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Ein aus Lehm geformtes Geschöpf, das für Gerechtigkeit sorgt. Ein Spiegel, der nicht dein Gesicht, sondern dein Verhängnis zeigt. Eine urbane Legende, die realer ist, als du glaubst. ||| Schattenwesen – geboren aus Dunkelheit, Magie und uralter Furcht – existieren in allen Kulturen der Welt. Sie lauern im Zwielicht, schleichen durch Träume oder verbergen sich hinter fremden Gesichtern. In neun atmosphärischen Geschichten wirst du ihnen begegnen: Sagengestalten, Dämonen, Geistern – sogar dem Tod selbst. Diese Sammlung ist eine Einladung. In dunkle Gemäuer. In beleuchtete Städte. In dich selbst. Tritt ein. Aber hüte dich: Ein Schatten lässt sich nicht wieder abschütteln. ||| Pro verkauftem Buch geht 1 € Spende an »Deutsche Depressionshilfe e.V.«
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Seitenzahl: 193
Veröffentlichungsjahr: 2025
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IMPRESSUM
©2025 Susanne Krüger und Autor*innen
Heringsdorfer Straße 7, 12619 Berlin
1. Auflage 2025
Lektorat: Anne Zandt, Mika M. Krüger
Korrektorat: Kristina Schreiber
Buchsatz: Luga Faunus, Krüger Buchdesign
Cover: Krüger Buchdesign
Klappentext: Stella Delaney
Coverfotos: depositphoto LaInspiratriz, grandfailure
Titelgrafiken: Mika M. Krüger
Sensitivity Reading: »Ein Geist aus Staub und Ton« Katherina Ushachov
Pro verkauftem Buch spenden wir 1 € an »Deutsche Depressionshilfe e.V.«
Diese Anthologie ist in Teamarbeit entstanden. Ich danke allen, die daran mitgewirkt und dieses einzigartige Werk ermöglicht haben.
Der Metallkoffer der Dämonenbehörde: Caroline Christen
Ein Geist aus Staub und Ton: Claudi Feldhaus
Nur ein Theaterstück: Saskia Dreßler
Danse Macabre: Anne Danck
Die letzte Verwandlung: Stella Delaney
Elise: Mika M. Krüger
Bestseller: Kristina Schreiber
Schattenwölfin: Luga Faunus
Unglücksbote: Anne Zandt
Triggerwarnungen
Mehr von uns
Caroline Christen
Triggerwarnungen befinden sich am Ende des Buches.
Informationen waren schon immer wertvoll und wurden damals wie heute außerordentlich gut bezahlt. Sie bedeuteten Macht und das Besitzen oder Fehlen von Macht konnte über die Zukunft entscheiden. Meine Klienten wussten das, deshalb kamen sie zu mir. Meine Erfolgsquote lag bei 100 % und nie war ich erwischt worden. Mein Geheimnis? Als Umbra konnte ich unentdeckt an Orte gelangen, an denen ich üblicherweise nicht sein durfte.
***
Im Moment verharrte ich im Schatten, den ein Ficusbäumchen an eine Wand warf. Er stand in der Lobby der BfdA, der Behörde für dämonische Angelegenheiten und war der Startpunkt meiner Mission. Mein Zielobjekt: ein anthrazitfarbener Metallkoffer mit der aktuell begehrtesten Information. Mein Klient würde mithilfe des Kofferinhalts sehr schnell sehr viel Macht erlangen. Und ich würde sehr schnell sehr viel Geld zur Verfügung haben.
Das Gute war: Ich wusste bereits, dass der Koffer in der Chefetage aufbewahrt wurde. Das Schlechte: Jeder der Angestellten hier war speziell geschult, Dämonisches zu erkennen. Einen Fehler konnte ich mir hier nicht erlauben. Gerade ging ein Angestellter wenige Meter an mir vorbei. Sein Blick war auf den Bildschirm seines Smartphones gerichtet. Sein Schatten kam nicht in die Nähe meines Verstecks. Also weiter warten. Sobald sich Schatten kreuzten, konnte ich ohne Anstrengung mein Versteck wechseln. Gefährlich wurde es erst, wenn ich springen oder auf leblose Objekte zurückgreifen musste. Allein beim Gedanken daran wurde ich nervös.
