angst, dass es ihr ähnlich gehen könnte wie ihrer Schwester. Sie meint, es könnte am Wasser liegen.«

»Am Wasser?«

»Das Metall, aus der Mine. Es ist auch im Fisch.«

»In diesem Wasser ist kein Metall.«

»Woher willst du das wissen, Karl?«

»Stimmt«, sagte Karl und seufzte. »Woher will ich das wissen?« Er schraubte die Thermosflasche zu und steckte sie in den Beutel, dann griff er nach seiner Schaufel, um in das Grab zu springen. Edvard hielt ihn mit einem Husten zurück. »Was ist?«

»Du hast mir doch gerade von dem Polizisten erzählt.«

»Aap. Ja, er zieht hierher.«

»Um zu arbeiten?«

»Um hier zu leben.«

Edvard schüttelte den Kopf. »Das hast du bereits gesagt. Aber wird er auch hier arbeiten? Als Polizist.«

»Wir hatten noch nie einen Polizisten in Inussuk.«

»Genau deshalb will ich es wissen.«

Karl lachte. »Machst du dir Sorgen wegen deinem Selbstgebrauten? Wenn er dir auf die Schliche kommt, gibt es vielleicht endlich mehr Hefe im Laden, und ich bekomme zur Abwechslung mal frisches Brot.«

»Vielleicht«, sagte Edvard grinsend. »Aber woher bekämst du dann deinen Schnaps, alter Mann?«

»Aus Uummaaannaq, wie alle anderen auch.«

»Wenn dir das lieber ist.« Edvard dachte kurz nach. »Aber warum kommt er hierher, wenn nicht, um zu arbeiten?«

»Buuti sagt, er geht schon in Pension. Frührente.«

»Dann ist er wohl krank«, sagte Edvard und schaute auf die zwei Gräber, die fast fertig waren.

»Er ist invalide«, sagte Karl. »Soviel ich gehört habe, geht er am Stock, vielleicht sogar mit Krücken.«

»Er zieht also aus Nuuk hierher?«

»Naamik, aus Ittoqqortoormiit.«

»Tunu? Ostgrönland?«

»Aap.«

»Warum kommt er dann hierher?«

»Keine Ahnung. Kannst du ihn ja nächste Woche selbst fragen.«

Edvard brummte und sprang in das Grab, wo er nach seiner Schaufel griff und zu graben begann, während sich Karl im Grab daneben an die Arbeit machte. Sie arbeiteten weitere zwei Stunden und wurden wie immer gleichzeitig fertig, obwohl Karl Edvard im Verdacht hatte, dass er, kurz bevor er fertig wurde, immer langsamer schaufelte und eher bloß an den Rändern scharrte, als dass er grub, und ganz bewusst auf den Älteren wartete.

Karl stieg als Erster aus dem Grab und hielt Edvard die Hand hin, um ihm aus seinem zu helfen, ein kleines Dankeschön für die Rücksicht, die er auf den Älteren nahm. Sie gingen ans andere Ende des Friedhofs, näher zu dem Steilabfall, der zum Knie des Berges und den Wellen hinabreichte, die gegen den dunklen, nassen Fels plätscherten. Sie ritzten die Umrisse der zwei Gräber, die sie hier ausheben würden, in den steinigen Boden, so nah an der Abrisskante, wie sie für vertretbar hielten und den Verstorbenen zumuten zu können glaubten.

Am äußersten Rand hielt Edvard inne und blickte aufs Meer hinaus. Er stieß Karl an der Schulter an und deutete auf ein mittelgroßes Motorboot mit einem Blitz auf dem Rumpf, das neben einem großen Eisberg auf dem Wasser schaukelte, viel zu nah, um der Welle und den Eisbrocken zu entkommen, sollte er sich auf die Seite drehen oder kalben. Karl schnalzte mit der Zunge, und Edvard zuckte mit den Achseln. Keiner der beiden hatte das Boot schon einmal gesehen.

