Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ihr Leben lang wird Frana von sieben Raben begleitet. Doch ob sie Freund oder Feind sind, vermag Frana nicht zu sagen. An einem nebeligen Herbstmorgen dringt einer der Vögel in Franas Haus ein, zerrt an der Schublade einer Kommode und offenbart so ein düsteres Geheimnis: Frana ist nicht die Tochter ihrer Eltern. Auf der Suche nach ihrer tschechischen Herkunft wird sie Opfer eines alten Streits und muss sich diesem mit Mut stellen, die Raben immer an ihrer Seite. --------------------------------------------------------------------Sieben Raben wurde mit dem Qindie Siegel ausgezeichnet. Nur was ist eigentlich Qindie? Qindie steht für qualitativ hochwertige Indie-Publikationen. Achten Sie also künftig auf das Qindie-Siegel! Für weitere Informationen, News und Veranstaltungen besuchen Sie unsere Website: qindie.de/
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 294
Veröffentlichungsjahr: 2014
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Mika M. Krüger
Sieben Raben
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Sieben Raben
Kapitel 1: Der Fluch
Kapitel 2: Ein Märchen
Kapitel 3: Namen
Kapitel 4: Hunger
Kapitel 5: Hradec Králové
Kapitel 6: Die Stadt
Kapitel 7: Anna und Petrov Nemec
Kapitel 8: Rückkehr
Kapitel 9: Das Bauernhaus
Kapitel 10: Krankheit
Kapitel 11: Joshua
Kapitel 12: Tante Nemec
Kapitel 13: Nachforschung
Kapitel 14: Onkel Nemec
Kapitel 15: Verwandte
Kapitel 16: Abschied
Kapitel 17: Familienfehde
Kapitel 18: Diese Leute
Kapitel 19: Der Löwe von Hradec Králové
Kapitel 20: Familie Nemec
Kapitel 21: Die Wächter
Danksagung
Impressum neobooks
Mystery von Mika M. Krüger
mit Illustrationen von Eszter Molnár
©Susanne Krüger 2014
E-Mail: [email protected]
Homepage: www.dunkelfeder.com
Coverdesign: Erik Stoye
Umschlaggestaltung: Mika M. Krüger
Illustrationen: Eszter Molnár
Korrektur: Anne Sorkale
Coverfoto: Alice Popkorn bei flickr.com
Deutschland, Herbst
Die Schreie der Vogelschar begleiteten Frana wohin sie auch ging. Selbst an diesem kalten Oktoberabend schwebten sie über ihr wie die dunkle Vorahnung eines Unglücks. Es war diesig und grauer Nebel zog durch jeden Winkel der Straße. Deshalb sah sie die Esche vor dem Haus ihrer Eltern erst spät. Wie ein Riese ragte sie über das doppelstöckige Gebäude hinaus und erstreckte sich weit zum Himmel hin. Der Baum glich einem Skelett, dessen Knochen sich träge im Wind bewegten.
Die stromlinienförmige Gestalt eines Raben spannte die Flügel und landete mit ausgestreckten Beinen auf einem der obersten Äste. Frana dachte an die spitzen Krallen, die sich nun in den trockenen Ast gruben und schauderte. Es waren ihre gefährlichen Beobachter, ihre verfluchten Begleiter, ihre geräuschlosen Wächter. Man konnte sie nennen, wie man wollte, aber es würden sieben Raben bleiben, die Tag und Nacht an ihrer Seite verweilten.
»Ihr macht mir keine Angst mehr«, sagte sie laut, bekam jedoch keine Antwort. »Schon lange nicht mehr«, murmelte sie und umklammerte den Riemen ihrer Umhängetasche.
»Rah«, machte der Größte unter ihnen. In der Vogelschar war er derjenige, der den Ton angab. Flog er los, setzten auch die anderen zum Flug an. Landete er, landeten sie ebenfalls.
Frana beobachtete, wie auch der letzte Vogel auf einem knochigen Ast Platz nahm, dann erst wandte sie sich ab und lief zum Eingang ihres Familienhauses, gefolgt vom Blick der Raben. Sie war müde von der Arbeit, ihre Kleidung war feucht und sie fror.
***
Im Haus angekommen, warf Frana Tasche und Jacke in eine Ecke des Flurs, machte sich einen Kakao und ließ sich im Wohnzimmer auf die Couch ihrer Eltern fallen.
Die Füße auf dem Beistelltisch, genoss sie den Moment der Ruhe. Die Arbeit in der Druckerei war eine einfache Arbeit für ein einfaches Mädchen, aber Perfektionismus und Ehrgeiz forderten ihren Tribut. Sie war ständig müde. Noch dazu hatte ihre Chefin ständig etwas an ihr auszusetzen. Immer hieß es: »Frana, du bist zu unkonzentriert.« Und damit hatte die Frau sogar Recht. Seit jeher war sie von einer beständigen Unruhe beherrscht.
Frana redete sich ein, dass es an Lichtenthal lag. Das verschlafene Nest befand sich in unmittelbarer Nähe des Elbestroms, war eine halbe Stunde Fahrtzeit von Dresden entfernt und so beschaulich, dass man vor Langeweile verging. Die aufregendsten Ereignisse waren Diskussionen über den Umbau des Gemeindehauses oder Debatten über die Sauberkeit der Straßen.
Vielleicht hatte Frana als Kind deshalb nur Unfug gemacht und als Teenager ihre Eltern in die Verzweiflung getrieben. Erst mit ihrer Ausbildung legte sich ihr Drang, allem widersprechen zu wollen.