Die Behörde hatte ihren Eingangsbereich mit Zierkürbissen und kleinen Geistergirlanden geschmückt. Auf Hexen hatten sie schlauerweise verzichtet. Nicht, dass sich noch jemand von dieser veralteten Darstellungsweise angegriffen fühlte.
Von meinem Versteck aus sah ich den Eingang genau. Obwohl ich mich extra kurz vor dem Dienstbeginn der meisten Abteilungen auf die Lauer gelegt hatte, war überraschend wenig los. Doch dann öffneten sich die Schiebetüren und eine ganze Menschentraube trat ein. Einer von den sieben Angestellten würde mich einen Schritt näher zum Koffer bringen.
Eine Frau mit Halstuch kam nah genug an mein Versteck heran, wodurch sich ihr Schatten mit dem der Pflanze überlappte. Das war meine Chance. Ich musste gar nichts weiter tun, als mich zu strecken, schon hatte ich dank der Frau ein neues, mobiles Versteck. Unsichtbar fürs menschliche Auge begann ich die erste Etappe meiner Mission.
Menschliche Schatten waren das Beste, das es gab. Sie spiegelten ihre Persönlichkeiten wider und waren wie ein Kurzurlaub für mich. Der unwirkliche Ort, an dem ich mich befand, war ein chaotischer Garten. Er roch nach Frühling und besaß lila und gelbe Farbtupfer. Zwischendrin gab es graue Störpunkte, von denen eine einschüchternde Präsenz ausging. Die Frau hatte eine dunkle Seite, die mir Angst machte. Ich hielt mich bedeckt und kratzte besser keine verschorften Geheimnisse auf. Nicht, dass ich noch bemerkt wurde.
Von meiner aktuellen Position aus sah ich alles in der Froschperspektive. Die Halstuchfrau durchquerte das Foyer und stieg in einen Fahrstuhl. Sie hielt sogar noch die Tür für drei weitere Kollegen auf. Die drei Männer waren allerdings alle zu légère gekleidet, um zur Chefetage zu gehören. Ich blieb daher im jetzt schmaler gewordenen Schatten der Frau. Sie war am souveränsten gekleidet. Die Männer nickten der Frau höflich zu, dann setzten sie ihr Gespräch fort.
»Und, gestern alles geklappt?«
»Ach, hör auf. Falsche Fährte.«
»Schon das dritte Mal diesen Monat.«
»Was? Aber es ist doch erst der dritte Oktober? Was für ein Start.«
Leider fielen keine interessanten Interna und schon in der zweiten Etage stiegen die Männer aus. Geduldig wartete ich im Verborgenen auf die Etage der Frau. Jetzt.
Schnell überflog ich das Glasschild neben dem Fahrstuhl. Etage 4, Personalabteilung. Nicht ideal, aber auch nicht allzu schlecht. Von hier aus waren es nur noch drei Etagen zu meinem Ziel. Also, wie kam ich jetzt weiter?
***
Das ganze Büro war voller Pflanzen, die dank der einfallenden Herbstsonne genug Verstecke für mich boten. Problematisch waren dagegen die einzelnen Personen und deren wechselnde Positionen. Hier brauchte ich all meine Konzentration, wenn ich mich unbemerkt fortbewegen wollte. Die Halstuchfrau begrüßte ihre Kollegen und gab mir damit praktischerweise eine Roomtour.
