9,99 €
DRAGO Für Verräter und Betrüger gibt es nur eine Strafe: einen langsamen und qualvollen Tod. Und meine hübsche, engelsgleiche Ehefrau, die jeden in meinem Zuhause verzaubert hat, von meinen Männern bis hin zu meinen Hunden, ist die schlimmste Verräterin von allen. Doch anscheinend bin auch ich ihr verfallen. Bei jedem Lächeln, jedem ihrer lächerlichen Outfits, muss ich mit mir selbst kämpfen. Und versage dabei kläglich. Ich will sie hassen, stattdessen sehne ich mich danach, jeder einzelnen stummen Lüge zu lauschen, die ihr über die unwiderstehlichen Lippen kommt. SIENNA Ich zeige nur, was sie von mir sehen sollen, doch niemals lasse ich jemanden zu nah an mich heran. So habe ich es schon immer gehalten. Ich habe dieser Ehe zugestimmt, trotzdem werde ich niemals zu ihm gehören, und ihn auch niemals hinter meine Maske blicken lassen. Doch mit jedem weiteren Tag fällt es mir schwerer, meine Aufgabe zu erfüllen. Ich muss ständig mit mir selbst kämpfen. Und versage dabei kläglich. Ich bin dabei, mich ausgerechnet in den Mann zu verlieben, von dem ich geschworen habe, ihn zu verraten.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Neva Altaj
SILENT lies
Der Serbe
(Perfectly Imperfect Serie)
SILENT lies – der Serbe
© 2025 VAJONA Verlag GmbH
Übersetzung: Alexandra Gentara
Lektorat der Übersetzung: Anne Masur
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Silent lies«.
Umschlaggestaltung: Deranged Doctor mit Anpassungen durch den VAJONA Verlag
Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz unter Verwendung von Motiven von Canva
VAJONA Verlag GmbH
Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
Anmerkungen der Autorin
Eine der Hauptfiguren in diesem Roman leidet an Hochton-Hörverlust. Wenn eine Person mit dieser Erkrankung anderen Menschen zuhört, kann es sein, dass sie Schwierigkeiten dabei hat, bestimmte Konsonanten wie S, H oder F zu verstehen, die in einer höheren Tonlage gesprochen werden. Infolgedessen kann die Sprache gedämpft klingen, insbesondere beim Telefonieren, Fernsehen oder wenn man sich in einer lauten Umgebung befindet. Menschen mit dieser Art von Hörverlust sagen oft, dass sie das Gefühl haben, den Klang der Sprache zwar hören zu können, aber die tatsächlich gesprochenen Wörter nicht zu verstehen. Es kann auch schwieriger sein, Frauen- und Kinderstimmen sowie andere hohe Töne (z. B. Vogelgezwitscher, Pieptöne von elektronischen Geräten) wahrzunehmen. Außerdem reagieren Menschen mit Hochton-Hörverlust oft empfindlicher auf laute Geräusche als Menschen ohne diese Erkrankung. Sehr laute Geräusche können zu Unbehagen oder sogar Schmerzen führen.
Hinweis
Bitte beachtet, dass dieses Buch Themen enthält, die manche Leserinnen und Leser als verstörend empfinden könnten, wie z. B. die Erwähnung des Todes eines sehr nahen Familienangehörigen sowie drastische Beschreibungen von Gewalt, Folter und Blut.
Drago, 17 Jahre alt
Zwanzig Jahre zuvor, Serbien
Zwanzig Jahre zuvor, in Serbien
(Drago, siebzehn Jahre alt)
Drago
»Die Blondine war’s, du Idiot«, murmele ich und greife nach der Bierflasche auf dem Couchtisch.
Ich weiß nicht, warum ich mir immer wieder diese vorhersehbaren Thriller ansehe. Vielleicht, weil sie mich von dem Scheiß ablenken, an den ich gerade nicht denken will. Wie zum Beispiel, dass ich meinem alten Herrn noch sagen muss, dass ich das dritte Jahr an der weiterführenden Schule nicht bestanden habe. Zum zweiten Mal. Oder dass meine Mutter morgen früh ausflippen wird, wenn sie merkt, dass ich mit dem Motorrad gestürzt bin. Ich kann wohl kaum verheimlichen, dass mein rechter Arm und meine Wange komplett aufgeschürft sind. Es wäre schön gewesen, wenn die Schürfwunde vom Sturz wenigstens das verdammte Tattoo überdeckt hätte, das Adam wieder mal verbockt hat. Ich hätte ihn niemals an mir üben lassen dürfen. Jetzt dauert es zwei Monate, bis der Mist, den er mir auf den Unterarm tätowiert hat, so weit verheilt ist, dass man ihn mit einem neuen Tattoo überdecken kann. Mit einem hoffentlich nicht ganz so beschissenen. Der Murks sieht eher aus wie ein Maulesel als der düstere Sensenmann, den ich bei ihm beauftragt hatte.
Ich trinke noch einen Schluck aus der Flasche und schaue auf die Uhr neben dem Fernseher. Schon drei Uhr morgens. Ich sollte nach oben gehen und schlafen. Ich habe den Mädchen versprochen, morgen mit ihnen in den Zoo zu gehen. Dina wird wahrscheinlich ausflippen und heulen, wenn sie mein Gesicht sieht. Tara hingegen wird einfach nur versuchen, mit dem Finger in das aufgeschürfte Fleisch zu piksen.
Ich schalte den Fernseher aus und werfe die Fernbedienung auf den Couchtisch. Auf halbem Weg durch den Raum ertönt plötzlich ein ohrenbetäubender Knall. Ich werde gegen die gegenüberliegende Wand geschleudert. Schmerz explodiert an meiner rechten Körperhälfte.
Und dann wird alles um mich herum schwarz.
Ich reiße die Augen auf, kann aber zunächst nichts erkennen. Meine Sicht ist verschwommen. Ein stechender Schmerz durchzieht meinen Hinterkopf und meine Seite. Es dauert einen Moment, bis mir klar wird, dass ich auf dem Boden liege. Aber als ich versuche, mich aufzusetzen, schießt ein weiterer Schmerz durch meine rechte Schulter und zuckt durch meinen gesamten Arm bis in meine Finger.
Ich beiße die Zähne zusammen und stütze mich mit der linken Hand an der Wand ab, um irgendwie aufzustehen. Schwindel überkommt mich und ich halte kurz inne, um zu verhindern, dass sich der gesamte Raum weiter um mich dreht. Meine Sicht klärt sich ein wenig, trotzdem kann ich noch immer kaum etwas erkennen. Die Luft ist vernebelt, und das einzige Licht dringt von hinten an mir vorbei. Etwas Nasses tropft meinen Hals hinunter, direkt unter meinem Ohr. Nachdem ich es abgewischt habe, sehe ich Blut an meinen Fingern. Was zum Teufel?
Noch immer stehe ich mit dem Gesicht zur Wand und versuche, mich zu orientieren, als mir der Geruch von Rauch in die Nase steigt. Langsam drehe ich mich um und trete sofort unwillkürlich einen Schritt zurück. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses, hinter dem Wohnzimmer und der Treppe nach oben, hängt die Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern schief in den Angeln. Ein Teil der Außenwand fehlt, und das Licht der Straßenlaterne beleuchtet zahlreiche Trümmer, die auf dem Bett und auf dem Boden herumliegen. Die Luft ist staubig.
»Mom! Dad!« Ich springe über die umgeworfenen Möbel, kann aber meine eigene Stimme nicht hören. Ich höre gar nichts mehr.
Mein Blick ist fest auf die zertrümmerte Wand geheftet, deren Einzelteile sich auf dem Bett türmen, in dem meine Eltern geschlafen haben. Dabei versuche ich, die Couch mit meinem noch funktionierenden Arm aus dem Weg zu schieben. Der andere Arm ist nutzlos und komplett taub. Wahrscheinlich habe ich mir die Schulter ausgekugelt, als ich gegen die Wand geschleudert wurde.