Seitdem kam sich Frana vor, wie an eine Leine gelegt. Es war eine selbstgemachte Gefangenschaft. Die Ausbildung, das Leben bei ihren Eltern. Vor drei Jahren hatte sie sich das alles ganz anders vorgestellt, aber nun schien es zum Losreißen zu spät zu sein.
Sie hörte das Rufen der Raben von draußen und dachte an die Freiheit dieser Tiere. Manchmal wünschte sie sich, einer von ihnen zu sein. Wie hieß es so schön: Dann konnte sie fliegen, wohin sie der Wind trug.
Doch so einfach war es nicht, denn auch die Raben waren Gefangene. Sie waren von einem unsichtbaren Käfig umgeben. Wohin Frana ging, dahin flogen auch die Raben, als wäre da ein unzertrennbares Band, das die Vögel in schwarzem Federkleid an sie kettete. Sie und die sieben Raben gehörten zusammen, das würde sich niemals ändern.
Seufzend schaltete Frana den Fernseher ein und zappte zwischen den Kanälen hin und her. Bei RTL blieb sie hängen. Ein deutsches Ermittlerteam löste einen brisanten Fall in zwanzig Minuten. Schon nach kurzer Zeit wurden ihr die Augen schwer. Sie ertappte sich beim Sekundenschlaf, hielt noch etwas durch, dann nickte sie ein.
Es war bereits stockfinster draußen, als ein regelmäßiges Klopfen im Haus ertönte. Erst war es kaum auszumachen, dann schwoll es immer mehr an, bis Frana letztendlich aufwachte.
Zuerst dachte sie, ihr Handy habe sie geweckt, doch diesen Gedanken verwarf sie schnell. Weder ihr Handy noch irgendein anderes elektrisches Gerät konnte dieses Klopfen imitieren. Es war dumpf, zugleich aber rhythmisch und gläsern.
Im Fernseher lief Werbung, helle Bilder, die das Wohnzimmer schemenhaft erkennbar machten. Jemand pries Zahnpasta an und lächelte Frana strahlend ins Gesicht. Sie griff nach der Fernbedienung und stellte auf lautlos.
Jetzt hörte sie das Klopfen deutlicher. Tong-Tong, Tong-Tong. Kurz war es ruhig, dann ging es weiter. Niemand war zu Hause. Ihre Eltern waren zum Urlaub in der Dominikanischen Republik. Ein Haustier hatten sie nicht.
Die Werbung endete und es folgte die Vorschau für den 22-Uhr-Film. Das Bild einer schreienden Frau tauchte auf. Blitzlichter und kurze, abgehackte Filmsequenzen wechselten sich ab. Blut war zu sehen.
Das war Frana zu viel. Sie hangelte nach der Stehlampe, schaltete sie ein und war beruhigt, als das Licht den Raum erhellte.
Erneut horchte sie auf das Geräusch. Es schien aus der zweiten Etage zu kommen. Rasch schlich sie zur Treppe, schaltete überall Licht ein und ging nach oben. Im Flur war alles unauffällig, doch das Klopfen war nun deutlich lauter als zuvor. Es kam eindeutig aus ihrem Schlafzimmer.
Sie entdeckte eine Tonfigur ihrer Mutter auf dem Flurschränkchen, schnappte sie sich und stellte sich mit klopfendem Herzen vor die Tür. Tong-Tong, hörte sie. Tong-Tong.
Es ist nur ein Ast, dachte Frana, biss die Zähne zusammen und sprang durch die offene Tür in ihr Zimmer. Da war keine Bedrohung, kein Einbrecher, nichts. Es war nur ihr Schlafzimmer. Regen prasselte gegen die Scheibe. Das Klopfen war in unmittelbarer Nähe.
Frana schlich weiter in den Raum hinein, sah zum Fenster, und dort, im trüben Nass dieses Herbstabends, entdeckte sie einen der sieben Raben. Es musste der Größte von ihnen sein. Geduldig saß er am Fenster und klopfte mit seinem Schnabel in regelmäßigen Abständen gegen die Scheibe. Sein Kopf schnellte vor und zurück, vor und zurück. Tong-Tong, Tong-Tong.
»Ihr schon wieder«, sagte Frana und versuchte, Ruhe zu bewahren. »Ihr sollt mich doch nicht so erschrecken.«
Das Klopfen erstarb und Frana blickte in die Augen des Raben. Sie spürte etwas auf ihren Schultern lasten. Ein Schatten legte sich über sie und schien sie nach unten zu drücken. Ihr Herz raste.
»Was willst du?«, fragte sie, doch der Vogel blieb ihr die Antwort schuldig. »Soll ich etwa das Fenster öffnen?« Der Rabe legte den Kopf schief. Ein kurzes Krächzen war zu hören, dann landete ein weiterer Rabe auf dem Fensterbrett und neben diesem noch einer.
Frana wurde unwohl zu Mute. Sie hatte die Vögel allerhand beängstigende Dinge tun sehen. Sie waren ihr bis zur Arbeitsstelle gefolgt, hatten ihre Kollegen zu Tode erschreckt oder aber eine Nachbarin angegriffen, als diese sich über Frana beschwerte. Sie hatten sogar eine Katze getötet und den Leichnam wie eine Trophäe ihrer Angriffslust vor Franas Haustür gelegt. Dass sie jedoch so nah bei ihr saßen, sogar versuchten, eine Reaktion zu erzwingen, war neu.
»Oh nein, diesen Gefallen werde ich euch nicht tun.«
Sie wollte das Zimmer verlassen, doch kaum hatte sie sich abgewandt, begann das Klopfen erneut. Diesmal waren es drei Schnäbel, die unaufhörlich gegen das Glas schlugen. Frana zittere.