Ich musste meine Essenz gut einteilen, deshalb nahm ich mir die Zeit und beobachtete aus meinem wandelnden Versteck heraus ausschließlich die Angestellten an ihren Schreibtischen. Meine Route durch das Großraumbüro nahm Gestalt an. Ein letztes Mal atmete ich den Blumenduft der Halstuchfrau ein, dann verließ ich ihren Schattengarten und wechselte zu einer nahezu kahlen Pflanze. Irgendjemand hatte seine Liebe zu Halloween ausgelebt und künstliche Spinnennetze an die Äste gehangen. In der Blumenerde ruhte ein Plastik-Skelett. Hier gab es kaum Sinneseindrücke, dennoch konnte ich genau spüren, dass diese Pflanze vernachlässigt wurde.
Auf der Suche nach meiner nächsten Mitfahrgelegenheit schwamm ich zwischen Pflanzen- und Menschenschatten durch die Personaletage.
Dann erregte schließlich ein Gespräch meine Aufmerksamkeit. War das mein Ticket in die nächsten Etagen?
»Und weil die Toiletten oben gerade nicht gehen, kommen jetzt alle zu uns. Nervig.«
»Die aus der drei haben viel mehr Kabinen, sollen sie da gehen.«
Ich suchte mir einen Mitarbeiter, der seinen Schreibtisch in der Nähe der Toilettentür hatte und wartete. Wieder ließ ich seinen Schattenraum auf mich wirken. Dieses Mal war es hektisch und viel zu viele Farben prasselten auf mich ein. Und dann war da noch der Lärm, der nach einer Feier oder einem anderen stark besuchten Event klang. Die ganze Stimmung war unruhig-ekstatisch. Allzu lange konnte ich hier nicht bleiben, dieser Mann steckte mich mit seiner Unruhe noch an.
Instinktiv öffnete ich meinen Geist und sog die Essenz des Mannes ein. Wenn ich schon warten musste, konnte ich mir auch gleich einen Snack genehmigen.
Zufrieden spürte ich, wie meine eigene Essenz fester und dichter wurde. Nur noch ein bisschen …
Als der Kopf meines Opfers auf den Schreibtisch knallte, hörte ich auf. Ein Mann kam ihm zur Hilfe und reichte ihm ein Taschentuch gegen das Nasenbluten. Verdammt, Aufmerksamkeit konnte ich gar nicht gebrauchen.
»Kyle, alles okay?«
»Bin grad weggedöst, glaube ich.«
»Sekundenschlaf?«
»Scheint so. Merkwürdig.«
»Du siehst blass aus. Vielleicht hast du dir was eingefangen?«
»Eben ging es mir noch gut. Danke jedenfalls.«
Die beiden Mitarbeiter hielten mehrere Sekunden Blickkontakt. War ich aufgeflogen? Doch dann brachen sie ihr Schweigen und nichts deutete mehr darauf hin.
»Ich geb mal Ilvie Bescheid, dass ich nach Hause gehe.«
»Sicher ist sicher.«
Das Großraumbüro war nach dieser Szene um einiges gefährlicher geworden. Die Mitarbeiter sahen sich fragend um und aus der Küche hörte ich aufgeregtes Getuschel. Mein Opfer war mit dem Zusammenpacken fertig und näherte sich dem Ausgang. Zum Glück kam ihm ein Mann im schicken Anzug entgegen. Schnell heftete ich mich an mein nächstes Opfer und begleitete es notgedrungen auf die Toilette.
Als wir die Toilettenräume wieder verließen, rannte der Mann in eine Kollegin hinein. Er entschuldigte sich mit einem Murmeln und war schon fast weg, da holte ihn die Behördenfrau ein.
»Kann ich Ihren Ausweis sehen?«
»Wie bitte?«
»Naomi Nenge, Seherin. Ich bin befugt, nach eigenem Ermessen Ausweiskontrollen durchzuführen. Und genau das mache ich hier. Also, Ihren Ausweis, bitte.«
»Ist ja gut, hier.«
»Ihren Dienstausweis bitte auch. Nur zum Abgleich.«
»Meinetwegen.«
Eine Seherin. Diese Menschen waren Meister darin, Dämonen zu erkennen. Ich machte mich so klein wie möglich und versuchte, Ruhe zu bewahren. Solange ich nicht aus dem Schatten auftauchte, konnte sie mich unmöglich sehen. Mein Herz raste, doch ich verharrte still. Nach einer gefühlten Ewigkeit gab die Seherin dem Mann seine Ausweise zurück.