Der Raum füllt sich immer weiter mit Rauch, und das Atmen fällt mir jede Sekunde schwerer, aber ich sehe nirgendwo Feuer. Verzweifelt drehe ich mich um und erhasche einen orangefarbenen Schimmer hinter der Küchenschwelle. Panik überkommt mich, als ich meinen Blick auf das obere Stockwerk richte. Auf die Tür, die dem oberen Treppenabsatz am nächsten liegt. Das Schlafzimmer meiner Schwestern. Mein Blick schnellt zwischen der oberen Tür und den Trümmern im Schlafzimmer meiner Eltern hin und her, während mein Herz wie verrückt hämmert. Soll ich zuerst Mom und Dad helfen, oder erst die Mädchen rausholen? Säure steigt mir in die Kehle, als ich das gesamte Ausmaß der Zerstörung im Erdgeschoss erkenne. Das kann unmöglich jemand überlebt haben. Mit einem letzten Blick auf das Zimmer meiner Eltern schlucke ich die saure Galle, klettere über die zerstörte Couch und renne zur Treppe.
Als ich die oberste Stufe erreiche, überkommt mich ein heftiger Hustenanfall. Ich vergrabe Nase und Mund in meiner Armbeuge, um den Rauch aus meinem Hals und meiner Lunge fernzuhalten, dann trete ich die Tür auf.
»Tara!«, rufe ich, stolpere los und reiße meine weinende Schwester von dem Bett links an der Wand. Ich setze sie auf meine Hüfte und drehe mich einmal im Kreis, um Dina, Taras Zwillingsschwester, zu suchen. Sie steht in einer Ecke. Ihre Augen sind weit aufgerissen, sie starrt mich panisch an. Ich versuche, nach ihr zu greifen, kann aber meinen rechten Arm immer noch nicht bewegen.
»Nimm meine Hand. Wir müssen hier raus!«, rufe ich und stelle fest, dass ich immer noch unfähig bin, meine eigenen Worte zu hören.
Dina schüttelt den Kopf und drückt sich mit dem Rücken an die Wand. Tara schreit und zappelt in meinem Griff.
»Komm schon, Dina!«, brülle ich, ein weiterer Hustenanfall erwischt mich. »Verdammt!« Ich keuche.
Erneut versuche ich, meinen rechten Arm zu bewegen, scheitere aber. Der Rauch wird immer dichter. Wir müssen hier raus, doch mit nur einem Arm kann ich die beiden Mädchen nicht auf einmal tragen. Die Angst und die Hilflosigkeit sind erstickender als der Rauch selbst. Ich muss sie einzeln heraustragen. Und eine Entscheidung treffen. Wie zum Teufel soll ich denn bloß entscheiden, welche von beiden Schwestern ich zuerst rette?
Tara ist hysterisch und ich habe sie bereits auf dem Arm. Also ist sie zuerst dran.
»Ich bringe Tara nach draußen und bin gleich wieder da!«, rufe ich und schaue in Dinas verängstigtes Gesicht. Wenn sie solche Angst hat, wirkt sie sehr viel jünger als vier Jahre. »Zwei Minuten, Dina, Süße. Bleib bitte einfach da stehen.«
Ich werfe ihr einen flehenden Blick zu, in der Hoffnung, dass sie mich verstanden hat. Dann drehe ich mich um und renne aus dem Zimmer.
Ich weiß nicht, wie ich es überhaupt schaffe, die Treppe hinunterzusteigen. Der dichte Rauch brennt in meinen Augen und macht es fast unmöglich, zu erkennen, wo ich hinlaufe. Ich stolpere mehrmals, bevor ich endlich die Haustür erreiche.
Draußen stehen bereits Nachbarn in unserer Einfahrt und starren auf das Haus. Hinten auf der Straße flackern rote Lichter, die sich uns nähern. Wahrscheinlich die Feuerwehr oder ein Krankenwagen. Sie werden jeden Moment hier sein, aber ich kann nicht länger warten. Ich drücke die weinende Tara in die Arme des nächstbesten Mannes und renne zurück in das brennende Haus.
Inzwischen ist der Rauch so dicht, dass ich gezwungen bin, halb zu rennen und halb zu kriechen, um das Wohnzimmer zu durchqueren. Meine Augen tränen und meine Lunge schreit erbarmungslos nach Luft. Ich erreiche die Treppe gerade noch rechtzeitig, als der Teppich in der Nähe der Küche Feuer fängt. Die Flammen breiten sich rasend schnell aus und bewegen sich in atemloser Geschwindigkeit auf die Treppe zu.
Irgendwie schaffe ich es schließlich zurück ins Schlafzimmer der Mädchen. Angestrengt kneife ich beide Augen zusammen, um durch den Rauch etwas sehen zu können. Dina steht nicht mehr da, wo ich sie zurückgelassen habe, daher stürze ich mich auf das Bett. Sie hat sich tatsächlich dort zusammengerollt und unter der Decke versteckt.
»Ich bin da, mein Schatz.« Ich werfe die Bettdecke zur Seite, packe Dina um die Taille und hebe sie auf meine Hüfte.
An eine Rückkehr zur Eingangstür ist gar nicht mehr zu denken. Dazu ist der Rauch längst viel zu dicht. Ich könnte versuchen, durchs Fenster zu klettern – es ist nicht allzu hoch –, aber Dad hat es letzten Monat zugenagelt, weil Tara es immer wieder aufgemacht hat und er Angst davor hatte, dass eine von beiden herausfallen könnte. Wir müssen also mein Zimmer am anderen Ende des Flurs erreichen und dort vom Balkon springen.
»Halt dich an mir fest!« Ich kann nicht einschätzen, wie laut ich rede, weil ich immer noch nichts höre, daher brülle ich vorsichtshalber. »Wir kommen hier raus!«
Dina schlingt ihre Arme um meinen Hals und klammert sich an mich. Ihr winziger Körper zittert in meinen Armen. Ich trete in den Flur, ziehe mich aber rasch wieder zurück. Das Feuer hat sich bereits bis ins Obergeschoss ausgebreitet, und die Hitze schneidet mir den Weg durch den Flur zu meinem Zimmer ab. Die Treppe hinunter ist somit der einzige Ausweg.
»Alles wird gut.« Ich gebe meiner Schwester einen Kuss auf den Scheitel. Mein Herz pocht so schnell, dass es sich anfühlt, als würde es mir gleich aus der Brust springen. »Alles wird gut.«
Ich drücke sie fester an mich, atme noch einmal tief durch und betrete erneut den Flur.
Dann werfe ich einen Blick über das Geländer auf die untere Ebene des Hauses, wo die Flammen bereits an den Küchenschränken züngeln und die Vorhänge hochkriechen. Das Feuer hat sich schon bis zur Treppe ausgebreitet, die Flammen lecken am Geländer. Ich kann mich nicht entscheiden, was schlimmer auszuhalten ist: die Hitze oder der Rauch. Mit angehaltenem Atem renne ich so schnell ich kann die Treppe hinunter. Die Eingangstür steht weit offen, davor hält ein Feuerwehrauto, aus dem Feuerwehrleute strömen.
Ich bin gerade mitten auf der Treppe, auf halbem Weg zur Haustür, als rechts von mir plötzlich eine weitere Explosion ausbricht, die Dina und mich zu Boden schleudert.
Plötzlich ist es so heiß, dass es sich anfühlt, als würde meine Haut schmelzen. Meine Schwester liegt ein paar Meter entfernt von mir lang ausgestreckt da, keuchend und nach Luft ringend. Ich krieche zu ihr, ziehe sie an mich und schlinge meinen Körper um ihren, um sie vor den Flammen zu schützen.
»Alles wird gut, Baby. Hilfe naht«, sage ich leise dicht an ihrem Ohr, kurz bevor die Dunkelheit mich verschlingt.
Sienna
5 Jahre alt
15 Jahre zuvor, New York
Ich werfe mich auf die Couch, verschränke die Arme und schnaube. »Du hast es versprochen, Mama! Luna wird sechs und feiert! Und ich bin ihre beste Freundin. Wir müssen hingehen.«
Seufzend setzt Mama sich neben mich. »Es tut mir so leid, Sienna. Der Chef hat mich und deinen Vater diesen Samstag zum Dienst eingeteilt.«
»Immer müsst ihr arbeiten, Papa und du.« Ich schaue sie finster an und ziehe einen Schmollmund.
»Das stimmt doch gar nicht, Sienna, mein Schatz. Und das weißt du auch.« Sie streichelt meinen Arm.
