Beautiful Beast - Neva Altaj - E-Book + Hörbuch

Beautiful Beast Hörbuch

Neva Altaj

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Beschreibung

Rafael In diesem Leben gibt es keine Märchen. Die Schöne wird sich nie in das Biest verlieben. Aber dieses Biest hat nicht vor, sie gehen zu lassen. Meine süße kleine Hackerin lässt sich nicht mit Geld beeindrucken. Nein, sie wird alles tun, was nötig ist, um ihre Familie zu retten. Vasilisa Ich muss bleiben und für ihn arbeiten, sonst werden meine Liebsten seinem Zorn ausgesetzt. Allein sein Name ruft Furcht und Schrecken hervor. Doch mein Zittern hat nichts mit Angst zu tun. Seine Narben sorgen dafür, dass die Menschen sich entsetzt abwenden. Aber meine Augen wollen nirgendwo anders hinsehen.

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Zeit:11 Std. 49 min

Veröffentlichungsjahr: 2025

Sprecher:Lucia KaufmannDaniel Henry

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Anmerkungen der Autorin
Glossar
Hinweis
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Danksagung

Neva Altaj

Beautiful Beast

Das Biest

(Mafia Legacy – Perfectly Imperfect)

Übersetzt von Alexandra Gentara

BEAUTIFUL Beast – Das Biest

© 2025 VAJONA Verlag GmbH

Copyright der Originalausgabe © 2024. Beautiful Beast by Neva Altaj

Übersetzung: Alexandra Gentara

Lektorat der Übersetzung: Anne Masur

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »Beautiful Beast«.

Umschlaggestaltung: Deranged Doctor mit Anpassungen durch den VAJONA Verlag

Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz

VAJONA Verlag GmbH

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

Teil der SCHÖCHE Verlagsgruppe GmbH

Für alle, die »Die Schöne und das Biest« lieben.

Ich hoffe, ihr habt viel Spaß mit Vasilisa und Rafael.

Und an meine IG-Follower: Ja, auch Romans Perspektive taucht im Buch auf!

Anmerkungen der Autorin

Unsere Welt ist ein wundersamer Ort, der von einer Vielzahl von Menschen, Kulturen und Traditionen bevölkert wird. Egal, wie unterschiedlich wir auch sein mögen, es gibt einen gemeinsamen Nenner, der uns miteinander verbindet – wir alle sind ein Teil davon. Als Schriftstellerin habe ich die Möglichkeit, meinen Horizont zu erweitern, auch wenn ich mich dabei nicht allzu weit von meinem Schreibtisch und Laptop entfernen muss.

Für meine weit verstreuten Leser, die es vielleicht nicht wissen, habe ich ein paar kulturelle Anmerkungen eingefügt, die im Laufe dieses Buches und dieser Reihe auftauchen.

Sizilien: Lage und Sprache

Sizilien ist eine von fünf autonomen Regionen Italiens. Die lokale Regierung verfügt über Verwaltungsbefugnisse, die den Schutz kultureller Unterschiede und sprachlicher Minderheiten ermöglichen. Sizilien ist jedoch ein Teil Italiens und kein unabhängiges Land.

Die Region ist die größte und bevölkerungsreichste Insel im Mittelmeer und liegt südlich der italienischen Halbinsel. Obwohl Sizilien einen eigenen Dialekt (Sizilianisch) hat und viele Menschen zweisprachig aufwachsen, ist die Amtssprache Italienisch, genau wie auf dem italienischen Festland.

Daher sprechen die Figuren in diesem Buch Italienisch.

Russische Namen: Vatername, Familienname und Diminutiv

Russische Namen bestehen aus drei Teilen: Vorname, Mittelname (Vatername) und Nachname (Familienname). Ein Vatername leitet sich vom Namen des Vaters (oder in bestimmten Fällen eines anderen Vorfahren väterlicherseits) ab, wobei ein Suffix hinzugefügt wird. Einige Leser sind vielleicht eher mit einer ähnlichen kulturellen Praxis vertraut, bei der eine »Sohn von«-Referenz für Familiennamen verwendet wird (zum Beispiel Tomson = »Sohn von Tom«).

Im russischen Patronym wird die Endung des Namens geändert, um das Geschlecht des Namensträgers anzuzeigen. Bei Männern werden die Suffixe »evich« oder »ovich« verwendet. Bei Frauen sind dies »evna« oder »ovna«. Zum Beispiel Vasilisa Romanovna Petrova (Vasilisa, »Tochter von Roman«, Petrova).

Es sollte auch beachtet werden, dass Russen häufig kurze (»intime«) Formen von Namen verwenden (zum Beispiel wird Vasilisa zu Vasya abgekürzt).

Glossar

Hinweis: Wenn es um Beleidigungen in anderen Sprachen als Englisch geht (Italienisch und Russisch), ist die wörtliche Bedeutung oftmals sehr vulgär. Doch der Ausdruck würde übersetzt seine Bedeutung verlieren. Daher werden entsprechende Ausdrücke verwendet, um den Kontext zu erhalten.

Italienische Worte und Sätze:

Vespetta – kleine Wespe (Verniedlichungsform)

Cumpari – Pate

Signore/Signor – Sir. Das »e« am Ende wird ausgelassen, wenn es in Kombination mit einem Namen verwendet wird (zum Beispiel Signor de Santi, aber: Ja, Signore.

Vuole provare del prosciutto? – Möchtest du den Schinken probieren?

Che cazzo! – Was zur Hölle?

Stai zitto! – Halt’s Maul; Sei still.

Chi è quella? – Wer ist sie?

Sbrigati, idiota. Ho bisogno di quella vernice. – Beeil dich, du Idiot. Ich brauche diese Farbe.

Sei la ragazza di Raffaello? – Bist du Raffaellos Freundin?

Pronto – Fertig.

Cosa è successo? – Was ist passiert?

Merda. Venti minuti. – Mist. Zwanzig Minuten.

Buonasera, signorina. – Guten Abend, Miss.

Non toccarla. Lei è mia. Capito? – Fass sie nicht an. Sie gehört mir. Verstanden?

Sì. Ho capito. Mi dispiace molto. – Ja. Ich habe verstanden. Tut mir sehr leid.

Potrei ucciderti per questo. – Ich könnte dich dafür töten.

Dice che è urgente. – Er sagt, es sei dringend.

Ma che fai, stronzo?! – Was machst du da, du Arschloch?

Vaffanculo! Sei cieco? Madonna santa! – Verpiss dich! Bist du blind? Heilige Mutter Gottes.

Coglione! Mangia merda e crepa, porca puttana! – Du Idiot! Friss Scheiße und stirb, du Hurensohn!

Testa di cazzo. – Du Dickschädel.

Tutto bene? – Ist alles gut?

La mia principessa russa. – Meine russische Prinzessin.

Non ti lascerò mai andare. – Ich werde dich nie wieder gehen lassen.

Sei pronto? – Bist du fertig?

Si. Iniziamo. – Ja. Lass uns gehen.

Vi dichiaro marito e moglie. – Hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Frau.

Farei qualsiasi cosa per te. Perfino lasciarti andare. – Ich würde alles für dich tun. Ich würde dich sogar gehen lassen.

Russische Worte und Ausdrücke

Cволочь – Abschaum

Придурок – Vollidiot

Kакой ужасный беспорядок. – Was für eine verfickte Scheiße.

Mне он нужен живым, Сергей. Понимаешь? – Ich brauche ihn lebend, Sergei. Hast du das verstanden?

Hinweis

Bitte beachtet, dass dieses Buch Inhalte umfasst, die manche Leser als verstörend empfinden könnten, wie zum Beispiel die Erwähnung des Todes eines engen Familienangehörigen sowie drastische Beschreibungen von Gewalt, Folter und Blut.

Zwanzig Jahre zuvor

Rafael, neunzehn Jahre alt

»Verstanden«, sage ich ins Handy.

Einen Moment später verlässt ein als Hausmeister verkleideter Mann das exklusive Antiquitäten- und Juweliergeschäft am anderen Ende des langen Ganges und eilt auf eine Tür mit Notausgangsschild zu. Trotz der tief ins Gesicht gezogenen Baseballkappe hält Jemin den Kopf gesenkt und das Handy fest an sein Ohr gepresst, um sein Gesicht vor den zahlreichen Überwachungskameras zu verbergen. Der Typ ist vorsichtig, obwohl Endri Dushku, der Anführer der albanischen Mafia, einem Mann im Sicherheitsbüro des Einkaufszentrums eine hübsche Summe Geld dafür gezahlt hat, die Videoübertragung für zehn Minuten lahmzulegen.

In dem Moment, als Jemin aus dem Blickfeld verschwindet, betrete ich die Treppe, die nur für Mitarbeiter zugänglich ist. »Ich komm runter.«

»Nein«, befiehlt die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Endri will ein Video von der Explosion haben. Ich habe den Timer auf fünf Minuten gestellt, also mach deine Kamera bereit. Ich warte in der Tiefgarage, bis du fertig bist.«

Ich schiebe meinen Ärmel hoch und schaue auf meine Armbanduhr. Sie ist schon alt, das Glas ist zerkratzt und das Lederarmband abgenutzt. Abgesehen von der Kleidung, die ich am Leib getragen habe, war sie der einzige persönliche Gegenstand, den ich bei mir hatte, als mein Bruder und ich aus Sizilien geflohen sind.

»Na schön«, brumme ich ins Telefon und unterbreche die Verbindung.

Es ärgert mich maßlos, Befehle von einem so arroganten Arschloch wie Jemin auszuführen, aber dieser ganze Mist wird nach dem heutigen Auftrag auch endlich vorbei sein. Die Vereinbarung, die ich mit dem Anführer der albanischen Mafia getroffen hatte, läuft danach nämlich aus.