»Alles in Ordnung, hier.«
»Weiß Ilvie, dass Sie auch vor den Toiletten kontrollieren?«
»Sie können sich gern bei ihr beschweren. Ich bin ohnehin gleich bei ihr, soll ich was ausrichten?«
»Schon gut, machen Sie mal ihr Ding. Ich muss weiter.«
»Bei Ihrem Glück sollten Sie heute lieber nichts Wichtiges mehr machen.«
»Wie Sie meinen.«
Nach diesem viel zu aufregenden Gespräch war ich froh, als sich der Mann wieder in Bewegung setzte. Er verließ die Personaletage und nahm den Aufzug. Wir waren allein, niemand stieg zu uns ein. Die Beleuchtung strahlte pflichtbewusst den ganzen Fahrstuhl aus, sodass ich mein Versteck nicht verlassen konnte. Zwei Etagen später betrat er einen Flur mit vielen kleinen Büros. Sie alle hatten Bodenfenster und waren vom Flur aus einsehbar, die Türen waren blickdicht. Gedanklich schüttelte ich den Kopf über diese Fehlkonstruktion. Aber immerhin war ich in der sechsten Etage angekommen. Jetzt in die Sieben zu kommen, sollte ein Kinderspiel sein.
Ich las die Türschilder, an denen wir vorbeigingen, nur flüchtig. Statt allgemeiner Meetingraum-Namen gab es hier Schilder mit Namen von Mitarbeitenden, die wichtig genug waren, um ein eigenes Büro zu bekommen. Mit den ganzen Bodenfenstern hatte ich so gut wie keine Verstecke. Ich musste wieder zurück zum Treppenhaus.
Mein Blick ging durch den Raum, den der Mann soeben betreten hatte. Er hatte riesige Fenster, diverse sich überkreuzende Schatten, wo die Stühle standen, und einen einzigen Eingang. Auf einem Schreibtisch lief bereits ein Laptop, den der Mann entsperrte.
Professionell sichtete ich die Chancen, die dieser Raum bot. Mein Blick blieb an einem Beamer an der Decke hängen. Wie aufs Stichwort wechselte dessen Lampe von Rot auf Grün und die Lüftung startete. Wie zu erwarten, sah man von dem projizierten Startbild der Präsentation so gut wie nichts. Jetzt kamen die Rollos ins Spiel.
Mit Genugtuung beobachtete ich, wie der Anzugmann die Rollläden herunterfahren ließ. Jetzt standen mir mehr als genug Verstecke zur Verfügung. Perfekt.
Ich löste mich aus meinem aktuellen Versteck und hatte nun volle Bewegungsfreiheit. Diese Dunkelheit war still und fühlte sich wie zuhause an. Mein Revier. Aus dem Verborgenen heraus beobachtete ich die eintretenden Menschen und belauschte hier und da ein bisschen Getuschel.
»Eine Mail hätte mir gereicht.«
»Überflüssig.«
»Die Entscheidung steht, jetzt brauchen wir auch keine Präsentation mehr.«
»Mitentscheiden geht anders.«
»Geht ihr zur Halloween-Feier?«
»Hab Bereitschaft.«
»Telefondienst.«
»Ich auch.«
Die Gespräche brachen ab und das Meeting begann. Ein Blick auf die Uhr trieb mich zur Eile. Das Zeitfenster, in dem der Metallkoffer im Chefbüro unbeaufsichtigt lagerte, war knapp bemessen. Ich hatte nur noch eine Dreiviertelstunde, um ihn zu sichern. Verdammt, ich musste aus diesem Meeting raus! Jetzt.