Ich reiße mich von ihr los und murmele: »Wenn du mich liebst, gehst du mit mir hin. Du hast es versprochen! Papa sagt, Versprechen zu halten, ist das Wichtigste auf der ganzen Welt.«
Mama wirft meinem Vater, der neben dem Bücherregal steht, einen Blick zu. »Edoardo und Sara arbeiten heute Abend im Casino. Vielleicht können wir sie bitten, mit uns zu tauschen? Dann könnten wir heute Abend arbeiten und sie können uns am Samstag vertreten.«
Ich schaue Papa mit großen Augen an. Bitte sag ja!
»Arturo? Kannst du mit ihnen dorthin gehen?« Papa wirft meinem Bruder, der am Fenster in einem Sessel sitzt und an seinem Handy herumfummelt, einen Schulterblick zu.
»Nein. Ich muss am Samstag auch arbeiten.« Er schüttelt den Kopf. »Aber ich kann heute Abend auf die beiden Quälgeister aufpassen.«
Ich schnaube. Seit er für den Don arbeitet, ist Arturo dauernd beschäftigt und immer ganz ernst.
Mein Vater seufzt ebenfalls und sieht mich fest an. »Ist es denn wirklich so wichtig, dass wir beide hingehen müssen? Ich kann versuchen, etwas zu arrangieren, damit zumindest Mama mit dir hingehen kann.«
»Ja, es ist wichtig. Asya!« Ich warte, bis meine Schwester von dem, was sie da gerade am Kaffeetisch zeichnet, aufschaut. Dann rufe ich ihr zu: »Sag doch auch was!«
Sie zuckt nur mit den Schultern.
»Siehst du, Asya möchte auch, dass ihr beide mitkommt. Bitte, Papa. Wir gehen nie irgendwo zusammen hin. Sie haben Clowns eingeladen! Ich bitte auch nie wieder um irgendwas.«
Papa stößt sich vom Bücherregal ab. »Also schön. Ich rufe Edoardo an.«
Ich quietsche vor Freude und springe ihm in die Arme. »Ja! Danke!«
»Als ob ich dir etwas abschlagen könnte, mein kleines Mädchen. Dazu liebe ich dich viel zu sehr.« Er gibt mir einen Kuss auf den Scheitel. »Ab in die Küche, ihr zwei. Arturo macht euch Abendessen, damit Mama und ich uns für die Arbeit fertig machen können.«
Die Türklingel reißt mich aus dem Schlaf. Ich blinzle in die Dunkelheit. Habe ich geträumt?
Dann klingelt es wieder.
Ich rutsche vom Bett und schleiche auf Zehenspitzen zum Balkon, um auf die Veranda hinunterzuschauen. Zwei Männer in Anzügen reden mit Arturo. Ihre Stimmen sind gedämpft, sodass ich nicht höre, was sie sagen, und aus diesem Winkel kann ich auch das Gesicht meines Bruders nicht erkennen. Aber sein Körper richtet sich plötzlich kerzengerade auf. Er vergräbt die Hände in den Haaren, zerrt daran, dreht sich zur offenen Eingangstür um und hämmert mit den Fäusten dagegen. Die Männer sagen noch etwas und steigen dann in ein schwarzes Auto ein, das in unserer Einfahrt steht. Als ich wieder nach unten schaue, sitzt Arturo auf der oberen Treppenstufe und umklammert mit einer blutigen Hand seine Haare.
Ich laufe zurück zu meinem Bett und krieche hastig unter die Decke, aber ich bin gar nicht mehr müde. Wer waren diese Männer? Und wieso macht mein Bruder so etwas? Arturo schlägt sonst nie gegen irgendwas.
Ich starre an die Decke, als ich höre, wie jemand die Treppe hinaufsteigt und durch den Flur geht. Einen Moment später erfüllt das Geräusch unserer Schlafzimmertür, die sich knarrend öffnet, die Stille der Nacht. Ich setze mich im Bett auf und sehe Arturo an der Schwelle stehen, den Türrahmen fest umklammert.
»Wir müssen Asya aufwecken«, sagt er. »Ich muss euch beiden etwas sagen.«
Seine Stimme klingt merkwürdig. Gar nicht so lustig wie sonst, wenn er mit Asya und mir spricht. Nachdem er den Lichtschalter neben der Tür betätigt hat, setzt sich Arturo aufs Bett meiner Schwester. Er sieht ganz anders aus als vorhin, als er uns ins Bett gebracht hat. Sein Gesicht ist blass und er hat dunkle Ringe unter den Augen. Arturo ist normalerweise kein besonders fröhlicher Mensch. Papa sagt immer, dass mein Bruder viel zu alt wäre für sein Alter. Was auch immer das heißen soll. Aber er ist immer stark. Im Moment sieht er jedoch einfach nur furchtbar traurig aus. Vorsichtig rüttelt er an Asyas Schulter, bis sie sich im Bett aufrichtet, dann klopft er auf den freien Platz neben sich.
Ich setze mich neben ihn und halte die ganze Zeit über Augenkontakt mit ihm. Als ich gesehen habe, wie er draußen gegen die Tür geschlagen hat, hatte ich schon einen Kloß im Hals. Aber jetzt habe ich das Gefühl, dass ich mich gleich übergeben muss. Er wird uns etwas ganz Schlimmes erzählen.
»Heute Abend ist etwas vorgefallen. Im Casino.« Er nimmt meine Hand in seine und Asyas Hand in die andere, sieht aber keine von uns beiden an. »Ihr müsst jetzt ganz tapfer sein.«
»Was ist denn passiert?«, fragt Asya und gähnt. »Wo ist Mama?«
»Es gab … eine Schießerei.« Er drückt unsere Hände. »Viele Menschen wurden dabei verletzt.«
Ich reiße meine Hand aus seiner. In unserem Haus reden wir nie über Schießereien oder Waffen, weil Papa das nicht erlaubt.
»Wo sind Mama und Papa?« Ich schluchze.
Arturo legt seinen Arm um mich und zieht mich an sich. Ich höre Asya weinen, sie kuschelt sich an seine andere Seite.
»Sie sind tot«, stößt Arturo hervor. »Mama und Papa sind tot.«
»Du lügst! Wieso lügst du uns an?«, rufe ich, während mir die Tränen über das Gesicht laufen. Aber ich weiß, dass es wahr ist. Arturo lügt nie.
Kapitel 1
Sienna
Gegenwart
Ich nähere mich der großen verzierten Tür und klopfe zweimal an.
»Herein«, sagt eine männliche Stimme von der anderen Seite, und ich betrete das Büro des Chefs der New Yorker Cosa-Nostra-Familie. Meine grünen High Heels klacken auf dem polierten Boden, während ich näher komme.
»Sie wollten mich sehen, Don Ajello?«, sage ich mit meiner lieblichsten Stimme.
Salvatore Ajellos Blick wandert von meinem grasgrünen Kleid zu meinem Kopf und bleibt an meinem Dutt hängen. Aus ihm ragen Federn heraus, in derselben Farbe wie mein Kleid. Ich habe Monate gebraucht, um den exakt passenden Farbton zu finden.
»Nimm Platz, Sienna.« Er nickt auf den Stuhl ihm gegenüber.
Ich lasse mich auf den Sitz fallen, streiche mein Kleid glatt und frage mich, warum er mich gerufen hat. Es kommt schließlich nicht jeden Tag vor, dass jemand, der in der Hierarchie der Cosa Nostra so unbedeutend ist wie ich, zu einem privaten Gespräch mit dem Don eingeladen wird.
Ajello lehnt sich zurück und sieht mich an. Sein Blick hat etwas Beunruhigendes an sich, und ich fühle mich, als würde ich gerade seziert.
»Deine Schwester hat vor einiger Zeit geheiratet«, sagt er. »Ihr standet euch sehr nahe.«
»Wir stehen uns sehr nahe, ja.«
»Aber sie ist jetzt in Chicago. Das muss hart für dich sein.«
»Asya liebt es dort und ich freue mich für sie.« Ich lächle und versuche, meinen Tonfall gelassen klingen zu lassen. Er weiß wirklich gut, wie man Salz in eine offene Wunde streut.
