Singe ich, tanzen die Berge - Irene Solà - E-Book

Singe ich, tanzen die Berge E-Book

Irene Solà

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Beschreibung

Gewitterwolken schürfen über den Rücken der Pyrenäen und ein Blitz erschlägt den dichtenden Bauern Domènec, dessen junge Frau Sió mit ihrem Schwiegervater und ihren Kindern allein zurückbleibt. Doch das Leben geht weiter. Teilnahmslos beobachten die Berge das Werden und Vergehen derer, die dort leben. Die junge katalanische Schriftstellerin Irene Solà, die für diesen Roman 2020 mit dem Europäischen Literaturpreis ausgezeichnet wurde, erschafft und belebt eine vielstimmige und poetische Welt, erzählt durch starke Frauen und mystische Stimmen von Großeltern, Eltern, Kindern, Tieren, Geistern, dem Wald und den Wolken. Sie alle bilden diese Geschichten, die auf eine schöne und magische, aber auch tragische Art und Weise miteinander verbunden sind. Alle vereint im Kreislauf von Geburt, Leben und Tod. Solà erzählt die Geschichte der Berge, die die Erinnerung an Jahrhunderte, an geologische Epochen, politische Konflikte und die Verbindung mit der Natur umfasst.

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Irene Solà

SINGE ICH, TANZEN DIE BERGE

Roman

Aus dem Katalanischen von Petra Zickmann

Trabanten Verlag Berlin

Die Übersetzung dieses Werkes wurde gefördert

durch das Institut Ramon Llull.

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel

Canto jo i la muntanya balla bei Editorial

Anagrama, Barcelona.

Veröffentlicht im Trabanten Verlag

Berlin, März 2022

Copyright © 2022 by Trabanten Verlag Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Foreign Rights Management: Oriol Viader

Umschlagabbildung: The Age of Mammals, Yale Peabody Museum of Natural History

Umschlagkonzept: Kaja Helak, Fabian Leonhard

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-98697-002-4

www.trabantenverlag.de

Inhalt

I

Der Blitz

Der Name der Frauen

Die weiße Tischdecke

Die Trompeten

Ii

Der Amtmann

Der erste Rehbock

Die Kulisse

Die Poesie

Das Brüderlein aller

Iii

Der Stoß

Geburtshilfe

Der Schnee

Die Angst

Lluna

Iv

Der Bär

Cristina

Der Hafertanz

Der Geist

Anmerkung der Autorin

Danksagung

Für Oscar

Og þegar vorvindarnir blása um dalinn; þegar vorsólin skín á hvíta sinuna á árbakkanum; og á vatnið; og á tvo hvíta svani vatnsins; og laðar vornálina frammúr keldum og veitum, – hver skyldi þá trúa því að þessi grösugi friðsæli dalur búi yfir sögu vorrar fyrri ævi; og yfir forynjum hennar? Menn ríða meðfram ánni, þar sem hestar liðinna tíða hafa gert sér götur hlið við hlið á breiðu svæði öld frammaf öld, – og ferskur vorblærinn stendur gegnum dalinn í sólskininu. A slíkum dögum er sólin sterkari en fortíðin.*

Halldór Laxness: Sjálfstætt fólk

* Und wenn die Frühlingswinde durch das Tal wehen, wenn die Frühlingssonne auf das weiße vertrocknete Gras auf dem Flußufer scheint und auf den See und auf die zwei weißen Schwäne des Sees und das erste Grün aus Wiese und Moor hervorlockt – wer würde da glauben, daß dieses grasige friedliche Tal die Geschichte unseres früheren Lebens in sich birgt; und dessen Gespenster? Die Leute reiten am Fluss entlang, wo die Pferde vergangener Zeiten auf einer breiten Fläche Jahrhundert für Jahrhundert Pfad neben Pfad ausgetreten haben – und ein frischer Frühlingshauch geht durch das Tal im Sonnenschein. An solchen Tagen ist die Sonne stärker als die Vergangenheit.