Ich schwamm bis zur Tür, wurde dort aber mit dem lichtdurchfluteten Flur konfrontiert. Der Schattenbereich, der durch die geschlossenen Rollos aus dem Meeting-Büro entstanden war, bot keine Überschneidungen. Nein, ich musste warten, bis einer dieser Menschen hier ging.
***
Das Meeting kostete mich zwanzig Minuten, dann wurden die Rollos wieder hochgefahren. Schnell nutzte ich einen wichtig aussehenden Mann als Versteck. Dieser visierte jedoch die entgegengesetzte Richtung meiner Route an. Das durfte doch nicht wahr sein! Mir blieb nichts anderes übrig: Ich sprang in den schmalen Schatten eines Bilderrahmens. Eng. Viel zu eng. Keine Essenz, keine Luft.
Schnell weiter. Nächster Rahmen. Wieder keine Essenz. Nächster Rahmen. Wie lang war dieser Flur? Mein Kopf pochte und mein Blickfeld war inzwischen schon von kleinen Punkten durchzogen. Mir lief die Zeit davon, doch es gab in diesem ewig langen Flur einfach keinen Schatten, der groß genug für mich war. Und die Büros, die von dem Flur abgingen, waren mit Stimmen durchdrungen. Durchhalten, ich musste durchhalten.
Ich trieb mich bis zum Äußersten und schaffte es gerade so in den einzigen leeren Raum am Ende des Flurs. Ich schlüpfte in den Schatten eines Druckers und atmete kurz durch. Hinter der Tür lag alles im Dunkeln, also schwamm ich dorthin und materialisierte mich.
In meiner festen Form schloss ich die Tür und wagte erst dann, tiefe Atemzüge zu nehmen. Gleichzeitig sah ich mich nach möglichen Gefahren um. Ich war allein im Druckerraum. Mit geübtem Auge suchte ich nach Kameras und immer wieder kehrte mein Blick zur Tür zurück.
Ich war so nah dran. Aufzugeben kam nicht infrage. Mein Ruf war enorm wichtig, er war meine Visitenkarte und öffnete mir Türen zu den wohlhabendsten Klienten. Nach diesem Auftrag konnte ich mir die Aufträge aussuchen, so viel stand fest. Aber erst brauchte ich Urlaub. Leisten konnte ich es mir dann auch. Oder direkt auswandern, das klang inzwischen auch sehr verlockend.
Der Drucker neben mir sprang plötzlich an und begann, ein erstes Blatt auszuspucken. Weiter also. Das Druckerdisplay zeigte mir wie zum Hohn die Uhrzeit. Nur noch fünfundzwanzig Minuten. Weniger, wenn ich meinen Puffer für die Flucht nicht verlieren wollte.
Ich zerfloss wieder und hielt mich verborgen, bis der Angestellte seine Ausdrucke abholen kam. Er sah sich skeptisch um und ließ die Tür geöffnet. Als er fort war, setzte ich die letzten Meter in den Schatten der Bilderrahmen fort und schaffte es ins Treppenhaus. Hier schlüpfte ich umständlich von Stufe zu Stufe und verlor bei jedem Sprung einen Teil meiner Essenz. Mein Snack von vorhin kam mir jetzt sehr gelegen. Es wäre zwar einfacher gewesen, meine feste Form zu nutzen, doch unnötige Risiken konnte ich mir einfach nicht leisten. Je seltener ich meine feste Form annahm, desto besser.
Ein kleines Glasschild in der nächsten Etage informierte mich, dass ich endlich an meinem Ziel angekommen war. Ausgerechnet für die Chefetage hatte ich keinen Grundriss und keine Pläne auftreiben können. Hinter der Glastür lag alles komplett im Dunkeln. Skeptisch schwamm ich durch den Türspalt. Dunkelheit. Gelegentlich ein grünes Blinken. Ein Rauchmelder? Eine Kamera? Verdammt. Was, wenn es ein Bewegungsmelder war? Ich musste vorsichtig sein.