»Es ist wichtig, dafür zu sorgen, dass die eigene Familie glücklich ist. Was ist mit Arturo?«
Ich schaue ihn mit verengten Augen an. Worauf will er mit diesem Gespräch hinaus? »Was soll denn mit ihm sein?«
»Dein Bruder ist sechsunddreißig, Sienna. Er wird wahrscheinlich auch bald heiraten. Eine eigene Familie gründen. Was wirst du tun, wenn das passiert? Willst du bei ihm wohnen bleiben und das fünfte Rad am Wagen sein?«
Jedes einzelne seiner Worte bohrt sich wie ein Dolch in meine Brust. Ich habe sowieso schon ein schlechtes Gewissen, weil ich meine Tage mit Nichtstun verbringen. Abgesehen davon, dass ich mich mit meinen Freundinnen treffe oder lese. Während Arturo die ganze Zeit arbeitet. Vor Monaten habe ich mir fest vorgenommen, eine Fortbildung rauszusuchen, um endlich etwas aus meinem Leben zu machen, aber bisher habe ich noch nichts in der Richtung unternommen.
»Ich würde dem Glück meines Bruders niemals im Weg stehen«, sage ich. »Wenn es so weit ist, ziehe ich aus und suche mir einen Job.«
»Warum bist du nicht aufs College gegangen? Steht das noch in deinen Plänen?«
»Ich bin nicht gerade College-Material, Don Ajello.«
»Ach, nein? Aber du sprichst doch sogar mehrere Sprachen. Arturo hat mir erzählt, dass du sie dir alle selbst beigebracht hast.«
»Ja. Italienisch. Englisch natürlich. Spanisch und Portugiesisch. Und ein bisschen Russisch und Japanisch.« Braucht er eine Dolmetscherin für irgendetwas?
»Wie lange brauchst du, um eine neue Sprache zu lernen?«, fragt er.
»Ähm, na ja. Das kommt darauf an. Nur Sprechen oder auch Schreiben?«
»Gut genug, um zu verstehen, was gesagt wird. Schreiben ist nicht nötig.«
Ich denke einen Moment darüber nach. »Drei Monate. Vielleicht vier. Kommt auf die Sprache an.«
Ajello nickt, während sein stechender Blick mich durchbohrt. »Perfekt. Dann lass uns die Hochzeit planen.«
»Oh? Wer heiratet denn?«
»Du, Sienna.«
Ich blinzle zweimal und frage mich, ob ich ihn richtig verstanden habe. Ajello lehnt sich entspannt in seinem Stuhl zurück. Er verschränkt die Arme vor der Brust, während er mich ansieht.
»Du willst doch nicht einsam und allein enden, oder?«, fragt er mit zur Seite geneigtem Kopf.
Dieser Bastard. Es ist, als könnte er tief in meine Seele blicken, die schlimmsten Ängste, die dort gären, entdecken und sie gegen meinen Willen aus mir herauszerren.
Meine Finger umklammern den Rockteil meines Kleides. »Nein.«
»Dann ist eine Heirat doch die perfekte Lösung.«
»Ja, sieht so aus.« Ich zwinge mich, zu lächeln.
»Schön, dass wir uns da einig sind. Ich habe auch bereits einen Mann für dich im Sinn. Ich versuche schon seit Jahren, jemanden in seine Organisation einzuschleusen. Das hier ist also eine wunderbare Gelegenheit.«
»Ich soll meinen zukünftigen Ehemann ausspionieren?«
»Ja. Du würdest der Familie damit einen großen Dienst erweisen.«
»Er gehört also nicht zur Cosa Nostra?«
»Nein. Er ist nur einer unserer Geschäftspartner.« Ajello legt den Kopf schief. »Dein Bruder wird nicht erfreut sein, wenn ich es ihm sage. Du musst Arturo also davon überzeugen, dass du mit dieser Ehe einverstanden bist.«
»Und wenn er mir nicht glaubt?«
»Arturo ist mein Stellvertreter. Ich würde sogar so weit gehen und ihn als … Freund bezeichnen. Ich habe nicht viele Freunde, Sienna, daher würde ich es vorziehen, ihn nicht umbringen zu müssen, weil er mit meinen Plänen nicht einverstanden ist. Sorg also bitte dafür, dass er dir glaubt.«
»Ich gebe mein Bestes.« Ich zwinge mich zu einem weiteren Lächeln. »Ist das alles?«
Ajello zieht eine Augenbraue hoch. »Du hast gar nicht gefragt, wen du heiraten wirst.«
»Ich schätze, das spielt sowieso keine Rolle.«
»Perfekt. Ich werde alle nötigen Vorbereitungen treffen. Du kannst dann gehen.«
Als ich zur Tür gehen will, hält er mich zurück.
»Eins noch, Sienna.«
Ich drehe mich um. »Ja?«
»Fang an, Serbisch zu lernen. Du hast genau drei Monate Zeit.«
Als ich Ajellos Haus verlasse, bleibe ich mitten auf dem Bürgersteig stehen. Menschen huschen an mir vorbei. Fetzen verschiedener Gespräche dringen zu mir durch. Gelächter. Eine wütende Mutter, die nach ihrem Kind ruft. Der Lärm umhüllt mich und es ist, als hätte ich gerade einen Bienenstock betreten, dessen Wände sich um mich herum zusammenziehen. Ich möchte weitergehen, kann aber meine Beine nicht bewegen. Jemand stößt mich mit dem Ellbogen ab, sodass ich stolpere und hinfalle, aber ich bin immer noch in einer Art Schockstarre und nehme den Aufprall kaum wahr.
Werde ich jetzt wirklich einen Mann heiraten, den ich noch nie zuvor getroffen habe?
Ich könnte mich weigern, aber innerhalb der Cosa Nostra ist das Wort des Dons Gesetz, und es käme einem Verrat gleich, sich seinen Anweisungen zu widersetzen. Ich könnte Arturo die Wahrheit sagen. Vielleicht könnte er Ajello davon überzeugen, die Idee wieder fallen zu lassen. Vor etwa zehn Jahren hat mein Bruder ihm mal das Leben gerettet, daher bezweifle ich sehr, dass der Don ihn tatsächlich umbringen würde. Aber die Sache ist die – Ajello hat recht. Mein Bruder hat sein eigenes Leben für uns auf Eis gelegt, als unsere Eltern getötet wurden. Ich muss ihn also verlassen.
Schon der Gedanke daran lässt mich erschauern.
Ich habe noch nie allein gelebt und glaube auch nicht, dass ich damit zurechtkommen würde. Es ist jetzt schon viel zu einsam für mich, seit Asya weg ist und Arturo so viel Zeit auf der Arbeit verbringt. Daher bin ich tagsüber meistens bei Luna. Aber die einsamen Nächte sind hart.
Nach Asyas Entführung habe ich meinem Bruder versprochen, nie wieder Schlaftabletten zu nehmen. In letzter Zeit habe ich aber öfter darüber nachgedacht. Nicht, um mir selbst zu schaden, aber in einem leeren Haus kann ich einfach nicht einschlafen.
Wenn ich Arturo bitten würde, häufiger zu Hause zu bleiben, würde er sicher Ja sagen. Aber das würde ich niemals tun. Er hat selbst genug Probleme und braucht meine nicht auch noch. Das Sozialleben meines Bruders ist schon seit fünfzehn Jahren nicht mehr existent. Außerhalb der Arbeit hat er sich immer nur auf Asya und mich konzentriert. Er hat noch nie eine Frau mit nach Hause gebracht, und ich fürchte, das wird er auch nicht tun, solange ich da bin. Es ist, als hätte er irgendwann vergessen, dass er gar nicht unser Elternteil ist. Jetzt bin ich kein Kind mehr und darf das nicht weiter zulassen. Arturo muss endlich sein eigenes Leben leben.
Aber der bloße Gedanke, allein zu leben, ohne jemanden zum Reden zu haben, versetzt mich in Panik. Ich kann das nicht. Niemals werde ich das können. Wenn die einzige Lösung, nicht allein zu sein, darin besteht, einen Fremden zu heiraten, dann werde ich das tun. Ich muss Arturo nur davon überzeugen, dass es meine Idee war. Er würde nämlich niemals zulassen, dass ich zwangsverheiratet werde, nur weil der Don es so bestimmt hat.
»Ms. DeVille.«
Ich schaue nach rechts und sehe meinen Fahrer, der neben dem Auto steht und mir die Tür aufhält. Schweigend überwinde ich die Distanz und lasse mich auf den Rücksitz gleiten.
»Ist alles in Ordnung, Ms. DeVille?«, fragt der Fahrer, während er sich ans Steuer setzt.