»Lasst mich in Frieden!«, schrie sie, aber die Raben hörten nicht auf. Tong-Tong, Tong-Tong, machte es und Frana kamen die Schläge vor wie das Donnergrollen eines Blitzes nach dem Aufschlag. Wie erstarrt betrachtete sie die Vögel, bis der große Anführer erneut innehielt, sie ansah und den Schnabel öffnete. Zwei kurze Krächzer drangen aus seiner Kehle. Es klang wie ein Wort.
Langsam ging Frana näher an das Fenster heran. Als sie nur noch einen Schritt entfernt stand, hörten die beiden kleineren Raben mit dem Schauspiel auf, während der Große immer wieder auf die gleiche Weise krächzte. Nur noch das Glas trennte Franas Gesicht von den Vögeln. Und neben dem unaufhörlichen Rauschen des Regens glaubte sie nun ein Wort ganz deutlich zu hören: Frana, krächzte der Rabe, Frana, Frana, Frana.
Vor Schreck wich sie zurück, starrte in die knopfgroßen Augen des Vogels und glaubte, darin etwas zu sehen. Einen Löwen mit Pranken aus Gold und einer feuerroten Zunge, die nach Opfern leckte. Das Bild war nur einen Wimpernschlag lang zu sehen, doch es strahlte hell in den tiefschwarzen Augen des Raben.
Dann wandte Frana sich ab, flüchtete die Treppe hinunter in das fensterlose Bad im Erdgeschoss und fragte sich, ob sie nun vollkommen von Sinnen war oder doch träumte. Vielleicht war sie eingeschlafen und steckte nun in diesem merkwürdigen Szenario fest.
Was, wenn es real war? So verrückt es auch klang. War es denn möglich, dass der Rabe ihren Namen gelernt hatte? War es möglich, dass ein Löwe … vollkommen absurd. Vielleicht spielte ihr jemand einen Streich.
Erst als Franas Herz sich beruhigt hatte und ihre Gedanken wieder klar waren, kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. Dort ging sie unruhig auf und ab. Sie kam sich hilflos vor.
Sie setzte sich aufs Sofa. Der 22 Uhr Spielfilm lief. Eine Gruppe Jugendlicher auf dem Weg zu einem Saufurlaub, wo sie das Grauen kennenlernten. So ging es doch immer los. Frana nahm die Fernbedienung und schaltete das Gerät aus. Kein Klopfen. Sie atmete tief durch. Alles Einbildung. Die Raben auf den Bäumen, die Raben vor dem Fenster, alles Einbildung. Mit den Händen schlug sie sich gegen die Wangen, ging erneut ins Bad und spritze sich Wasser ins Gesicht. Augenblicklich fühlte sie sich wacher und war bereit, den Tieren den Kampf anzusagen.
Zögerlich trat sie vor die Treppe und lauschte. Stille. Sie atmete tief durch, ging hinauf und schlüpfte in ihr Zimmer. Dieses Mal schaltete sie das Licht ein. Keine Raben am Fenster.
»Oh Mann, ich drehe noch vollkommen durch«, sagte sie.
Doch bevor sie sich entspannen konnte, hörte sie es wieder. Das gleiche rhythmische Klopfen, daneben das Krächzen. Ein bedrückender Chor, der ihr den Verstand raubte. Sie sah zum Fenster und tatsächlich, da saß er, der große Rabe.
»Das ist verrückt«, sagte sie. »Es sind nur Vögel.« Mit diesen Worten im Kopf ging sie auf den Raben zu, holte tief Luft und öffnete das Fenster. Regen tropfte auf ihre Hand. Der Rabe war nur noch einen Atemhauch entfernt. Stumm blickte er sie an.
»Sch«, machte sie und ruderte mit den Armen. Der Vogel tat unverwandt einen Schritt zur Seite und krächzte.
»Verschwinde, hab ich gesagt.« Doch daran dachte er gar nicht. Mit einem Satz flog er über Franas Kopf hinweg. Es war unfassbar. Sie drehte sich um und sah den nassen Vogel auf dem neu gekauften Zimmerteppich sitzen. Sein Gefieder war aufgeplustert, er drehte seinen Kopf nach rechts, dann nach links.
»Zum Teufel, was soll das?«, fragte sie ihn. »Willst du fressen? Ich habe nichts.« Die Arme ausgebreitet, ging sie auf den Vogel zu, machte laute Geräusche und versuchte, ihn aus dem Zimmer zu scheuchen, doch anstatt zurück in Richtung Fenster zu fliegen, verschwand er mit einem kurzen Flügelschlag im Flur.
»Verdammt noch mal«, sagte Frana und folgte dem Vogel die Treppe hinunter ins Wohnzimmer und weiter ins Schlafzimmer ihrer Eltern. Sie sah, wie er sich an der Kommode ihrer Mutter zu schaffen machte. Mit dem Schnabel versuchte er, eine Schublade zu öffnen.
Frana wollte den Raben abhalten, doch sie konnte nur an den kräftigen Schnabel und die tote Katze vor ihrer Haustür denken. Die immense Kraft, die dem Tier innewohnte, war unberechenbar. Daher blieb sie auf Abstand.
Der Rabe pickte unterdessen mit dem Schnabel in den Hohlraum zwischen Schrank und Schublade. Er schaffte es sogar, das Fach einen Spalt breit aufzuhebeln.
»Es reicht«, sagte Frana und zitterte. »Es reicht mir jetzt mit dir.«
Sie lief in den Keller und kam mit einem Besen zurück. Inzwischen hatte der Rabe das Fach vollständig geöffnet. Auf dem Boden lagen etliche Papiere verstreut. Es herrschte eine heillose Unordnung und Frana sah sich den ganzen Kram stundenlang sortieren. Mit einem Mal wich jede Furcht aus ihren Gliedern. Nun war sie wütend. Wie konnte es denn sein, dass ihr ein Rabe so viel Mühe machte?