»Weißt du, wer das ist?«

»Naamik«, sagte Edvard. »Vielleicht ist es von der Diskoinsel.«

»Vielleicht.«

Auf ihre Schaufeln gestützt, beobachteten die zwei Totengräber, wie das Boot vom Eisberg forttrieb und dahinter verschwand. Sie warteten, bis auch das Heck nicht mehr zu sehen war. Erst dann machten sie den ersten Spatenstich für die neuen Gräber. Hätten sie durch den Eisberg oder um ihn herum schauen können, hätten sie einen Mann gesehen, der aus der Kajüte des Boots kam und ein nacktes Mädchen an ihren langen schwarzen Haaren hinter sich herzog. Sie hätten auch gesehen, wie er ihr zweimal ins Gesicht schlug. Hätte der Wind in ihre Richtung geweht, hätten sie vielleicht sogar ihren Schrei gehört.

Sie war jung, mit sanften Rundungen, die ihr Geschlecht erkennen ließen. Ihre Haut war dunkler als die ihrer europäischen Freunde, heller als die der Grönländer. Sie blutete aus der Nase und hatte am ganzen Körper Abschürfungen. Der Mann wischte seine blutverschmierte Hand an ihrem Bauch ab, bevor er das Mädchen über das Deck zog und zu Boden stieß. Sie zappelte wie ein blutiger Fisch, worauf er mit dem Handrücken auf sie einschlug, sodass sie mit dem Hinterkopf gegen die Kajütenwand knallte. Das Boot neigte sich von dem Aufprall auf die Seite. Ihre Beine wurden schlaff, und sie starrte den Mann aus weit aufgerissenen braunen Augen an, als er seinen Fuß auf ihr Haar stellte, damit sie sich nicht mehr bewegen konnte. Er griff über sie hinweg nach einer Tasche, öffnete den Reißverschluss und kippte Winterkleidung auf ihren Bauch.

»Zieh dich an«, herrschte er sie an und warf die Tasche in Richtung Kajüte. Das Mädchen starrte ihn mit angehaltenem Atem an und begann, sich mit Hose und Socken abzumühen. Er nahm den Fuß von ihren Haaren und befahl ihr, sich aufzusetzen und den Fleecepullover und eine dicke Canada-Goose-Winterjacke anzuziehen. Dabei blieb sein Blick die ganze Zeit auf die dunklen Höfe ihrer Brustwarzen geheftet. Er zog sie vom Boden hoch und griff nach einem Paar Wanderstiefel, die unter dem Steuerrad lagen. »Und jetzt die Stiefel«, sagte er und warf sie ihr zu. Er stellte einen Stuhl vor das Steuerrad und stieß sie unsanft darauf nieder. Sie biss sich auf die Lippe und schluchzte laut auf, als er sie an den Haaren packte und heftig an ihnen riss. Er wartete, bis sie in die Stiefel geschlüpft war und sie zugeschnürt hatte. Dann zog er sie hoch und führte sie an die dem Eisberg zugewandte Steuerbordseite des Boots.

Das Mädchen hielt sich an der Reling fest, und ihr Körper wurde von heftigem Schluchzen geschüttelt. Der Mann ließ sie los und kehrte ans Steuer zurück, um das Boot näher an den Eisberg zu manövrieren. Dann nahm er den Gang heraus, und der Motor lief im Leerlauf weiter. Eine graue Abgaswolke streifte über das Gesicht des Mädchens und brachte es zum Husten.

»Was ist?«, fragte der Mann.

»Ich musste nur husten«, sagte das Mädchen auf Dänisch. Die Tränen auf ihren Lippen schmeckten so salzig wie das Meer.

»Was hast du gesagt?« Der Mann packte sie an den Haaren.

»Ich habe nichts gesagt«, sagte sie, als er ihr Gesicht zu sich drehte, damit sie ihn ansah. »Nichts«, schluchzte sie.

»Sprich Grönländisch, du kleine Schlampe«, fuhr er sie an und stieß ihren Kopf nach unten. Als sie erneut in Schluchzen ausbrach, grinste er.

»Das kann ich nicht.«

»Genau.«

Der Mann schubste sie heftig, und das Mädchen stieß einen Schrei aus, als es auf die Knie fiel. Strähnen ihres Haars verfingen sich im Pelzbesatz ihrer Kapuze, als der Mann seine Hände unter ihre Arme schob.