Gestern hat mir Dushku zu meiner großen Überraschung eine reguläre Position im Clan der Albaner angeboten, mit den üblichen Vorteilen. Tatsächlich war ich kurzzeitig versucht, zuzustimmen. Es würde Sicherheit für uns bedeuten, und ich hätte auch keinen Mangel an Geld mehr. Aber dafür auch keinen Respekt. Ich würde für immer der sizilianische Abschaum bleiben, den sie großmütig in ihren Clan aufgenommen hatten. Daher habe ich das Angebot höflich abgelehnt.

In der chaotischen und gewalttätigen Welt des organisierten Verbrechens werden nur sehr wenige Werte hochgehalten. Allen voran der, dass man immer sein Wort hält. Und auch Endri Dushku steht zu dem, was er versprochen hat. Nach dem heutigen Abend werde ich ein freier Mann sein. Mit der Erfahrung und den Untergrundverbindungen, die ich während meiner Arbeit für die Albaner gepflegt habe, kann ich zukünftig locker meinen Lebensunterhalt verdienen und meine Ziele erreichen. Ich habe meinem Bruder versprochen, dass wir eines Tages nach Hause zurückkehren werden. Und auch ich halte mein Wort.

Ich muss nur noch diesen einen allerletzten Job erledigen.

Nachdem ich die Tür zum Treppenhaus aufgestoßen habe, behalte ich die Sekundenzeiger an meiner Armbanduhr im Auge. Das leise Ticken ist das einzige Geräusch, das die Stille durchbricht und von den Betonwänden widerhallt wie ein Flüstern in einer Kathedrale mit sehr hohen Decken. Das Einkaufszentrum öffnet erst in ein paar Stunden, daher ist kaum jemand unterwegs. Die Mitarbeiter der meisten Geschäfte werden nicht so bald eintreffen, und alle anderen versammeln sich an den öffentlichen Orten wie dem Gastronomiebereich. Dieses Ende des Gebäudekomplexes jedoch ist menschenleer. Die perfekte Voraussetzung also, um Sprengstoff in einem Geschäft mit altem Schmuck und lauter glänzendem, zerbrechlichem Zeug zu platzieren, für das sich niemand, der in diesem Jahrhundert geboren wurde, interessiert. Der Ladenbesitzer gehört zur älteren Generation und hätte es daher besser wissen und den »Schutz« des albanischen Clans nicht ablehnen sollen. Hätte er sich nicht geweigert, das Schutzgeld zu bezahlen, würde Dushku dem Kerl keine Lektion erteilen, die mit einem lauten Knall beginnt. Die Bombe in dem Laden wird das verdammte Ding dem Erdboden gleichmachen und all die wertvollen Sammlerstücke zerstören, die in der Vielzahl von Glasvitrinen ausgestellt sind.

Ich bereite gerade mein Handy für die Videoaufnahme vor, als plötzlich das fröhliche Lachen eines Kindes durch die Gänge des Einkaufszentrums hallt. Mein Körper erstarrt. An diesem Ort sollte jetzt gerade niemand sein.

Und schon gar kein Kind.

»Ich verstehe nicht, warum du die arme Frau dazu nötigen musstest, uns vor der offiziellen Öffnungszeit zu helfen.« Eine weibliche Stimme nähert sich. »Wir hätten das Kleid doch auch später abholen können.«

»Ich hatte keine Lust, mich mit den Menschenmassen hier drin herumzuschlagen«, antwortet ein Mann, während das Getrippel kleiner Füße näher kommt. »Baby! Komm wieder her!«

»Ach, lass sie ruhig.« Wieder die Frauenstimme. »Sie liebt diese Kristallblumen im Schaufenster bei dem Antiquitätenhändler so sehr. Es ist sowieso noch kein Mensch da, und wir sehen sie ja von hier aus.«

Meine Hand umklammert den Türrahmen so fest, dass das Holz splittert. Ein ohrenbetäubender Knall dröhnt durch meinen Kopf – mein Herz hämmert so verdammt laut, dass es mit gewaltigem Donner konkurrieren könnte, während mein Gehirn die ganze Situation noch verarbeitet. Es bleibt nicht mehr genug Zeit, um Jemin anzurufen und ihn zu bitten, den Timer zu deaktivieren. Selbst wenn ich es täte, würde er wahrscheinlich nicht auf mich hören. Kollateralschäden haben ihn noch nie interessiert.

Ein fröhliches Kichern hallt durch den leeren Raum, als ein kleines Mädchen, höchstens drei Jahre alt, am Treppenhaus vorbeiläuft. Direkt auf die beleuchtete Auslage des Antiquitätengeschäfts zu. Des Ladens, der jeden Moment in die Luft fliegen wird, sobald der Sprengsatz explodiert.

Ich denke nicht weiter nach – und renne einfach los.

Adrenalin schießt durch meine Adern, als ich dem Kind nachlaufe, das zu diesem Zeitpunkt schon auf halber Strecke zum Geschäft ist und vor Freude quietscht. Sie hebt die Arme und streckt sie nach den glitzernden Kristallblumen aus, die unter den Strahlern im Schaufenster ausgestellt sind. Keine fünf Meter trennen uns noch voneinander.

Irgendwo hinter mir rufen zwei Stimmen – die ihrer Eltern. Wahrscheinlich rasten sie gerade aus, weil ein Fremder auf ihre kleine Tochter zustürzt, aber ich habe keine Zeit für Erklärungen. Der Sprengsatz kann jeden Moment hochgehen.

»Stopp!«, brülle ich aus voller Kehle.

Das Mädchen bleibt stehen.

Noch drei Meter.

Sie dreht sich um, und unsere Blicke begegnen sich. Zu spät. Ich werde zu spät bei ihr sein, um sie rechtzeitig aus der Gefahrenzone zu bringen.

Ein halber Meter.

Ich nehme das Mädchen in meine Arme, genau in dem Moment, als die laute Detonation die Luft zerreißt.

Schmerz durchzuckt mein Gesicht und meine Hände, als zahlreiche Glassplitter auf mich einprasseln. Das Gefühl ist so überwältigend, dass meine Lunge keinen Sauerstoff mehr bekommt. Eine gewaltige Rauch- und Staubwolke wirbelt um mich herum, als wäre ich in einem heftigen Wirbelsturm irgendwo in den dunklen Tiefen der Hölle gefangen. Meine Arme zittern, aber ich drücke das kleine Mädchen weiter an meine Brust, schütze ihren Kopf mit meinem Kinn und ihren Rücken mit meinen Armen.

Bitte, lieber Gott, lass ihr nichts passiert sein.

Alles ging so schnell, dass ich nicht einmal die Chance hatte, mich umzudrehen, geschweige denn, sie in Sicherheit zu bringen. Aber sie ist so winzig, dass mein Körper sie fast vollständig umschließt. Zwischen dem Klingeln in meinem Kopf und dem Dröhnen des Feuer- und Sicherheitsalarms kann ich sie nicht hören – kein angsterfülltes Wimmern, nicht einmal ein zittriger Atemzug. Aber ich höre das Trampeln rennender Füße und die herzzerreißenden Schreie der Frau.

Ein Schauer läuft mir über den Rücken, und mein rechtes Bein knickt unter mir weg, bis mein Knie den Boden berührt. Der Schmerz ist so stark, dass es mit jedem Atemzug schwieriger wird, genug Luft in meine Lunge zu bekommen. Ich habe nicht mehr genug Kraft, um mich aufrecht zu halten. Das Einzige, worauf ich mich konzentrieren kann, ist, das Mädchen an meine Brust zu pressen. Ich führe meine Hand an ihre Wange und lasse mich seitlich mit ihr auf den Boden fallen. Sofort durchzuckt ein weiterer Schmerz mein Gesicht, als ich auf der mit Glassplittern bedeckten Oberfläche aufschlage. Scharfe Splitter durchbohren meinen Handrücken, der immer noch die Wange des Mädchens umfasst und sie von den gefährlichen Scherben fernhält.

Seit der Explosion können nicht mehr als ein paar Sekunden vergangen sein, aber es kommt mir vor, als wäre es bereits Stunden her. Meine Sicht verschwimmt, alles um mich herum löst sich in einen nebligen Schleier auf. Alles, bis auf ein Paar großer, dunkler Augen, die wie polierter Onyx durch die Strähnen von pechschwarzem Haar leuchten. Blut und Schmutz beflecken die Wangen und die Stirn des Mädchens, aber sie weint nicht. Sie klammert sich nur an mein Hemd und starrt mich an. Als wäre sie sauer, weil ich sie beim Spielen gestört habe. Wenn ich die Kraft dazu hätte, müsste ich beinahe darüber lachen.

Aber das Kind ist unverletzt.

Ich bin nicht zum Kindermörder geworden.

Ich bin immer noch nur ein ganz gewöhnlicher Mörder.

Um mich herum verblasst alles. Spielt da jemand an der Beleuchtung herum? Das Einzige, was ich noch sehen kann, sind die dunklen Onyxaugen des Mädchens.

Und dann sind auch die plötzlich verschwunden.

Zwanzig Jahre später

Gegenwart

Entführt zu werden, ist scheiße.

Aber mit voller Blase entführt zu werden, ist richtig scheiße.

»Ich muss mal pinkeln«, murmele ich.

Der Schwachkopf mir gegenüber schaut von seinem Handy auf und grinst mich an. Es hat allerdings nicht die bedrohliche Wirkung, die er wohl beabsichtigt hat, denn sein Grinsen verwandelt sich rasch in eine schmerzverzerrte Grimasse. Er drückt seine pummelige Hand an sein Kinn und betastet den großen roten Bluterguss, der sich auf seiner hässlichen Visage ausbreitet.