Frana hob den Besen. Sie ging auf den Raben zu, glaubte, er würde flüchten, aber er war zu sehr auf die Papiere konzentriert.
»Das war’s«, sagte sie und schlug zu. Es knackte bedrohlich. Der Vogel prallte gegen die teure Pinienkommode und lag dort einen Moment reglos da. Dann rappelte er sich benommen auf und krächzte. Sein Rufen klang vorwurfsvoll. Erneut hob Frana den Besen. Sie bereitete sich auf einen Angriff vor, doch der Rabe versuchte nur, mit dem Flügel zu schlagen. Es gelang ihm nicht.
Langsam ging Frana auf den Vogel zu. Er wich zurück, versuchte zu fliegen, kam ein paar Zentimeter vorwärts, stürzte jedoch sofort wieder ab. Immer öfter krächzte er und nun glich sein Ruf einem Schmerzensschrei.
Frana wurde von einer Welle Mitleid überrollt. Der Rabe war winzig gegen sie. Er ging ihr gerade bis zur Hälfte des Unterschenkels.
»Du bist selbst schuld mit deiner Gruselshow«, meinte sie laut, obwohl sie doch längst wusste, dass keiner ihre Entschuldigung hörte.
Der Rabe stoppte in seiner Bewegung. »Rah!«, krächzte er und startete einen erneuten Flugversuch. Er landete sanft auf dem Ehebett ihrer Eltern.
»Ich glaub’s doch nicht.« Mit Besen in der Hand, blickte sie auf den schwarzen Vogel, der inmitten des hellblauen Satinbezugs lag. Dieses Bild hatte einen so kräftigen Kontrast, dass es ein ideales Fotomotiv abgeben würde, hätte sie eine Kamera zur Hand.
Frana rannte erneut in den Keller, streifte sich die Gartenjacke ihres Vaters über und zog noch zwei lederne Handschuhe an.
Als sie wieder im Schlafzimmer angekommen war, lag der Vogel noch immer an Ort und Stelle. Sein Körper bewegte sich beim Atmen unruhig auf und ab, der Kopf war zur Seite gesunken. Sie nahm allen Mut zusammen und griff nach dem Tier. Entgegen ihren Erwartungen wehrte sich der Vogel nicht. Sie hob ihn hoch und merkte, wie leicht er war. Ein Fliegengewicht.
»Okay«, sagte sie, »wir sind quitt. Du hast mich erschreckt, ich dich geschlagen, deshalb darfst du solange im Haus bleiben, bis es dir besser geht.«
Mit dem reglosen Tier in den Armen ging sie ins Wohnzimmer. Sie konnte sehen, dass der Rabe seine Augen geschlossen hielt, und plötzlich ergriff Frana eine ungeahnte Angst. Was war, wenn der Rabe starb? Was, wenn sie schuld war, dass dieser Vogel, der sie tag ein tag aus begleitet hatte, verendete? Ihr Mund war trocken.
Vorsichtig setzte sie den Raben auf den Teppich, holte ein paar alte Handtücher, legte sie auf einen Haufen und drückte eine Kuhle hinein. Den Raben hob sie dann auf die Konstruktion, die einem Nest ähnelte.
Danach füllte sie in der Küche ein Schälchen mit Wasser, suchte nach Haferflocken und schüttete diese in eine Schale. Dann setzte sie sich damit neben den Vogel. Er schien zu schlafen. Bei jedem Atemzug hob und senkte sich sein Körper.
Er sah anmutig aus, wie er da lag. Sein Schnabel war kräftig, hatte Kerben an den Rändern, das Gefieder schimmerte matt. Vorn am Schnabelansatz standen ein paar kurze Federn ab. Es sah aus wie ein Bart.
»Du bist gar nicht beängstigend, weißt du das«, flüsterte sie und stellte das Fressen und die Wasserschale ab.
Noch einmal betrachtete sie den Vogel zwischen den Handtüchern und machte sich erst dann auf, das Chaos im Schlafzimmer ihrer Eltern zu beseitigen.
Sie klaubte die Papiere zusammen, die bunt verstreut im Zimmer lagen. Gerade als sie einen Stapel in die Kommode räumen wollte, stutzte Frana.
Zwischen den Papieren erregte eines ihre Aufmerksamkeit. Es war vergilbt, wirkte abgenutzt. In fettgedruckter Schrift stand dort: rodný list. Sie zog es hervor und betrachtete den abgegriffenen Zettel genau. Unten fand sie den Stempel der CSSR. Ein Amtsdokument der Tschechoslowakei. Mit den Augen suchte sie nach Worten, die sie verstand, und blieb auf einem Datum hängen: 28.04.1989. Ihr Geburtstag. Dahinter standen einige Wörter, sie verstand April und schluckte, als sie weiter unten ihren eigenen Namen las: Frana, stand dort. Frana und ein fremder Nachname. Danach folgte Kauderwelsch.
Zwischen ihren Händen begann das Blatt zu beben. Nein, das ist falsch, schrie eine Stimme in ihrem Kopf. Sie hatte einen Personalausweis und dort stand ihr Name ganz eindeutig: Frana Huss, geboren am 28. April 1989 in Hradec Králové bei einem Urlaub ihrer Eltern. Sie sah sich selbst vor ihrer Mutter sitzen, als diese ihr zum ersten Mal von der unglaublichen Geschichte erzählte, dass Frana zu früh und daher mitten im Urlaub auf die Welt gekommen war. Das hatte sie geglaubt und sogar ziemlich romantisch gefunden. War es denn möglich, dass ihre Eltern gelogen hatten, um ihre wahre Herkunft zu vertuschen?