»Runter von meinem Boot.« Er hob sie hoch. Mit einem lauten Aufschrei setzte sie sich verzweifelt zur Wehr und versuchte, die Reling zu fassen zu bekommen, als sie der Mann darüber wuchtete und ihre Beine ins Wasser tauchten. In diesem Moment bekam sie die Reling zu fassen und klammerte sich daran fest. Doch der Mann trat so lange auf ihre Fingerknöchel, bis sie schreiend losließ und an der Seitenwand des Boots hinunterrutschte und ganz ins Wasser eintauchte. Die eisige Kälte presste ihr die Luft aus der Lunge, und sie begann, heftig um sich schlagend, um Atem zu ringen.

Kaum war das Mädchen ins Wasser gefallen, kehrte der Mann an den Schalthebel zurück, legte den Gang ein und fuhr von dem Mädchen fort, das mit weit aufgerissenen Augen beobachtete, wie er sofort wieder wendete und sich über die Seite des Boots beugte, um sie anzustarren. Dann wurde der Motor lauter, und das Boot beschleunigte und schoss auf sie zu.

Mit letzter Kraft schlug das Mädchen mit steifen Fingern auf das Wasser ein und versuchte, vom Boot wegzuschwimmen. Doch das Boot änderte seinen Kurs und schoss so dicht an ihr vorbei, dass es ihre Wange streifte. Ihr Kopf wurde unter Wasser gedrückt, nur ihr Haar breitete sich wie im Wasser treibende Ranken und Nerven auf der Oberfläche aus und stimmte sich auf ihren Tod ein. Der Mann nahm das Tempo heraus, wendete und schoss ein letztes Mal auf sie zu. Der Rumpf des Boots geriet heftig ins Beben, als sein Kiel ihren Schädel spaltete.

Mit einem Grinsen umkreiste der Mann langsam die Stelle, wo das Mädchen zum letzten Mal zu sehen gewesen war. Er setzte sich auf den Stuhl am Steuerrad und runzelte die Stirn, als er nach den Pfefferminzbonbons in seiner Tasche fasste und seine Finger sich im topasblauen Slip des Mädchens verfingen. Er schob ihn in die Tasche zurück und nahm Kurs auf die Mündung des Fjords, während die Totengräber ihre Schaufeln in den Berg über Inussuk stießen.

MarlunngorneqDIENSTAG

2

Politibetjent David Maratse stöhnte, als ein stechenderSchmerz durch seine Beine schoss und sich im unteren Rückenbereich zu einem lodernden Flächenbrand ausweitete. So war es jedes Mal, wenn er seinen linken Fuß hob, und ein ähnlicher Stich durchzuckte seine Nerven, wenn er seine Sohle wieder auf das Laufband setzte. Maratse hielt inne und klammerte sich, um Atem ringend, an die Haltestangen, während sich der Physiotherapeut auf seinem Klemmbrett eine Notiz machte.

»Wird es nicht allmählich besser?«, fragte er.

»Eeqqi«, sagte Maratse und schüttelte den Kopf. Er holte tief Luft, atmete wieder aus. Einmal, zweimal, dreimal. Bis der Schmerz nachließ. »Noch mal«, sagte er dann und hob den Fuß.

»Wirklich?«

»Iiji«, sagte er. »Ja, wirklich.« Seine Beine versagten ihm den Dienst, und fluchend sackte Maratse auf den rauen Gummi des Laufbands. Der Physiotherapeut schaltete rasch den Motor ab und half Maratse hoch.

»Setzen Sie sich erst mal.«

»Ich sitze doch schon seit einer Woche.«

»Und davor haben Sie die ganze Zeit gelegen«, sagte der Therapeut, als er Maratse zu einem Stuhl half. »Drei Wochen lang. Es geht sehr wohl voran. Aber Sie müssen Geduld haben.«

»Es geht voran?«, schnaubte Maratse. Er klopfte die Taschen seiner Jogginghose ab, bis er merkte, dass die Zigaretten in der Tasche seiner Jacke waren, die neben dem Krankenhausbett über einem Stuhl hing.

