Silk and Sin – Ein gefährliches Spiel - Robin Schone - E-Book
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Silk and Sin – Ein gefährliches Spiel E-Book

Robin Schone

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Beschreibung

Leidenschaft, die alle Fesseln der Gesellschaft sprengt: Der prickelnde Roman »Silk and Sin – Ein gefährliches Spiel« von Robin Schone als eBook bei dotbooks. Sie ist ihm hilflos ausgeliefert – er weiß, dass nur sie ihn noch retten kann … Ende des 19. Jahrhunderts: Durch einen Fremden in einen Skandal verwickelt und in Ungnade gestürzt, wird die junge Lady Victoria aus ihrem Zuhause verbannt. Das einzig »Wertvolle«, das ihr auf den Straßen Londons noch bleibt, ist ihre Jungfräulichkeit. Und so wagt sie das Unvorstellbare: In einem Haus der Sünde bietet Viktoria ihren Körper zur Auktion an. Doch Gabriel, der gefährlich schöne Mann, der sie dort ersteigert, scheint gar nicht an ihr interessiert zu sein … sondern um jeden Preis den Unbekannten aufspüren zu wollen, der Viktoria alles gekostet hat. Welches Geheimnis verbindet die beiden Männer? Und wird das Verlangen, das Gabriel in Viktoria erweckt, sie in noch größere Gefahr bringen? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der historische Dark-Romance-Liebesroman »Silk and Sin – Ein gefährliches Spiel« von USA-Today-Bestsellerautorin Robin Schone ist der zweite Roman ihrer sinnlichen »Silk and Sin«-Reihe jenseits aller Tabus. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 477

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Über dieses Buch:

Sie ist ihm hilflos ausgeliefert – er weiß, dass nur sie ihn noch retten kann … Ende des 19. Jahrhunderts: Durch einen Fremden in einen Skandal verwickelt und in Ungnade gestürzt, wird die junge Lady Victoria aus ihrem Zuhause verbannt. Das einzig »Wertvolle«, das ihr auf den Straßen Londons noch bleibt, ist ihre Jungfräulichkeit. Und so wagt sie das Unvorstellbare: In einem Haus der Sünde bietet Viktoria ihren Körper zur Auktion an. Doch Gabriel, der gefährlich schöne Mann, der sie dort ersteigert, scheint gar nicht an ihr interessiert zu sein … sondern um jeden Preis den Unbekannten aufspüren zu wollen, der Viktoria alles gekostet hat. Welches Geheimnis verbindet die beiden Männer? Und wird das Verlangen, das Gabriel in Viktoria erweckt, sie in noch größere Gefahr bringen?

Über die Autorin:

Robin Schone begann schon mit 15 Jahren romantische Geschichten zu schreiben, heute ist sie eine gefeierte amerikanische Bestsellerautorin. Für ihre stets außergewöhnlichen und beliebten historischen Liebesromane wurde sie 2008 von der Romantic Times ausgezeichnet. Robin Schones Romane wurden bereits in 13 Sprachen übersetzt. Sie lebt mit ihrem Mann in den USA.

Robin Schone veröffentlichte bei dotbooks auch ihre Dark-Victorian-Romance-Romane »Silk and Sin – Ein unmoralisches Angebot«, »House of Passion – Der Club der verbotenen Lüste«, »Verführt von einem Lord« und »Dark Fire – Das Erwachen der Leidenschaft«.

Die Website der Autorin: www.robinschone.today/

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eBook-Neuausgabe November 2023

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2001 unter dem Titel »Gabriel’s Woman« bei Kensington Publishing Corp., New York. Im Deutschen erschien dieses Buch bereits 2003 unter dem Titel »Gabriels Engel« bei Ullstein.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2001 by Robin Schone

Published by Arrangement with KENSINGTON PUBLISHING CORP., NEW YORK, NY 10018 USA.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2003 by Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Hohenzollernstraße 56, 30161 Hannover.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motives von © Period Images sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98690-823-2

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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In diesem eBook begegnen Sie möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. Diese Fiktion spiegelt nicht unbedingt die Überzeugungen des Verlags wider.

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USA-Today-Bestsellerautorin Robin Schone

Silk and Sin – Ein gefährliches Spiel

Dark Victorian Romance

Aus dem Amerikanischen von Ulrike Bischoff

dotbooks.

Kapitel 1

Gabriel kannte die Frau in dem schäbigen Umhang. Er kannte sie, weil er früher so gewesen war wie sie. Durchgefroren. Hungrig. Die perfekte Beute und das perfekte Raubtier.

Sie kam, um einen Engel zu töten.

Sie würde die Morgendämmerung nicht erleben.

Stimmengewirr wehte auf gelbem Dunst und grauem Rauch nach oben. Männer in schwarzen Röcken und weißen Westen und Frauen in schimmernden Gewändern und funkelnden Juwelen bewegten sich in einem Gewirr von Tischen im flackernden Kerzenlicht: standen, saßen, lehnten sich in Mahagonisesseln zurück, beugten sich über weiße Seidentischtücher.

Sie wussten nicht, dass sie Köder waren, die vornehme englische Gesellschaft, die ihr Vergnügen suchte, und die Londoner Huren, die auf Reichtum aus waren. Sie wussten nicht, dass eine Frau sich an sie heranpirschte; Gabriel bebte am ganzen Körper vor Wissen. Um Lust, um Reichtum.

Um Leben; um Tod.

Die Wiedereröffnung des Hauses Gabriel – ein Etablissement, in dem jedes sinnliche Verlangen Befriedigung fand – lockte Freier und Prostituierte an.

Fleischeslust und Mord. Weißglut schoss auf.

Zwanzig Fuß unter ihm fing ein Mann seinen Blick ein. Ein Mann, dessen Haar so dunkel war, wie Gabriels blond war. Ein Mann mit violettblauen statt silbergrauen Augen. Seine rechte Wange war von Schatten durchfurcht.

Siebenundzwanzig Jahre voller Erinnerungen lagen zwischen ihnen. Bilder aus dem kriegshungrigen Frankreich, nicht aus dem winterverhangenen England; Bilder von zwei halb verhungerten Dreizehnjährigen, nicht von zwei Vierzigjährigen in maßgeschneiderten schwarzen Fracks mit weißen Westen.

Meine beiden Engel, hatte Madame gesagt, als sie die beiden von einer Pariser Straße pflückte. Ein Dunkler für die Frauen. Ein Blonder für die Männer.

Sie hatte sie das Huren gelehrt, und die beiden hatten sich selbst übertroffen. Sie hatte sie die acht Todsünden gelehrt, und die beiden hatten sie begangen.

Das helle Kerzenlicht verdunkelte sich und erinnerte Gabriel unvermittelt an den Revolver, der schwer in seiner linken Hand lag.

Michael, der gezeichnete Engel, war gekommen, um Gabriel, den unberührbaren Engel, zu beschützen.

Ohne ihn wäre Rache nicht möglich. Ohne ihn wäre Rache nicht notwendig.

Die Frau würde sterben, weil ein dunkelhaariger Engel lebte. Und liebte.

Ein Puls tätowierte einen unermüdlichen Rhythmus in den Rosenholzgriff: Männer, Frauen; Schmerz, Lust; Leben, Tod.

Der Adams-Revolver war mit einem Doppelfunktions-Schloss ausgestattet: manuelle Vorspannung für höhere Treffgenauigkeit, Spannabzug für schnelles Feuer. Er konnte den Revolver von Hand spannen. Er konnte abdrücken und einen einzigen, präzisen Schuss abfeuern.

Eine Kugel würde Michael töten. Eine Kugel würde dem siebenundzwanzigjährigen Kreislauf des Todes ein Ende setzen.

Gabriel spannte den Revolver nicht. Er konnte Michael nicht töten.

Der zweite Mann hatte eine Frau geschickt, die zu Ende bringen sollte, was Gabriel vor sechs Monaten nicht geschafft hatte.

Ein scharfer Knall jagte ihm Schauer über den Rücken. Die Frau blieb am Rand des Kerzenlichts stehen, Michael im Blickfeld. Aus dem rechten Augenwinkel sah Gabriel, wie ein Kellner in kurzem, schwarzem Rock und weißer Weste sich vorbeugte und mit einer weißen Seidenserviette wieder aufrichtete. Unmittelbar unter Gabriel rückten zwei Kellner dichter zu Michael. Ihre Hände verharrten an ihren Seiten: Sie waren nicht darauf vorbereitet, eine Frau zu erschießen.

Vier Tische weiter schenkte ein Kellner Champagner aus einer frisch entkorkten Flasche ein, Kristall glitzerte, Flüssigkeit funkelte.

Noch immer keine Spur von dem zweiten Mann. Aber er war da unten, ein Chamäleon in schwarzem Frack und weißer Weste. Als Freier oder Prostituierter getarnt. Lehnte sich in einem Mahagonisessel zurück oder beugte sich über ein weißes Seidentischtuch.

Hart. Steif.

Prall von der Glut der Sinnenlust und dem Prickeln des Mordes. Die Zeit stockte mit Gabriels Herzschlag.

Die verhüllte Frau nahm die Arme nach vorn, einen matten dunklen Gegenstand in Händen.

Eine blau plattierte Schusswaffe reflektierte kein Licht. Das wusste Gabriel, weil seine eigene Waffe blau plattiert war.

Das Dröhnen erotischen Geplänkels verebbte.

Ihr Kopf war von der Falte einer dunklen Kapuze verdeckt: Gabriel konnte ihr Gesicht nicht sehen.