Halldór Laxness: Sein eigener Herr(aus dem Isländischen von Bruno Kress)

I

Der Blitz

Wir kamen mit vollen Bäuchen. Prallvoll. Schwarze Leiber, schwer von dunklem, kaltem Wasser und Blitz und Donner. Wir kamen vom Meer und von anderen Bergen und wer weiß woher noch und hatten wer weiß was gesehen. Wir schrammten den Fels auf dem Gipfel, wie Salz, damit nicht einmal mehr Unkraut dort gedieh. Wir gaben den Gebirgskämmen und Äckern, dem Glanz der Flüsse und den himmelwärts gerichteten Augen ihre Farbe. Als die Tiere uns kommen sahen, verkrochen sie sich in ihre Höhlen und zogen die Köpfe ein oder reckten die Schnauzen und witterten den nahenden Geruch von feuchter Erde. Wie eine Decke breiteten wir uns über sie alle. Über die Eichen und Buchsbäume und Birken und Tannen. Schscht. Und alle verstummten, denn wir waren ein strenges Dach, das über die Ruhe und das Glück entschied, den Geist im Trockenen zu haben.

Nach unserer Ankunft und der Stille und dem Druck, nachdem wir die dünne Luft tief nach unten gepresst hatten, schossen wir den ersten Blitz ab. Zasss! Eine Erleichterung. Und die ohne Gott und Gebet in ihren einsamen Häuschen zusammengerollten Schnecken erschauderten und wussten, wenn sie nicht ertranken, würden sie herauskommen und erlöst die Feuchtigkeit atmen. Und dann begannen wir, Wasser zu vergießen, in Tropfen, so groß wie Geldstücke, auf die Erde und das Gras und die Steine, und der dröhnende Donner ließ allen Tieren den Brustkorb erbeben. Das war der Moment, in dem der Mann gottverdammmich! sagte. Er sprach es laut aus, denn wenn man allein ist, braucht man nicht schweigend zu denken. Hast dich vom Gewitter einholen lassen, du Idiot. Und wir lachten, hu, hu, hu, während wir ihm die Haare nass machten und unser Wasser in seinen Hemdkragen sickerte und ihm über Schultern und Rücken rann, und sie waren kalt, unsere Tröpfchen, und verdarben die Laune.