»Rauchen bringt niemanden weiter.«

»Mich schon.«

»Das glauben Sie doch selbst nicht«, sagte der Physiotherapeut. »Bei dem Schaden, den Ihre Nerven …«

»Rauchen hilft«, sagte Maratse in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Der junge Physiotherapeut zuckte mit den Achseln und machte sich weitere Notizen auf seinem Klemmbrett. Maratse dachte über die Nervenschädigungen nach. Fast konnte er jetzt noch seine verkohlte Haut riechen, als ihm der Chinese die Enden seiner selbst gebastelten Folterapparatur an Brust, Beine und Hoden gedrückt hatte. Maratse schlug sich den Gedanken aus dem Kopf und versuchte, die Entfernung zu seinem Bett abzuschätzen. »Ich brauche was zu rauchen.«

»Ich lasse Sie von jemandem auf Ihre Station zurückbringen«, sagte der Physiotherapeut. Er legte sein Klemmbrett beiseite, ging zu Maratses Rollstuhl, der an der Wand des Behandlungszimmers stand, und wollte ihn gerade zu seinem Patienten schieben, als die Tür aufging. Er blieb stehen, lächelte die eintretende Polizistin an, ließ den Rollstuhl los und sagte: »Er gehört ganz Ihnen.«

»Ist er fertig?«, fragte sie und strich eine lose Strähne ihres langen schwarzen Haars hinter ihr Ohr. Diese Bewegung erinnerte Maratse an eine andere Frau, die es genauso machte, eine Betjent der Sirius Patrol, einer dänischen Hundeschlittenstreife, die ihn vor dem Chinesen gerettet hatte.

»Ich brauche was zu rauchen«, sagte Maratse und deutete mit dem Kopf auf den Rollstuhl. »Irgendjemand muss mir doch helfen.«

»Immer noch schlecht gelaunt, hm?«, sagte die Polizistin, steckte den Umschlag in ihrer Hand seufzend in die Brusttasche ihrer Jacke, packte die Griffe des Rollstuhls und stellte ihn neben Maratses Stuhl. Der Physiotherapeut half ihr, Maratse aufzurichten. Sie sah Maratse lächelnd an. »Hast du meinen Namen schon wieder vergessen?«

»Hallo, Piitalaat.«

»Ich heiße Petra«, sagte sie. »Betjent Petra Jensen.« Maratse zuckte zusammen, als der Physiotherapeut den Sitz des Rollstuhls von hinten gegen seine Beine schob. Petra half ihm, sich zu setzen. »Warum willst du mich unbedingt so nennen?«

»Weil mir der Name gefällt.« Maratse umklammerte die runden Griffstangen an den Seiten der Räder und nickte den Boden an. »Ich brauche was zu rauchen, Betjent.«

»Hast du schon mal gesagt. Ach, und ich werde nicht mehr lange Betjent bleiben.«

Maratse drehte sich um. »Hast du die Prüfung zur Kommissær gemacht?«

»Ja«, sagte sie. »Und ich habe bestanden. Bis Ende der Woche sollte ich meine offizielle Ernennung erhalten.«

»Steht das in diesem Umschlag?«

»Nein.« Petras Lippen spannten sich, und sie strich nach einer imaginären Haarsträhne. »Das ist was anderes.«

»Etwas für mich?«

»Ich fürchte, ja.«

Maratse seufzte und deutete mit dem Kopf Richtung Tür. »Gehen wir.«

Petra öffnete den Umschlag, als sie neben Maratse zum Lift ging. »Soll ich es dir vorlesen?«

»Iiji«, sagte er und ließ die Gummireifen über seine Handflächen schrappen. »Aber nur die Highlights.«

»Also dann«, sagte Petra und fuhr mit dem Finger über die eng bedruckte Seite. »Sie schicken dich vorzeitig in den Ruhestand, bei voller Pension.« Auf Maratses Knurren hin hielt sie kurz inne, bevor sie fortfuhr. »Aber du bist kein Polizeibeamter mehr. Sorry.«

»Schon okay«, sagte Maratse. Er hielt vor den Liften an und drückte auf den Rufknopf. Damit hatte er gerechnet, und die morgendliche Therapiestunde hatte ihm bestätigt, was er bereits wusste. Er würde nie mehr Polizist sein.