Trauer durchzuckte ihn. Um die Männer und Frauen, die gestorben waren; um die Männer und Frauen, die noch sterben würden. Um die Frau da unten, die bald sterben würde. Perfekte Beute und perfektes Raubtier. Gabriel zielte auf den fahlen Schimmer ihres Gesichts.

Gleichzeitig sagte eine Frauenstimme laut und deutlich: »Gentlemen, ich biete Ihnen meine Jungfräulichkeit an.«

Gabriel erstarrte. Die Frau war gekleidet wie eine Straßendirne; sie sprach wie eine wohl erzogene Dame. Nach und nach erstarb das affektierte Gelächter der vornehmen Herren und das geübte Gekicher der Kokotten. Seide wisperte. Kerzenflammen flackerten. Unsicherheit lähmte seine Kellner. Die Pflicht gebot, die Frau in ihrem billigen schwarzen Umhang hinauszuwerfen; die Erfahrung lehrte sie, dass es zu spät war: Die Unbekannte hatte bereits die Aufmerksamkeit reicher Freier erregt. Jungfräuliches Fleisch war begehrte Ware. Die Kellner würden nicht eingreifen.

»Der Mann, der das höchste Gebot abgibt, soll seinen Lohn noch in dieser Nacht erhalten«, fuhr sie mit schallender Stimme fort, die Hände ruhig, die Haltung gelassen, der Tod nur eine Kugel entfernt. »Fangen wir mit einhundertfünf Pfund an?«

Einhundertfünf Pfund wogte es durch Rauch und Dunst.

Auf den Londoner Straßen verkaufte sich Jungfräulichkeit – echte oder fabrizierte – für fünf Pfund, nicht für einhundertfünf.

Wie ein Schlag traf Gabriel die Erinnerung: an ein französisches maison de rendezvous und an eine Frau in luxuriösem purpurrotem Satin.

Vor siebenundzwanzig Jahren hatte Madame seine Unberührtheit für zweitausendsechshundertsechsundvierzig Francs verkauft. Einhundertfünf englische Pfund entsprachen zweitausendsechshundertsechsundvierzig französischen Francs. Dieses Wissen konnte die Frau nur von zwei Menschen haben: von Michael oder vom zweiten Mann. Gabriel zweifelte keinen Augenblick, von welchem der beiden sie ihr Wissen bezogen hatte. Er spannte den Revolver mit dem Daumen.

»Na hör mal!« Bosheit enthüllte die Cockney-Herkunft einer Dirne. »Keine Fischblase is’ hundertfünf Pfund wert, Schätzchen!«

Licht und Schatten erbebten unter männlichem und weiblichem Gelächter. Die verhüllte Frau lachte nicht. Lachte der zweite Mann? Richtete er einen Revolver auf Michael, während Gabriel mit seiner Waffe auf die Frau zielte? Oder drückte die verhüllte Frau langsam den Abzug einer Waffe in ihrer Tasche, ohne etwas von ihrem Schicksal zu ahnen?

War die Frau gekommen, um einen Engel zu töten ... oder war sie gekommen, um einen Engel abzulenken?

»Ich versichere Ihnen, Madam, meine Jungfräulichkeit stammt nicht vom Fischhändler«, erwiderte die Frau kühl. »Ich bin tatsächlich Jungfrau.«

Es war möglich. Die Umstände zwangen keusche, gebildete Frauen ebenso auf die Straße wie die lebenslustigen Ungebildeten.

Es spielte keine Rolle. Eine Waffe war in der Hand einer Jungfrau ebenso tödlich wie in der Hand einer Dirne. Gabriels Mittelfinger schmiegte sich an gebogenes Metall.

»Dann nimm deinen Umhang ab, Mädchen, und zeig uns, was du zu bieten hast«, forderte Lord James Ward Hunt, Earl of Goulburn und Innenminister, sie grob heraus. Gabriel würdigte ihn keines Blickes.

Im Kerzenlicht schimmerte das pomadige Haar des Mannes wie schwarzes Öl. Schatten verwandelten Rot in Schwarz. Das Blut der Frau würde ebenso schimmern wie das Haar des Innenministers.

»Ich sehe keinen Grund, mich zur Schau zu stellen, Sir«, erwiderte die verhüllte Frau ruhig. »Nicht mein Körper ist von Wert, sondern meine Jungfräulichkeit.«

Erstaunen ließ das restliche Gekicher verstummen. Huren, die Freier suchten, weigerten sich nicht, ihre Ware zur Schau zu stellen. Gabriel kannte sich aus, er hatte selbst über zwölf Jahre lang als Hure gearbeitet.

Anziehen. Ausziehen.

Reizen. Verführen.

Seinen Körper zu verkaufen war ihm als kleiner Preis für Essen, Schuhe und ein Bett zum Schlafen erschienen. Anfangs. Am Ende hatten seine Liebesdienste ihm nur noch als Beweis gedient, dass er nicht die Hure war, zu der man ihn ausgebildet hatte.

Der zweite Mann hatte ihm bewiesen, dass er sich geirrt hatte.

»Donnerwetter, sie hat Mumm!« Gabriel konzentrierte sich auf die Frau, nicht auf den frisch gewählten Parlamentsabgeordneten, der gerade sprach. »Ich gebe dir zwanzig Pfund, na, und?«

»Die Jungfräulichkeit ist die Mitgift einer Frau«, erklärte die verhüllte Frau ungerührt und wandte sich von Michael fort dem Parlamentsabgeordneten zu. Der Wechsel ihrer Haltung ließ den dunklen Gegenstand erkennen, den sie fest in der Hand hielt: Es war eine Tasche, keine Waffe. »Ist das alles, was die Unschuld einer Frau Ihnen wert ist, Sir? Zwanzig Pfund? Würden Sie Ihre Tochter – oder Schwester – so billig in eine Ehe verkaufen?«

Missbilligung ließ das männliche Interesse umschlagen. Prostituierte, gleich ob männlich oder weiblich, verglichen ihren Wert nicht mit dem der vornehmen Gesellschaft. So hoch der Preis auch sein mochte, den sie für ihr Fleisch verlangen konnten.

Trällerndes Lachen hallte durch die von Kerzen erhellte Dunkelheit. Ein englischer Gentleman und ein Londoner Freudenmädchen gingen die mit rotem Teppich belegte Treppe am Rand des Saales hinauf, Frackschöße flatterten, Seide raschelte.

Sie waren sich beim Jahrgangschampagner einig geworden; ihr Fleisch würde den Handel oben in einem der Schlafzimmer besiegeln.

Gabriels Körper spannte sich, um den Adams-Revolver abzufeuern, während Glut, Geruch, Geräusche und Gehabe von Männern mit Frauen sein Geschlecht peinigten.

Gabriel fürchtete seinen eigenen Tod heute Nacht nicht. Das würde später kommen. Michael sterben zu sehen wäre seine Strafe, der Tod sein Lohn.

Für den Schmerz, für die Lust ...

»Ich gebe Ihnen einhundertfünf Pfund, Mademoiselle, für Ihre ... Unschuld«, bot eine seidige Männerstimme an.

Plötzliches Erkennen straffte Gabriels Kopfhaut. Als er diese Stimme zuletzt gehört hatte, hatte sie fließend Französisch gesprochen, nicht gestochenes Englisch. Es gab keinen Irrtum, wem sie gehörte: Der zweite Mann hatte auf die verhüllte Frau geboten.

Schwarz-weiße Bewegung durchschnitt den Rand seines Blickfelds. Reflexartig schnellte Gabriels Kopf nach rechts, sein Herz pochte, seine Linke war ruhig, das Warten vorüber. Ein Mann in schwarzem Frack beugte sich über ein weißes Seidentischtuch. Blau-orange züngelte eine Flamme zwischen einer stumpfen Zigarre und einer verjüngten Kerze. Graues Haar schimmerte im doppelten Spiel des Lichts, verschwand in einer Rauchwolke.

Er war nicht der Mann, der hundertfünf Pfund geboten hatte. Er war nicht der Mann, den Gabriel töten würde oder der ihn töten würde.

Ein ferner Glockenschlag durchdrang das Holz, das Glas, die pulsierende Erotik und den drohenden Tod, aus dem das Haus Gabriels erbaut war: Big Ben schlug die Stunde, eins, zwei, drei ...

»Ich biete einhundertzwanzig Pfund.«

Ein fast kahler Schädel glänzte wie ein nahezu vollständiger Vollmond zwischen schimmernden goldenen Kragenknöpfen.

»Ich biete hundertfünfzig Pfund.«

Feuertränen funkelten in Kristall und glitzerten in dunklem Haar.

»Mein Gott«, rief Baron Strathgar aus der Mitte des Saales. Sein rundes Gesicht war vom Alkohol gerötet, sein deutscher Akzent vor Erregung stark ausgeprägt. »Ich biete zweihundert Pfund.«

Michaels Wachsamkeit schnürte Gabriel die Brust ab, während die Erwartung des zweiten Mannes ihm wie eine Faust in den Magen schlug.

Leises Gemurmel schwoll zu einer dumpfen Kakophonie an, zweihundert mutmaßende Stimmen wurden laut. Noch nie hatte im Haus Gabriel eine Auktion stattgefunden. Doch nun war eine in Gang. Männer boten keine zweihundert Pfund, um das Jungfernhäutchen einer Frau zu durchstoßen. Doch Strathgar hatte sie gerade geboten.

Gabriel bereitete sich auf das nächste Gebot vor.

Beobachtete. Wartete. Erinnerte sich ...

 ... Wie er zum ersten Mal den Namen Gabriel gelesen hatte, in Druckbuchstaben geschrieben von Michael, während sie warteten, dass der Tag in den Abend überging.