»Nein«, knurrt er und widmet sich wieder seinem Gerät, ohne mich weiter zu beachten. Sieht so aus, als würde er immer noch darauf herumkauen, dass ich ihn mit meinem Rucksack geschlagen habe.

Das leise Brummen der Flugzeugmotoren konkurriert mit den Geräuschen eines Fußballspiels, das aus dem Lautsprecher seines Handys dröhnt. Ich falte die Hände, um sie ruhig zu halten. Jetzt hysterisch zu werden, würde absolut nichts bringen und meine Chance auf eine Flucht wahrscheinlich noch weiter schmälern. Ich muss ruhig bleiben. Zumindest so ruhig wie möglich, in Anbetracht meiner momentanen Lage.

Das ist jedoch leichter gesagt als getan.

Mein Blick gleitet über die schicke Innenausstattung des Flugzeugs. Vier große Liegesitze auf beiden Seiten des Mittelgangs dominieren den Raum. Im vorderen Teil der Kabine stehen sich zwei gepolsterte Sofas gegenüber. Die gesamte Einrichtung besteht aus makellosem, beigefarbenem Leder und exotischen Hölzern. Ich bin schon öfter in Privatjets geflogen, aber dieser hier gehört noch mal zu einer ganz anderen Dimension der luxuriösen Extravaganz.

Was die Rahmenbedingungen meiner Entführung angeht, könnten diese also deutlich schlimmer sein, aber die hübsche Umgebung lindert meine wachsende Panik nicht. Schwachkopf Nummer zwei liegt auf dem Sofa auf der linken Seite und schaut sich auf dem großen Fernseher an der Trennwand eine Reisedoku an – ausgerechnet!

Mein Herz schlägt weiterhin im Stakkato, genau wie vorhin, als diese beiden Schwachköpfe mich von der Straße weggeschnappt und in ihren Van gestopft haben. Die Mistkerle haben mir nicht verraten, warum sie mich überhaupt ins Visier genommen hatten oder wohin sie mich bringen wollen. Wir sind eine Weile gefahren, bis zu einem kleinen Privatflughafen außerhalb von Chicago. Das Flugzeug wartete bereits auf der Rollbahn, als wir vorgefahren kamen.

Wie lange fliegen wir jetzt schon? Eine Stunde? Zwei? Zehn? Ich bin mir nicht sicher, weil sie mir einen ätzend stinkenden Lappen über Mund und Nase gelegt haben, sobald wir das Flugzeug betreten haben. Ich schätze, ich hätte dem reiseführerliebenden Schwachkopf auf der Treppe nicht in die Eier treten sollen. Offenbar hat ihm das nicht gerade gut gefallen.

Ich wende mich wieder dem Mistkerl mir gegenüber zu. Er tut immer noch so, als wäre er in das Spiel auf seinem Handy vertieft, aber er glotzt mich heimlich an, wenn er glaubt, dass ich es nicht bemerke. Verdammter Perverser.

»Hör zu, wenn du mich nicht zur Toilette gehen lässt, dann pinkel ich eben hier.« Ich spreize meine Beine so weit, wie es meine gefesselten Knöchel zulassen. »Ich bin mir allerdings nicht ganz sicher, wie gut das schicke Leder das verträgt.«

»Großer Gott!« Er springt von seinem Sitz auf, packt meinen Arm und zieht mich zum Stehen hoch. »Hank, ich bringe die Durchgeknallte mal eben zur Toilette.«

»Pass auf ihre Hände auf, sonst holst du dir am Ende noch einen blauen Fleck«, knurrt Hank vom Sofa aus und richtet seinen Schwanz in der Hose, als hätte er Angst, ihn verloren zu haben.

»Mit gefesselten Beinen kann ich aber nicht laufen, du Idiot!«, schnauze ich, als der Mann mich den schmalen Gang zwischen den Sitzen entlangzieht. »Und die Handschellen solltest du mir auch lieber abnehmen.«

»Hüpf einfach. Und deine Hände werde ich ganz sicher nicht befreien.« Er greift nach den Kettengliedern zwischen meinen Handgelenken und zieht daran.

Ich schreie vor Schmerz auf. Die Haut an meinen Handgelenken ist bereits wund, weil er mich beim Einsteigen die letzten paar Stufen hochgezerrt hat. Das war, nachdem ich mir die Kronjuwelen seines Kumpels aus nächster Nähe angesehen hatte. Meine Augen brennen vor lauter Tränen, die unbedingt fließen wollen, aber ich blinzle mehrmals und halte sie mit purer Willenskraft zurück. Schlurfend und hüpfend arbeite ich mich zwischen den Sitzen nach hinten durch, um wegen der Grobheit des Schwachkopfs nicht aufs Gesicht zu fallen. Als wir den hinteren Teil des Flugzeugs erreichen, öffnet er die Toilettentür und schiebt mich hinein.

»Du hast fünf Minuten«, knurrt er und schlägt die Tür zu.

Wie der Rest des Flugzeugs ist auch die Toilette luxuriös. Kein simples Edelstahlspülbecken, sondern dunkelbraune Holzverkleidungen und beigefarbene Lederpolster. In der Ecke steht sogar eine kleine gepolsterte Sitzbank. Der elegant aussehende Waschtisch und die Toilette befinden sich auf der gegenüberliegenden Seite. Ich brauche vier Hüpfer, um sie zu erreichen.

Dann erledige ich mein Geschäft so schnell, wie es meine gefesselten Hände erlauben, und sehe mich anschließend um, während ich versuche, meine Nerven zu beruhigen. Was nicht wirklich gut funktioniert. Ich habe ein mulmiges Gefühl, als müsste ich mich jeden Moment übergeben, und das Innere dieses luxuriösen Raums scheint sich plötzlich um mich herum zu drehen. Meine Hände zittern, teilweise vor Schmerz, aber hauptsächlich vor Angst.

Ich habe in meinem Leben schon einige stressige Situationen erlebt. Eine Schießerei, als ich vier Jahre alt war. Zwei kleine Brände, als unser Koch versehentlich die Küche in Brand gesetzt hat, während er französische Rezepte ausprobierte. Sogar ein versuchter Überfall auf unser Haus, als mein Vater vor einigen Jahren mit einer rivalisierenden kriminellen Organisation im Krieg war. Aber bisher gab es noch keine Entführung. Vielleicht hätte ich damit rechnen müssen, da mein Dad immerhin das Oberhaupt der Chicagoer Bratva ist.

Schon als ich am helllichten Tag von der Straße weggeschnappt wurde, war ich mir sicher, dass es mit meinem Vater zu tun hatte. Die Entführung der Tochter des Pakhan kann sehr viel Geld einbringen – falls der Vollidiot lange genug überlebt, um es überhaupt zu Gesicht zu bekommen. Aber hier scheint es meiner Meinung nach nicht darum zu gehen, mit meiner Entführung Geld zu verdienen. Angesichts dessen, was ich bisher gesehen habe, muss mein Entführer selbst stinkreich sein. Geht es also um eine Mafiafehde? Rache für etwas, das mein Vater getan hat?

Peng!

»Bist du langsam fertig da drin?«, ertönt eine wütende Stimme von der anderen Seite der Tür.

»Ich brauche noch ein paar Minuten!«, rufe ich zurück und hocke mich hin, um den Schrank unter dem Waschbecken zu öffnen. »Es ist nicht gerade einfach, mit gefesselten Händen eine Jeans aufzuknöpfen.«

Er schnauzt eine Antwort, aber ich höre nicht hin, da ich zu sehr damit beschäftigt bin, den Schrankinhalt zu durchwühlen. Toilettenpapier. Handtücher. Seife. Und … eine Einwegzahnbürste.

»Damit kann ich arbeiten«, flüstere ich vor mich hin.

Ich reiße die Plastikfolie mit den Zähnen auf und schaffe es, mir die Bürste in den Ärmel zu stopfen. Dann gehe ich noch rasch den Rest der Vorräte durch.

Ein Schwamm. Handtücher. Kondome. Ernsthaft? Wer zur Hölle vögelt denn in einem Flugzeug? Kopfschüttelnd suche ich weiter. Zahnseide. Mm-hmm … Ich reiße eine gute Armlänge davon ab, wickle die beiden Enden um meine Finger und ziehe sie dann so weit wie möglich auseinander, um zu testen, wie stabil sie ist. Mein Onkel hat mir mal gezeigt, wie man jemanden mit einer Garrotte erwürgt, und –

Der beschissene Faden reißt schon beim zweiten Zug. Tja … das dürfte wohl eher nicht funktionieren. Ich lenke meine Aufmerksamkeit auf das untere Regal.

Reinigungsmittel, aber die Flaschen sind zu groß, um sie zu verstecken. Plastikhandschuhe. Und … ein Deospray. Für Männer. In Reisegröße. Perfekt.

Ich greife danach, richte mich auf und schiebe die kleine Dose in den Hosenbund meiner Jeans. Die Tür fliegt in dem Moment auf, als ich gerade mein übergroßes T-Shirt zurechtrücke und meine Beute verstecke.

»Bist du endlich fertig?«, fragt der Schwachkopf. Ich glaube, Hank hat den Trottel vorhin Vinny genannt.

»Ja.« Ich drücke auf die Toilettenspülung und wasche mir die Hände, während mich das ungeduldige Arschloch von der Tür aus begafft. Dämlicher Wichser.