Unsinn. Der Rabe, ihre Angst, das musste sie verwirrt haben. Ruhig legte sie das Papier auf den Boden, ließ einige Sekunden verstreichen und las die Zeilen erneut. Sie waren unverändert.
Das in ihren Händen war Frana Nemecs rodný list. Mit einem Mal fröstelte sie. Ihr wurde schlecht. Sie wollte aufstehen und davonlaufen, blickte jedoch weiter wie versteinert auf die wenigen Worte.
Unmöglich, schrie ihr Verstand, doch das leise Flüstern einer Stimme kämpfte sich in den Vordergrund. Unaufhörlich begann es gegen eine verschlossene Tür zu klopfen, die Frana Huss, geborene Nemec, immer verschlossen gehalten hatte. Sie gehörte nicht hierher. Das hatte sie niemals.
Tschechoslowakei, Dezember 20 Jahre zuvor
Sie saßen am knisternden Feuer eines Kachelofens, wärmten sich ihre Finger und der Schein von Flammen tanzte auf ihren Gesichtern wie eine Ballerina in leuchtend roten Kleidern, eine Ballerina gefangen in einer endlosen Pirouette. Sie waren Zeugen einer düsteren Vergangenheit: sieben Jungen von ganz unterschiedlichem Alter, mit ganz unterschiedlichem Aussehen, ganz unterschiedlichem Charakter und doch waren sie im Geiste gleich. Sie froren nicht, denn sie drängten sich dicht aneinander, sodass sich ihre Körper unter der Wolldecke berührten. Zusammen trotzten sie der Winterkälte, die durch die Ritzen des alten Bauernhauses zog.
Ein Junge stach besonders hervor. Mit gedämpfter Stimme erzählte er das Märchen von den Sieben Raben. Es war sein Lieblingsmärchen, denn es handelte von Geschwistern, die zusammenhielten. Ein schauriges Abenteuer voller Mystik und einem ungewissen Ausgang.
Der Junge hielt in seinen Armen das achte Kind, ein Mädchen mit hellblondem Haar und wachen Augen. Es war noch sehr klein und brauchte von allen Kindern die meiste Aufmerksamkeit. Schwierig war es deshalb jedoch nicht. Still, aufmerksam und selten laut. Ein Sonnenscheinkind, was oft lachte und jeden im Herzen wärmte, der es sah.
Das Mädchen hatte die Augen auf ihren Bruder gerichtet und zog mit den kleinen Fingern an einer Schlaufe seines Oberteils. Es konnte seine Gefühle nicht eindeutig formulieren, noch konnte es bewusst begreifen, wie wichtig dieser Mensch für es war und trotzdem war zwischen den beiden Geschwistern eine stille Übereinkunft. Sie brauchten einander wie Pflanzen Wasser brauchten, um kräftig zu gedeihen.
Es ging den Kindern gut. Keiner sprach mehr über die Flucht vor einem Jahr und den Verlust, den sie alle erlitten hatten. Für sie gehörte dies zu einem Spuk, der nun vorbei war. In diesem Bauernhaus waren sie sicher. Es bot ihnen Schutz und Geborgenheit. Nun lebten sie zwar weit außerhalb der Stadt, hatten oft wenig zu Essen und noch weniger Geld, aber es war besser, als die ständige Angst im Nacken zu spüren.
Krystof brachte die Erzählung seinem Höhepunkt entgegen. Er war der Älteste und für die anderen daher ein Vorbild. Wenn er erzählte, klebten die Kinder an seinen Lippen und verschlangen jedes Wort.
Keiner von ihnen ahnte jedoch, dass Krystof der Einzige war, der den wahren Grund für ihre Flucht kannte. Ihm war jedes unglaubliche Detail bekannt und nur dadurch wirkte der 14-jährige Junge auf alle anderen wie der leuchtende Stern am Firmament.
Er war einfach erwachsen geworden. Im Gegensatz zu den anderen half er Tante Nemec ohne Murren beim Essenkochen, unterstütze Onkel Nemec beim Anbau von Gemüse im Frühling und kümmerte sich außerdem um die anderen Kinder. Waren sie betrübt, tröstete er sie und war der Anker, der sie sicher im Hafen hielt. Er half ihnen beim Anziehen und warnte sie vor der Gefahr, die weit im Norden lauerte. Nach allem, was er gesehen hatte, wollte er nur noch sein Bestes tun, damit es ihnen auf ewig gut ging.
Das Wichtigste war dabei, dass sie die Städte oder Dörfer in der Nähe mieden. Kein Junge durfte aus Neugierde den Hof verlassen oder gar in die Stadt gehen. Wenn jemand sie entdeckte, wäre alles umsonst gewesen. Es war unabdingbar, dass sie in den sicheren Wänden des Bauernhauses ausharrten und die Zeit einfach voranschritt. Denn, daran glaubte Krystof fest, die Zeit ließ kläffende Hunde irgendwann müde werden.
Während Krystof das Märchen nacherzählte, flüsterte er ab und an oder schlug in einem spannenden Moment stark auf den Boden. Alle Kinder erschraken dann. Nur Krystofs kleine Schwester blieb ruhig. Sie lachte stets ihr herzliches Kinderlachen.
Es machte Krystof Spaß, die überraschten Gesichter seiner Cousins zu sehen. Sprachen unterschiedliche Figuren, ahmte er deren Stimme nach. Das Märchenerzählen lag ihm. Früher hatte sich seine Mutter täglich an sein Bett gesetzt und ihm in den späten Abendstunden ein Märchen vorgelesen. Erst dadurch war seine Liebe zu den Geschichten entflammt.