»Wirst du trotzdem nach Inussuk ziehen?«

»Iiji.«

Petra faltete das Schreiben zusammen, und die Lifttür ging auf. »Das verstehe ich nicht. Du könntest auch hier bleiben.«

Maratse fuhr in den Lift, drehte um und wartete, dass ihm Petra folgte und auf den Knopf fürs Erdgeschoss drückte. »Ich werde immer Polizist sein«, sagte er. »Da ist es besser, woanders neu anzufangen.«

»Als Rentner«, sagte Petra.

»Das macht keinen Unterschied.«

»Dann verabschiedest du dich also von den hellen Lichtern der Großstadt und lässt mich ganz allein in Nuuk zurück?« Petra lehnte sich an die Seitenwand der Liftkabine und setzte ihren besten Schmollmund auf. Fast musste Maratse lachen, und sie schien zufrieden über die Fältchen um seine Augen. Petra straffte die Schultern, als der Lift zum Stehen kam. Maratse ließ zuerst sie aussteigen, bevor er ihr in den Flur hinaus folgte.

»Und was ist mit Gaba?«

»Über ihn reden wir nicht«, sagte sie.

»Seit wann?«

»Seit letztem Samstagabend.« Petra stellte sich hinter Maratse und packte die Griffe des Rollstuhls.

»Wieso? Was ist passiert?«, fragte er und ließ die Räder los. Er roch den Alkohol des Desinfektionsmittels, mit dem sich ein Pfleger vor der Herrentoilette die Hände säuberte, doch der Geruch war bald verflogen, als Petra losging.

»Darüber will ich nicht sprechen.«

»Okay.« Maratse holte tief Luft, als Petra ihn herumdrehte und rückwärts in sein Zimmer zog. Sie stellte ihn neben sein Bett, und Maratse griff nach seiner Jacke. Petra ging ans Fenster, lehnte sich mit verschränkten Armen dagegen und sah ihn finster an. »Was ist?«, fragte er und hielt dabei inne, die Zigaretten aus der Jackentasche zu fischen.

»Du hast mich nicht gefragt.«

»Du wolltest doch nicht darüber reden.«

»Will ich auch nicht.« Petra wandte sich ab und deutete auf die Zeitung, die auf dem Nachttisch lag. »Das hilft nicht.«

»Ich habe sie nicht gelesen.«

»Dieser Idiot von Seqinnersoq reißt schon wieder die Klappe auf. Er setzt Grönländisch als Wahlkampfversprechen ein, sogar als Waffe. Das ist die einzige Qualifikation, die er hat.« Petra griff nach der Zeitung.

»Wann sind die Wahlen?«

»Nächsten Mai.« Sie runzelte die Stirn. »Schaust du keine Nachrichten?«

Maratse zuckte mit den Achseln. »Ich wähle nicht.« Er zog eine Zigarette aus der Packung und schraubte sie in die Lücke zwischen seinen Zähnen. Er umschloss das Feuerzeug mit der Faust. »Ich gehe nach draußen.«

Petra drehte die Zeitung zu Maratse und stieß mit dem Finger auf das Foto. »Sie war nicht viel älter als sie.«

»Wer?«

»Das Mädchen, mit dem Gaba am Samstagabend geschlafen hat.« Petra hob die Zeitung leicht an und starrte auf das Bild von Malik Uutaaq, der neben seiner Frau stand. Im Hintergrund war ein Mädchen im Gymnasialalter zu sehen. »Das Mädchen, mit dem Gaba geschlafen hat, ist etwa in ihrem Alter, siebzehn oder achtzehn.«

Brummend rollte Maratse zur Tür. Er hörte das Klatschen der auf dem Bett landenden Zeitung, als er in den Korridor bog und zu den Liften weiterfuhr. Petra folgte ihm. Sie sagte kein Wort, bis sie in der Raucherhütte vor dem Eingang des Dronning Ingrids Hospital standen. Sie wartete, bis Maratse seine Zigarette angezündet hatte. »Warum wählst du nicht?«

Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette, dann deutete er mit dem Kopf auf die Zeitung, die eine Patientin beim Rauchen las. Er senkte die Stimme. »Ich traue den Politikern nicht.«

»Aber du bist von der Regierung angestellt – einer Regierung aus Politikern. Wir haben immer noch Selbstverwaltung. Deshalb solltest du mitbestimmen, wer dich beschäftigt.«