Da ich keine andere Wahl habe, hüpfe ich aus dem Badezimmer. Die ganze Zeit über bohrt sich das Deo in meine Hüfte. Ich bin mir nicht sicher, welchen Schaden ich mit Deospray und Zahnbürste überhaupt anrichten kann, aber das werden wir ja sehen. Nach der Landung muss ich sofort versuchen, zu entkommen und irgendwo ein Telefon zu finden, sonst habe ich vielleicht nie wieder die Chance dazu.

Mein Dad hat überall in den USA Verbindungen. Er wird mich sofort abholen. Oder, falls wir gar nicht mehr in der Nähe von Chicago sind, wird Dad dafür sorgen, dass mich jemand abholt und an einen sicheren Ort bringt, bis er selbst kommen kann.

Und dann wird er diese Bastarde umbringen …

Hüpf.

… auf eine sehr …

Hüpf.

… sehr …

Hüpf.

… schmerzhafte Art und Weise.

»Wir sind da«, sagt Vinny etwa eine Stunde später. »Ich befreie jetzt deine Beine, aber wenn du noch mal einen Trick versuchst, wirst du es bitter bereuen.«

»Wo sind wir?«, frage ich kleinlaut und beschließe, die Taktik zu ändern. Vielleicht lässt ihre Wachsamkeit ja ein wenig nach, wenn sie glauben, dass ich aufgegeben habe?

Der Mistkerl ignoriert meine Frage. Er schneidet die Kabelbinder um meine Knöchel durch, packt mich am Oberarm und zieht mich zum Stehen hoch. »Bewegung.«

Ich gehe zwischen den Sitzen hindurch und die schmale Treppe vom Flugzeug zum Rollfeld hinunter, wobei Schwachkopf Nummer eins hinter mir und Schwachkopf Nummer zwei vor mir hergeht. Die frische Luft bringt eine leichte salzige Brise mit sich. Wir sind irgendwo in Küstennähe. Vielleicht in Florida? Es ist deutlich wärmer hier als in Chicago.

Der Schwachkopf, dessen Eier bereits Bekanntschaft mit meinem Knie gemacht haben – Hank –, bleibt am Fuß der Treppe stehen und mustert die unbefestigte Straße, die von der Landebahn wegführt. Ich sehe mich um und betrachte meine Umgebung. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen, und abgesehen von einem kleinen Gebäude an der Seite gibt es auch keine weitere Infrastruktur. Das ist gar kein richtiger Flughafen. Nur ein Flugplatz. Eine asphaltierte Landebahn. Gras. Und sanfte Hügel. Ich war noch nie in Florida, aber ich glaube, da sieht es anders aus.

Über mir ertönt der schrille Schrei eines Vogels. Ich hebe den Kopf und konzentriere mich auf die Quelle des Geräuschs. Es ist eine Möwe. Weil die Sonne hoch am Himmel steht, muss ich die Augen zusammenkneifen. Mittagszeit. Es kann aber gar nicht Mittag sein. Ich wurde doch am späten Nachmittag entführt.

»Guido ist zu spät«, sagt Vinny und stellt sich neben Hank, meinen Arm fest im Griff.

»Er kommt bestimmt gleich.« Hank zuckt mit den Schultern, greift in seine Tasche und holt eine Schachtel Zigaretten heraus.

Ich schiebe die Gedanken über die Tageszeit wieder beiseite und richte den Blick auf das brennende Feuerzeug in Hanks Hand. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Adrenalin schießt durch meine Adern, während ich auf die kleine Flamme starre. Das ist meine Chance. Aber ich brauche einen freien Arm.

»Kann ich auch eine haben?«, frage ich. »Bitte?«

Hank kneift die Augen zusammen. »Wie alt bist du? Dreizehn?«

Ich unterdrücke den Drang, ihm noch einmal in die Eier zu treten, und lächle stattdessen. So wie meine Mom bin ich zwar kleiner als die meisten Frauen, aber ich bin mir doch sehr sicher, dass das Arschloch die Wölbung meiner Brüste trotz des weiten T-Shirts deutlich sieht.

»Dreiundzwanzig.«

»Ja, klar«, grunzt Hank, nimmt eine Zigarette aus der Packung und bietet sie mir an.

»Darf ich mal?« Ich reiße meinen Arm aus Vinnys klammernden, wurstähnlichen Fingern.

Vinny schnaubt, lässt mich aber los.

Ich nehme die angebotene Zigarette, stecke sie zwischen meine Lippen und wehre ein paar Haarsträhnen ab, die mir der leichte Wind ins Gesicht weht. Unverkennbare Seeluft dringt in meine Nase, während ich die Hände langsam zum Hosenbund meiner Jeans bewege. Hank schnippt das Zippo erneut auf und streckt es mir entgegen.

Meine Lippen verzeihen sich zu einem zuckersüßen Lächeln. »Vielen Dank.«

Ich trete zurück, gleichzeitig zücke ich die Deo-Dose und drücke auf den Sprühknopf. Für den Bruchteil einer Sekunde umgibt mich ein frischer, männlicher Duft, aber im nächsten Moment erreicht der Sprühnebel auch schon die Flamme und der köstliche männliche Duft verwandelt sich in den Gestank von brennendem Stoff und verbrannter Haut, als mein provisorischer Flammenwerfer sein Ziel trifft.

Hank brüllt und stolpert rückwärts, weg von dem sengenden Feuer. Niemals hätte ich damit gerechnet, die Gelegenheit zu bekommen, diesen sehr speziellen Trick auszuprobieren, den mir Onkel Sergei mal gezeigt hat. Aber das Leben steckt eben voller Überraschungen.

Mein Triumph währt jedoch nicht lange. Ein stechender Schmerz durchfährt meine Kopfhaut, als Vinny in meine Haare greift. Ich schreie auf. Tränen schießen mir in die Augen, und für einen winzigen Moment überwältigt mich der Drang, einfach aufzugeben. Nein. Ganz sicher nicht.

Ich schiebe die Zahnbürste aus meinem Ärmel nach unten, bis in meine Hand. Dann greife ich mit meinen gefesselten Händen nach den Borsten am Ende und schwinge den Arm, um mit dem Stiel das linke Auge des Drecksacks zu treffen.

Der grobschlächtige Kerl ist so riesig, dass mein Schlag nur sein Augenlid streift und eine kleine Schramme an seinem Wangenknochen hinterlässt. Trotzdem schreit Vinny auf und lockert seinen Griff. In dem Moment, als ich frei bin, drehe ich mich auf dem Absatz um und fliehe das Rollfeld hinunter auf den Feldweg. Es ist eher ein schmaler Trampelpfad und keine richtige Straße, auf beiden Seiten von Olivenbäumen gesäumt. Ich bin noch immer benommen von der Scheiße, mit der sie mich betäubt haben, und weil ich so lange gefesselt war und meine Beine ganz taub sind, ist das Rennen eine echte Herausforderung. Zweimal stolpere ich, aber das Adrenalin, das durch meinen Blutkreislauf strömt, hält mich aufrecht. Dies ist wahrscheinlich meine einzige Chance, zu entkommen.

Ich bin bereits auf halbem Weg zu dem Feldweg, als plötzlich das tiefe Dröhnen eines Motors von den umliegenden Hügeln widerhallt. Eine Staubwolke steigt zwischen den Bäumen auf und ein Auto biegt rasant um die Kurve. Der schnittige weiße Sportwagen, der in dieser ländlichen Umgebung völlig fehl am Platz wirkt, nähert sich. Für den Bruchteil einer Sekunde zögere ich, da ich nicht weiß, ob die Person im Auto Freund oder Feind ist, aber ich habe keine andere Wahl und renne weiter darauf zu.

Ich schaffe nur ein paar Schritte, als mir die Luft wegbleibt, weil mich zwei Hände von hinten packen und von den Füßen reißen.

»Du dämliche Schlampe!«, knurrt Vinny dicht an meinem Ohr.

»Hilfe!«, schreie ich und strample mit den Beinen.

»Hör auf, verdammt noch mal!«

»Niemals!« Ich winde mich nach links und rechts, um mich zu befreien, aber er lockert seinen Griff nicht.

Das weiße Auto hält ein paar Meter von uns entfernt an. Die Fahrertür öffnet sich und ein blonder Mann Ende zwanzig steigt aus. Er trägt ausgeblichene Jeans und ein schlichtes weißes T-Shirt.

»Bitte, helfen Sie mir«, keuche ich und starre den Neuankömmling an.

Er wirft mir einen kurzen Blick zu, dann mustert er Vinny.

»Was ist das denn?«

Seine Stimme klingt rau und er hat einen leichten Akzent. Englisch ist offenbar nicht seine Muttersprache.

»Der Hacker.« Die geknurrte Antwort ertönt direkt hinter mir.

Was zur Hölle? Ich war mir sicher, dass ich wegen meines Vaters entführt wurde und nicht wegen meines kleinen Hobbys. Vielleicht wissen diese Typen nicht einmal, wer ich bin.

Die Augenbrauen des Jeans-Typen schnellen bis zu seinem Haaransatz hoch. Seine grünen Augen landen auf mir, scannen mich von Kopf bis Fuß und halten bei meinen wirren Haaren inne.

»Was für eine interessante Wendung.« Er sieht mir in die Augen. »Willkommen auf Sizilien, Miss.«

Zwei Wochen zuvor

De-Santi-Anwesen, in der Nähe von Taormina, Sizilien

»Tut mir leid, dass ich so früh anrufe, Boss«, sagt mein IT-Spezialist am anderen Ende der Leitung. »Aber es ist schon wieder passiert.«

Ich zucke zusammen und mein Schwanz rutscht aus meiner neuesten Eroberung. Sie liegt ausgestreckt vor mir auf dem Schreibtisch, ihr rotes Haar fällt über die Tischkante. Ich drücke das Telefon fest an mein Ohr. »Wie bitte?«

»Ich verstehe auch nicht, wie das passieren konnte«, fährt Mitch in leicht hysterischem Tonfall fort. »Wir haben alle Firewalls neu installiert und vier Leute haben eine ganze Nacht lang versucht, sie zu hacken. Aber es schien alles solide zu sein.«

»Es war aber verdammt noch mal nicht solide, wenn schon wieder jemand in unser System eingedrungen ist«, knurre ich.