Der Mann kam von einem nahen Haus auf halbem Weg zum Kamm, oberhalb eines Flusses, der kalt sein musste, weil er sich ständig unter den Bäumen versteckte. Er hatte dort zwei Kühe, ein paar Schweine und Hühner, einen Hund und zwei heimatlose Katzen, eine Frau, zwei Kinder und einen Alten. Der Mann hieß Domènec. Und er besaß einen prächtigen Gemüsegarten am Hang und ein paar vernachlässigte Felder am Fluss, denn um den Garten kümmerte sich der Alte, der sein Vater war und einen Rücken wie ein Brett hatte, und das Feld bestellte er selbst. Diesen Teil der Berge hatte Domènec aufgesucht, um Verse zu probieren. Um ihren Geschmack und ihren Klang zu kosten, und weil man, wenn man allein ist, seine Verse nicht leise aufsagen muss. Und er hatte an diesem Nachmittag einige Totentrompeten gefunden, ungewöhnlich für die Jahreszeit, und sie in seine Hemdzipfel gebunden. Das Baby hatte geweint, als er das Haus verließ, und seine Frau hatte »Domènec« gesagt, klagend und flehend, doch Domènec war trotzdem gegangen. Es ist schwer, zu dichten und sich in die Betrachtung der verborgenen Schönheit aller Dinge zu versenken, wenn ein Kind kreischt wie ein abgestochenes Ferkel, was dir Herzrasen verursacht, ob du willst oder nicht. Und er wollte nach den Kühen sehen. Er musste nach den Kühen sehen. Was verstand Sió schon von Kühen? Nichts. Das Kalb machte maaaaaaah, maaaaaaah. Verzweifelt. Nichts wusste Sió von Kühen. Und wieder rief er gottverdammmich!, weil wir schnell gewesen waren und ihn, so ein Mist!, unberechenbar und hinterrücks eingeholt hatten. Gottverdammmich!, denn das Kalb hatte sich mit dem Schwanz in ein paar Drähten verfangen. Die Drähte waren zwischen zwei Bäumen hängengeblieben, und vom vielen Zerren waren seine Hinterbeine blutig, aufgerissen und schmutzig. Es machte maaaaaaah, maaaaaaah, am Schwanz festgehalten von den Stämmen und unruhig bewacht von seiner Mutter. Im strömenden Regen näherte sich Domènec dem Tier. Er hatte muskulöse Beine, weil er so oft in den Bergen unterwegs war, um durchzuatmen, wenn die Kinder zu laut und die Last zu schwer war, zu schwer der Pflug und das Schweigen des Alten und die vielen, eins aufs andere folgenden Worte seiner Frau, die Sió hieß, aus Camprodon stammte und sich hatte breitschlagen lassen, mit einem Ehemann, der sich dauernd in der Gegend herumtrieb, und einem Alten, der nicht redete, in diese Berge zu ziehen. Und dabei liebte Domènec seine Sió, manchmal liebte er sie immer noch sehr. Aber, Teufel noch mal, was war das Haus für eine Last. Man müsste mehr Zeit haben, um sich kennenzulernen, bevor man heiratete. Mehr Zeit zu leben, bevor man Kinder bekam. Manchmal fasste er sie noch um die Taille und wirbelte sie herum, wie damals in ihrer Brautzeit, denn Sió hatte Beine, Herr im Himmel, was hatte Sió für Beine! Er legte die Totentrompeten auf die Erde. Das Kalb brüllte. Domènec näherte sich ihm mit ausgestreckten Händen. Langsam. Seine Stimme, tief und beschwichtigend. Schscht, schscht, machte er. Die Mutterkuh beäugte ihn misstrauisch. Domènecs Haar triefte. Wenn er nach Hause kam, würde er heißes Wasser brauchen, um sich die Kälte und den Regen abzuwaschen. Er besah sich die Drähte, an denen sich das Tier bei jedem Ruck mehr verletzte. Dann packte er den Schwanz, zückte sein Messer und schnitt geschickt die verknoteten Haare durch. Und in diesem Moment ließen wir den zweiten Blitz niederfahren. Schnell wie eine Schlange. Zornig. Aufgefächert wie ein Spinngewebe. Blitze bewegen sich, wohin sie wollen, wie Wasser und Lawinen und kleine Insekten und Elstern, die von allem angezogen werden, was hübsch glänzt. Und das Messer, das Domènec aus der Tasche geholt hatte, glänzte wie ein Kleinod, wie ein Edelstein oder eine Handvoll Münzen. Für uns war das blanke Metall der Klinge wie ein Spiegel. Wie offene Arme, wie ein Lockruf. Blitze treffen, wohin sie wollen, und der zweite Blitz traf Domènec in den Kopf. Tief hinein und hinunter bis ins Herz. Und alles, was seine Augen in seinem Inneren sahen, war schwarz verbrannt. Er sank auf das Gras, die Wiese schmiegte ihre Wange an die seine, und unser Wasser schlüpfte vergnügt und übermütig in seine Hemdsärmel, unter den Gürtel, in die Unterhose und Strümpfe, auf der Suche nach noch trockener Haut. Und er starb. Die Kuh rannte wie besessen davon, und das Kalb lief hinter ihr her.

Die vier Frauen, die es mitangesehen hatten, traten näher. Zögernd. Für gewöhnlich interessierten sie sich nicht dafür, wie jemand zu Tode kam. Auch nicht für attraktive Männer. Oder für hässliche. Aber der Anblick war hinreißend gewesen. Das Licht so blendend weiß, als brauchte niemand je wieder etwas zu sehen. Das Messer hatte den Blitz gerufen, und der weiße Blitz hatte auf den Kopf des Mannes gezielt, ins Schwarze getroffen und ihm das Haar in der Mitte gescheitelt, und die Kühe waren panisch geflohen, wie in einer Komödie. Man hätte ein Lied schreiben müssen über die Haare des Mannes und den Blitz als Kamm. In dem Lied hätte man ihm das Haar mit Perlen schmücken können, weiß wie die aufblinkende Messerklinge. Und auch etwas über seinen Körper sagen, die geöffneten Lippen, die Augen, klar wie Gläser, in die es hineinregnete. Und über das Gesicht, das äußerlich so schön und innerlich so verbrannt war. Und über das Wasser, das ihm wie ein Sturzbach auf die Brust prasselte und unter seinem Rücken dahinfloss, als wollte es ihn fortschwemmen. Auch um seine Hände wäre es in dem Lied gegangen, kurz, breit und schwielig, die eine offen wie eine Blüte, die eine Biene kommen sieht, die andere um den Messergriff geklammert, als hätten sich Baumwurzeln um einen Felsen geschlossen.