»Du vergisst dabei eines, Piitalaat«, sagte Maratse. Petra runzelt die Stirn, und er fuhr fort: »Die grönländische Polizei ist Dänemark direkt unterstellt. Nicht sie«, er deutete mit dem Kopf auf die Zeitung, »sagen uns, was wir tun sollen. Außerdem bin ich pensioniert.« Maratse zog die Augenbrauen hoch und nahm einen weiteren Zug. Er stellte sich vor, wie sich seine Nerven entspannten, als der Rauch seine Lunge füllte. Zumindest für kurze Zeit glaubte er, Frieden gefunden zu haben.

»Ich hasse es, wenn du mich so nennst. Als ob du mich ständig daran erinnern müsstest, dass ich Grönländerin bin.«

»Bist du ja auch.«

»Ich weiß.«

Maratse blies eine Rauchwolke an die Decke des Schuppens. »Ich nenne dich so, weil mir der Name gefällt.«

Er rauchte die Zigarette zu Ende und wollte nach einer neuen greifen, als er merkte, dass er die Jacke schon wieder in seinem Zimmer gelassen hatte. Seufzend legte er die Hände auf die Oberschenkel und schloss die Augen. Als die Patientin aufstand, um zu gehen, öffnete er sie und nickte ihr kurz zu, um sie gleich wieder zu schließen. Petra setzte sich auf die Bank neben ihm.

»Was wirst du in Inussuk machen?«, fragte sie.

»Fischen und jagen.« Maratse öffnete ein Auge, als Petra seine Hand nahm.

»Aber du kannst ja nicht mal gehen.«

»Noch nicht«, sagte er und schloss das Auge wieder.

Petra drückte seine Hand, und er lauschte dem Wind, der am Straßenstaub leckte, dem Krächzen des Raben, der auf dem Krankenhausdach scharrte, dem fernen Läuten einer Kirchenglocke. Er spürte, wie der Wind an den feinen Haaren seiner Arme zupfte, und war plötzlich froh, dass der Chinese nur die Haut vernarbt hatte, die er nicht zeigte, und der Schmerz im Innern seines Körpers verborgen blieb. Fast musste er lachen über den Gedanken, und er fragte sich, woher dieser plötzliche Anflug von Eitelkeit kam und ob er etwas mit seinen neununddreißig Jahren und der Mittzwanzigerin zu tun hatte, die seine Hand hielt.

»Vielleicht komme ich dich besuchen«, sagte sie und drückte noch einmal seine Hand. »Wenn ich darf.«

»Iiji«, sagte er und öffnete die Augen.

»Glaubst du, du kommst klar?«

»Natürlich.«

»Und wirst du auch aufpassen, dass du keinen Ärger kriegst?«

Maratse dachte kurz nach, bevor er antwortete. Was seine Karriere anging, war er ungeschoren aus seiner Verwicklung mit Betjent Brongaard und dem Kollateralschaden hervorgegangen, den sie in ihrem Privatkrieg mit den internationalen Geheimdiensten erlitten hatte. Es war ein Wunder, dass er noch am Leben war, und er fragte sich, ob auch sie überlebt hatte. Er bewunderte ihren Mumm, ihren Tatendrang und ihren Moralkodex, und zumindest eine Weile hatte er sogar die adrenalingeputschte Aufregung genossen, die sich so stark von seinen normalen polizeilichen Pflichten unterschied. Sie hatte ihn beinahe das Leben gekostet, dessen war er sich nur zu deutlich bewusst, aber in einzelnen Momenten war es sehr befriedigend gewesen. Und jetzt musste er nur aufpassen, dass er keinen Ärger bekam.

»Ich werde mich zusammennehmen«, sagte er und ließ ihre Hand los.

»Okay«, sagte Petra und stand auf. Sie zupfte eine Haarsträhne von dem Klettverschluss an ihrem Kragen, fasste in ihre Jacke und gab Maratse seine Entlassungspapiere. »Dann gehe ich jetzt mal.«

»Danke, dass du gekommen bist.«

»Gern geschehen.«

»Morgen?«

»Lass mich raten. Du brauchst jemanden, der dich zum Flughafen bringt?«

Maratse zog die Augenbrauen hoch, ja.