»Rafael? Was ist denn los, Schatz?« Constanza schaut mich durch ihre gespreizten Beine hindurch an. Ihre Lippen sind zu einem koketten Lächeln geöffnet. Doch statt auf mein Gesicht sind ihre Augen auf die Stelle knapp oberhalb meines Schlüsselbeins gerichtet.

»Zieh dich an.« Ich drehe mich um und gehe durch mein Büro zur offenen Balkontür. »Was ist diesmal passiert, Mitch?«

»Es wurde ein Zahlungsauftrag erstellt für eine Überweisung von unserem Marketingkonto an einen Kinderkirchenchor in Seattle. Es waren aber nur zwanzig Dollar. Das ist doch höchstens eine kleine Unannehmlichkeit, oder?«

Meine Hand umklammert den Türrahmen. »Wir sind das größte Unternehmen für Personenschutz in diesem Teil der Erde, und seit Monaten hackt sich jemand in unsere Systeme und lässt uns wie Idioten dastehen. Hältst du das für eine kleine Unannehmlichkeit?«

»Ja … äh, ich meine, nein. Natürlich nicht.«

Mein Blick schweift über die Baumwipfel und das üppige Grün des Gartens bis zum Horizont, wo die frühe Morgensonne von der endlosen Weite des Meeres reflektiert wird. Weiter unten an der Küste liegen meine beiden Yachten in einem kleinen Hafen vor Anker und schaukeln auf den sanften Wellen.

Als Guido und ich vor fünfundzwanzig Jahren aus Sizilien geflohen sind, besaßen wir nicht die nötigen Papiere, um in die USA einzureisen. Daher hatte ich keine Möglichkeit, einen legalen Job anzunehmen. Schon gar nicht als Minderjähriger. Also wurde ich zum Taschendieb, konnte damit aber kaum meinen Bruder ernähren. Mir blieb daher nichts anderes übrig, als mich an den örtlichen Clan der Albaner zu wenden. Sie erklärten sich bereit, meinen Bruder und mich bei sich aufzunehmen. Aber sie stellten auch sehr klare Bedingungen. Sie würden uns die notwendigen Papiere, ein Dach über dem Kopf und Essen besorgen, damit wir nicht länger nach Essensresten suchen mussten. Im Gegenzug musste ich mich für die nächsten fünf Jahre ihren Anweisungen fügen, ohne Fragen zu stellen. Als ich Dushkus Angebot annahm, hatte ich schon seit fast zwei Tagen nichts mehr gegessen. Alles, was ich »verdiente«, floss in die Miete für das Zimmer in der schäbigen Hütte, die uns als Zuhause diente. Vor die Wahl gestellt, entweder zu verhungern oder einen Deal mit dem Teufel einzugehen, entschied ich mich also für Letzteres.

Zuerst bekam ich nur Handlangerjobs zugeteilt – ich überbrachte wichtige Nachrichten, die nicht elektronisch verschickt werden konnten, handelte mit Koks oder ließ auch mal eine Leiche verschwinden. Dann wurde ich Jemin als Verstärkung zugeteilt. Jemin war einer von Dushkus Vollstreckern und überglücklich, mich die ganze Drecksarbeit erledigen zu lassen. Prügeleien. Folter. Und natürlich die Beseitigung von Personen, die Dushku für entbehrlich hielt. Unabhängig davon, ob es sich um Mitglieder seines eigenen Clans oder um Außenstehende handelte, die ihm einfach nur im Weg waren. Fünf Jahre meines Lebens und einen Großteil meiner Seele tauschte ich ein, um sicherzustellen, dass Guido nie wieder hungrig zu Bett gehen musste. Und dann verbrachte ich die nächsten fünfzehn Jahre damit, mein eigenes Imperium aufzubauen.

Ich brauchte also zwei Jahrzehnte, um dorthin zu gelangen, wo ich jetzt bin. Von einem bemitleidenswerten Abschaum, der auf der Straße von Essensresten und dem, was er ein paar Ahnungslosen aus den Taschen stehlen kann, lebt, hin zu einem Mann, dessen Name respektiert wird. Und den Leuten Angst einjagt. Das alles habe ich mit meinen eigenen Händen geschaffen – ich habe gekämpft und gewonnen – und bin dabei buchstäblich über Leichen gegangen. Mein Heimatland habe ich zwar als Bettler verlassen, aber ich bin als Herrscher zurückgekehrt. Und ich werde mich jetzt ganz sicher nicht von so einem verfluchten Cyberpunk zum Narren halten lassen.

»Konntet ihr den Bastard ausfindig machen?«, frage ich.

»Nein. Er benutzt ein VPN und gefälschte IP-Adressen, um seinen Aufenthaltsort in der gesamten Welt zu verteilen.«

»Es ist also immer ein anderer Ort?«

»Ja. Tokio. Manila. Chicago. Panama. Den Haag. Einmal hatten wir eine Markierung aus Patagonien. Es gab neun verschiedene Vorfälle, jedes Mal von einem anderen Ort. Abgesehen von … eine Sekunde.« Das Klicken von Fingern auf einer Tastatur ertönt. »Der erste Vorfall vor sechs Monaten und dieser letzte haben beide eine IP-Adresse aus dem Großraum Chicago. Es scheint«, wieder wird getippt, »dass diese Hacks von einem Internetcafé aus durchgeführt wurden. Aber nicht von demselben.«

Absätze klappern hinter mir auf dem Holzboden. Ich werfe einen Blick über meine Schulter und sehe Constanza neben der Couch stehen. Sie trägt das kurze rote Kleid, das ich ihr vor einer Stunde ausgezogen habe und das kaum ihren Hintern bedeckt, dafür aber ihre endlos langen Beine enthüllt. Ihr Haar ist offen, jede Strähne liegt akkurat an ihrem Platz und umrahmt ihr klassisch schönes Gesicht. Sie ist wirklich umwerfend schön. Wie alle Frauen, mit denen ich ficke. Ich bin es gewohnt, ausschließlich schöne Frauen an meiner Seite zu haben. Mit Geld kann man sich kaufen, was man durch sein Aussehen nicht schafft. Das ist die Realität.

»Ich habe am Donnerstagnachmittag ein Fernsehinterview.« Constanzas Lippen breiten sich zu einem strahlenden Lächeln aus. »Und ich habe bei Albini’s ein ganz tolles, schwarzes Kleid gesehen … Das wäre perfekt für den Anlass.«

Das glaube ich gern. Albini’s ist wohl das teuerste Bekleidungsgeschäft in diesem Teil Europas. Aber bevor ich zulasse, dass sie von meinem Geld Tausende für ein Kleid ausgibt, sollte sie erst mal lernen, mir beim Reden ins Gesicht zu sehen. Und beim Ficken.

»Nein. Du kannst dir ein Kleid in einer ganz normalen Boutique besorgen. Sie sollen es mir in Rechnung stellen.«

Constanza lächelt unsicher, verbirgt den Zettel aber schnell wieder. Mit ein paar Schritten, bei denen ihre Absätze klackern, schließt sie zu mir auf und geht auf die Zehenspitzen, um mir einen Kuss zu geben. »Danke, mein Schatz.«

Als ihre Lippen meine streifen, zuckt sie kaum merklich zusammen. Eins muss ich ihr lassen – sie ist unter all den Frauen, mit denen ich geschlafen habe, wahrscheinlich die beste Schauspielerin. Alle geben sich größte Mühe, ihre Abscheu zu verbergen, aber einige schaffen es besser als andere. So gut sie auch ist, doch selbst Constanza erträgt es nicht, mir ins Gesicht zu sehen. Nicht einmal bei sehr schlechten Lichtverhältnissen.

Es macht mir nichts aus, dass meine Affären nur wegen der extravaganten Reisen und luxuriösen Geschenke, mit denen ich sie überschütte, für eine gewisse Zeit bei mir bleiben. Unvergleichlicher Luxus – als kleine Entschädigung dafür, dass sie gezwungen sind, ein solches Biest an ihrer Seite zu haben. Es ist ein fairer Kompromiss. Einige Frauen können das länger ertragen, die meisten allerdings nicht.

Vor ein paar Jahren habe ich mal in einem Club eine Frau abgeschleppt. Oder besser gesagt, sie mich. Sie war eine Prominente vom Festland und machte mit ihren Freundinnen Urlaub auf Sizilien. Wahrscheinlich hatte ihr eine von ihnen erzählt, wer ich war. Sie war wie im Rausch – vielleicht war es auch einer und ich habe es damals nur nicht bemerkt – und hatte offenbar etwas zu feiern. Jedenfalls floss der Champagner in Strömen. Als wir in meiner Suite im Hotel ankamen, trällerte sie die aktuellsten Hits und konnte kaum die Finger von mir lassen. Wir vögelten. Mehrmals. Sie wollte mehr. Ich weiß, wie man eine Frau im Bett befriedigt. Das arme Ding hat mich sogar gefragt, ob ich sie heirate. Doch am nächsten Morgen, als sie nüchtern und definitiv verkatert aufwachte und mein Gesicht sah, kreischte sie einfach los. Zwei Minuten später flüchtete sie aus dem Zimmer und direkt in das Taxi, das ich ihr gerufen hatte.