»Natürlich.« Ich schenke ihm ein strahlendes Lächeln. »Fahren Sie mich bitte zur Mall. Ich habe gehört, dass es dort heute einen großen Sale gibt.«
Als das Auto auf die Straße fährt, hole ich mein Handy aus der Handtasche und rufe meinen Bruder an. Es klingelt mehrmals, dann geht die Mailbox dran. Wahrscheinlich sitzt er wieder einmal in einer Besprechung.
»Hey, Arturo«, zwitschere ich nach dem Piepton. »Ich weiß, dass du gerade beschäftigt bist, aber ich muss dir etwas sagen. Seit Asya geheiratet hat, habe ich viel über mein Leben nachgedacht. Also habe ich heute Morgen den Don aufgesucht und ihn gefragt, ob er nicht vielleicht eine Ehe für mich arrangieren kann. Und er hat Ja gesagt!« Ich kichere. »Ich hoffe, er findet einen Anwalt für mich. Oder irgendeinen CEO. Jedenfalls wollte ich dich das nur wissen lassen. Ich bin gerade auf dem Weg ins Einkaufszentrum. Ich habe online so ein tolles, mehrfarbiges Chiffonkleid gesehen. Es ist plissiert, und die verschiedenen Farbtöne fließen wunderschön ineinander über! Es sieht aus wie für mich gemacht. Hab dich lieb!«
Ich werfe das Handy zurück in meine Handtasche, wische mir schnell eine verirrte Träne von der Wange und richte meinen Blick auf die Straße hinter dem Fenster.
Drago
Ich beobachte den Mann, der in einer Blutlache zu meinen Füßen sitzt. Seine linke Gesichtshälfte ist so geschwollen, dass es aussieht, als würde sie jeden Moment platzen. Ich packe ihn an der Kehle, hebe ihn hoch und drücke seinen Rücken gegen die Wand.
»Du hast also zufällig ein paar sehr vertrauliche Informationen ausgeplaudert, während unsere Konkurrenz anwesend war?«, frage ich.
Winselnd umklammert der Mann meine Handgelenke, um sich zu befreien. Ich drücke ihn noch fester gegen die Wand und beuge mich zu seinem Gesicht hinunter.
»Weißt du, was ich mit Verrätern mache, Henry?«
Die Augen des Mannes werden groß wie Untertassen und er zittert. Einen Moment später erfüllt der Gestank von Urin die Luft.
»Ah ja. Du weißt es.« Lächelnd greife ich nach dem Messer, das auf dem Tisch in der Nähe liegt.
Als ich die Klingenspitze gegen Henrys Bauch presse, direkt oberhalb seines Nabels, beginnt er, sich zu winden, daher verstärke ich meinen Griff. Sein Gesicht läuft noch dunkler an, während er verzweifelt nach Luft ringt. Ich halte seinen Hals fest und ziehe das Messer langsam in einer geraden Linie über seine Haut nach oben. Blut rinnt Henrys nackten Oberkörper hinunter, er brüllt vor Schmerz. Als ich sein Schlüsselbein erreiche, führe ich die Messerspitze unter seine linke Brustwarze und wiederhole meine Bewegungen. Allerdings schlitze ich ihn diesmal horizontal von links nach rechts auf.
Der Mann würgt noch ein paar Mal, dann erschlafft sein Körper. Seine glasigen Augen starren mich ausdruckslos an. Ich beende das Muster, mit dem ich seine Brust aufgeschlitzt habe, wische die Klinge an seinem Hosenbein ab und lasse seinen Körper achtlos zu Boden fallen.
»Nagelt ihn an die Wand«, sage ich zu den beiden Männern, die etwas abseits stehen, und wende mich dann Filip zu, meinem Stellvertreter, der auf der Couch lümmelt. »Was wollte Ajello?«
»Er will sich mit dir treffen«, sagt Filip. »Er hat ein Angebot für dich.«
Ich nehme das Küchentuch von der Arbeitsplatte und wische mir das Blut von den Händen. »Ruf ihn zurück. Sag ihm, er kann sich sein Angebot in den Arsch schieben. Wir machen keine Geschäfte mehr mit der Cosa Nostra. Das habe ich Arturo schon zigmal erklärt.«
»Es ist gerade nicht der richtige Zeitpunkt, um den Don zu verärgern, Drago.« Filip beugt sich vor. »Vor allem nicht angesichts unseres neuen Plans. Bogdan wird sich rächen, sobald er erfährt, dass du beschlossen hast, ihn aus dem Waffengeschäft zu drängen. Wir können es nicht mit den Rumänen und den Italienern gleichzeitig aufnehmen.«
»Ich bezweifle, dass Ajello sich für unsere Pläne interessiert. Er arbeitet nicht mehr mit Bogdan zusammen, daher verstehe ich nicht, warum er sich überhaupt in unsere Angelegenheiten einmischen sollte. Ich würde mir also nicht allzu viele Sorgen machen.«
»Alles, was in New York passiert, geht Ajello etwas an. Wenn er glaubt, dass der Krieg zwischen uns und den Rumänen auch nur den geringsten Einfluss auf seine Projekte haben könnte, wird er etwas dagegen unternehmen. Im Grunde finde ich es sogar ganz interessant, dass er genau diesen Moment gewählt hat, um zu versuchen, wieder mit uns zusammenzuarbeiten.«
»Glaubst du, er hat von dem Waffengeschäft erfahren, das wir gerade aushandeln?«
»Er weiß wahrscheinlich, dass wir etwas vorhaben, aber ich glaube nicht, dass er Details kennt. Andererseits kann man bei Salvatore Ajello nie wissen.«
»Na großartig.« Ich werfe den verdammten Lappen auf den Tisch. »Ruf Ajello an. Sag ihm, dass ich die nächsten Monate nicht in der Stadt sein werde, aber über seine Anfrage nachdenke. Wir können reden, wenn ich zurück bin.«
»Hast du tatsächlich vor, das zu tun? Darüber nachzudenken?«
Ich nehme meine Jacke und meinen Helm vom Stuhl und gehe zur Eingangstür. »Nein.«
Kapitel 2
Sienna
Zwei Monate später
Ich liege gerade auf dem Bett und schaue mir auf dem Laptop einen Disney-Film an, der auf Serbisch synchronisiert wurde, als unten auf dem Bildschirm eine E-Mail-Benachrichtigung aufpoppt. Wahrscheinlich wieder irgendein Newsletter von einem meiner Modemagazine. Ich schließe das Pop-up-Fenster und schaue den Film weiter.
Eigentlich lerne ich neue Sprachen lieber in meinem eigenen Tempo, aber da ich unter Zeitdruck stehe, habe ich mich auch noch für einen Online-Kurs angemeldet. Fünf Wochen lang habe ich täglich mit einem virtuellen Lehrer gearbeitet, um die Grundlagen zu erlernen. Die serbische Sprache ist dem Russischen, das ich auf mittlerem Niveau verstehe, sehr ähnlich, das hat mir etwas geholfen. Zum Glück muss ich die Sprache nur verstehen und sie nicht schreiben können, denn das würde Monate dauern. In den letzten drei Wochen habe ich mich daher vor allem auf das Zuhören konzentriert. Zuerst habe ich mit serbischen Filmen und Serien angefangen, aber da viel Umgangssprache darin vorkommt, ist es manchmal schwierig, ihnen zu folgen. Letzte Woche habe ich online einen serbischen Fernsehsender gefunden, aber die senden hauptsächlich Nachrichten und Politik. Es war so langweilig, dass ich gestern beim Zuschauen eingeschlafen bin. Heute habe ich deshalb beschlossen, mal etwas anderes auszuprobieren. Arielle, die Meerjungfrau kam mir für meine Zwecke genau richtig vor.
Das klingelnde Handy auf meinem Nachttisch zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Es ist der Don.
»Don Ajello. Was kann ich …«
»Hast du die E-Mail gelesen, die ich dir gerade geschickt habe?«
»Einen Moment.« Ich beende den Film und wechsle zum E-Mail-Programm.
In meinem Posteingang befindet sich tatsächlich eine Nachricht, aber ohne Text, nur mit ein paar Anhängen. Ich öffne den ersten. Es ist ein leicht verschwommenes Foto von einem Mann, der gerade ein Gebäude betritt. Nur ein Teil seines Profils ist sichtbar. Er trägt eine Lederjacke und dunkle Jeans. Ich zoome das Bild heran und versuche, mehr als das dunkle Haar und die kurzen Bartstoppeln des Mannes zu erkennen, aber das Bild ist zu unscharf.