Seine Mutter. Krystof hielt plötzlich inne, blickte sein Schwesterchen an und spürte einen stechenden Schmerz in der Brust. Mehr als dieses Kind war von seiner Familie nicht geblieben. Da war niemand mehr, der auf ihn aufpassen konnte, nur noch Tante und Onkel Nemec, die gemeinsam mit den Kindern geflohen waren. Wenn er konnte, würde er seine Schwester bis zum Tod verteidigen.
»Krystof, wie geht’s weiter, erzähl!«, rief Domek. Er war der aufgeweckteste unter den Jungen. Mit seinen zehn Jahren konnte er kaum stillhalten. Immer ergriff er das Wort oder heckte Pläne aus, wie er andere ärgern oder ein Abenteuer erleben konnte. Einmal hatte Krystof ihn im Wald erwischt, wie er mit einem Stock im Bau eines Dachses herumstocherte. Sofort hatte ihn Krystof zurück ins Bauernhaus gezogen und mit ihm geschimpft. Domek war ein Einzelgänger, rang jedoch stets und ständig um Aufmerksamkeit.
»Sei nicht so aufgeregt Domek. Es geht gleich weiter«, meinte Krystof. Doch ehe er fortfuhr, drängte sich die Erinnerung an das Gesicht seines Cousins kurz vor der Flucht in den Vordergrund. Krystof hatte eilig Domeks Sachen in einen Koffer gestopft und ihn aus seinem Elternhaus gezerrt. Domek war außer sich gewesen, hatte geschrien, um sich getreten und sogar gebissen. Die Narbe trug Krystof noch immer am Arm.
Geduldig warteten die Kinder darauf, dass Krystof weitererzählte. Sie wollten von dem Mädchen hören, das mit den Sternen sprach und sich auf die Suche nach ihren Brüdern machte. Ein Kind, das einen Finger opferte und am Ende erfolgreich war. Selbst Krystof war erleichtert darüber, dass Märchen stets ein gutes Ende nahmen.
Als er fertig war, wollten die Jungen noch eine Geschichte hören, doch Tante Nemec klatschte in die Hände, erhob sich mühselig aus ihrem Sessel und wies sie an, ins Bett zu gehen. Die Frau mit dem zögerlichen Lächeln war der gute Geist im Bauernhaus.
Krystof sah ihrem Gesicht jedoch den Schmerz an, den sie beim Aufstehen verspürte. Seit sie in das Bauernhaus gezogen waren, hatte sie große Probleme mit dem Rücken. Krystof schob es auf die Feldarbeit, aber eigentlich wusste er längst, dass dies nur die halbe Wahrheit war. Mehr als zwei Monate lang war seine Tante bei diesen Leuten gewesen. Die Schrecken dieser Tage zeichneten ihr ganzes Wesen.
Nicht daran denken, ermahnte sich Krystof. Es sind schlechte Gedanken.
Gemeinsam mit Tante Nemec brachte er die Jungen zu Bett. Sie hatten ein eigenes kleines Zimmer mit drei Betten, die sie sich teilten. Das winzige Fenster am Ende des Raumes spendete wenig Licht. Abends war es eisig kalt, aber keiner beschwerte sich über die Temperaturen. Sie hatten mehr verloren als die Wärme eines Hauses. Diese Zuflucht war ihre letzte Chance und das war selbst dem störrischen Domek klar.
Für einen Augenblick stand Krystof am Fenster und blickte auf den eingeschneiten Hof. Im Hintergrund konnte er die Berge erkennen. Dort irgendwo war die deutsche Grenze. Von hier bis dahin war es nicht weit. Vielleicht brauchte man weniger als einen Tagesmarsch, wenn man schnell war.
Bei der Flucht hatten Tante und Onkel Nemec darüber nachgedacht, ins Ausland zu gehen. Es wäre ein verzweifelter Versuch gewesen, ohne viel Hoffnung, denn Bekannte hatten sie im Ausland kaum. Noch dazu hätte wohl niemand zwei Erwachsene mit so vielen Kindern auswandern lassen. Man hätte sie einfach zurückgeschickt, ihrem Schicksal überlassen.
Aber es gefiel Krystof hier sowieso besser. Das Bauernhaus war ein alter Steinbau mit einer überschaubaren Landwirtschaft, die im Sommer genügend abwarf, damit sie alle gut davon leben konnten. Es war von einem Wald umrahmt und völlig vom Trubel abgeschnitten. Stille und Frieden, das hatten sie hier gefunden.
Im Haus gab es zwar nur begrenzt Strom, kein warmes Wasser und nur ein einfaches Plumpsklo, aber auch das genügte zum Überleben. Es war ein Paradies für eine abenteuerlustige Gruppe von Kindern. Solange sie vorsichtig waren, standen ihnen alle Möglichkeiten offen. Vielleicht fragte deshalb niemand nach ihrem alten Zuhause.
Es dauerte eine Weile, ehe die Jungen Ruhe fanden. Als Erstes schliefen die beiden Söhne von Tante und Onkel Nemec, Emil und Milan. Sie waren noch sehr jung und vom Tag so erschöpft, dass sie sofort in einen tiefen Schlaf fielen. Obwohl die beiden Brüder einige Jahre auseinander waren, war ihre Ähnlichkeit verblüffend. Die Haare in krausen Locken, darunter runde Augen, die Zuversicht ausstrahlten. Die beiden Jungen waren unzertrennlich, stritten nie miteinander und hatten vieles mit ihrem Vater Onkel Nemec gemeinsam.