Eine der Frauen, Margarida, berührte seine Hand. Teils, weil sie wissen wollte, ob der Mann sich heiß anfühlte und der Blitz in ihm weiterglühte, teils, um ihn einfach nur zu streicheln. Und als die Frauen sich von dem Mann abwandten und die welken Totentrompeten auflasen, die er liegengelassen hatte, und befanden, sie hätten genug gesehen und noch eine Menge anderer Dinge zu erledigen und über eine Menge anderer Dinge nachzudenken, da schien sich ihre Befriedigung und das Gefühl getaner Arbeit auf uns zu übertragen, und wir hörten auf zu regnen. Satt. Erschöpft. Und als die Vögel sicher sein konnten, dass wir endgültig fertig waren, hüpften sie in die Mitte der Äste und sangen das Lied der Überlebenden, den kleinen Magen voller Mücken, das Gefieder gesträubt und stinkwütend auf uns. Dabei hatten sie wenig Grund, sich zu beschweren, wir hatten nicht einmal gehagelt, wir hatten nur gerade mal so lange geregnet, um einen Mann und eine Handvoll Schnecken umzubringen. Und uns die größte Mühe gegeben, keine Nester herunterzureißen und keine Felder zu überfluten.

Dann verzogen wir uns. Vollkommen verausgabt. Und betrachteten unser Werk. Blätter und Zweige tropften, und wir, leer und schlaff, bewegten uns weiter.

Einmal regneten wir Frösche, und ein andermal regneten wir Fische. Aber hageln ist am besten. Edelsteine, die auf Dörfer, Schädel und Tomaten prasseln. Rund und gefroren. Sie überschütten Gräben und Wege mit einem Schatz aus Eis. Die Frösche kamen herunter wie ein Fluch. Die Menschen rannten, und die Frösche, die winzig klein waren, versteckten sich. Auwei. Die Fische gingen nieder auf die Köpfe von Männern und Frauen wie ein Segen, klatschten ihnen um die Ohren, und die Leute warfen sie lachend in die Luft, als wollten sie sie uns zurückgeben, aber das hatten sie nicht vor, und wir hätten die Fische auch nicht gewollt. Die Frösche quaken in unseren Bäuchen. Die Fische bewegen sich nicht, doch sie sterben auch nicht. Aber wie dem auch sei. Am allerbesten ist hageln.

Der Name der Frauen

Eulàlia sagte ihnen, der Bock habe einen ganz zarten Hintern, so zart wie ein Wickelkind, von all den Küssen, die wir ihm gegeben hätten, und sein Glied sei kalt wie ein Eiszapfen, und ich musste so lachen, dass ich lachte und lachte, bis sie mich aufhängten, weil ich so viel lachte. Und dank dieses Lachens, das ich in mir hatte wie ein Rauschgift, wie den Hexensaft der Wolfsmilch, erinnere ich mich an alles. Denn das Lachen in meinem Blut – weiß und ansteckend, als würde ich gekitzelt, und hätte man mir einen Arm abgehackt, es wäre weiße Milch statt rotem Blut geflossen – machte mich leer. Sie hätten sich die Folter und die nach Pisse stinkenden Räume sparen können, ebenso die langen, langen Seile und die wollenen Lappen voller Asche und die Warterei, dass ich endlich aufhörte zu lachen und gestand. Was gestand? War das Lachen doch das einzig Gute, es war wie ein Kissen, es war, als würdest du eine Birne essen oder an einem Sommertag die Füße unter einen Wasserfall halten. Nicht um alles Gold der Welt, noch um allen Schmerz der Welt hätte ich aufgehört zu lachen. Das Lachen kappte meine Verbindung zu den Armen und Beinen und Händen, die mir bis dahin so treulich gedient hatten, zu der Haut, die ich so oft bekleidet und entkleidet hatte, es wusch mich rein von den Schmerzen und der Trauer über das, was Männer dir antun können. Vor lauter Hihihi und Hahaha war mein Kopf leer wie bei einer Schwachsinnigen, und wenn mir der Atem durch Nase und Ohren pfiff, machte es nur klong-klong. Mein Schädel wurde zu einer Nussschale, bereit, all die Märchen und all die Geschichten und all die Dinge aufzunehmen, die wir zu tun behaupteten und was immer sie behaupteten, dass wir gegen Gott und Jesus und alle Heiligen und die Jungfrau getan hätten. Welche Jungfrau? Einen Gott wie der Vater eines jeden von ihnen, böse, böse, böse, ein Henkersknecht wie sie, verschreckt von den Lügen, die sie mittlerweile selber glaubten, so oft hatten sie sie wiederholt. Doch von denen, die mit dem Finger auf uns gezeigt, uns eingesperrt, auf Hexenmale untersucht, die Knoten gebunden und die Seile gestrafft hatten, ist in diesen Bergen keiner mehr übrig. Denn ob man bleibt oder nicht, hat nichts mit dem Fegefeuer zu tun, auch mit keiner göttlichen Strafe, keinem Glauben und keiner Tugend. Nein. Ob man Steinpilze und Pfifferlinge sammeln und pinkeln und Geschichten erzählen und jeden Morgen aufstehen kann, hat mit dem Blitz zu tun, der diesen Baum oder jenen Menschen trifft. Es hat mit den Kindern zu tun, an denen bei der Geburt alles dran ist, und mit den Kindern, bei denen das nicht so ist, und mit den Kindern, die zwar äußerlich in Ordnung, aber innerlich durcheinander sind. Es hat damit zu tun, ob man der Spatz ist, den der Sperber erbeutet, oder der Hase, den der Hund erwischt, oder nicht. Und die Jungfrau, der Sohn und der Teufel waren alle derselben Dummheit entsprungen.