»Wann sehen wir uns wieder?«, zwitschert Constanza.

»Ich ruf dich an«, sage ich und deute auf mein Sakko, das über ihren Schultern liegt. »Zieh meine Jacke aus.«

»Aber es ist kalt draußen.«

»Jetzt sofort, Constanza. Du kannst dir unten von einem meiner Männer eine Jacke geben lassen.«

Sie schmollt ein wenig, lässt das Sakko aber auf der Rückenlehne des Sofas liegen und eilt durch das Büro. Dann zieht sie die schwere Eichentür hinter sich zu. Ich drehe mich zum Fenster und nehme das Handy wieder ans Ohr.

»Hör zu, Mitch. Findet diesen Hacker, und zwar schnell. Es ist mir scheißegal, ob du dafür in jedem beschissenen Internetcafé im Großraum Chicago einen unserer Männer postieren musst. Ich will, dass dieser Wichser gefunden und zu mir gebracht wird.«

»Aber … Es gibt Hunderte von Internetcafés in Chicago, Boss.«

»Das ist mir scheißegal!«, knurre ich ins Telefon. »Findet ihn. Sonst schlage ich euch allen die verdammten Köpfe ab!«

»Ja, Boss. Geht klar. Ich erledige das.«

Ich beende das Gespräch und klicke den Kontakt meines Bruders an.

»Raff.« Guido gähnt durch den Lautsprecher.

»Haben wir diese Woche irgendwelche wichtigen Aufträge?«, frage ich und gehe zur Tür, die mein Büro mit meinem Schlafzimmer verbindet.

»Alter! Es ist sechs Uhr morgens.«

»Antworte!«

»Nein, soweit ich weiß nicht. Die meisten verfügbaren Aufträge waren nur schlecht bezahlt, daher hab ich abgelehnt. Ich muss die Einträge noch mal überprüfen, aber ich glaube, letzte Nacht gab es einen Auftrag für einen Doppelmord. Der Betrag lag jedoch unter einer Million.«

»Nimm ihn trotzdem an«, knurre ich und betrete den begehbaren Kleiderschrank.

»Okay. Wen schicken wir? Die Zielpersonen sind in Deutschland, aber ich glaube, Allards Team ist bereits dort.«

»Nein.« Ich drücke den Knopf, der hinter einer Reihe von Anzügen versteckt ist, und beobachte, wie die Rückseite des Schranks zur Seite gleitet. Einen Moment später gehen die Deckenleuchten an und erhellen das Innere der verborgenen Kammer, an deren Wänden zahlreiche Waffen hängen.

»Wen willst du dann schicken?«

»Wir schicken kein Team. Ich kümmere mich selbst darum.«

»Wieso das denn?«

»Ich hatte einen total beschissenen Start in den Tag, Guido, obwohl ich erst vor einer Stunde nach Hause gekommen bin. Ich brauche dringend ein bisschen Ablenkung.« Mein Blick schweift über die Auswahl an Scharfschützengewehren vor mir. »Irgendwelche besonderen Anforderungen für den Mord?«

»Mmm … Ich schau mal nach … Nope. Auch keine Präferenzen, was die Entsorgung angeht.«

»Perfekt. Schick mir die Akte und sag dem Piloten, er soll den Flieger bis sieben Uhr bereitstellen.« Ich beende den Anruf und nehme eine M40 von der Wand.

Das letzte Mal, als ich persönlich einen Auftrag ausgeführt habe, ist schon mehr als ein Jahrzehnt her. Kurz bevor ich nach Sizilien zurückkehrte. Bei all dem Mist, den ich tun musste, um die Kontrolle über die Ostküste der Insel zu übernehmen und im Anschluss auch zu behalten, musste ich meine Söldnerrolle an den sprichwörtlichen Nagel hängen. Inzwischen verfüge ich über elf Teams von Auftragskillern, die über die ganze Welt verteilt sind und die strategisch günstig gelegenen Niederlassungen von Delta Security als Stützpunkte nutzen. Mein Bruder betreut den geheimen Teil unserer Aufträge, während ich mich auf das Waschen des schmutzigen Geldes durch den legalen Teil des Unternehmens konzentriere.

Das Unternehmen, von dem irgendein dämlicher Hurensohn beschlossen hat, sich mit ihm anzulegen.

Ich kann es kaum erwarten, diesen Bastard endlich in die Finger zu bekommen.

Vasilisa

Villa von Roman Petrov (Pakhan der russischen Bratva), Chicago

Die Tür zu meinem Zimmer fliegt auf.

»Was zur Hölle, Dad!« Ich springe von meinem Stuhl hoch. »Hast du vergessen, wie man anklopft?«

Mit zusammengekniffenen Augen und wütendem Gesichtsausdruck marschiert der allmächtige Roman Petrov herein. Sein Gehstock erzeugt ein leichtes Knarzen auf dem Parkett, während er sich mit raschen Schritten nähert. Dann beugt er sich zu mir vor, bis sein Gesicht auf Augenhöhe ist.

»Du hast Hausarrest«, sagt er durch zusammengebissene Zähne.

»Ich bin kein Kind mehr. Du kannst mir gar keinen … Was machst du denn da? Nein! Lass meinen Laptop in Ruhe! Dad!«

»NASA?« Er klemmt sich meinen Rechner unter den Arm und reißt das Netzkabel aus der Steckdose. »Die verdammte NASA!?«

Oh, fuck. »Wie hast du das herausgefunden?«

»Ich habe Felix in die Enge getrieben und er hat ausgepackt.«

Ich staune. Felix ist ein alter Freund von Onkel Sergei, als Dads Bruder noch beim Militär war, aber der alte Gauner ist eher wie ein adoptiertes Familienmitglied. Es gibt kein System, das er nicht hacken kann, und alles, was ich über Cyberspionage weiß, habe ich von ihm gelernt. Er ist auch schon über neunzig, aber das würde er niemals zugeben. Seit zehn Jahren erzählt er allen, dass er noch nicht einmal achtzig wäre. Ich kann nicht glauben, dass Grandpa Felix mich verpfiffen hat!

»Ich hab nur ein bisschen Unsinn gemacht, Dad. Also eigentlich gar nichts. Ich schwöre. Ich bin nur einmal ganz kurz rein und sofort wieder raus.«

»Ach? Also hast du … der Luft- und Raumfahrtbehörde der USA nur einen kleinen digitalen Besuch abgestattet?«

»Sozusagen?« Ich schenke ihm ein reumütiges Lächeln.

Ein bedrohliches Knurren entringt sich seiner Kehle. »Ich habe es dir doch gesagt, Vasilisa. Ich habe es dir mindestens tausendmal gesagt – du darfst dich nicht in Regierungssysteme hacken! Das ist verdammt noch mal illegal!«

Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Du erinnerst dich aber schon noch daran, dass du der Anführer einer der größten kriminellen Organisationen auf diesem Kontinent bist, oder?«

»Ja. Trotzdem will ich nicht, dass meine Tochter mit irgendwelchen illegalen Machenschaften zu tun hat.«

»Wenn du mich einfach nur im Familienunternehmen mithelfen lassen würdest, müsste ich meine Fähigkeiten nicht damit verschwenden, woanders nach Nervenkitzel zu suchen«, erwidere ich gereizt.

»Keins der Unternehmen der Bratva ist legal, Vasilisa. Und ich will nicht, dass du damit in Berührung kommst.«

»Du lässt mich nicht mal Ivan bei den Zollpapieren helfen. Er brauchte unten im Büro zwei ganze Nächte, um alles zu regeln.«

»Ich werde ganz sicher nicht zulassen, dass meine Tochter Einfuhrpapiere für Schmuggelware fälscht!«

Schmuggelware. Ich verdrehe die Augen. Als ob ich nicht wüsste, dass die Bratva hauptsächlich mit Drogen handelt. Ich habe es so satt, wie ein dummes Kind behandelt zu werden.

»Alexei nimmst du sogar mit zu Treffen mit deinen Partnern!«

»Dein Bruder wird irgendwann die Führung von Bratva übernehmen, wenn ich zurücktrete. Er muss darauf vorbereitet werden.«

Ich schüttle den Kopf. »Du bist so ein Heuchler, Dad.«

»Die kriminelle Unterwelt ist kein Ort für eine Frau, Vasilisa. Du wirst dein Studium beenden, dir einen regulären Job suchen und einen netten Typen zum Daten finden. Einen Buchhalter oder so was.«

Ich seufze. Überfürsorglich wäre noch eine milde Beschreibung für meinen Vater. Einmal hätte er einen Jungen, mit dem ich mich getroffen hatte, beinahe erwürgt, als er gesehen hat, wie wir uns vor der Haustür geküsst haben. Nur weil der Typ abrasierte Haare und ein Augenbrauenpiercing hatte.

»Ich hab letzten Freitag meinen Abschluss gemacht, falls du das vergessen hast.«

»Und als Nächstes machst du deinen Master.«

»Ich will meinen Master aber gar nicht machen, Dad! Ich will endlich arbeiten. Für dich.«

»Das kommt nicht in Frage.« Anklagend zeigt er auf mich. »Und dieser Mist mit dem Hacken hört jetzt auf, Vasilisa. Du wirst das nicht noch einmal machen. Versprich es mir!«

»Na schön.«

»Versprich es mir.«

»Ich verspreche es. Ich werde mich nie wieder in Regierungsdatenbanken hacken, egal welcher Art.«

»Und?«

Ich verdrehe die Augen. »Auch nicht in andere Datenbanken.«

»Gut.« Er beugt sich zu mir und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. »Du weißt, wie sehr ich dich liebe, oder?«

»Ja. Ich liebe dich auch. Kann ich meinen Laptop jetzt bitte wiederhaben? Ich muss mich noch für diesen normalen Job bewerben, den du mir besorgen wolltest.«

»Nein.«

»Dad, das ist unfair! Ich …« Ich schnuppere in die Luft. »Was riecht denn hier so komisch?«

Meine Tür wird erneut aufgerissen und der Geruch von etwas Verbranntem erfüllt den Raum.