Da alles in kompletter Dunkelheit lag, war ich zumindest für die Kameras vollkommen unsichtbar. Allerdings sah ich selbst kaum etwas. Ich streckte meine Schattenform und tastete nach Hinweisen auf den richtigen Raum. Das dauerte alles viel zu lange. Ich musste das Chefbüro 701 finden, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Dann hatte ich nur wenig Zeit, um den Koffer zu finden und zu knacken. Aber in dieser Dunkelheit war nichts davon umsetzbar.
Erst einmal brauchte ich Licht. Ausgerechnet. Doch ich wäre nicht ich, wenn ich nicht in jeder ausweglosen Situation auch eine Chance fand. Mir kam eine Idee. Sie hatte bereits bei einem anderen Auftrag funktioniert, wenn auch eher zufällig. Ich grinste bei der Erinnerung daran.
Statt im Dunkeln das Büro zu suchen, tastete ich aus der Dunkelheit heraus nach Fliesen. Auch in einer Chefetage gab es, meist in Toilettennähe, eine Abstellkammer mit Putzutensilien. Und hier erwartete ich mehr als Reiniger und Putzlappen. Bevor ich die glatte Oberfläche von Fliesen ausfindig machen konnte, fand ich bereits, was ich gesucht hatte, auf dem PVC-Boden der Küche. Ein Plastikgehäuse, Kunststoffborsten und kleine Metallschrauben. Kein Zweifel, das war, was ich gesucht hatte: Ein Saugroboter.
Jetzt wurde es kompliziert. Ich musste das Gerät mit meiner festen Form aktivieren und sofort wieder zu Schatten werden, falls es wirklich Bewegungsmelder gab. Im Moment lag alles im Dunkeln, wo also würde ich mich verstecken können? Ich tastete nach einem Tisch, fand aber nur Küchenblöcke oder Theken. Und Stühle, nein, Barhocker. Also wieder nur wenig Versteckmöglichkeiten für mich. Dieser Auftrag hatte es in sich.
Ein letztes Mal ging ich den Plan in Gedanken durch, dann geschah alles ganz schnell. Ich nahm meine feste Form an, löste damit tatsächlich den Bewegungsmelder aus und schaltete damit die Beleuchtung an. So schnell wie möglich drückte ich den Aktivierungsschalter des Saugroboters, dann suchte ich Schutz in der Silhouette des Barhockers. Meine Augen suchten den Bereich um mich herum flüchtig ab. Gegenüber lagen die Toilettenräume und da, wo sich der Flur auf den anderen Etagen noch mehrere Meter weiter erstreckt hatte, gab es eine Wand. Die Etage hatte in etwa so viel Persönlichkeit wie eine Kartoffel. So etwas wie Pflanzen oder Halloween-Deko gab es hier nicht. Ich entdeckte einen einzelnen Raum und der war durch eine verkleidete Metalltür gesichert. 700. Das war die falsche Nummer, ich musste ans andere Ende zurück.
Doch der kleine Saugroboter nahm sich ausgerechnet die Küche zuerst vor. Das durfte doch nicht wahr sein, ich konnte nicht warten, bis er nach und nach die Etage in Licht tauchen würde. Außerdem wurde es bereits ungemütlich. Ich verfestigte meine Hand und streckte sie aus meinem Versteck. Dann blockierte ich den Weg, den das Gerät auf seiner Agenda hatte. Nach mehreren Ausweichversuchen des Roboters gab er auf und schlug die gewollte Richtung ein.
Jetzt suchte ich nach Möglichkeiten, dem Saugroboter unauffällig zu folgen. Plötzlich schaltete sich das Licht im Flur an, durch den ich gekommen war. Na super, ein Securitymitarbeiter.
»Zeigen Sie sich jetzt, oder es wird ungemütlich.« Er hatte sogar eine Waffe gezogen.
Regungslos harrte ich aus. Der Saugroboter hingegen stellte sich. Fast hätte ich gelacht. Das fleißige Gerät steuerte direkt auf den Sicherheitsmann zu.
»Hände hoch und keinen Wisch weiter.«
Ein Glucksen entwich mir und zog die Aufmerksamkeit des Mannes auf mich. Mist.