»Ähm, okay«, sage ich. »Und das ist …?«
»Dein zukünftiger Ehemann. Drago Popov. Der Kopf der serbischen Untergrundorganisation.«
»Oh … also ist er kein Anwalt.«
»Nein, Sienna. Er ist ganz sicher kein Anwalt. Jahrelang hat Popov mehr als die Hälfte unserer Drogen nach Europa verschifft, aber nach dem Angriff auf seinen Club durch Rocco Pisano vor zwei Jahren hat Popov alle Verbindungen zur Cosa Nostra abgebrochen. Die Lieferanten, die wir seitdem einsetzen, sind weder so schnell noch so zuverlässig wie Popov. Deshalb möchte ich ihn wieder ins Spiel bringen.«
»Okay«, murmele ich. »Also bin ich … nur ein Anreiz für ihn, um den Deal abzuschließen? Sie brauchen mich nicht mehr, um ihn auszuspionieren?«
»Natürlich brauche ich dich dazu noch. Das ist der Hauptgrund, warum ich dich für diese Ehe ausgewählt habe.« Papierrascheln ertönt. »Die meisten illegalen Geschäfte, die in dieser Stadt gemacht werden, werden in Popovs Club Naos ausgehandelt. Er gilt als neutrales Gebiet, das sich auch für Treffen zu sensiblen Themen eignet. Ich brauche jemanden, der vertrauenswürdig ist und Informationen über Popovs Geschäfte sammeln und an mich weitergeben kann. Wie gut ist dein Serbisch inzwischen?«
»Na ja, ich kann Arielle, die Meerjungfrau ohne Untertitel anschauen.« Ich lächle.
»Arielle die was?«
»Meerjungfrau. Der Film.« Er hat noch nie von Arielle gehört? »Wenn eine Person nicht zu schnell spricht oder zu viel Slang verwendet, verstehe ich inzwischen das meiste.«
»Gut. Dann werden wir die Hochzeit früher als geplant vorbereiten.«
»Was? Wieso?«
»Popov hat letzte Woche einen großen Deal abgeschlossen, und niemand weiß, worum es geht. Ich muss es aber wissen, und zwar so schnell wie möglich.«
Wow. Da ist wohl jemand ein ganz schöner Kontrollfreak.
»Ich bin gerade auf dem Weg zu ihm, um ihn über die Vereinbarung zu informieren«, fährt er fort.
»Er weiß es noch gar nicht? Was ist, wenn er ablehnt?«
»Dann wird er sterben«, knurrt Ajello. »Nino holt dich um zehn Uhr ab und bringt dich ins Naos.«
»Prima. Ich bringe Luna mit. Was soll ich denn …«
Die Leitung ist tot. Ich werfe einen Blick auf das Display. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich an die Art und Weise gewöhnt habe, wie Salvatore Ajello seine Telefonate führt.
Kopfschüttelnd konzentriere ich mich wieder auf die E-Mail, gehe die restlichen Bilder durch, aber es scheint sich nur um weitere Aufnahmen derselben Kamera zu handeln. Die meisten Fotos sind unscharf, wahrscheinlich mit einer Handykamera bei schlechten Lichtverhältnissen oder in Bewegung aufgenommen. Es gibt nur ein einziges scharfes Foto. Es zeigt Popov, wie er in einer Hotellobby oder so was steht, den Arm um die Taille einer blonden Frau geschlungen. Er hat sich von der Kamera abgewandt, sodass sein Gesicht nicht zu erkennen ist. Die Frau an seiner Seite sieht ihn an. Sie wirkt wie ein Filmstar, trägt ein enges weißes Kleid, und ihr platinblondes Haar fällt ihr fast bis zur Taille glatt über den Rücken.
Wenn das sein Typ ist, wird er aber ganz schön enttäuscht sein. Diese Frau ist fast einen Kopf größer als ich. Außerdem habe ich mir erst vor kurzem die Haare abgeschnitten, sodass sie nicht einmal mehr bis zur Mitte meines Rückens reichen, und ich habe sie noch nie gefärbt. Ich mag meine dunkelbraunen Haare, so unauffällig die Farbe auch wirkt. Aber sie passt somit auch am besten zu meiner Garderobe. Ich schaue mir die Fotos noch einmal an, für den Fall, dass ich eines übersehen habe, auf dem ich sein Gesicht erkennen könnte, aber nein. Ich muss wohl bis heute Abend warten, um zu erfahren, wie mein zukünftiger Ehemann aussieht.
Ich greife wieder nach meinem Handy und rufe meine beste Freundin an.
»Luna bella«, zwitschere ich. »Hast du Lust, heute Abend mit mir tanzen zu gehen?«
Drago
Ich nehme meinen Whiskey und lehne mich zurück, während ich den Mann betrachte, der mir in meiner Sitznische gegenübersitzt.
In all den Jahren, in denen ich mit den Italienern zusammengearbeitet habe, hatte ich immer nur mit Arturo, Ajellos Stellvertreter, zu tun. Bis die von Rocco Pisano inszenierte Shitshow unsere Arbeitsbeziehung abrupt beendete. Ich habe zwar früher gutes Geld mit ihm verdient, aber nicht die Absicht, mit Leuten zu verhandeln, die mich verraten haben. Ich dachte, ich hätte mich Arturo gegenüber auch klar ausgedrückt – wir sind fertig miteinander. Sieht so aus, als müsste ich mich jetzt dem Don gegenüber noch einmal wiederholen.
»Ich bin nicht daran interessiert, unsere Zusammenarbeit wiederaufleben zu lassen, Ajello.«
»Haben Sie etwa andere potenziell hochwertige Geschäftspartner? Denn ich weiß mit Sicherheit, dass niemand die Menge und Qualität liefern kann, die Sie von uns gewohnt sind.«
»Die Sache ist die: Ich brauche Ihre Drogen nicht mehr. Mein Diamantenhandel bringt dreimal so viel ein wie das Dealen mit Koks.« Ich zucke mit den Schultern.
»Es geht nicht allein ums Geld. Es gibt zu viel böses Blut zwischen uns, Mr. Popov. Ich kann nicht zulassen, dass Sie in meiner Stadt weiterhin Geschäfte machen, solange die Fehde zwischen unseren Familien nicht beigelegt ist.«
»Beigelegt?« Ich nippe an meinem Drink und betrachte ihn. »Und wie soll das Ihrer Meinung nach funktionieren?«
»Durch eine Heirat. Genauer gesagt eine Ehe zwischen Ihnen und einer Frau der Cosa Nostra.«
Hat er vergessen, dass einer seiner Capos während eines wichtigen Geschäftstermins auf mich und meine Männer geschossen hat, und dann auch noch einen Schlägertrupp geschickt hat, um meinen Club zu überfallen? Es spielt gar keine Rolle, dass die Ganoven keine Mitglieder der Cosa Nostra waren. Oder dass meine Männer sie alle getötet haben. Es spielt nicht einmal eine Rolle, dass Rocco Pisano bereits unter der Erde liegt.
»Wir haben bei dem Debakel vor zwei Jahren einen Mann verloren. Das lässt sich ganz sicher nicht dadurch regeln, dass ich irgendeine Cousine eines Ihrer Fußsoldaten heirate, Ajello.«
Der Don legt die Arme auf die Rückenlehne der Sitzbank und mustert mich berechnend. »Ich biete Ihnen Arturo DeVilles Schwester für diese Ehe an.«
Ich neige meinen Kopf zur Seite und denke nach. Eine Heirat mit der Schwester des Stellvertreters der Cosa Nostra wäre eine sehr lukrative Gelegenheit. Genau genommen klingt es sogar zu gut, um wahr zu sein.
»Und was hält Arturo von dieser Idee?«, frage ich.