 ... Wie er zum ersten Mal das Wort Michael geschrieben und in den Pausen zwischen den Frauen, die einen dunkelhaarigen Jungen kauften, und den Männern, die ihn kauften, Schreiben geübt hatte.

Überlegte ...

 ... Wann das fleischliche Verlangen absterben und er aufhören würde, bebend nach etwas zu lechzen, was er niemals haben konnte.

 ... Wieso er die Weissagung einer Frau nicht vergessen konnte; dass er eine Frau finden würde, die ihm Lust bereiten würde. Um alles wiedergutzumachen, was er erlitten hatte.

Das Warten endete in Unruhe. Der deutsche Baron schob seinen Mahagonisessel zurück und stand auf, um seine Eroberung einzufordern.

»Ich gebe Ihnen fünfhundert Pfund.«

Strathgar hielt mitten im Schritt inne. Der grauhaarige Mann hatte das Gebot abgegeben. Gabriels Blick streifte den Rücken des Grauhaarigen, huschte hinüber zu der Blondine, die ihm gegenüber saß, und heftete sich auf den Mann am Tisch hinter ihnen. Dessen Haar am Hinterkopf war so schwarz, dass es blau schimmerte.

Gabriel brauchte seine Augen nicht zu sehen, um ihre Farbe zu wissen: Er sah sie jedes Mal, wenn er die Augen schloss, um zu schlafen.

Plötzlich flackerten männliche Spekulationen und weibliche Bosheit im Saal auf. Jemand hatte fünfhundert Pfund für die verhüllte Frau geboten. Jeder Freier beschloss, sie besitzen zu müssen. In rascher Folge meldeten sich Stimmen: »Fünfhundertfünfundzwanzig Pfund.« – »Fünfhundertfünfundsiebzig Pfund.« – »Sechshundert Pfund.« – »Sechshundertfünfzig Pfund.« – »Siebenhundert Pfund ...«

Ein Klicken durchbrach den Aufruhr, eine Tür, die sich öffnete. Licht durchschnitt die Dunkelheit, das Ende nahte. Ein Mann blieb zwei Fuß hinter ihm stehen; zwanzig Fuß unter ihm fing Michael seinen Blick ein.

»Eintausend Pfund.« Schauer überliefen Gabriels übermäßig gespannte Haut.

Das Gebot kam vom zweiten Mann.

Ungläubige Verblüffung ging durch den Saal.

Nur zwei Huren hatten je einen so hohen Preis erzielt. Michel des Anges – Michael von den Engeln, ein Mann, der berühmt war für seine Fähigkeit, Frauen zur höchsten Wonne zu führen – und der Mann, der seit siebenundzwanzig Jahren unter dem Namen Gabriel bekannt war.

Gabriel, die Hure.

Gabriel, der Besitzer.

Gabriel, der unberührbare Engel.

Flackerndes Kerzenlicht dämpfte die Erkenntnis, die in Michaels Miene aufleuchtete: Er hatte gemerkt, dass der zweite Mann zwei Mal geboten hatte. Aber hatte er auch seine Stimme erkannt, fragte sich Gabriel. Er zielte mit seinem Adams-Revolver auf Haar so schwarz, dass es blau schimmerte. Würde Michael das Gesicht des zweiten Mannes noch erkennen, nachdem eine Kugel durch seinen Hinterkopf eingetreten und durch sein Gesicht ausgetreten wäre?

»Monsieur.« Der Mann hinter Gabriel trat nicht näher – Gaston war zu lange in Gabriels Diensten, um diesen Fehler zu machen. »Monsieur, er ist gekommen, wie Sie gesagt haben.«

Jeder, der für Gabriel arbeitete, wusste, dass er mit dem zweiten Mann rechnen musste. Aus diesem Grund hatte er das Haus Gabriel gebaut: um ihn anzulocken, mit Fleischeslust ... mit Mord.

Michael.

Gabriel.

Aber sie wussten nicht, wie er aussah.

Sie wussten nicht, wie er roch.

Sie konnten ihn nicht spüren wie Gabriel, als Krebsgeschwür, das Hoffnung und Verzweiflung, Liebe und Hass verschlang.

»Woher wissen Sie, dass er hier ist, Gaston?«, fragte er ausdruckslos, ohne die Waffe sinken zu lassen.

»Er hat eine Nachricht pour vous geschrieben, Monsieur.« Gaston sprach mit französischem Akzent.

Michael sprach Französisch wie ein Franzose, war aber Engländer. Gabriel sprach Englisch wie ein Engländer, war aber Franzose. Aus welchem Land der zweite Mann kam, wusste er nicht. Den Einzigen, der es ihm hätte sagen können, hatte Gabriel getötet. Es spielte keine Rolle. Es war nicht nötig, die Nationalität eines Mannes zu kennen, um ihn zu töten. Gabriel legte den Finger an den Abzug ...

Plötzlich stand der grauhaarige Mann auf und verdeckte den zweiten Mann. Er half der Blondine beim Aufstehen. Sie war größer als der Grauhaarige und so elegant, wie es nur eine erfolgreiche Prostituierte sein konnte. Diamanten funkelten an Hals und Ohren. Rauch und Dunst rankten sich um ihr Haar – Haar, das fast so blond war wie Gabriels.

Gabriel meinte den Grauhaarigen und die Blondine schon einmal gesehen zu haben. Aber wo?

»Wann hat er Ihnen die Nachricht gegeben, Gaston?«, fragte er kurz angebunden.

Der zweite Mann hatte seine beiden Portiers bestochen, sonst hätten sie die Frau niemals hereingelassen. Das Haus Gabriel bewirtete keine Armen.

Er fragte sich, ob der zweite Mann auch seinen Geschäftsführer bestochen hatte. Ihm war klar, dass es durchaus möglich war. Jeder Mann und jede Frau in seinem Haus hatten ihren Preis. Andernfalls stünden sie nicht in Gabriels Diensten.

Der Grauhaarige und die Blondine schlängelten sich ohne Hast zwischen den von Kerzen erhellten Tischen hindurch. Eine graue Rauchfahne folgte ihnen.

Die verhüllte Frau stand reglos da. Unberührt von der Gefahr, die um sie her knisterte.

»Ein Kellner hat diese Nachricht vom Boden aufgehoben«, erklärte Gaston steif, gekränkt über Gabriels unausgesprochenen Verdacht. »Sie ist auf une serviette geschrieben.«

Das Bild eines Kellners, der sich vorbeugte und mit einer Serviette in der Hand wieder aufrichtete, blitzte vor Gabriels innerem Auge auf. Plötzlich überlief ihn vor Anspannung eine Gänsehaut.

Der Kellner war nicht in die Nähe des Mannes mit dem blauschwarzen Haar gekommen.

Er wollte den Abzug ziehen.

Er wollte den zweiten Mann töten. Er wollte die reinigende Endgültigkeit des Todes. Gabriel drückte nicht ab. Stattdessen beobachtete er den grauhaarigen Mann. Er beobachtete die blonde Frau. Er sah, wie das Paar am Ausgang innehielt.

Hinter Gabriel wartete Gaston gespannt. Unter Gabriel drehte sich die blonde Frau anmutig um, das helle Seidenkleid wirbelte. Der Grauhaarige ging durch die Tür. Als er verschwand, fiel Gabriel ein, wer er war: Ein Mitglied des Hundred Guineas Club, eines Etablissements für homosexuelle Männer, die in Frauengestalt auftraten. Die Blondine fing Gabriels Blick ein.

Das Wiedererkennen traf ihn wie ein Schlag.

Es waren nicht die Augen einer Frau, die ihn anstarrten; es waren die Augen des zweiten Mannes. Als Prostituierte getarnt, nicht als Freier. Eine Frau, kein Mann. Dem Erkennen folgte die Erkenntnis.

Der zweite Mann hatte die verhüllte Frau nicht hergebracht, um Michael, den dunkelhaarigen Engel, zu töten: Er hatte sie für Gabriel, den blonden Engel, hergebracht.

Lächelnd warf der zweite Mann eine höhnische Kusshand und verschwand. Aus Gabriels Reichweite. Aus Gabriels Haus.

Während Gabriel zusah. Ohne ihn aufhalten zu können.

Ebenso wie er ihn nicht hatte aufhalten können, als er in einer Mansarde angekettet war und von ihm lernte, was die französische Madame ihn nicht hatte lehren können. Rage spannte seine Muskeln. Er hatte eine Falle aufgestellt, nur um selbst in die Falle zu tappen.

Der zweite Mann würde heute Nacht nicht Michael töten, aber er würde töten. Er würde niemandem das Leben schenken, der ihn identifizieren konnte.

Niemandem außer der verhüllten Frau ... falls Gabriel sie nahm.

»Wie lautet die Nachricht?«, fragte Gabriel gepresst.

»II dite ...« Gaston räusperte sich. »Sie lautet: Gabriel, ich zitiere Shakespeare, einen Mann, den deine Schönheit und Expertise sicher inspiriert hätten: Die ganze Welt ist Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler.

Du hast eine wunderbare Bühne aufgebaut, mon ange, nun bringe ich dir eine Frau. Eine Hauptdarstellerin, wenn du so willst. Laissez le jeu commencer.«

Unmittelbar unterhalb von Gabriel schaute Michael sich suchend im Saal nach dem zweiten Mann um. Seine Unschuld krampfte Gabriels Magen zu einem Knoten zusammen. Michael hatte sich immer nur eine Frau gewünscht, die er lieben konnte. Gabriel hatte sich immer nur gewünscht, wie Michael zu sein.