Von uns allen ist Joana die Älteste. Sie wohnte in einem Haus in meiner Nähe, und es war allgemein bekannt, dass sie in einem Kessel Heiltränke braute, und eines Tages fragte sie mich, ob ich es lernen und sie nachts begleiten wolle. So brachte sie mir bei, Fieber und Augenleiden und Mumps und Kinderkrankheiten und Wunden und kranke Tiere zu heilen, lehrte mich das Auffinden verlorener oder gestohlener Gegenstände und den Bösen Blick. Wir Unschuldslämmer. Das Gotteslästerlichste, das wir je getan haben, ist, jeden Morgen aufzustehen, nachdem sie uns erhängt hatten, und Blumen zu pflücken und Brombeeren zu essen.

Mit Joana legte sich niemand an, vielmehr riefen alle nach ihr, wenn Kinder geboren wurden oder Mumps bekamen. Bis es einmal stark gehagelt hatte. Joana besaß ein Weizenfeld, und während alles Land rundum verwüstet war, hatte kein einziges Hagelkorn Joanas Feld getroffen. Da hieß es, Joana selbst habe das Unwetter mit einem Pulver herbeigezaubert, und man beschimpfte sie als Hexe. Zur selben Zeit erkrankte das Nachbarskind, ein fünfjähriger Junge namens Joan Petit, der sie vor vielen anderen Leuten Hexe genannt hatte, seine Füße entzündeten sich, schwollen an, wurden violett und schwarz, und als er kurz darauf starb, beschuldigten alle lautstark Joana, ihm Gift ins Essen getan zu haben. Verhaftet sie, die alte Vettel, die Giftmischerin! Und sie wurde verhaftet. Und kurz nachdem sie verhaftet worden war, fielen winzig kleine Frösche vom Himmel, und als Joana sagte, wenn sie wolle, könne ich es hageln oder Frösche regnen oder das gesamte Vieh im Dorf eingehen lassen, verhafteten sie auch mich, und Joana sprach nie wieder ein Wort. Aber mir ist das schnuppe, ich lernte zu lachen.