Sie nickte und schaute zur Tür. »Kommst du allein zurück in dein Zimmer?«

»Klar.«

»Okay.« Petra strich mit den Fingerspitzen über Maratses Schulter, drehte sich um und ging weg. Er wartete, bis sie um die Ecke gebogen war, dann schob er das Kuvert unter sein Bein und fuhr aus der Raucherhütte und an der Seite der Klinik entlang zur Krankenwagenwerkstatt. Er nickte dem Mechaniker zu, der sich an einem von Nuuks drei Krankenwagen zu schaffen machte, und blieb an einer langen rostigen Stange stehen, die in Hüfthöhe an der Werkstattwand befestigt war. Er zog die Bremsen des Rollstuhls an, griff nach der Stange und zog sich daran hoch. Der Mechaniker blickte auf, als Maratse zunächst über die Stange, dann über seine Füße, einen nach dem anderen, zu schimpfen begann, als er sich mühsam die Wand entlanghangelte und dann wieder zurück.

Als die Schmerzen am schlimmsten waren, kurz bevor er dachte, er würde ohnmächtig, stellte er sich den Chinesen mit seinem Elektroschockpaddel vor und spuckte an die Wand und wünschte den Dreckskerl über die Hölle der Weißen hinaus in das frostversengte Reich von Grönlands finstersten Geistern, wo verkohltes Fleisch eine Delikatesse war und ausgestochene Augen bloß eine Unannehmlichkeit, bevor die richtige Folter begann.

Er hielt inne, um die rostigen Metallflocken von seinen orange verfärbten Handflächen zu zupfen, bevor er die Stange wieder umklammerte und sich, über das Feuer in seiner Wirbelsäule und die weiß glühenden Nägel in seinen Fußsohlen fluchend, weiter an der Wand entlangkämpfte.

»Ich werde wieder gehen«, sagte er und machte einen weiteren Schritt.

Er hörte das metallische Scheppern, als der Mechaniker sein Werkzeug weglegte, und sah, wie der Mann seine Hände an einem öligen Lappen abwischte und durch die Werkstatt ging, um sich hinter den Rollstuhl zu stellen.

Maratse biss die Zähne zusammen und sagte: »Nur noch ein Mal.«

Der Mechaniker nickte und ging zu den Spinden an der Rückwand der Werkstatt. Er kam mit einer Flasche Wodka und zwei schmutzigen Schnapsgläsern zurück und stellte sie auf ein Fass. Maratse ließ sich in seinen Rollstuhl sinken. Der Mechaniker schenkte die zwei Gläser voll und reichte ihm eines.

»Skål«, sagte der Mechaniker und stieß mit Maratse an. Er wartete, bis er sein Glas geleert hatte, dann tauschte er sein volles Glas gegen Maratses leeres.

»Qujanaq«, sagte Maratse und trank das zweite Glas Wodka. »Danke.«

Der Mechaniker nahm die leeren Gläser und stellte sie neben die Wodkaflasche, griff nach dem Verschluss und schraubte ihn auf die Flasche. Maratse schüttelte den Kopf.

»Du verlangst dir zu viel ab«, sagte der Mechaniker.

»Kann schon sein.«

»Doch, auf jeden Fall.« Der Mechaniker legte den Kopf schief. »Warum?«

Maratse zog den Umschlag unter seinem Bein hervor und gab ihn dem Mechaniker. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, während der Mann den Brief öffnete und las.

»Deshalb«, sagte Maratse, als der Mann einen leisen Pfiff ausstieß.

»Sie zahlen dir die volle Pension.«

»Ich will sie aber nicht.«

»Du brauchst nie mehr zu arbeiten.« Der Mechaniker wartete, als Maratse tief Luft holte. Als er ausatmete, fragte er: »Bist du gern Polizist?«

»Bist du gern Mechaniker?«, fragte Maratse und blickte sich in der Werkstatt um. Er deutete auf die öligen Hände des Mannes, schnupperte den durchdringenden Dieselgeruch.