»Ich sorge dafür, dass er die Vorteile daran noch erkennt.«
»Also ist er dagegen. Was ist mit seiner Schwester? Hat sie nicht den Wunsch, innerhalb der Cosa Nostra zu heiraten?«
»Sienna ist ein Freigeist. Sie sagte, sie sei offen für neue Erfahrungen.«
»Ach ja?« Ich nehme einen weiteren Schluck von meinem Drink und frage mich, was sich tatsächlich hinter diesem Vorschlag verbirgt. Denn irgendetwas anderes steckt ganz sicher noch dahinter. »Wie alt ist sie?«
»Gerade zwanzig geworden.«
Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Wollen Sie mich verarschen, Ajello?«
»Ich verarsche Sie nicht, Mr. Popov. Haben Sie denn spezielle Wünsche bezüglich des Alters einer Frau, die Sie gern heiraten würden?«
»Könnte man so sagen.« Ich kann nicht anders und muss den Kopf schütteln. Diese Italiener immer mit ihren arrangierten Ehen.
»Sienna und ihre Freundin werden heute Abend zusammen mit meinem Securitychef hierherkommen. Bitte sorgen Sie dafür, dass sie eingelassen werden.« Salvatore Ajello steht auf. »Und lassen Sie mich bis morgen früh wissen, wie Sie sich entschieden haben.«
Ich sehe dem Cosa-Nostra-Don hinterher und frage mich, ob ich ihm gleich sagen sollte, dass ich definitiv nicht die Absicht habe, eine Frau zu heiraten, die beinahe halb so alt ist wie ich. Gute Gelegenheit hin oder her.
Filip nimmt den Sitzplatz ein, den Ajello gerade verlassen hat, und deutet mit dem Kopf in Richtung Ausgang. »Was wollte der Italiener?«
»Die Fehde zwischen uns beilegen. Er will, dass wir uns wieder um den Vertrieb seiner Drogen kümmern. Und er hat mir Arturo DeVilles Schwester als Ehefrau angeboten, um die Kooperation zu besiegeln.«
Filip reißt die Augen auf. »Willst du das Angebot annehmen?«
»Nein.«
»Wieso nicht? Der Drogenvorrat ist schon gefährlich dezimiert, und Ajello hat einfach die besten Produkte. Außerdem verschafft uns die familiäre Verbindung zur Cosa Nostra eine sehr viel bessere Verhandlungsposition mit der russischen Bratva.«
»Das Mädchen ist zwanzig. Ich heirate ganz sicher keine verwöhnte, gerade erst dem Teenageralter entwachsene Cosa-Nostra-Prinzessin.«
Aus den Lautsprechern an der Decke ertönt irgendein aktueller Charthit. Die Musik ist noch nicht laut, weil die Lautstärke erst dann richtig aufgedreht wird, wenn der Club am Abend seine Türen öffnet. Trotzdem ist sie laut genug, um mein ohnehin schlechtes Gehör weiter zu beeinträchtigen, sodass ich mich beim Reden auf Filips Mund konzentrieren und von seinen Lippen ablesen muss.
»… und wen zur Hölle interessiert das überhaupt?«, sagt er gerade. »Nimm das Mädchen mit nach Hause, gib ihr eine Kreditkarte und sag ihr, dass es kein Limit gibt. Sie wird ihre Tage mit Shoppingtouren und Besuchen in Schönheitssalons verbringen. Bei deinem Arbeitspensum wirst du sie wahrscheinlich sowieso kaum sehen.«
»Ich würde sie lieber gar nicht erst sehen.« Ich schüttle erneut den Kopf. »Kannst du dich noch an Tara mit zwanzig erinnern? Die ewigen Diskussionen? Wie sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hat, als ich ihr kein Geld für ein neues Auto geben wollte, weil sie es sich selbst verdienen sollte? Ich bin zu alt, um diesen Mist noch einmal durchzumachen. Schon gar nicht mit einer Ehefrau.«
»Fürs Geschäft muss man auch mal Opfer bringen.« Filip beugt sich vor. »Italiener nehmen Familienbande sehr ernst, Drago. Eine Heirat mit Arturos Schwester könnte dafür sorgen, dass sich die Cosa Nostra nicht mehr in unsere Waffengeschäfte einmischt. Diese Gelegenheit solltest du dir nicht entgehen lassen.«
Ich kneife mir in die Nasenwurzel. Denke ich gerade ernsthaft darüber nach, ein Mädchen zu heiraten, das meine Tochter sein könnte? Unser Edelsteinhandel und die anderen Nebengeschäfte generieren bereits ein beträchtliches Einkommen. Wenn man dann noch den zukünftigen Waffenhandel mit einbezieht, werden wir irgendwann deutlich mehr Geld haben, als wir über den Club waschen können. Wenn wir auch noch wieder in den Drogentransport einsteigen, führt das nur zu weiteren Komplikationen. Aber Filip hat recht. Ich kann diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen, und das hat nicht nur mit dem Geld zu tun. Die Arbeit ist das Einzige, was mich am Laufen hält. Je mehr Arbeit ich habe, desto leichter ist es für mich, den Tag zu überstehen. Es kommt also gar nicht in Frage, so eine günstige Gelegenheit auszuschlagen.
»Also gut.« Ich seufze. »Das Mädchen kommt heute Abend mit einer Freundin hierher. Nino Gambini wird bei ihnen sein. Sag den Männern an der Tür, sie sollen sie hereinlassen und dafür sorgen, dass sie dort drüben sitzen.« Ich zeige auf die Sitzecke auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Die, die in meiner direkten Sichtlinie liegt.
Filip folgt der Richtung, in die mein Finger zeigt, und räuspert sich dann. »Wir erwarten heute Abend irgendeinen IT-Mogul. Er hat genau diesen Tisch bereits vier Monate im Voraus gebucht.«
»Dann gib ihm einen anderen Tisch«, sage ich und winke dem Kellner. »Ich will mir dieses Mädchen erst mal ansehen, bevor ich entscheide, ob sie den ganzen Aufwand überhaupt wert ist.«
Kapitel 3
Sienna
»Wow.« Mein Blick schweift durch den kreisförmigen Raum und ich lasse den atemberaubenden Anblick vor mir auf mich einwirken.
Die halb privaten Sitznischen umgeben beinahe die gesamte Tanzfläche in der Mitte des luxuriösen Saals. Die einzelnen Sitzgruppen sind durch Milchglasscheiben, die in aufwendig verzierten Eisengestellen stecken, voneinander getrennt. Der separate VIP-Bereich besteht aus einer gemütlichen Sitzecke mit einem Ledersofa und zwei passenden Sesseln um einen niedrigen Glastisch herum. Neben jeder Glastrennwand steht ein Kellner in makellos weißem Hemd und schwarzer Hose bereit, um den Gästen in den ihnen zugewiesenen Sitznischen jeden noch so kleinen Wunsch zu erfüllen. Am anderen Ende des Raums befindet sich eine riesige halbrunde Bar, an der mehrere Barkeeper die Kunden bedienen, die sich vor der Theke versammelt haben. Etwa ein Dutzend Paare bewegt sich zu langsamen Klängen auf der Tanzfläche.
Ich finde es seltsam, dass weniger als hundert Leute hier sind. Ich gehe nicht oft tanzen, weil Arturo mich bis letztes Jahr nur in Lokale gehen ließ, die von Mitgliedern der Cosa Nostra geführt wurden. Und keiner von ihnen besaß einen richtigen Club. Mein Bruder gönnt mir erst seit kurzem ein wenig mehr Freiraum. Und das auch nur, weil ich ihm gesagt habe, dass ich durchdrehen würde, wenn er seine Helikopter-Elternschaft noch länger fortsetzt.
»Ich dachte, der Club wäre ein bisschen größer«, murmele ich.
»Bei einem Preis von fünfzehntausend pro Sitzgruppe am Abend kann man wohl kaum erwarten, dass Hunderte von Leuten hier feiern«, sagt Nino, während er Luna und mich hinter dem Host herführt, der uns zur letzten Sitzgruppe auf der linken Seite führt. Die einzige, die im Moment noch frei ist.
Beim Gehen werfe ich rasch einen Blick durch den Raum und stelle im Kopf ein paar schnelle Berechnungen an. Zwölf Nischen, fünfzehntausend pro Sitzgruppe. Das sind einhundertachtzigtausend pro Abend. Wenn der Club an fünf Abenden die Woche geöffnet ist, macht das bei zweiundfünfzig Wochen im Jahr sechsundvierzig Komma acht Millionen. Im Jahr. Heiliges Kanonenrohr!
»Also, du bist heute offenbar auf einer ganz speziellen Mission. So eine Art Blende sie alle, ohne Rücksicht auf Verluste?« Luna nickt zu meinem Outfit und lacht, was mich von meinen Berechnungen ablenkt.