Dann erschien Eulàlia, die aus Tregurà de Dalt stammte, und erzählte ihnen, dass sie einmal bis nach Andorra gefahren sei, um ein totes Kind auszugraben, dem habe sie die Eingeweide und die Leber herausgeschnitten und eine für Mensch und Tier tödliche Salbe daraus hergestellt. Dann beschrieb sie ihnen auch noch den Treuezauber, mit dem sie einen Mann davon abhielt, mit einer Frau zu schlafen, die nicht seine eigene war. Wie man sechs Knoten in die Schnur seiner Unterhose knüpfte und bei jedem Knoten sagte, ich binde dich im Namen Gottes, Sankt Petri, Sankt Pauli und aller himmlischen Heerscharen sowie im Namen von Belzebub und Tió und Cuxol, damit du mit keinem Weib außer deinem Eheweib fleischlich verkehren kannst. Einmal hatte sie mit diesem Bann ein Paar aus der Nachbarschaft belegt, das gemein zu ihr war und sie mit Steinen bewarf. Sie hatte Haare von beider Köpfe für den Zauber verwendet, sodass sie nicht mehr imstande waren, den Beischlaf zu vollziehen. Sobald der Mann nicht zu Hause war, verzehrte sich die Frau vor Sehnsucht, doch kaum war er da und versuchte, sich ihr zu nähern, begann es sie überall derart zu jucken, dass sie seine Berührung nicht ertragen konnte. Vier Jahre ging das so. Vier Jahre! War das ein Spaß! Bis eines Tages der Sohn des Paares, der die Ziegen hütete, die Herde über ein Stück Brachland trieb, das Eulàlia gehörte, und sie zu ihm sagte, mögen böse Wölfe deine Tiere fressen. Im selben Augenblick sprang ein Wolf mitten in die Herde und riss eine Ziege. Da wurde auch Eulàlia verhaftet, und als sie sie eingesperrt hatten, erzählte sie ihnen, wir hätten einmal ein wenige Monate altes Kind seiner Mutter weggenommen und nachts auf einer Wiese zu viert damit Ball gespielt.

Eulàlia kannte die besten Geschichten, und sie erzählt sie bis heute, besser als irgendjemand sonst. Bei ihren Geschichten muss ich lachen, lachen, lachen, bis sich in mir etwas löst, etwas, das tief in mir drin ist, tiefer noch als die Pipitröpfchen. Manchmal kommen auch wir in den Geschichten vor, und es ist eine Freude, in einer Geschichte vorzukommen. Eulàlia hat ein Stimmchen im Ohr, das des Teufels, mit dem er ihr die Geschichten zuflüstert, eine kleine Stimme, die ihr die Freveltaten vorsagte, und die im Zuge der Qualen, die ihr die Männer zufügten, immer munterer wurde, als entfesselte der Schmerz eine Zunge, für die es kein Halten mehr gab. Das Stimmchen ertönte direkt in ihrem Kopf und ließ Bilder und Worte sprudeln wie eine Quelle.

»Wir waren unterwegs in den Wald, ich auf einer schwarzen Eselstute und Dolceta aus Can Conill« – das bin ich!, warf ich ein – »auf einer Füchsin. Es schien kein Mond, und die Sterne leuchteten kaum, und als mich im Vorbeireiten ein Ast streifte und mir das Gesicht zerkratzte wie eine Kralle, sagte ich Jesus! und fiel von der Eselin, und Dolceta sagte, ich solle nie wieder Jesus sagen. Und daran hielt ich mich. Wir wollten zur Roca de la Mort und hatten uns unter den Armen mit einer Paste eingerieben, die die Haare für immer versengt, weshalb unsere Achselhöhlen glatt sind. Als wir alle, Männer und Frauen, den Felsen erreicht hatten, zeichneten wir Kreuze auf den Boden, und wir ließen die Röcke fallen, und kauerten uns mit nacktem Hintern jede über ein Kreuz und schworen Gott und dem Glauben ab. Anschließend küssten wir, alle reihum, den Anus des Teufels. Und der sah zuweilen aus wie eine dreifarbige Katze, zuweilen wie ein Ziegenbock, und fragte jede: ›Wirst du mein sein, gute Infantin?‹, und wir alle antworteten: ›Ja‹. Dann aßen wir Käse und Früchte und Honig und tranken Wein und fassten uns alle bei den Händen, Männer, Frauen und Dämonen, umarmten und küssten uns, tanzten und sangen und trieben es miteinander.«

Und Margarida weinte. Sie weinte und bestritt alles und weinte und weinte über die Ungerechtigkeit, und manchmal heulte sie laut auf, und ich sagte, so weine doch nicht, Margarida, eingesperrt alle vier im selben finsteren Verlies, das nicht einmal eine Zelle war, denn zuvor hatte man Vieh darin gehalten. Wir gaben ein gutes Gespann ab, Margarida und ich, weil ich lachte und lachte, und sie weinte und weinte, und je mehr sie weinte, je mehr Grimassen sie schnitt, je mehr Rotz und Speichel flossen, das Gesicht rot und verquollen und hässlich, desto mehr lachte ich, und je mehr ich lachte, desto mehr weinte sie, und ich sagte, so weine doch nicht, Margarida, und wir gaben ein gutes Gespann ab. Margarida wies jeden Vorwurf von sich, einen nach dem anderen, und gab lediglich zu, abends den Tisch hergerichtet zu haben. Ihn mit Servietten und Brot und Wein und Speisen und Wasser gedeckt und einen Spiegel dazugestellt zu haben, damit die bösen Geister sich darin betrachten konnten, etwas zu essen und zu trinken vorfanden und somit keine Kinder umbrachten. Aber auch für eine solche Kleinigkeit konnten sie dich aufhängen.