Ein Mann voller Leidenschaft; ein Mann voller Unschuld. Ein Mann mit Seele.

Die verhüllte Frau stand allein, scheinbar unberührt von dem Wirbel, den sie verursacht hatte.

Angst fiederte Gabriels Fleisch.

Ich bringe dir eine Frau, hallte es in seinen Ohren nach. Laissez le jeu commencer. ‘

Die Londoner Straßen waren voller Dirnen; Frauen schliefen auf den Schwellen der Armenhäuser. Doch der zweite Mann hatte diese Frau ausgewählt.

Sie war Jungfrau. Oder Hure.

Sie war angeheuert, um Gabriel zu töten. Oder sie war angeheuert, von Gabriel getötet zu werden. Sie war die letzte lebende Verbindung zum zweiten Mann.

Es gab nichts, was Gabriel nicht tun würde, um ihn zu erwischen. Und das wusste er.

»Ich biete zweitausend Pfund für die Frau«, schallte es über den Lärm unter ihm. Die Stimme gehörte Gabriel.

Er spürte zweihundert Augenpaare auf sich.

Gabriel war seit vierzehn Jahren, acht Monaten, zwei Wochen und sechs Tagen mit keiner Frau mehr zusammen gewesen. Die Freier wüssten es. Die Prostituierten wussten es.

Der Mann, der ihn retten wollte, wusste es.

Der Mann, der zwei Engel töten wollte, wusste es.

Das Gesicht der Frau war in Dunkelheit gehüllt. Gabriel wusste nicht, was sie wusste. Bis jetzt. Aber er würde es erfahren. Bevor die Nacht vorüber wäre, würde er alles über sie erfahren.

Er hoffte um ihretwillen, dass sie eine Mörderin war. Es wäre besser für sie.

Wenn Gabriel sie nicht tötete, würde der zweite Mann es tun. Es wäre ein wesentlich schlimmerer Tod als der, den Gabriel ihr bereiten würde.

Laissez le jeu commencer.

Lasst das Spiel beginnen.

Kapitel 2

Leidenschaft.

Victoria schaute in silberne Augen und begriff, wieso respektable Männer und Frauen in das Haus Gabriel kamen.

Sie kamen, um Leidenschaft zu erleben.

Sie war gekommen, um ihr zu entrinnen.

»Sie können gehen, Gaston.«

Die seidige Männerstimme drang durch Dunst. Rauch. Wolle. Fleisch. Knochen.

Ein Raunen schabte über Victorias Haut, das Geräusch einer sich schließenden Tür. Die sie in einer Bibliothek einschloss, statt in einem Schlafzimmer, wie sie erwartet hatte. Am Ausgang der Nacht würde es nichts ändern.

Victoria wusste, dass ein Mann kein Bett brauchte, um sich mit einer Frau zu paaren: Häufig genügte ein Hauseingang oder eine Gasse.

Ein elektrischer Kronleuchter ergoss sein Licht über sie. Ein Schreibtisch mit silbern geäderter schwarzer Marmorplatte und ein blassblauer Ledersessel im Queen-Ann-Stil standen zwischen ihr und dem blonden Mann. Ihre Kapuze versperrte ihr den Blick zu den Seiten; aber sie wusste um die Gefahr, die um sie her knisterte. Sie schützte sie nicht vor der Tatsache, dass sie ihren Körper an den höchst Bietenden verkauft hatte.

Er regte sich nicht, dieser Mann, der ihre Jungfräulichkeit ersteigert hatte, eine griechische Statue in maßgeschneidertem schwarzseidenem Frack mit weißer Weste und hellblondem Haar, schimmernd wie gesponnenes Silber.

Ein Stich fuhr ihr durch die Brust.

Er war so schön, dass es wehtat ihn anzuschauen.

Mit pochendem Herzen und rasenden Gedanken riss Victoria sich von seinem Anblick los. Sie hatte ihn schon einmal gesehen: die hohen Wangenknochen, der klar geschnittene Mund, Augen, die niedrigste Begierden durchschauten ...

Seine Linke lag mit der Handfläche auf dem schwarzen Marmor: blasse Finger, lang und schlank, kurze Fingernägel, matt schimmernd. Sein kleiner Finger mündete in einen Berg weißer Seide.

Victoria machte sich keine Illusionen, was Männer Frauen antaten. Die Hand, die sie streichelte, konnte sie ebenso verletzen. Entstellen. Töten.

Ihr Blick fuhr hoch.

Silberne Augen erwarteten ihren Blick.

Victorias Magen ballte sich wie eine Faust.

Vor Hunger, sagte sie sich.

Und wusste, dass sie log.

Sie hatte Angst. Aber Angst konnte sie sich nicht leisten.

»Sie haben zweitausend Pfund für meine Jungfräulichkeit geboten«, sagte sie unverblümt.

»Ich habe zweitausend Pfund geboten«, bestätigte er ausdruckslos mit undurchdringlichem Blick.

Aber die Unschuld einer Frau ist keine zweitausend Pfund wert, hätte Victoria schreien mögen. Sie tat es nicht.

»Ich besitze in diesen Dingen keine Erfahrung.« Sie umklammerte ihre wollene Tasche; ihr Ringfinger glitt durch eine lose Masche. »Wie beabsichtigen Sie mich zu bezahlen?«

»Das liegt ganz bei Ihnen, Mademoiselle.«

Der Kellner, der sie zu dem Mann hinter dem Schreibtisch mit der schwarzen Marmorplatte geführt hatte, hatte sie ebenfalls Mademoiselle genannt. Er hatte einen unverkennbar französischen Akzent gesprochen.

Der Mann, der einhundertfünf Pfund und später tausend Pfund geboten hatte, hatte sie ebenfalls Mademoiselle genannt. Er hatte mit einem unverkennbar englischen Akzent gesprochen.

Wie dieser Mann. Ein Zwang überfiel sie, die Nationalität des Mannes zu erfahren, der ihr die Unschuld nehmen würde. Victoria schluckte.

Prostituierte stellten ihren Freiern keine Fragen. Und durch ihr Handeln hatte sie heute Abend den Rang einer stellungslosen Gouvernante verloren und sich zur Prostituierten gemacht.

Entschlossen hob sie die Arme und streifte ihre Kapuze ab.

Spannung durchzuckte die Luft. Victoria erstarrte.

Der kleine Finger des Mannes, der den Berg weißer Seide berührt hatte, war nun darunter verborgen. Sie hatte die Bewegung nicht gesehen, aber er hatte sich bewegt.

»Ziehen Sie den Umhang aus.«

Es war ein kalter, barscher Befehl.

Ihr Blick schnellte hoch.

Sein Gesicht und seine Augen waren bar jeder Begierde.

Die letzten sechs Monate hatten Victoria gelehrt, dass Männer eine Frau nicht begehren mussten, um sie zu besitzen. Manche Männer fanden ihre Lust in der Macht, andere im Schmerz.

Schweiß sammelte sich unter ihren Brüsten und kroch über ihren Magen. Worin fand dieser Mann Lust, fragte sie sich: in Macht ... oder Schmerz?

Warum sollte ein Mann – ein Mann, der doch sicher jede haben konnte, die er begehrte – zweitausend Pfund für die Jungfräulichkeit einer Frau bezahlen?

Sein silberner Blick wich nicht von ihr; die langen, hellen Finger rührten sich nicht von dem Seidentuch fort.

Bald würde er sie mit diesen Fingern berühren, dachte Victoria mit einem wachsenden Gefühl von Unwirklichkeit. Er würde ihre Brüste kneten und ihre Scham befingern.

Vielleicht auch nicht.

Vielleicht würde er sie an die Wand gelehnt nehmen oder über den Marmorschreibtisch gebeugt, ohne einleitende Küsse. Ohne Zärtlichkeiten. Nur ihre Geschlechter würden sich berühren.

Die Frau in Victoria schrie nach Flucht.

Die praktische Seite in ihr warnte, dass sie nirgendwohin laufen konnte. Ein sprühender Funke im Kamin unterstrich ihren Entschluss.

Was in dieser Nacht auch geschehen mochte, mit diesem Mann, es war ihre Entscheidung. Sie würde nicht davor zurückschrecken.

Unbeholfen öffnete sie mit entschlossenem Mund die Holzknöpfe ihres wollenen Umhangs. Als ihr linker Arm frei war, nahm sie die Tasche in die Linke und streifte den Umhang von der rechten Schulter. Sorgfältig drapierte sie den mottenzerfressenen Wollstoff über ihren linken Unterarm, als sei er wertvoll.

Er war es nicht. In den letzten sechs Monaten hatte sie alles verkauft, was sie besaß. Und es war immer noch nicht genug.

Der Mann mit den silbernen Augen warf einen flüchtigen Blick auf den Saum ihres braunen Wollkleids. Dunkle Wimpern warfen noch dunklere Schatten auf seine Wangen.

Sie wusste, was er sah.

Der Rock legte sich in Pfützen um ihre Füße. Ihre Tournüre hatte sie vor zwei Monaten verkauft.

Langsam schlug er die Lider auf; sein Gesicht war eine Alabastermaske.

Victoria sah sich, wie er sie sehen musste. Ihr Gesicht war hager vor Kälte, Angst und Hunger, ihr dunkelbraunes Haar matt vom Waschen in eiskaltem Wasser ohne jedes Waschmittel.

Sie war nicht schön, aber Schönheit hatte sie ihm auch nicht angeboten; sie hatte ihm ihre Unberührtheit geboten. Victoria straffte die Schultern.