Mit gezogener Waffe ging er am Saugroboter vorbei und direkt auf die Küche zu. Ich musste hier weg, sofort. Aus Mangel an Alternativen sprang ich in den winzigen Schattenkreis des Saugroboters hinein und sah erst im Flur zurück. Der Wachmann schaute direkt in meine Richtung. Beim Springen war ich für kurze Zeit als Schemen erkennbar. Hatte er mich bemerkt?
»Hiergeblieben!« Er setzte sich in Bewegung.
Der Saugroboter zog mich in meinem Versteck wie in Zeitlupe um eine Ecke. Das Licht erhellte sofort den Raum und zeigte mir mein Ziel zum Greifen nahe. Das Glasschild mit der eingravierten 701 schien mich sogar zu verhöhnen. Es hatte einen auffälligen, goldfarbenen Rahmen. Doch der Securitymann hatte uns inzwischen eingeholt. Jetzt war es vorbei. Ich war so nah dran gewesen.
»Du kommst mit mir, Kumpel.« Er steckte seine Waffe weg und seufzte.
Moment. Kumpel? Eine gewaltige Last fiel von mir ab. Ich war nicht aufgeflogen. Ich war noch im Spiel. Der Behördenmann griff nicht nach mir, sondern nach dem Saugroboter. Und während er ihn hochhob, wuchs für einen kurzen Moment auch dessen Schattenfläche. Ich sprang zur Tür des Chefbüros und huschte in den winzigen Spalt, den das Zugangsgerät warf. Ich drückte mit meiner verfestigten Hand wahllos eine Zahl auf dem Zahlenpad. Die Taste gab bei der Berührung einen kurzen Piepton von sich. So schnell es ging, zog ich meine Hand wieder zurück.
»Zeig dich!« Der Behördenmann ließ den Saugroboter augenblicklich fallen und hatte seine Waffe sofort wieder griffbereit.
Doch ich dachte gar nicht daran. Alles lief wieder wie geplant. Der Mann näherte sich mir schnellen Schrittes, begutachtete das Zahlen-Pad, drehte sich nach allen Seiten um und tat dann das, worauf ich gehofft hatte: Er öffnete die Tür, die ich ohne seine Hilfe nicht so schnell hätte öffnen können. Es piepte sechs Mal, als er den Code eingab und dann ein Mal zur Bestätigung. Die Tür öffnete sich.
Mir ging wie erwartet die Essenz aus, doch der Behördenmann bot eine einladende Zuflucht. Hier lief kein Timer, die Essenz war endlos. Ich atmete erleichtert aus. Sein Schatten roch nach Katzenklo und mir war, als hätte ich Tierhaare in der Nase und im Mund. Durchhalten, noch ein klein wenig durchhalten.
Während der Securitymann den Raum abging, musterte auch ich das in Tageslicht getauchte Büro. Es war überraschend minimalistisch eingerichtet, hatte jedoch zumindest wieder Fenster. Und wie es sich für ein Chefbüro gehörte, gab es hier keine Kameras. Typisch.
Ansonsten gab es nur einen riesigen Eckschreibtisch, einen Drehsessel für den Chef und zwei normale Polsterstühle für hohen Besuch. Ein halbhohes Regal war mit Getränken bestückt und ein Tablett mit drei umgedrehten Gläsern stand bereit. Hier geschahen also die wichtigen Dinge. Doch wenn alles richtig gut lief, hätte der Chef heute keinen Grund zum Anstoßen.
Der Securitymann beendete seine Durchsuchung, sah aus den Fenstern und steckte dann seine Waffe weg. Er holte ein Funkgerät heraus.
»Entwarnung, nur eine Fehlfunktion. Kann jemand Ilvie melden, dass sie die IT darauf ansetzt? Das Zugangsgerät in 701 spinnt.«
Ich konzentrierte mich auf meinen Auftrag und wechselte rechtzeitig in den Schatten des Schreibtischs. Dank der einfallenden Sonne, die durch die Fenster hinter ihm hinein schien, hatte ich mehr als genug Platz. Ich wartete, bis der Securitymann die Tür wieder geschlossen hatte, und zählte von hundert rückwärts. Erst dann manifestierte ich mich.