Und während Eulàlia ihnen erklärte, Joana sei unsere Meisterin und kümmere sich um die Geister und die Salben, mit denen wir uns einrieben, und sie sei zuständig für die Herstellung von Arzneien für das ganze Land, und sie sei Herrin über den Bock von Biterna und über all die Missetaten, die Hexen begehen, und wir seien alle drei ihre Schülerinnen, zuckte Joana nicht mit der Wimper. Eulàlia meinte es nicht böse, und Joana nahm es ihr nicht übel, verloren waren wir ohnehin. Eulàlia hatte es ja auch bloß gesagt, weil die Zunge mit ihr durchgegangen war, und ich prustete vor Lachen, und Margarida weinte sich die Augen aus. Alle vier auf demselben dreckigen Strohsack voller Ratten und Flöhe.

Joana redet nicht, weint nicht, leugnet nicht, lacht nicht, trotzdem ist sie nach wie vor die Meisterin, besitzt immer noch die größte Weisheit und findet immer noch die besten Meerkirschen und die besten Steinpilze und versteht am meisten von Geburtshilfe. Wenn wir in den Bergen auf ein Kruzifix stoßen, ist sie die Erste, die es anpisst und ihre Pobacken daran reibt, und sie ist die Erste, die unter den Baum kackt, an dem sie uns erhängt haben. Sie macht eine feste, kompakte, gut geformte Wurst und grinst dabei wie eine Maus. Und sie ist auch die Erste, die sich hinhockt, wenn wir auf eine Kapelle oder eine versteckte Einsiedelei stoßen.

Nicht alle Geschichten, die Eulàlia erzählt, handeln von Hexen oder von uns. Manchmal spricht das Stimmchen auch über die Berge und Steine und Seen, und die Vögel singen ihr Lieder vor, und von den Wassernymphen hört sie Fabeln, und ich folge ihr wie ein kleines Kind, wie ein Hündchen, wie ein neugeborenes Schaf seiner Mutter, das sich notfalls einem Pferd vor die Hufe geworfen hätte, nur um Teil ihrer Geschichten zu bleiben. Weil sie mich zum Lachen bringt, unsere Eulàlia.

In Aragón gab es einmal einen christlichen König, erzählte sie mir, der hatte drei Töchter, so schön wie die Sonne. Und als der König und die Königin allmählich daran dachten, die Prinzessinnen zu verheiraten, stellte sich heraus, dass die drei Mädchen in drei ungläubige Mauren verliebt waren. Ich mag Maurengeschichten. Wutentbrannt schloss der König seine Töchter in einen hohen Turm ein, auf dass sie ihre Freier niemals wiedersehen sollten. Doch eines Nachts bestachen die Prinzessinnen ihre Wachen mit einer guten Handvoll Goldmünzen und flohen aus dem Turm. Die drei und ihre drei maurischen Liebhaber sprangen auf drei Pferde und ritten in die Pyrenäen, weit weg von den christlichen Königen und den maurischen Königen. Drei Tage später wollte der König seine Töchter besuchen, um ihnen ihre Techtelmechtel mit Ungläubigen zu verbieten und sie von einer Heirat mit christlichen Königssöhnen zu überzeugen, doch als er in das Gelass kam und sah, dass sie ausgerissen waren, rief er laut:

»Möge sie Gottes Zorn ereilen, wo immer sie sich aufhalten!«

Da gab es einen Wettersturz. Ein Schneesturm überraschte die Flüchtigen auf ihren Pferden mit solcher Wucht, dass die drei Mädchen ihre Geliebten umschlangen und alle sechs zu Eis erstarrten, ohne noch einen einzigen Schritt tun zu können. Und dort seht ihr sie, eine hinter der anderen, in den Armen ihrer Liebsten, die drei Gipfel der drei Schwestern, bedeckt von Schnee, sagte Eulàlia und wies auf die Berge.