Domek stritt sich derweil mit dem vernünftigen Jiri um den Platz auf der Matratze und die Decke. Sie waren beides Einzelkinder und es auch nach einem Jahr nicht gewohnt, ihren Schlafplatz teilen zu müssen. Krystof musste Domek mehrmals zur Ruhe ermahnen, bis sich dieser endgültig abwandte und nach kurzer Zeit zu dösen begann.
Jiri war nicht so leicht ruhig zu kriegen. Er war ein neugieriger Junge mit einem nicht zu stillenden Wissensdurst. Es ging um das Märchen. Wieso musste sich das Mädchen den Finger abschneiden? Wieso können Sterne sprechen? Wieso wurden die Brüder überhaupt bestraft? Krystof konnte ihm diese Fragen nur schwer beantworten, aber er beruhigte ihn mit einem einfachen: »Es ist Fantasie, Jiri«, und wandte sich dann den Zwillingen zu.
Leise flüsterten sie einander noch Geschichten zu und redeten sich so selbst in den Schlaf. Von den sieben Jungen waren sie die unauffälligsten. Vorsichtig und zurückhaltend widersprachen sie selten und fanden miteinander immer Beschäftigung. Krystof war dankbar für diese zwei ruhigen Charaktere. Er selbst würde sich später zu ihnen legen, denn obwohl er der Älteste war, gab es auch für ihn kein eigenes Bett.
Wenig später stand Krystof im Schlafzimmer von Onkel und Tante Nemec am Bett seiner Schwester und beobachtete sie still. Mit ihren Händen umklammerte sie ein Stofftier, das sie bei der Flucht bei sich getragen hatte. Wie sie in dem Kinderbettchen lag, wirkte sie ganz friedlich und dafür war Krystof dankbar. Irgendwann steckte er ihre Decke fest um den Körper und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Schlaf gut, Frana«, flüsterte er leise und verließ das Zimmer. Einzig wichtig war, dass sie hier und jetzt glücklich waren. Es spielte keine Rolle mehr, was in der Vergangenheit passiert war, denn was im Verborgenen lag, konnte ihnen keinen Schaden zufügen.
Deutschland, Herbst
Aufgewühlt betrachtete Frana das tschechische Amtsdokument, das sie gefunden hatte. Sie war wieder im Wohnzimmer und versuchte, sich einen neutralen, möglichst objektiven Eindruck zu verschaffen.
Außer der Urkunde lagen nun noch zwei Zeitungsartikel vor ihr, die sie zusätzlich in der Kommode ihrer Mutter gefunden hatte. Neben all den bürokratischen Dokumenten waren ihr die ordentlich ausgeschnittenen Zeitungsartikel merkwürdig vorgekommen. Der erste Artikel trug die beklemmende Überschrift: Tod an der Grenze. Nur ein paar Sätze genügten der damaligen Nachrichtenredaktion, um einen Vorfall zu beschreiben, der sich vor über zwanzig Jahren im Elbsandsteingebirge ereignet hatte. Scheinbar waren Kinder am Elbufer in der Nähe der Grenze tot aufgefunden worden. Die Fundstelle war die damalige Tschechoslowakei, heutiges Tschechien. Wanderer hatten die Kinder entdeckt und die deutschen Behörden informiert. Nach ersten Erkenntnissen, so stand dort, handelte es sich um Ausreißer, jedoch Kinder aus der Tschechoslowakei. Womöglich waren sie im Gebirge unterwegs gewesen und dort in die Fluten der Elbe gestürzt und ertrunken. Die tschechischen Behörden seien um Aufklärung bemüht.
Der zweite Artikel war auf Tschechisch verfasst und viel ausführlicher. Ein Foto von einer abgesperrten Stelle am Flussufer war zu sehen und Frana kam nicht umhin zu vermuten, dass es um dieselbe Sache ging. Sie versuchte, ein paar Wörter zu lesen, aber es war aussichtslos. Vor ihren Augen sah sie nur Buchstaben mit Strichen und Punkten, die vollkommen bedeutungslos waren.
Wieder wanderte ihr Blick auf das Blatt mit ihrem Geburtsdatum. Auf dem Couchtisch stand ihr Laptop. Inzwischen hatte sie ihre Vermutung überprüft und Stück für Stück mit Hilfe eines Übersetzers herausgefunden, was auf dem Papier stand. Sie hatte die Namen ihrer Mutter und ihres Vaters entdeckt und in sich hineingehorcht, um herauszufinden, ob sie auf den Namen Nemec reagierte, doch da war nichts. Es hätten irgendwelche tschechischen Bürger sein können.
Frana ließ sich auf der Couch zurückfallen. Gerade jetzt mussten ihre Eltern unerreichbar sein. Das konnte man als Ironie des Schicksals bezeichnen. Nur war ihr so gar nicht zum Lachen zu Mute. Sie kam sich eher vor wie eine Pappfigur, die nach einem heftigen Windstoß gestürzt und nun schwer wieder aufzurichten war.
Ihr Blick wanderte zu dem Raben, der in seinem Nest aus Tüchern ruhte. Er hatte die Augen geschlossen und war wohl mit sich selbst zufrieden. Gern hätte sie dem Vogel einige Fragen gestellt, doch natürlich war er nur ein dummer Vogel, krächzte höchstens selbstgefällig.
Frana verschränkte die Arme vor der Brust und dachte über sich und diese Situation nach. Es konnte ihr eigentlich egal sein, wo sie geboren worden war oder wer ihre richtigen Eltern waren. Sie war die Tochter der Huss’, trug deren Nachnamen und war Teil dieser Familie, seit sie denken konnte. Aber warum sollten ihre Eltern ihre wahre Herkunft verborgen haben? Die beiden waren von Grund auf ehrlich, eine solche Lebenslüge passte nicht zu ihnen.