Im Schreibtisch gab es gleich zwölf Schubfächer. Ich ging in die Hocke und musterte sie genau. Nur die unteren beiden waren durch ein Schloss gesichert. Dann eben auf die harte Tour. Ich zerfloss wieder und streckte mich in jedes Einzelne von ihnen aus. Schon im dritten fand ich etwas Metallenes an der Unterseite. Ich zog mich zurück, wechselte in meine feste Form und öffnete das Fach, bei dem ich etwas erspürt hatte. Es war ein Schlüssel, mit einer Büroklammer und einem Klebeband in Position gehalten. Vorsichtig nahm ich ihn an mich und probierte ihn aus. Endlich fand der Schlüssel seinen Gegenpart und ich rüttelte am Schubfach. Es ging schwer auf, doch das lag am Inhalt: Dem anthrazitfarbenen Metallkoffer.
Endlich hatte ich ihn gefunden. Vorsichtig barg ich ihn und strich über die angeraute Metalloberfläche. Das Zahlenschloss hielt den Inhalt jedoch vor mir verborgen. Ich sah zur Wanduhr und wägte meine Optionen ab. Die Zeit, die ich für das Knacken des Koffers eingeplant hatte, war Puffer genug, um meine Neugier zu stillen. Ich legte ihn vor mich und ließ meinen rechten Arm zu Schatten werden. Ich konnte meine Neugier einfach nicht zügeln. Meine Essenz glitt durch dessen schmalen Ritzen und tastete nach dem Inhalt. Was war so wichtiges darin, dass mich der Londoner Dämonenherrscher höchstpersönlich mit dem Finden beauftragt hatte?
Die Antwort auf diese Frage fand ich schneller heraus, als mir lieb war. Denn ich war so konzentriert gewesen, dass ich nicht bemerkt hatte, wie die Tür hinter mir geöffnet worden war.
Es hatte nie eine Angestellte namens Ilvie gegeben. Es war die ganze Zeit ein Code für »Dämonischer Eindringling« gewesen.
SCHATTENDÄMON
Der Umbra ist eine Eigenkreation aus dem Bücheruniversum von Caroline Christen. Diese Dämonen verstecken sich im Dunkeln und in Umrissen. Sie ernähren sich gelegentlich von den Schatten der Lebenden und lassen sie ausgelaugt zurück. Die Redewendung »Du bist ein Schatten deiner selbst« soll auf dieses Phänomen zurückzuführen sein.
Die Umbrae sind von Peter Pans Schatten inspiriert, der sich loslösen und eigenen Unfug anstellen konnte. Kombiniert mit der Ur-Angst des Menschen vor dem Dunkel, entstand die Idee eines Dämons, der dieses Gefühl der Angst für seine eigenen Zwecke zu nutzen weiß.
CAROLINE CHRISTEN
Caroline Christen schreibt Urban-Fantasy und bringt in ihren Geschichten dämonische Kreaturen in unsere Welt. Sie lebt mit ihren 48 Pflanzen in Berlin und ist seit Kurzem Ehrenmitglied der fiktiven Behörde für dämonische Angelegenheiten. Ihr Debütroman »Akarou - Dämonen in Berlin« erschien im Januar 2025.
Webseite: www.caroline-christen.com
Instagram: @carolinechristen_autorin und @daemonenbehoerde
Claudi Feldhaus
Triggerwarnungen befinden sich am Ende des Buches.
Heinrichs Körper sank zu Boden. Seine Arme und Beine standen in wirren Verrenkungen ab, als wäre er eine knochenlose Puppe. Keine Kraft mehr, zu schreien, sein Leben verblich.
Da war kein Blut, auch nicht an den Händen des Golems, der abwartete.