Oder sie erzählte uns von der Verwunschenen mit der weißen Tischdecke, die ein paar Dörfler eingefangen hatten. Die Tischdecke nahmen sie ihr ab. Armes Ding. Sie sperrten sie in eine Küche, damit sie nicht weglaufen konnte. Sie war eine kleine Frau, die den ganzen Tag auf der Bank saß und zum Fenster hinaussah, ohne den Mund aufzumachen, als wäre sie stumm oder verstünde die menschliche Sprache nicht. Aber eines Abends, als die Hausfrau in die Küche kam, um das Essen zu kochen, das Feuer anzündete und einen Topf Milch für die Suppe darüberhängte, kreischte die Verwunschene mit einem Mal:

»Schnell, schnell! Die weiße Milch läuft dir über!«

Die Hausfrau beeilte sich, nach dem Topf zu sehen, und die Verwunschene nutzte die Gelegenheit, um von der Bank zu springen und durch die Tür zu entwischen. Und ehe sie für immer verschwand, zischte sie angeblich noch:

»Niemals sollt ihr erfahren, wofür die Ampferwurzel gut ist!« Dann kicherte sie wie ein Frettchen, und die Leute auf den Dörfern wissen bis zum heutigen Tag nicht, wofür die dicke Wurzel des Ampfers gut ist.

Manchmal weint Margarida über die Geschichten, sie weint, weil ein Vater seine Töchter in Berge verwandelt, oder sie weint über das, was man uns angetan hat, die Wolle und die Asche und die glühenden Eisen und die Ketten und die Streckbank und die Gewichte an den Füßen und das rote Blut. Sie weint, weil sie gestorben ist, wie alles, was sterblich ist. Und ich sage, Margarida, so weine doch nicht. Und manchmal weint sie auch, wenn in der Höhle ein Kind zur Welt kommt, und ich sage, Margarida, so weine doch nicht. Und nach dem Gewitter weinte sie auch ein bisschen um den Mann, weil der auf der Lichtung so schön ausgesehen hatte, wie sie sagte. Es ist ein Jammer, dass die Menschen so schnell verbraucht sind, und dass sich die anderen Menschen an die leeren Körper klammern und sie verstecken und begraben, um nicht mitansehen zu müssen, was auch ihnen bevorsteht. Und sie weinte, als sie ihn fanden und wegtrugen und er uns nie wieder besuchen kam. Stattdessen stellten sie an der Stelle, wo der Blitz den Mann getroffen hatte, ein Kreuz auf. Dauernd müssen sie die Landschaft mit ihren Kreuzen verschandeln! Aber dieses war klein. Ab und zu gingen wir hin und pinkelten es an, wie Hunde. Und manchmal pflückten wir ihm Blumen, die dort wuchsen, wo er sich niedergelegt hatte, Pissblumen, nannten wir sie, aus Jux.

Die weiße Tischdecke

Meine Kinder sind wie Fliegen. Wo sie vorbeikommen, hinterlassen sie Spuren. Pling, pling, pling. Man könnte ihrer Fährte folgen. Die offene Kommode. Die gute Kommode. Die mir der Vater und die Tante zur Verlobung geschenkt haben. In der ich die schönen Sachen aufbewahre. Meine wenigen schönen Sachen. Sorgsam verwahrt. Gefaltet und mit Seidenpapier dazwischen. Und Rosmarinsäckchen. Eine der Schubladen ist offen. Wäsche und Papier sind zerknittert und achtlos hineingestopft. Noch bevor ich es überprüft habe, erkenne ich an der Höhe des Stapels, dass die weiße Tischdecke fehlt. Die weiße Tischdecke ist so schön, dass man nicht darauf essen kann. Mein Zorn lodert auf wie eine Fackel, und ich denke, wenn sie in Reichweite wären, würde ich ihnen mit einem einzigen Ruck die Ohren abreißen.

Ich mache wieder Ordnung, Servietten, Seidenpapier, Schutzdeckchen, und schließe die Schublade.

»Wo sind die Kinder?« Opa Ton sitzt reglos auf seiner Bank. Geredet hat er schon vorher nicht, aber jetzt rührt er sich auch nicht mehr.

»Draußen«, erwidert er.

»Draußen«, wiederhole ich. Draußen kann irgendwo zwischen hier und Frankreich sein. »Willst du Wasser?«, frage ich ihn, und er schüttelt den Kopf.