»Wie heißen Sie, Mademoiselle?«, fragte er höflich, unverbindlich. Als hätten sie sich auf einem Ball kennen gelernt statt in einem Lokal mit schlechtem Ruf.

Verschiedene Namen gingen Victoria durch den Kopf: Chas- tity, Keuschheit, Prudence^ Besonnenheit. Keiner war angebracht. Eine keusche, besonnene Frau wäre jetzt nicht in ihrer Lage.

»Mary«, log sie. Und wusste, dass er ihre Lüge durchschaute.

»Legen Sie Ihren Umhang und die Tasche auf den Stuhl.«

Victoria sog die Lippen an die Zähne, um ihre aufwallende Wut zu bezähmen. Er konnte sie immer noch zurückweisen, dieser elegante Mann, der von Schönheit und Luxus umgeben war. Nicht einen Gedanken würde er an die Hölle verschwenden, in die seine Zurückweisung sie verdammen würde.

Zu ihrer Linken glitzerte Gold an einer Bücherwand mit geprägten Ledereinbänden. Über ihrem Kopf strahlte ein Kristalllüster Hitze aus. Zu ihrer Rechten tanzten blau-gelb-rote Flammen in einem schwarzen Marmorkamin.

Eine blendende Sekunde lang hasste sie den Mann mit dem silberblonden Haar und den silbergrauen Augen für seinen Reichtum und die Männlichkeit, mit der er geboren war. Nur ihr Geschlecht und die Macht, die Männer aus der Unterwerfung einer Frau bezogen, hatten sie so tief sinken lassen, ihre Jungfräulichkeit zu verkaufen.

Victoria trat vor und legte den zerlumpten Wollumhang über die Lehne des Ledersessels, der ihr einziger Schutz war. Zögernd ließ sie die Tasche auf das Polster fallen und verhöhnte sich innerlich für ihr Widerstreben, sich davon zu trennen: Das einzig Wertvolle, was ihr geblieben war, war ihr Jungfernhäutchen.

Und auch das sollte bald dahin sein.

Mit plötzlicher Schärfe sagte er: »Gehen Sie von dem Sessel weg.«

Victoria schaute auf in stechende silberne Augen.

Ihr Herz pochte bis in ihre Kehle.

Die Wut, die in ihr schwelte, zwang das Herzklopfen nieder. Sie wollte kein Opfer sein. Nicht dieses Mannes. Nicht des Mannes, der ihr Leben systematisch zerstört hatte, nur weil er umsonst bekommen wollte, wofür dieser Mann zu zahlen bereit war.

Entschlossen trat Victoria neben den Sessel.

»Soll ich mein Kleid ausziehen?«, fragte sie unverfroren, wobei ihr Herz hämmernd in Ohren, Schläfen und Brust pochte. »Oder soll ich bloß meinen Rock schürzen und mich an eine Wand lehnen?«

»Schürzen Sie oft Ihren Rock, Mademoiselle?«, fragte er höflich mit mutwilligem Blick.

Victorias Kopf schnellte hoch. »Ich bin keine Hure«, sagte sie gepresst. Aber wozu?

Schatten schimmerten in seinen Augen und machten aus Silber Grau. »Sie haben Ihren Körper versteigert, Mademoiselle. Ich versichere Ihnen, das macht Sie zur Hure.«

»Und Sie haben meinen Körper gekauft, Sir«, schlug sie zurück. »Was macht das aus Ihnen?«

»Eine Hure, Mademoiselle«, sagte er ausdruckslos, das blasse Gesicht eine schöne Maske. »Sind Sie nicht nur hart, sondern auch nass?«

Schrecken durchfuhr Victoria.

Er hatte bestimmt nicht gesagt, was sie zu hören meinte.

»Verzeihung?«

»Ihre Knospen sind hart, Mademoiselle. Ich habe mich nur gefragt, ob Sie auch nass vor Verlangen sind.«

Victoria hielt ihre Hände seitlich am Körper, plötzlich war sie sich der Wolle bewusst, die sich mit jedem Atemzug an ihren Brustwarzen rieb. Der kastanienbraune Teppich, die hohe weiße Decke und die in blassem Blau gestrichenen Wände schluckten die Geräusche der Freier und Prostituierten, die sich dahinter paarten; sie konnten jedoch die Bilder nicht abwehren, die seine Worte zwangsläufig heraufbeschworen.

Von Männern und Frauen.

Die sich umarmten. Küssten. Berührten.

Sich windende nackte Körper.

Die Lust gaben. Lust empfingen.

Bei all jenen fleischlichen Akten, nach denen anständige Frauen kein Verlangen verspürten. Das hatte sie zumindest glauben wollen. Die letzten sechs Monate hatten sie eines Besseren belehrt.

»Meine Brustwarzen sind hart, weil es draußen kalt ist«, erklärte sie kurz angebunden.

»Aber hier drinnen ist es nicht kalt. Angst, Mademoiselle, ist ein starkes Aphrodisiakum. Haben Sie Angst?«

»Ich bin Jungfrau, Sir.« Sie straffte ihren Rücken; ihre Brustwarzen stachen in ihr wollenes Mieder. »Ich habe noch nie einen Mann in mich aufgenommen. Ja, ich habe Angst.«

»Wie alt sind Sie?«

Victorias Herz stockte. Sah sie älter oder jünger aus, als sie war, fragte sie sich. Sollte sie lügen oder die Wahrheit sagen? Was wünschte ein Mann wie er sich von einer Frau?

»Ich bin vierunddreißig Jahre alt«, sagte sie schließlich zögernd.

»Sie sind kein junges Mädchen mehr.«

»Und Sie sind kein junger Mann mehr, Sir«, erwiderte sie. Victoria kniff die Lippen zusammen, zu spät, ihre Worte hallten zwischen ihnen wider.

»Nein, ich bin kein junger Mann mehr, Mademoiselle«, sagte er gleichmütig. »Aber ich bin sehr neugierig, warum Sie sich in Ihrem Alter entschlossen haben, sich heute Nacht im Haus Gabriel von Ihrer Jungfräulichkeit zu trennen.«

Hunger. Verzweiflung. Aber ein Mann wie er würde von Armut nichts hören wollen.

Victoria versuchte es mit Koketterie. »Vielleicht weil ich wusste, dass Sie heute Abend hier sein würden. Sie sind sehr schön, wissen Sie. Das erste Mal sollte eine Frau mit einem Mann wie Ihnen zusammen sein.«

Das Kompliment misslang. Victoria war keine kokette Person.

»Ich könnte Ihnen wehtun«, sagte er sanft.

Sein Blick hatte nichts Sanftes.

»Ich bin mir durchaus im Klaren, was ein Mann einer Frau antun kann.«

»Ich könnte Sie töten, Mademoiselle.«

Victorias Herz schlug gegen ihre Rippen.

»Sind Sie so kräftig gebaut, Sir?«, fragte sie höflich.

Wollte fliehen. Wollte kämpfen. Wollte die Nacht hinter sich bringen, um die Scherben ihres Lebens zusammenzukehren.

»Ja, Mademoiselle, ich bin kräftig gebaut«, sagte er nachdrücklich und musterte sie aufmerksam aus silbergrauen Augen. »Ich bringe es auf eine Länge von über neun Zoll. Warum haben Sie im Saal Ihren Umhang nicht ausgezogen?«

Brennende Holzscheite knackten.

Über neun Zoll, zwischen ihre Schenkel gestoßen.

Das Bild eines männlichen Geschlechts – dunkle Venen, karmesinrote, vortretende Eichel – blitzte vor Victorias Augen auf. Es wurde überlagert vom Bild des Innenministers Lord James Ward Hunt, Earl of Goldburn ... Zieh den Umhang aus, Mädchen, und zeig uns, was du zu bieten hast.

Sonntags dinierte der Innenminister mit ihrem Vater; während der Woche verunglimpfte er vor dem Oberhaus liederliche Frauen – das »schwache Geschlecht« – in dem ständigen Bemühen, die Londoner Straßen von Prostitution zu säubern. Sie fragte sich, ob ihr Vater vom nächtlichen Treiben seines Freundes wusste. Sie fragte sich, ob ihr Vater es ihm gleichtat.

Nichts war mehr so, wie sie noch vor sechs Monaten geglaubt hatte: nicht die so genannten achtbaren Männer und Frauen, nicht die Bürger auf den Londoner Straßen und vor allem Victoria nicht.

Ihr Leben lang war sie vor Begierden zurückgescheut; jetzt konnte sie ihnen nicht mehr entrinnen.

»Ich sah keinen Nutzen darin, mich öffentlich zur Schau zu stellen«, erklärte Victoria hölzern. »Von Wert ist meine Jungfräulichkeit, nicht mein Äußeres.«

»Hatten Sie Angst, dass die Männer Sie nicht attraktiv finden könnten?«

Sie hatte Angst, dass man sie erkennen könnte.

»Schönheit habe ich nicht angeboten«, sagte sie abwehrend. Und biss sich auf die Lippen, weil sie sich zu einer Gefühlsregung verleiten ließ.

Damen zeigten in der Öffentlichkeit keine Gefühle. Von Prostituierten erwartete man ebenso wenig wie von Gouvernanten, dass sie Gefühle besaßen, geschweige denn sie äußerten. Victoria, die früher eine Dame, dann Gouvernante und nun praktisch eine Prostituierte war, besaß jedoch Gefühle. Aber sie wollte sie nicht besitzen.

»Sie finden sich nicht schön?«, fragte er leichthin mit bohrendem Blick aus silbernen Augen. Sein Gesicht, von einem kurzen weißen Kragen mit passender Fliege gerahmt, seine Finger, von silbern geädertem schwarzem Marmor gerahmt, waren von erlesener Eleganz.