Unruhig stand Frana auf. In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken im Kreis. Sie wollte nicht an dieses Papier glauben, nicht an den Stempel und die Wahrheit, die sich dahinter verbarg.
»Joshua«, flüsterte sie. Wenn ihr jemand helfen konnte, dann er. Rasch ging Frana zum Telefon und wählte die Nummer ihres besten Freundes. Doch bevor das erste Tuten erklang, legte sie wieder auf. Inzwischen war es mitten in der Nacht, kein Freund der Welt würde jetzt noch gerne ans Telefon gehen. Ganz zu schweigen von Joshua, der täglich Überstunden schob und sich jede Stunde Schlaf redlich verdient hatte.
»Bleib einfach ruhig«, sagte sich Frana, doch so einfach manche Dinge erschienen, so schwer waren sie umzusetzen. Sie räumte das Schlafzimmer ihrer Eltern auf, legte sich schlafen, wälzte sich im Bett jedoch unruhig hin und her. Am Morgen wurde sie unsanft von ihrem Wecker in die Realität zurückgeholt. Ein Tag Druckerei stand ihr unmittelbar bevor.
Als Frana ins Erdgeschoss lief, begrüßte sie der verletzte Rabe mit einem lauten »Rah« auf halbem Weg nach unten. Vor Schreck wäre sie fast von der Treppe gestürzt, konnte sich jedoch gerade noch am Geländer festhalten.
Das Tier hatte sie ganz vergessen. Sie spürte deutlich, wie die Wut des gestrigen Tages erneut aufflammte. Nur wegen ihm war sie doch erst auf die Urkunde gestoßen. Konnte er nicht wenigstens am frühen Morgen den Schnabel halten?
»Morgen«, murmelte sie nur, kochte sich einen starken Kaffee, packte ihre Sachen zusammen und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Auf der Straße blieb sie stehen. Die Wolkendecke hatte sich noch immer nicht vollständig gelichtet. Die Raben saßen wie eh und je auf ihren angestammten Plätzen. Heute jedoch flogen sie nicht davon, denn ihr sorgenvoller Blick war auf Franas Familienhaus gerichtet, wo ihr Anführer nun verletzt in einem Nest aus Handtüchern schlief.
So ging Frana zum ersten Mal allein zur ihrer Arbeitsstelle und verbrachte dort einen unruhigen Tag. Ihre Ausbildung schimpfte sich Mediengestaltung, aber letztendlich tat sie nicht mehr als Papiere schneiden, Blätter binden und kopieren, kopieren, kopieren. Sie war müde, doch ihre innere Zerrissenheit machte ihr mehr Probleme. Es fiel ihr schwer, sich länger auf etwas zu konzentrieren. Immer wieder dachte sie an den Namen Nemec und was diese Entdeckung mit sich brachte. Mehrfach starrte sie vollkommen abwesend in der Gegend herum.
Nach der Arbeit ging sie zur Stadtbibliothek und suchte in einem Atlas nach ihrem Geburtsort. Hradec Králové oder auch König Grätz, ein Touristenort im Norden Tschechiens. Ein Reiseführer über Tschechien, den sie zusätzlich entlieh, pries den Ort als höchst sehenswert an. Schon auf den ersten Seiten reihte sich eine idyllische Fotografie an die nächste. Alte Gebäude, hohe Türme, ein mittelalterliches Stadtbild.
Mit den Büchern im Gepäck machte sie dann noch einen Zwischenstopp in der Tierhandlung. Weil sie nicht recht wusste, wie sie der Verkäuferin von einem Raben im Wohnzimmer berichten sollte, kaufte sie einfach ein paar lebende Insekten. Die mussten vorerst als Friedensangebot reichen.
Zuhause angekommen, kümmerte sie sich zuerst um das Tier. Sie beobachtete den Raben hockend dabei, wie er ein Insekt nach dem anderen mit dem Schnabel aufpickte und herunterschluckte. Ihr entging nicht, dass er dabei zögerlich war. Aber er fraß und das bedeutete, er war kein Wundervogel, sondern aus Fleisch und Blut. Das war tröstlich, vielleicht war sie doch nicht verrückt.
Als der Rabe zu dösen begann, dachte sie wieder an seine Freunde auf der Esche. In Haussocken ging sie zum Fenster und lauschte in den Abend. Der Wind pfiff um das Haus und das trockene Knarren eines Astes zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, doch vom Krächzen der Raben keine Spur. Sie waren ungewöhnlich still, ihre Beobachter.
Erst danach setzte sich Frana auf den Lieblingssessel ihres Vaters. Ein altes Ledermöbelstück, das ihre Mutter immer als »absolut hässlich« deklarierte. Er gehörte zu den wenigen Einrichtungsgegenständen, bei dem ihr Vater seinen Willen bekommen hatte.
Sie legte die Füße auf den Couchtisch und machte es sich gemütlich. Diesmal hatte sie keine Lust auf den Fernseher, stattdessen sortierte sie ihre Gedanken.
Mit dieser Urkunde und den Artikeln musste sich etwas anfangen lassen. Sie brauchte Gewissheit. Es lag ihr fern, die Sache einfach auf sich beruhen zu lassen.
Natürlich konnte sie immer noch Joshua anrufen und ihn um Rat fragen, aber je mehr sie darüber nachdachte, umso klarer wurde ihr, dass sie allein mit ihrer vermeintlichen Adoption klarkommen wollte. Sie dachte daran, ihre Eltern im Urlaub in der Dominikanischen Republik zu kontaktieren, aber auch das verwarf sie schnell. Das Ergebnis wäre ein aufreibendes Gespräch über Meilen hinweg, das ihr niemals die Genugtuung brachte, die sie jetzt brauchte.