»Dad!« Yulia, meine jüngere Schwester, stürzt herein. »Igor hat die neue Mikrowelle abgefackelt.«

»Schon wieder?«, brüllt Dad. »Ich habe diesem Idioten doch gesagt, dass er längst in Rente ist! Wer hat ihn überhaupt reingelassen? Ich werde ihn umbringen! Und alle anderen auch, die in dieser Küche arbeiten.«

Er stürmt aus dem Zimmer und nimmt meinen Laptop mit. Die Schlafzimmertür fällt mit einem so lauten Knall ins Schloss, dass meine Schwester und ich zusammenzucken.

»Worum ging’s?«, fragt Yulia und streckt sich auf meinem Bett aus.

»Er hat meinen Laptop beschlagnahmt.«

»Das hab ich gesehen. Hat er rausgefunden, dass du dich gestern in diese Firma gehackt hast? Was hast du diesmal angestellt?«

»Ich hab eine Spende an einen Kirchenchor geschickt.« Meine Schultern sinken. »Aus dem Internetcafé in der Nähe der Bibliothek. Aber Felix hat Dad anscheinend erzählt, dass ich an den Firewalls der NASA herumgespielt habe.«

»O mein Gott, Vasilisa. Wieso machst du denn auch immer wieder so einen Mist?«

»Keine Ahnung. Vielleicht ist das meine Art, Dad heimzuzahlen, dass er mich nicht im Unternehmen helfen lässt.« Ich rutsche auf meinem Stuhl herum. »Oder weil ich nicht weiß, was ich sonst mit meiner Freizeit anfangen soll.«

»Du solltest öfter ausgehen und daten. Was ist denn mit dem Typen, den du zuletzt getroffen hast?«

»Oliver?«

»Ja. Dieses Unterwäsche-Model. Der ist so was von heiß.« Yulia dreht sich auf den Bauch und fächelt sich Luft zu.

Ich lege meinen Kopf in den Nacken, starre an die Decke und drehe meinen Bürostuhl hin und her. Ja, Oliver sieht unfassbar gut aus. Wir haben uns in einem Café in der Innenstadt kennengelernt, als er am Tisch neben mir saß. Zuerst habe ich ihn gar nicht beachtet, weil ich zu sehr in die Programmierübungen vertieft war, die Grandpa Felix für mich erstellt hatte. Aber dann setzte sich Oliver neben mich und fing an, mich über meine Arbeit auszufragen.

»Ich hab letzte Woche Schluss gemacht«, murmele ich. »Er war am Ende genauso wie alle anderen Typen, die mit mir ausgehen wollten.«

»Du meinst, er ist auf die Knie gefallen und hat um Erlaubnis gefleht, dich anbeten zu dürfen?« Yulia kichert. »Vasilisa, die Schöne. Seit deinem fünfzehnten Geburtstag fallen dir die Männer reihenweise zu Füßen.«

»Das ist nicht witzig. Und ich mag es nicht, wenn du mich so nennst. Deswegen hasse ich sogar dieses Märchen.«

»Du, meine liebe Schwester, bist wahrscheinlich die einzige Frau auf der Welt, die es hasst, schön zu sein.«

»Ich hasse es ja gar nicht. Aber ich möchte, dass sich ein Mann wenigstens ein einziges Mal aus einem anderen Grund zu mir hingezogen fühlt. Und nicht nur, weil ich hübsch bin.«

»Du bist mehr als nur hübsch, Vasya. Selbst in den schrecklichen Lumpen, die du immer trägst.«

»An meiner Kleidung ist überhaupt nichts auszusetzen.«

»Das Oberteil ist fürchterlich. Wie zum Teufel nennt man diese Farbe? Kinderkackegelb?« Sie nickt in meine Richtung. »Und lass mich gar nicht erst mit den zwei Nummern zu großen Jeans anfangen.«

»Die sind halt bequem.« Ich zucke mit den Schultern.

»Ja, klar.« Yulia verschränkt die Hände unter ihrem Kinn und verdreht die Augen. »Also, was hat Oliver, der Hottie‚ falsch gemacht?«

»Er bestand darauf, mein Handy neu zu starten. Anscheinend sehe ich nicht so aus, als könnte ich das selbst. Und ich zitiere: ›Warum solltest du dich mit so was abgeben, Schönheit? Jetzt hast du ja mich, ich kümmere mich schon um die schwierigen technischen Dinge.‹« Ich kann meine schlechte Laune nur mit Mühe unterdrücken, während ich versuche, den Tonfall dieses Schwachkopfs nachzuahmen. »Dann hat er mir mein Handy aus der Hand genommen und es einfach getan. Ich habe meinen Bachelor in Informatik mit Auszeichnung gemacht, und dieser Vollidiot hat tatsächlich mein Handy für mich neu gestartet.«

»Das ist echt so was von übertrieben.« Yulia lacht. »Hat er dir auch noch angeboten, den Lichtschalter für dich zu betätigen? Falls du nicht weißt, wie der funktioniert?«

»Das ist nicht witzig!«, murre ich.

»Tut mir leid, aber doch, das ist es. Er wollte einfach nur dein Ritter in der glänzenden Rüstung sein.«

Ich schnaube. »Wir waren gerade im Park unterwegs, als das passiert ist. Ich habe Oliver angestarrt, der an meinem Handy herumgefummelt hat, da hat sich ein Hund von der Leine losgerissen und ist laut kläffend direkt auf uns zugerannt. Mein Ritter in der beschissenen Rüstung hat wie ein vierjähriges Mädchen gequiekt und sich aus dem Staub gemacht, ohne sich auch nur einmal nach mir umzudrehen.«

»Was für ein Mistkerl! Und der Hund?«

»Der wollte nur spielen. Er hat meine Hände und mein Gesicht abgeleckt und ist dann wieder weggelaufen.« Kopfschüttelnd drehe ich mich auf meinem Gaming-Stuhl im Kreis. »Dad hat erwähnt, dass er sich einen normalen Mann für mich wünscht. Einen Buchhalter, hat er gesagt. Na ja, wahrscheinlich sowieso erst, wenn ich fünfzig werde, aber … Ich glaube nicht, dass es mit einem normalen Mann funktionieren kann, Yulia.«

»Wieso denn nicht?«

Ich ziehe eine Augenbraue hoch und schaue meine kleine Schwester an. »Weil ein normaler Typ sich in die Hose machen würde, sobald er unsere Familie trifft. Kannst du dir vorstellen, dass ein Buchhalter in unserem Wohnzimmer sitzt und mit Dad, Alexei und Onkel Sergei plaudert?«

»Ich finde Onkel Sergei toll. Er würde deinem Buchhalter nichts antun.«

»Letzte Woche hat er einen Granatwerfer zum Abendessen mitgebracht.«

»Na ja, so ist er eben.« Sie zuckt mit den Schultern. »Vielleicht solltest du versuchen, mit jemandem aus der Bratva auszugehen. Mit wem auch immer, aber zumindest weiß er dann, worauf er sich einlässt.«

»Ja, genau. Was glaubst du, wie lange der arme Kerl überleben würde, wenn Dad herausfindet, dass wir zusammen sind?«

»Eine Woche?«

»Achtundvierzig Stunden. Höchstens. Dad würde niemals zulassen, dass eine von uns mit einem seiner Leute ausgeht. Oder mit irgendwem aus unserem sozialen Umfeld.«

Ich verstehe, dass unser Vater seine Töchter von dem zwielichtigen Teil von Roman Petrovs Welt fernhalten möchte – und ich will gar nicht erst von dem patriarchalischen Scheiß anfangen, über den mein jüngerer Bruder sich nie Gedanken machen musste. Aber Dad versteht leider nicht, dass wir längst ein Teil davon sind. Wir haben rund um die Uhr bewaffnete Sicherheitskräfte um uns herum. Verwundete, blutende Männer werden in unser Haus gebracht und auf unserer Kücheninsel verarztet. Ständig müssen wir auf der Hut sein vor plötzlichen Gefechten mit anderen kriminellen Organisationen. Leibwächter, die sich keine Armlänge von uns entfernen, bis eine potenzielle Bedrohung geklärt ist. Geschäftstreffen und sogar Familienfeiern enden oft mit gezückten Waffen. Meine Schwester und ich wurden beide in diesen Wahnsinn hineingeboren. Das ist unsere »Normalität«. Alles andere wird sich niemals auch nur annähernd so anfühlen.

»Glaubst du, dass Dad mich auch mit einem Buchhalter verheiraten will?«, fragt Yulia vom Bett aus.