»Nein«, sagte Victoria verkrampft. Aufrichtig.

Frauen verpfändeten ihr Leben an ihre Eltern, Ehemänner und Kinder. Unterwerfung hatte nichts mit Schönheit zu tun.

»Und dennoch glauben Sie, Sie seien zweitausend Pfund wert.«

»Ich habe einhundertfünf Pfund verlangt«, entgegnete sie. »Sie haben zweitausend geboten.«

»Geld ist Ihnen wichtig«, bohrte er.

Victoria biss die Zähne zusammen. »Für Geld bekommt man Kohlen. Essen. Ein Dach über dem Kopf. Ja, Geld ist mir wichtig wie uns allen.«

Von dem Geld, das er als Stundenmiete für dieses Zimmer bezahlt hatte, hätte sie einige Wochen bequem leben können.

»Und was genau wären Sie bereit für Geld zu tun, Mademoiselle?«

Ein kalter Schauer lief Victoria über den Rücken, gefolgt von einer Hitzewelle.

Fragte er sie, welche körperlichen Gefälligkeiten sie ihm erweisen würde?

»Ich tue alles, was Sie wünschen.«

»Sie würden zulassen, dass ich Ihnen wehtue.«

Es war keine Frage.

Ihr Herz stockte, bevor es zu rasen begann. »Ich würde es vorziehen, wenn Sie es nicht täten.«

»Wann haben Sie zuletzt etwas gegessen?«

Zorn brannte in Victoria.

Er spielte mit ihr. Nur weil er es konnte.

»Ich bin nicht hier, um mich mit Ihnen über meinen Appetit zu unterhalten, Sir.«

»Aber Sie haben doch Hunger.«

Ihr Magen knurrte zustimmend.

»Nein«, log Victoria. »Ich habe keinen Hunger«

»Aber Sie wissen, wie es ist, zu hungern.«

Diesem Mann, der jeden weiblichen Instinkt ansprach, den sie je zu unterdrücken versucht hatte, würde sie keine Schwäche eingestehen.

»Ich habe gelegentlich eine Mahlzeit ausgelassen, ja.«

Die letzte Kruste eines kleinen Brotes hatte Victoria vor drei Tagen aufgegessen.

»Würden Sie für Geld töten, Mademoiselle?«

Manchmal töteten und beraubten Straßenmädchen die Freier, die sie bedienten. Hielt er sie für eine Straßendirne? Ein rissiger Fingernagel grub sich in ihre Handfläche. »Ich mag mich zwar heute Nacht prostituieren, Sir, aber ich bin weder eine Diebin noch eine Mörderin. Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben.«

»Sie haben bisher noch nie einen Mann getötet?«, fragte er nach.

»Nein«, erklärte sie bestimmt. Aber Victoria hatte schon den Wunsch danach verspürt.

Als sie ihre mageren Ersparnisse von Tag zu Tag schwinden sah, hatte sie dem Mann, der dafür verantwortlich war, ebenso Leid zufügen wollen, wie er sie leiden machte.

»Würden Sie mich anbetteln, Mademoiselle?«

Die Kälte, die Victorias Rückgrat erstarren ließ, nistete sich in ihrer Brust ein.

»Nein«, sagte sie laut und deutlich. Entschieden. Hielt seinem Blick stand. »Nein, ich werde Sie nicht anbetteln.« Sie würde keinen Mann anbetteln.

Ein brennendes Holzscheit sackte im Kamin in sich zusammen. Funken sprühten.

»Ziehen Sie sich aus.«

Victorias Magen knurrte als verräterische Mahnung an ihre Sterblichkeit.

Wenn er sie nahm, könnte sie sterben.

Wenn er sie nicht nahm, würde sie mit Sicherheit sterben.

Vor Kälte. Vor Hunger.

Vielleicht würde man sie ihres Umhangs oder der Schuhe wegen töten, damit jemand anderes auf den Londoner Straßen eine Nacht, eine Woche, einen Monat überleben konnte.

Als stünde Victoria neben sich, hob sie die Hände an ihr Mieder. Sie sah sich durch silberne Augen.

Rote, rissige Finger öffneten einen Knopf, zwei, drei ... Bleiche Haut schimmerte durch den breiter werdenden Spalt des Wollmieders. Der Halsansatz ... das Tal zwischen ihren Brüsten ... die nach innen, statt nach außen gewölbte Rundung ihres Bauches ...

Victoria atmete tief durch und zuckte die Achseln. Raue Wolle rieselte über ihren Rücken, ihre Hüften und sackte zu ihren Füßen in sich zusammen.

Es gab kein Hemd, keine Unterröcke, hinter denen sie sich hätte verstecken können. Auch sie hatte sie auf der St. Giles Street verkauft.

Sie straffte die Schultern und war sich der sackigen Seidenunterhose um ihre Hüften, der an den Knien ausgebeulten Wollstrümpfe und der an den Knöcheln reibenden Stiefeletten stärker bewusst als ihres Atems.

Sie zwang sich, an nichts zu denken.

Hitze leckte ihre Haut, während sein kalter Blick über ihren Körper schweifte. Schultern. Brüste. Die Seidenunterhose über dem Scheitelpunkt ihrer Schenkel.

Zurück zu ihren Schultern, ihren Brüsten.

Sein Blick ruhte auf ihren Brustwarzen.

Sie waren tatsächlich hart.

Von der Kälte, sagte sie sich. Und wusste, dass sie schon wieder log.

Victoria wollte die Hände eines Mannes auf ihrem Körper spüren.

Sie wollte die Hände dieses Mannes auf ihrem Körper spüren.

Sie wollte ein für alle Mal der Jungfräulichkeit ein Ende bereiten, die zugleich der kostbare Besitz einer Frau und das Werkzeug ihres Sündenfalles war.

Zielstrebig griff Victoria nach dem Bund ihrer verschlissenen Seidenhose. Auch sie verlor sich im Faltenkreis ihres Wollkleides. Auf ihrem nackten Hinterteil breitete sich eine Gänsehaut aus.

Sie brauchte seinem Blick nicht erst zu folgen, um zu wissen, wohin er starrte: auf das Haar zwischen ihren Schenkeln, das so kraus wie ihr Kopfhaar glatt war.

Hitze folgte der Bahn seines Blickes.

Kein Mann hatte Victoria je nackt gesehen. Dieser Mann hatte sicher schon Hunderte nackter Frauen gesehen. Frauen mit weicher Haut und vollen, geschmeidigen Hüften. Frauen, deren Rippen nicht vorstachen wie Fischbein in einem Korsett. Frauen, die wussten, was sie von einem Mann wie ihm zu erwarten hatten.

Hastig beugte Victoria sich vor, um das provisorische Strumpfband an ihrem rechten Schenkel mit gewölbtem Rücken und baumelnden Brüsten aufzubinden.

»Stellen Sie sich hin.«

Der barsche Befehl ließ sie hochfahren. Leichte Farbe trat in die Wangen des Mannes. Sie machte die scharf geschnittene Perfektion seines Gesichts härter statt weicher.

Die Luft um ihn herum pulsierte. Vielleicht pulsierten aber auch die Venen in Victorias Augen.

Der Mann mit den silbergrauen Augen und dem silberblonden Haar war nicht so distanziert, wie er vorgab.

Sie war nicht so distanziert, wie sie vorgab.

»Treten Sie aus Ihren Kleidern heraus.«

Victorias Magen schlug Purzelbäume, als sie linkisch aus ihrer Unterhose und ihrem Kleid trat. Die Doppelschnur, die ihre Strümpfe hielt, schnitt in ihre Haut, als sie das rechte Knie beugte, dann das linke. Ihr Fuß versank im Moor des braunen Plüschteppichs.

»Lassen Sie Ihr Haar herunter.«

Sein Ton war immer noch barsch, seine Sprache aber nicht mehr so gepflegt. Englisch mit einer Spur Französisch.

Victorias Brüste pochten im Takt zu ihrem Herzklopfen. Flüchtig fragte sie sich, ob er ihren Herzschlag sehen konnte.

Sie hob die Arme und suchte mit geschärften Sinnen, vorgereckter Brust und straffem Bauch eine Haarnadel ...

»Drehen Sie sich um.«

Victoria hielt inne, ihr Herz pochte, pochte. »Verzeihung?«

»Drehen Sie mir den Rücken zu und machen Sie Ihr Haar los.«

Wenn sie ihm den Rücken zuwandte, konnte sie sich nicht schützen.

Vor sechs Monaten hatte sie sich, eingeschnürt in ein Korsett und hinter ihrer Tugend verschanzt, nicht zu schützen vermocht. Victoria drehte sich um.

Ein blassblauer Lederdivan beherrschte die gegenüberliegende Wand. Darüber verschlang ein blaues Meer einen glutroten Sonnenuntergang. Vage erkannte Victoria in dem Gemälde die Schule der Impressionisten, der Schöpfer tanzenden Lichts und schimmernder Farben.

Sorgfältig entfernte sie die Haarnadeln; der Blick des Mannes hinter ihr war eine spürbare Berührung. Auf ihren Pobacken. Auf ihrem Nacken. Ihren Schultern. Zurück zu ihrem Hinterteil.

Auf dem Gemälde beugte sich ein schemenhafter Mann über ein kleines Boot; er ruderte über welliges Wasser einer untergehenden Sonne entgegen. Niemand würde je seinen Namen erfahren. Vielleicht hatte er keinen Namen. Vielleicht war er eine Ausgeburt der Fantasie des Künstlers. Ein Mann, der außerhalb des Gemäldes kein Leben besaß.