»Was denn? Ich finde das noch harmlos.« Ich zucke mit den Schultern und setze mich auf das weiße Plüschsofa. Nino lässt sich auf dem Sessel links von mir nieder, während Luna neben mir Platz nimmt.
»Das sind ein paar tausend goldene Pailletten zu viel, um als harmlos durchzugehen, Sienna«, sagt sie und schnaubt. »Zumindest ist es nicht neongrün oder so.«
»Ich würde niemals einen grünen Jumpsuit anziehen. Darin würde ich ja aussehen wie eine Heuschrecke.«
»Gott sei’s getrommelt und gepfiffen. Auch für seine kleinen Gefälligkeiten.« Luna verdreht die Augen.
»Aber ich habe mir letzte Woche eine gelbe Kunstpelzjacke gekauft.« Ich muss schon grinsen, wenn ich nur daran denke. »Ein echter Hingucker.«
Sie zieht eine Augenbraue hoch. »Wag es ja nicht, das Ding zu tragen, wenn du mit mir irgendwo hingehst. Ich denke immer noch mit Schrecken daran zurück, wie du auf Valerias Geburtstagsparty in diesem roten Federkleid aufgetaucht bist.«
»Das Leben ist zu kurz für langweilige Klamotten.« Lachend lehne ich mich zurück und beobachte die Menschenmenge.
Luna versteht das nicht. Niemand versteht es. Die Leute sehen meine verrückten Outfits und mein fröhliches Lächeln und gehen davon aus, dass ich ein super glücklicher Mensch sein muss, der nicht einmal die geringsten Sorgen hat. Und ich achte immer darauf, sie in ihren Vermutungen auch zu bestätigen.
Als meine Eltern starben, wollte ich mit niemandem reden, aber alle fragten mich ständig, ob es mir gut ginge. Arturo. Unsere Tante, die kurz darauf zu uns zog, um auf uns aufzupassen. Die Nachbarn. Sogar Asya. Aber mir ging es nicht gut. Wie hätte es mir auch gut gehen sollen, wenn ich jeden Morgen mit dem Wissen aufwachte, dass es meine Schuld war, dass unsere Mutter und unser Vater gestorben waren? Wenn ich nicht darauf bestanden hätte, dass sie mit uns zu der Geburtstagsparty kommen, wären sie an diesem Abend gar nicht zur Arbeit gegangen. Und jedes Mal, wenn mich jemand fragte, wie es mir ginge, wurde ich wieder an diese Tatsache erinnert. Ich wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden, aber alle bedrängten mich ständig, bis ich es irgendwann nicht mehr aushielt. Also fing ich an, so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung. Ich scherzte ständig und lachte fröhlich und tat so, als wäre mein Leben einfach nur perfekt. Erst da hörten die Leute endlich auf, Fragen zu stellen.
Im Laufe der Jahre bin ich nach und nach immer mehr zu dieser Person geworden, die ich selbst erschaffen habe. Ich habe Dinge, die mich beunruhigten, einfach beiseitegeschoben, sie tief in mir vergraben und nie wieder an die Oberfläche dringen lassen. Sorgen. Ängste. Unsicherheiten. Alles ordentlich verschnürt und weggepackt. Wenn ich nicht an die Probleme denke, verschwinden sie auch wieder. Das gefiel mir viel besser als die Alternative, aber seit meine Schwester mit ihrem Mann nach Chicago gezogen ist, fühle ich mich so … verloren. Wie ein Passagier, der allein auf einem verlassenen Bahnsteig steht und zusieht, wie die Rücklichter des letzten Zuges am Horizont verschwinden.
Ich verstehe nicht, warum ich mich so fühle. Mein Bruder und meine Schwester lieben mich, das weiß ich. Sie würden alles für mich tun. Trotzdem konnte ich mich ihnen gegenüber nie wirklich öffnen. Weil ich eine irrationale Angst verspürte, dass sie mich nicht mehr lieben würden, sobald sie merkten, dass ich doch nicht immer nur der strahlende Sonnenschein bin.
»Hey!« Luna stößt mich mit dem Ellbogen an. »Alles in Ordnung?«
Ich blinzle meine Gedanken weg und lache. »Natürlich. Was sollte denn nicht in Ordnung sein? Ach, habe ich dir schon von der neuen Geschichte erzählt, die ich gerade schreibe?«
»Die über die im Katalog bestellte Braut?«
»Nein. Ich bin momentan in meiner Gestaltwandler-Romance-Phase. Hör zu …«
Drago
Ich beobachte das Trio in der Sitzgruppe direkt gegenüber von meiner. Der Securitychef des Don, Nino, hockt mit über die Rückenlehne der Sitzbank geworfenen Armen da und sieht tierisch gelangweilt aus. Wir haben uns ein paar Mal gesehen, aber nie lange genug miteinander gesprochen, als dass ich mir eine Meinung über ihn hätte bilden können. Mein Blick wandert weiter und bleibt an den beiden Mädchen hängen, die vor Nino auf dem Sofa sitzen und kichern. Eine von ihnen hat ein schwarzes Cocktailkleid an und trägt ihr blondes Haar offen, jede einzelne Strähne ist aalglatt und sitzt akkurat an ihrem Platz. Kultiviert. Elegant. Das ist wahrscheinlich die Schwester von Ajellos Stellvertreter. Jedenfalls sieht sie danach aus. Ich sollte mich also wahrscheinlich auf sie konzentrieren, aber meine Augen werden von dem Mädchen rechts von der Blondine angezogen.
Ich habe sie bereits bemerkt, als sie den Club betrat, ebenso wie der Rest der Leute. Insbesondere die Männer. Eine Frau in einem glitzernden goldenen Jumpsuit, der bei jeder Bewegung funkelnd das Licht reflektiert, ist kaum zu übersehen. Der Overall schmiegt sich eng an ihren perfekten kleinen Körper und ist mit einem Neckholder zusammengebunden, sodass Rücken und Schultern frei bleiben. Er ist lächerlich und absolut unangemessen für die strenge Kleiderordnung im Naos. Wäre sie nicht mit Arturos Schwester zusammen hierhergekommen, hätten meine Türsteher sie niemals eingelassen.
Ich lasse meinen Blick von dem tiefen V-Ausschnitt auf der Vorderseite des goldenen Monstrums zu ihrem elfenhaften Gesicht schweifen. Hohe Wangenknochen. Eine winzige, kesse Nase. Und ein ganz entzückender Mund, der sich gerade zu einem Lächeln verzieht, als sie ihrer Freundin etwas ins Ohr flüstert. Ich bin zu weit weg, um von ihren Lippen ablesen zu können, daher verlasse ich meine Sitzgruppe und gehe hinter die Bar, vorbei an den Barkeepern, die alle damit beschäftigt sind, Drinks einzuschenken. Es gibt einen bestimmten uneinsehbaren Platz hier, der mir gut gefällt. Direkt neben der großen Säule, in der die ganze Elektronik verborgen ist. Ich lehne meine Schulter an die Wand und konzentriere mich auf die glitzernden Lippen des Mädchens.
»Sie sind füreinander bestimmt, aber er weist sie wegen einer anderen Frau ab. Sie beschließt, aus dem Rudel auszureißen, kann sich jedoch nicht in ihre Wolfsgestalt zurück verwandeln, daher …«
Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Rudel? In einen Wolf verwandeln? Trotz des gedämpften Lichts im Club ist die Sitzecke durch die Lampe neben dem Sofa ausreichend beleuchtet, sodass ich mir ziemlich sicher bin, richtig von ihren Lippen abgelesen zu haben. Das glitzernde Mädchen streckt die Hand aus, um sich eine dunkelbraune Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen, und steckt sie hinter ihrem Ohr fest. Ihre Mähne ist zu zwei Zöpfen geflochten, die am Scheitel beginnen und dann seitlich an ihrem Kopf entlang nach unten verlaufen. Jeder Zopf ist mit zahlreichen kleinen Goldringen verziert. Neben all den Frauen in Abend- oder Cocktailkleidern, die ihre Haare perfekt und stilvoll frisiert haben, wirkt sie völlig fehl am Platz. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich nicht aufhören kann, sie anzusehen.
Jemand tippt mir auf die Schulter. Ich drehe mich um und sehe Filip hinter mir stehen, der in die gleiche Richtung schaut wie ich.