Der Mechaniker zuckte mit den Achseln. »Das ist, was ich gut kann.«

»Genau«, sagte Maratse und deutete mit dem Kopf auf die Flasche. »Lässt du die hier, wenn du gehst?«

»Klar.«

Maratse nickte. Er drehte sich vom Mechaniker weg, packte die Stange und zog sich daran hoch. Die Schmerzen entzündeten ein Feuerwerk in seinem Rückgrat, das ihn wie ein nie endender Blitzstrahl durchfuhr, während er sich beständig an der Stange hin- und herhangelte, bis die Sonne tief am spätherbstlichen Himmel stand und die Wodkaflasche leer war.

3

Malik Uutaaq stieß ein Bein unter der Daunendeckeseines Sohns hervor, stützte sich stöhnend auf die Ellbogen auf und schaute blinzelnd in das Sonnenlicht, das durch die Vorhänge drang. Er schwang die Beine über die Bettkante und zuckte zusammen, als sich die spitze Ecke eines Legosteins in seine Fußsohle bohrte. Sipu hatte vergessen, sein Zimmer aufzuräumen, bevor er ins Fußball-Camp gefahren war. Malik schob den Stein beiseite und stand auf. Die Bettdecke rutschte an ihm hinab, und er tappte zur Tür, wo er laut aufstöhnte, als er hörte, wie die Badezimmertür zuging und seine Tochter Pipaluk die Dusche anstellte. Er zog seine verrutschte Boxershorts gerade, bückte sich, um das T-Shirt vom Boden hochzuheben, und zog es an, als er die Treppe zur Küche hinunterstieg. Seine Frau schenkte ihm keine Beachtung, als er einen Karton Milch aus dem Kühlschrank nahm.

»Gut geschlafen?«, fragte er. Sie grinste hämisch und wandte sich wieder ihren Frühstücksflocken zu. Er öffnete den Karton, drückte die Lippen dagegen und kleckerte beim Trinken etwas Milch auf sein Stoppelkinn. Er knallte den Milchkarton auf die Küchentheke. »Irgendwann wirst du mit mir reden müssen, Naala.«

Seine Frau ließ ihren Löffel in die Schüssel fallen und sah ihn finster an. Sie stieß mit dem Finger auf die Theke und sagte: »Wenn du aufhörst rumzuvögeln, können wir reden. Wie fändest du das?«

»Ich und rumvögeln?«

»Komm mir bloß nicht so.« Sie hob eine Hand.

»Du glaubst, dass ich deshalb so spät nach Hause gekommen bin?« Malik lachte. »Meine Güte. Eifersucht steht dir leider gar nicht. Aber wenn du unbedingt glauben möchtest, dass ich das getan habe …«

Naala verschränkte die Arme über der Brust und starrte ihren Mann an. Sie wollte etwas sagen, aber Malik kam ihr zuvor.

»Wenn du allerdings ein paar Kilo abnehmen würdest, käme ich vielleicht öfter nach Hause.«

»Du mieses Arschloch.«

Naala nahm die Müslischale und warf sie nach dem Kopf ihres Mannes. Malik wich zur Seite aus, und die Schale flog gegen den Kühlschrank und zerbrach. Milch spritzte auf Maliks dichtes schwarzes Haar, und er schnippte eine Frühstücksflocke von seiner Schulter, als sich seine Frau an ihm vorbeizwängte und die Küche verließ. Er grinste, stellte einen Kessel Wasser auf den Herd und machte das Radio an.

Als er Pulverkaffee in eine Tasse löffelte, kündigte der Sprecher die Nachrichten an. Malik rührte Milch in seinen Kaffee und hielt kurz inne, als der Name seiner Partei fiel: Seqinnersoq, die Sonnenscheinpartei.

»Davon haben wir hier jede Menge«, sagte er und nahm einen Schluck Kaffee. Er hörte erst wieder zu, als ein Statement von Aarni Aviki, dem Pressesprecher der Partei, kam. Malik musste grinsen über das näselnde Leiern, mit dem Aarni die wichtigsten Punkte des Wahlprogramms von Seqinnersoq herunterbetete. Die Medien, die sich bereits auf Aarnis Probleme mit der grönländischen Sprache eingeschossen und die dänischen Wurzeln seines Namens aufgedeckt hatten, nannten ihn jetzt bei jeder Gelegenheit Arne