Unverständliche Gefühle wallten in Victoria auf: Demütigung, Erregung; Wut, Angst.

Ihr Haar fiel auf ihren Rücken; eine dicke, schwere Decke, die ihre Nacktheit verbarg und das Tal zwischen ihren Pobacken kitzelte. Es hielt die kommende Wirklichkeit nicht auf.

»Drehen Sie sich zu mir um.«

Haarnadeln stachen Victoria in die rechte Handfläche, als sie sich langsam umdrehte. Die Wärme des Zimmers spiegelte sich nicht in den Augen, die sie musterten.

Das war es, dachte sie – das war der Augenblick, in dem sie den letzten Rest ihrer Mädchenjahre verlieren würde. Das war es, worauf die letzten sechs Monate hinausgelaufen waren. Wohin die rasende Auktion unten geführt hatte. Die Zukunft stand vor ihr.

Sie wusste nicht, was jenseits dieses Augenblicks, dieser Nacht lag.

Sie wusste nicht, als was sie am nächsten Tag erwachen würde: als Victoria, die Frau, oder als Victoria, die Prostituierte. Die Angst, die sie während der Auktion in Schach gehalten hatte, überschwemmte sie in einer schwarzen Woge schierer Panik.

Sie hatte gelogen, als sie sich sagte, eine Frau, die ihren Körper verkaufe, behalte die Kontrolle: Victoria hatte die Kontrolle nicht, der Mann mit den silbernen Augen hatte sie.

Und er wusste es.

»Ich kenne Ihren Namen nicht«, platzte sie heraus. Ihr Haar drückte schwer wie ein Amboss auf ihren Körper.

»Nicht, Mademoiselle?«, fragte er leise, verführerisch.

Victoria öffnete den Mund, um zu antworten, sie könne unmöglich seinen Namen kennen: Frauen wie sie bewegten sich nicht in denselben Kreisen wie Männer wie er.

Stattdessen fragte sie: »Finden Sie mich begehrenswert?

Morgen würde sie bei der Erinnerung an ihre Frage entsetzt sein. Aber nicht jetzt.

Kein Mann hatte ihr je gesagt, sie sei begehrenswert.

Achtzehn Jahre lang hatte sie sich unscheinbar frisiert und gekleidet, um nicht die Aufmerksamkeit eines Mannes zu erregen und ihre Stellung zu verlieren. Nur um sie doch zu verlieren. Ihre Stellung. Ihre Unabhängigkeit. Ihre Selbstachtung.

Sie gab diesem Mann ihre Jungfräulichkeit, auch wenn er dafür bezahlte.

Sie musste von ihm hören, dass er sie begehrenswert fand.

Sie musste wissen, dass eine Frau in ihrer Geschlechtlichkeit eben solchen Wert besaß wie in ihrer Tugendhaftigkeit.

Der Kronleuchter über ihrem Kopf flackerte und brannte in silbernen Augen, ein Spiegel der Trostlosigkeit ihrer Seele. Victorias Herzschlag zählte die verrinnenden Sekunden ...

Wenn er sie erniedrigte ...

»Ja, ich finde Sie begehrenswert«, sagte er endlich.

Er log. Schmerz erblühte zu plötzlichem Zorn. »Nein, das tun Sie nicht«, fuhr Victoria auf.

Er wollte, was auch die anderen wollten: ein Stück Fleisch, statt einer Frau.

Die glänzenden Lichter, die in seinen Augen funkelten, verloschen. »Woher wissen Sie, was ich empfinde, Mademoiselle?«

Blut trommelte in Victorias Brüsten und Schenkeln und spornte sie an: »Würden Sie mich begehren, Sir, dann säßen Sie nicht da und starrten mich an, als wäre ich mit Ungeziefer verseucht. Ich bin genauso sauber wie Sie.«

Genauso wertvoll wie er. Die Stille, die ihn umgab, dehnte sich aus, bis sie die Luft verschlang.

»Warum sollte ich Sie ersteigern, wenn ich Sie nicht begehre?«, fragte er leise.

»Sie haben mich nicht gesehen«, erklärte Victoria, vergeblich bemüht, ihrer rasenden Gefühle Herr zu werden. Das hatte sie nicht herausgefordert. »Wie können Sie etwas begehren, was Sie nicht sehen?«

Wie konnte sie sich nach etwas sehnen, was sie noch nie erlebt hatte? Aber sie sehnte sich danach.

Insgeheim hatte sie davon geträumt, dass ein Mann sie als die Frau lieben würde, die sie war, und nicht als Inbegriff der Tugend, die zu verkörpern sie sich gezwungen hatte. Dieser Traum war nun dahin. Kein Mann würde sie je lieben: Männer liebten keine Huren.

Der Mann vor ihr saß still wie eine Statue mit unverwandtem Blick. Hatte er je geliebt? War er je geliebt worden?

»Was glauben Sie, weshalb ich Sie ersteigere, wenn ich Sie nicht haben will?«, fragte er in betörend zärtlichem Ton.

In seinen Augen lag keine Zärtlichkeit. Aber Victoria wollte dort Zärtlichkeit sehen. Sie wollte, dass ihm an ihr lag ...

Nach dieser Nacht wäre sie nicht mehr dieselbe. Sie brauchte jemanden, der der alten Victoria Childers nachtrauerte und die neue begrüßte.

»Manche Männer glauben, dass man die Pocken heilen kann, indem man eine Jungfrau nimmt«, behauptete sie kühn, um eine Emotion – irgendeine Reaktion – von diesem Mann zu provozieren, der in seinem ganzen Leben keinen Tag Hunger erlebt hatte.

Es gelang ihr.

Seine silbernen Augen verengten sich. »Ich habe nicht die Pocken, Mademoiselle.«

Victoria schreckte vor der Drohung in seinem Tonfall und seinen Augen nicht zurück.

»Ich auch nicht, Sir«, sagte sie scharf.

Gefahr lag in der Luft.

»Was wollen Sie, Mademoiselle?«, fragte er leise.

Sie wollte, was jede Frau wollte.

»Ich will, dass ein Mann mich will statt meiner Jungfräulichkeit«, sagte Victoria heiser.

»Sie wollen, dass ich Sie begehre, nicht Ihre Jungfräulichkeit?«, wiederholte er, als sei ihm noch nie der Gedanke gekommen, dass eine Frau um ihrer selbst willen, nicht um ihrer Unschuld willen begehrt werden wollte.

Die Zeit für Lügen war vorbei. »Ja, das will ich.«

Victoria weigerte sich, den Blick von seinen Augen zu wenden, die abwechselnd Licht und Schatten, silbernes Feuer und grauen Stahl widerspiegelten.

Das war die Frau, die sie war. Das war die Frau, die sie immer schon war ...

»Und wie hätten Sie gern, dass ich Ihnen meine Begierde zeige?«, fragte er, ihrem Blick standhaltend, ihn verschlingend.

Victoria dachte an den Mann, der seine Begierde demonstriert hatte, indem er sie aus ihrer Stellung entließ.

»Sie haben zweitausend Pfund für das Privileg bezahlt, mich zu berühren«, sagte sie. Ihr Herz schnürte ihr die Kehle zu.

»Sie wollen, dass ich Sie berühre?«, fragte er mit jener leisen, verführerischen Stimme, die weder leise, noch verführerisch war, sondern schlicht gefährlich.

»Ich will nicht genommen werden wie eine Straßendirne.«

Die Wahrheit übertönte schroff das Prasseln des Feuers und das Rauschen des Blutes in Victorias Ohren.

Einen beunruhigenden Augenblick lang sprach der Schmerz, den sie empfand, aus seinen Augen. Doch sofort war der Schmerz verschwunden. Aus seinen Augen, nicht aus ihren.

»Dennoch sind Sie hergekommen und haben Ihre Jungfräulichkeit verkauft« – in seiner Stimme lag keinerlei Gefühl, kein Leben in seinen Augen – »wie eine Straßendirne.«

Victoria schreckte vor der Wahrheit nicht zurück. »Ja.«

»Wie möchten Sie denn genommen werden, Mademoiselle?«, fragte er abrupt.

Mit Leidenschaft. Mit Zärtlichkeit.

Aber sie wussten beide, dass sie dieses Recht verkauft hatte.

Victorias Brüste schimmerten mit der Kraft ihres Herzschlages. Eine Haarnadel bohrte sich in ihre Handfläche.

»Mit Respekt«, sagte sie angespannt. »Ich möchte mit Respekt genommen werden ... weil ich eine Frau bin.«

Nicht weil sie Jungfrau war. Sie wollte respektiert werden, weil sie eine Frau war.

Die wachsende Spannung raubte Victoria den Atem.

»Die ganze Welt ist Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler«, zitierte er unvermittelt. Beobachtete sie. Mit Blicken, schärfer als die Stahlnadel, die in ihre Handfläche stach. »Mögen Sie Shakespeare, Mademoiselle?«

Victoria zwinkerte verwundert mit den Augen über diesen plötzlichen Themenwechsel. Er verlangsamte das Rasen ihres Herzens nicht.

»Ich mag dieses Stück von Shakespeare nicht besonders, nein«, brachte sie heraus.

»Welches Stück ist es?«

»Wie es Euch gefällt«, sagte Victoria. »Das Stück, aus dem Sie gerade zitiert haben.«

Die Luft erbebte – irgendwo im Gebäude war vielleicht eine Tür geöffnet worden. Oder geschlossen.