»Nope. Dir wird er wahrscheinlich einen Zahnarzt suchen. Oder einen Museumskurator.« Grinsend schaue ich sie an und stelle mir dabei einen Typen mit Brille und Fliege vor, der sie zu einem Date abholt. »Dad würde das Nesthäkchen der Familie doch niemals in die Nähe eines großen, bösen Buchhalters lassen. Diese Typen könnten ja in Betrügereien verwickelt sein.«

»Ja.« Sie kaut auf ihrem Daumennagel. »Ähm … ich werde Dad übrigens bitten, mich vor dem nächsten Semester ausziehen zu lassen.«

Ich starre meine Schwester an. »Wieso?«

»Ich bin nicht wie du, Vasya. Der ganze Trubel hier, die Leute, die ständig kommen und gehen, dieser verdammte Lärm … Ich halte es nicht mehr länger aus in diesem Irrenhaus.«

»Ich bezweifle, dass er dich ausziehen lässt.«

»Wieso? In letzter Zeit gab es keine Auseinandersetzungen mit anderen Familien mehr. Es kümmern sich doch alle nur noch um ihre eigenen Angelegenheiten.«

»Ja, aber …« Ich sehe sie an. In russischen Familien ist es üblich, dass die Kinder zu Hause wohnen bleiben, bis sie das College abgeschlossen und einen Job gefunden haben. Vor allem in Familien wie unserer, wo oft zusätzliche Sicherheit notwendig ist. »Aber so schlimm ist es hier doch gar nicht.«

Das Zuschlagen mehrerer Türen irgendwo im Flur hallt durchs Haus, als wollte jemand meine Aussage ad absurdum führen. Schreie und die Geräusche von rennenden Füßen vermischen sich mit dem Dröhnen des Rasenmähers, das durch das offene Fenster dringt. Männliches Gelächter und harmlose russische Beleidigungen ertönen im Hinterhof – Alexei und unser Cousin Sasha treten mal wieder im Messerwerfen gegeneinander an. Ich frage mich, wer von den beiden wohl heute in der Küche genäht werden muss. Der Brandgeruch scheint sich langsam aufzulösen, hängt aber immer noch in der Luft. Mom rastet aus, wenn er sich in ihren neuen Vorhängen festsetzt. Irgendwo in der Villa ertönen hohe Frauenstimmen, die sich russische Schimpfworte zuwerfen. Dads Büro liegt direkt unter meinem Zimmer, und ich höre, wie er jemanden am Telefon anschreit. Wahrscheinlich Onkel Sergei; er ist der Einzige, der meinen Dad in weniger als einer Minute zur Weißglut bringen kann.

Ein ganz normaler Tag im Hause Petrov also.

»Ich nehme alles zurück. Unser Zuhause ist eine friedliche Oase der Stille.« Yulia lacht vom Bett aus. »Und? Wirst du deine Cyber-Abenteuer jetzt wirklich aufgeben?«

»Ja«, murmele ich und beiße mir auf die Unterlippe. Ich hätte diesem Kinderchor viel mehr Geld schicken sollen, solange ich noch die Gelegenheit dazu hatte.

Als ich anfing, mich in zufällige Unternehmen zu hacken, stellte ich rasch fest, dass die meisten ihrer digitalen Sicherheitsvorkehrungen ein Witz waren. Für mich stellten Unternehmens-Firewalls keinerlei Herausforderung dar. Also habe ich ein wenig recherchiert und die zehn besten privaten Sicherheitsunternehmen ausgewählt. Seitdem arbeite ich ausschließlich mit ihren Systemen und schaffe mir Hintertüren in ihre Netzwerke, genau wie Grandpa Felix es mir gezeigt hat. Es geht dabei nicht um Spionage oder Finanzbetrug, sondern einfach nur darum, meine IT-Fähigkeiten unter Beweis zu stellen und in die strengsten virtuellen Umgebungen der Welt einzudringen. Ich hacke sie, ziehe mich dann daraus zurück und lösche dabei jede Spur, die darauf hindeuten könnte, dass ich jemals darin war. Bis auf ein paar Kleinigkeiten. Ich kann dieses dämliche Bedürfnis, einen winzigen Hinweis zu hinterlassen, einfach nicht überwinden. Ein geänderter Code für den Serviceaufzug. Neu formatierte Aufzählungszeichen auf der Website, von einfachen Pünktchen zu Sternchen. Die Gehälter der am schlechtesten bezahlten Mitarbeiter um einen Dollar zu erhöhen. Oder, im Fall des riesigen Sicherheitskonzerns mit Niederlassungen auf der ganzen Welt, dessen Buchhaltungssysteme zu manipulieren, um kleine Spenden an obskure Wohltätigkeitsorganisationen und unterprivilegierte Familien zu senden.

Vielleicht könnte ich das »große, muskulöse Biest« noch ein letztes Mal schlagen. Sozusagen als Abschiedskuss für meine Karriere als Hackerin.

Ja.

Ich warte vorsichtshalber noch ein paar Wochen. Falls Dad mir meinen Laptop bis dahin nicht zurückgibt, suche ich mir ein neues Internetcafé und mache es eben von dort aus.

Es dürfte weniger als dreißig Minuten dauern, jetzt, da ich ihr System wie meine eigene Westentasche kenne.

Es kann also gar nichts schiefgehen.

Gegenwart

Sizilien

Ich starre den blonden Typen hinter dem Steuer an. Er hat sich in seinen Sitz zurückgelehnt, den Ellbogen lässig durch das offene Fenster gestreckt, während er seinen aufgemotzten Schlitten über Straßen lenkt, auf denen mehr Schafe als Autos unterwegs sind. Schwachkopf Nummer eins, von dem die ganze Zeit eine genervte Stimmung ausgeht, sitzt neben mir auf dem Rücksitz. Schwachkopf Nummer zwei freut sich unverschämt offen darüber, dass er vorne sitzen darf. Ich kann nicht glauben, dass diese Bastarde mich nach Sizilien verschleppt haben!

Wie lange dauert so ein Flug nach Italien? Mom und Dad wissen wahrscheinlich schon, dass etwas passiert ist und suchen bereits nach mir. Gott, hoffentlich finden sie mich bald.

»Sie müssen mir Ihren Namen noch verraten«, sagt Blondie – den meine Entführer Guido genannt haben.

Tja, offenbar haben sie keine Ahnung, wer ich bin. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, ob das gut oder schlecht ist.

»Und Sie müssen mich noch gehen lassen«, murmele ich. »Was wollen Sie von mir?«

»Ich? Gar nichts. Alles andere können Sie mit meinem Bruder besprechen.«

»Und wo ist dieser Bruder?«

Er ignoriert mich und hält den Wagen an. Dann dreht er sich nach hinten um, hebt sein Handy und macht ein Foto von meinem Gesicht, bevor ich dagegen protestieren kann.

»Er sollte in ein paar Stunden zu Hause sein«, antwortet Guido schließlich. Sein Blick springt zwischen den beiden Idioten hin und her, die zusammen gerade mal eine Gehirnhälfte besitzen. »Bringt sie in den Keller. Und gebt ihr etwas zu essen und Wasser.«

Vinny steigt aus dem Auto und zieht mich hinter sich her. Kreischend versuche ich, ihn abzuschütteln, was mir jedoch nicht wirklich gelingt. Hank packt meinen anderen Arm, und die beiden zerren mich zum Eingang einer riesigen Sandsteinvilla. Bevor ich hineingezerrt werde, erkenne ich noch, dass das Haus an einem Hang liegt und Meerblick hat.

Das Innere wirkt opulent, aber es ist dieser dezente Luxus, der kaum zu übersehen ist. Nicht protzig und extravagant, sondern gemütlich – mit einer Heimeligkeit, die in jeden Raum eingraviert ist. Die Decken sind hoch und mit dicken Holzbalken durchzogen. Die Stuckverzierungen an den Wänden erinnern mich an Fotos aus dem Architectural Digest oder anderen Magazinen. Die Sonne strömt durch die massiven bodentiefen Fenster, die sich zum schimmernden Wasser dahinter öffnen, und taucht die hellen Holzmöbel in ein warmes Licht. Meine Schritte stocken für einen Moment und ich kann nicht anders, als tief Luft zu holen und die Aussicht zu genießen.

»Vorwärts!«, schnauzt Vinny und zerrt mich von dem schönen Anblick weg zu einer Treppe, die wohl in den Keller führen muss.

Ich stemme meine Fersen gegen den Boden und versuche, mich zu wehren oder den Rohling wenigstens zu bremsen. Als er erneut an der Kette der Handschellen zieht, schießt ein stechender Schmerz durch meine Handgelenke. Er schleift mich regelrecht die Treppe hinunter, und ich schreie auf.

»Hör auf zu winseln.« Er öffnet die Tür und schiebt mich in einen geräumigen, aber düsteren, kühlen Raum. Ein leicht erdiger Geruch liegt in der Luft.

Er lässt mich los und ich falle auf die Knie. Gerade noch rechtzeitig schaffe ich es, meine Hände auf dem kalten Fliesenboden abzustützen, um nicht mit dem Gesicht aufzuschlagen.

»Und weil du so ein Miststück warst – kein Essen und auch kein Wasser!«

Ich rapple mich auf und eile zur Tür, aber kurz bevor ich sie erreiche, fällt sie auch schon ins Schloss. Die Panik, die ich versucht habe, in Schach zu halten, bricht aus und erfasst mich wie ein Wirbelsturm. Ich rüttle am Türknauf, aber die Tür bleibt verschlossen.

»Lasst mich hier raus!« Ich hämmere mit den Fäusten gegen die Barriere. »Ihr miesen Schweine! Dafür werdet ihr bezahlen! Lasst mich hier raus!« Meine Hände schmerzen von den ständigen Schlägen auf das massive Holz, und obwohl ich weiß, dass es vergeblich ist, höre ich nicht damit auf.

Ich weiß nicht, wie lange ich meine Attacke auf diese verdammte Kellertür aufrechterhalte. Als ich schließlich aufgebe, hat sich das spärliche Licht, das aus den schmalen, waagerechten Fenstern knapp unterhalb der Decke kommt, bereits in ein dunkles Orange verwandelt. Ich presse meinen Rücken gegen die Tür und lasse mich auf den Boden gleiten.