»Mögen Sie das Theater?«, fragte er mit jener quälend verführerischen Stimme, die kein Mann besitzen durfte.

Sie tanzte auf ihrer Haut wie Elmsfeuer. Neckend. Quälend. Sie mit dem verhöhnend, was sie nicht haben konnte. Sie zwang sich, sich auf seine Frage zu konzentrieren, statt auf ihr Verlangen und ihre Nacktheit.

Victoria hatte nur einmal ein Theaterstück gesehen.

»Ja«, sagte sie. »Ich mag das Theater.«

Wieder ein unterschwelliges Beben – eine Reaktion. Aber auf was?

»Kommen Sie her, Mademoiselle.«

Der leise Befehl nahm Victoria nicht die Beklemmung in der Brust.

Jetzt würde er sie nehmen. Vollständig angezogen, während sie rutschende Strümpfe und ausgetretene Stiefeletten trug. An eine Wand gelehnt oder über den Schreibtisch gebeugt. Wie eine Hure.

Victoria fiel auf, wie lächerlich sie aussehen musste: eine ehemalige Gouvernante ohne jede Eleganz, deren einziger lohnender Wert ihr Jungfernhäutchen war. Wie komisch musste er es gefunden haben, dass sie Respekt forderte, wo die niedrigsten Arbeiter über ihre Kleidung die Nase gerümpft hätten.

»Meine Schuhe ...«, wandte sie ein.

»Lassen Sie sie an.«

»Das ist un ...« Victoria brach ab.

»Unwürdig, Mademoiselle?«, bot er mit zynischem Grinsen an.

Die Erfahrung anderer Nächte mit anderen Frauen war unauslöschlich in sein Gesicht graviert.

Wie oft hatte er dieses Ritual vollzogen, fragte sie sich. Wie viele schüchterne Jungfrauen hatte er beruhigt?

»Ich wollte sagen ... unpraktisch«, antwortete Victoria und rang um Fassung.

Sie kannte diese Frau nicht, die unerschrocken nackt vor einem Fremden stand und ihren Schmerz und ihr Verlangen hinausschrie – sie jagte Victoria genauso viel Angst ein wie der Mann mit den silbernen Augen.

»Ich versichere Ihnen, Mademoiselle, Ihre Schuhe werden nicht im Weg sein«, sagte er kryptisch.

Der dicke Teppich saugte Victorias Füße auf; sie watete mit vorgeschobenem Becken vorwärts. Ihre Schenkel rieben aneinander; die Reibung, die auf ihren geschwollenen unteren Lippen tanzte, funkelte in seinen Augen.

Er wusste um das Verlangen, das seine Schönheit schürte, sagten diese Augen. Er wusste um die Feuchtigkeit, die aus ihrem Schoß sickerte, und um die Hitze, die auf ihren Knospen perlte.

Nach der kurzen Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, wusste er mehr über Victoria als jeder andere Mensch, den sie je gekannt hatte.

Victorias linker Absatz knickte um. Mit pendelndem Haar und vor Verlegenheit brennendem Gesicht fing sie sich. Der Mann mit den silbernen Augen ließ weder Zustimmung noch Spott erkennen, Fleisch gewordener Marmor. Er drehte sich in seinem Sessel, Holz knackte, er verfolgte ihr Kommen mit undurchdringlicher Miene. Victoria blieb stehen, eingeklemmt zwischen seinem Körper und dem Schreibtisch. Hinter ihr knisterte das Holzfeuer emsig, unbeeindruckt vom bevorstehenden Verlust weiblicher Unschuld.

Er roch nach teurer Seife; darunter nahm sie das schwache Aroma von Tabak und Parfüm wahr, das den Salon unten durchdrungen hatte. Sein Kopf war auf einer Höhe mit ihrer Brust; ihre Schuhspitzen waren nur wenige Finger breit entfernt von den Spitzen seiner Lacklederschuhe.

Die räumliche Überlegenheit war kein Vorteil. Victoria zweifelte keinen Moment daran, wer der Stärkere war. Der Schnellere. Der Gefährlichere.

Er starrte lange auf ihre Brüste, auf ihre Brustwarze, die durch ihre über der rechten Schulter hängende Haarmähne lugte.

Seine Wimpern waren lang. Dicht. Dunkel wie Ruß. Sie warfen dunkle, fiedrige Schatten auf seine bleiche, makellose Haut. Nur war er jetzt nicht mehr so blass. Dunkles Rosa ließ seine hohen Wangenknochen hervortreten.

Victoria spürte, wie ihre Knospen sich unter seinem Blick verhärteten, wuchsen.

Langsam hob er die Wimpern. Seine Augen nagelten sie fest.

»Ich will nicht begehren ... « flüsterte sie vehement und fühlte sich unsagbar verletzlich.

Sie hatte nie begehren wollen ... die Berührung eines Mannes, die Küsse eines Mannes, die Leidenschaft eines Mannes ...

Seine nadeldünnen Pupillen weiteten sich, Silber verwandelte sich in Schwarz. »Begierde ist ein Teil von uns allen, Mademoiselle.«

Victorias Kehle schnürte sich unerklärlich zu. »Sie scheinen nicht ... heimgesucht zu werden ... von diesen Begierden.«

Bedauern huschte über seine Miene, wurde von seinen schwarzen Pupillen geschluckt. »Manche halten Begierde nicht für eine Heimsuchung.«

Er schon, das spürte Victoria auf Anhieb.

Dieser Mann kämpfte gegen seine Begierden ebenso an wie sie gegen die ihren. Angst vor dem Verlangen, aber außer Stande, die Angst oder die Begierde zu unterbinden.

»Sind Sie deshalb heute Abend in das Haus Gabriel gekommen ... um eine Frau zu finden, die ihre Bedürfnisse nicht verleugnet?«, fragte sie zögernd.

Tief in ihrem Schoß pochte es, ein Mal, zwei Mal, drei Mal ...

»Wie weit wollen Sie dieses Spiel treiben, Mademoiselle?«, fragte er seltsam barsch.

»Es ist kein Spiel, wenn eine Frau einem Mann ihre Jungfräulichkeit gibt«, antwortete Victoria aufgewühlt.

»Was ist, wenn ich mehr will als Ihre Jungfräulichkeit?«

Wehende Härchen bildeten eine silberne Aureole um seinen Kopf.

Ihr fiel ein, wo sie diesen Mann schon gesehen hatte: Sein Ebenbild hatte sie in Kirchenfenstern gesehen. Er hatte das Gesicht eines Engels.

Ein Engel, der mit einer Hand Erlösung, mit der anderen Zerstörung brachte.

Tränen brannten in ihren Augen. »Mehr habe ich nicht.«

»Sie haben Männer mit Frauen gesehen.«

Die Bilder, die Victoria in den letzten sechs Monaten gesehen hatte – von hastigen Paarungen und unverhohlenem Betasten -, spiegelten sich in ihren Augen.

»Ja.«

Es gab nichts, was sie in diesen letzten sechs Monaten nicht gesehen hätte.

»Dann wissen Sie ja, dass es viele Arten gibt, wie Männer Frauen begehren.«

Hitze und Kälte jagten über Victorias Rücken. Das war wahrhaftig eine offene Sprache.

»Ja.«

»Haben Sie je einen Mann in Ihren Mund genommen, Mademoiselle?«

Der warme Atem auf ihrer Haut fühlte sich mit einem Mal eiskalt an gegen die sengende Hitze, die ihr über Hals und Brust nach unten kroch. »Nein.«

Licht und Schatten glimmten in seinen Augen. »Aber Sie würden es tun ... für mich?«

Victoria kämpfte gegen lebenslange Hemmungen. »Ja.«

Für diese eine Nacht ...

Mit diesem einen Mann ...

»Sprechen Sie Französisch?«

»Un petit peu«, gab sie zu. Ein bisschen.

Genug, um Kindern die Grammatik beizubringen. Aber er würde nichts von ihrem früheren Beruf wissen wollen. Nach dieser Nacht würden sie sich nie wiedersehen. Das Prickeln der Haarnadeln in ihrer Hand wanderte ihren Arm hinauf.

»Die Franzosen haben einen Ausdruck: empétarder«, sagte er; seine Marmorhaut glühte wie von Kerzen erwärmter Alabaster. »Kennen Sie ihn?«

»Pétarder heißt ... nach hinten losgehen«, sagte Victoria unsicher.

Pralle Brüste. Harte Knospen.

»Empétarder bedeutet das Gegenteil«, murmelte er und schätzte ihre Reaktion ab. »Es wird ausschließlich im geschlechtlichen Sinne gebraucht und bedeutet, etwas von hinten in sich aufnehmen.«

Von ... hinten. Victoria verschlug es den Atem. Ihr Begreifen leuchtete in seinen geweiteten Pupillen auf.

»Würden Sie mir dort Zutritt gewähren, Mademoiselle?«, fragte er bewusst provozierend. »Würden Sie Ihren Körper mit mir teilen ... wie immer ich es von Ihnen verlange?«

Instinktiv wich Victoria zurück. Nein.

Die Dunkelheit in seinem Blick ließ sie nicht zurückweichen.

»Ja. Wenn Sie es wünschen.«

»Aber würde es Ihnen Lust bereiten, so genommen zu werden?«

»Ich ... weiß es nicht.« Victoria schluckte. Ihre Brüste bebten bei der Bewegung; Brüste, die er noch nicht berührt hatte. »Lust ist Schmerz immer vorzuziehen.«

»Lust geht immer mit Schmerz einher, Mademoiselle«, sagte er seltsam distanziert. »Die Franzosen bezeichnen einen Höhepunkt manchmal als