Sinken & Fliegen - Lex R. Frank - E-Book

Sinken & Fliegen E-Book

Lex R. Frank

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Beschreibung

Kleines F. ist Wirtschaftsanwalt und hat Burnout. Oder Schlimmeres. Er funktioniert nicht mehr. Und Kleines hat irrationale Ängste. Deshalb lässt er sich freiwillig in eine psychiatrische Klinik einliefern. Doch auch die Therapien und die Medis helfen nicht. Die Liebesbeziehung, die er mit der Patientin Nathalie anfängt, macht alles nur noch komplizierter. Kleines F. beginnt nach den Gründen seines Scheiterns zu suchen: in seiner Vergangenheit, in den kriminellen Machenschaften seiner Ex-Kollegen, in seinen kaputten Beziehungen und er merkt bald, dass es den einen Grund nicht gibt und seine Ängste vielleicht gar nicht so irrational sind. Schlimmstenfalls dreht nämlich nicht er am Rad, sondern die anderen. In Sinken & Fliegen analysiert ein unaufhaltsam Fallender sich selbst, seine Mitmenschen und eine Welt, die nichts anzufangen weiß mit jenen, welche die Regeln nicht mehr einhalten können oder wollen und deren Sicherungen durchgebrannt sind.

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periplaneta

„Auf Anraten meines Anwaltes, der ich bin, sei der Hinweis eingefügt, dass sämtliche Figuren und Handlungen, ja sogar Orte in diesem Roman frei erfunden sind. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder schon gesprungenen Personen ist rein zufällig, ehrlich.“ (Kleines F.)

LEX R. FRANK: „Sinken & Fliegen“ 1. Auflage, Juni 2021, Periplaneta Berlin, Edition Periplaneta

© 2021 Periplaneta - Verlag und Medien Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Coverfoto: Joshua Earle (Unsplash.com) Lektorat, Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-194-3 epub ISBN: 978-3-95996-195-0

Lex R. Frank

SINKEN UND FLIEGEN

Auch das Meer redet nur mit sich selbst.

Roman

periplaneta

„Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut wird, war es noch nicht das Ende.“

(Oskar Wilde)

Prolog

Manchmal machen einige Sekunden den Unterschied.

Während sie fiel, blieb ihr nicht viel Zeit – schon gar nicht genug, um ihr ganzes Leben an sich vorbeiziehen zu lassen. Ihre schwarzen Haare peitschten ihr ins Gesicht, Hell und Dunkel wechselten sich so schnell ab, dass sie beinahe eins wurden. Am liebsten hätte sie die Zeit gedehnt, denn so ging es ihr definitiv zu schnell. Vielleicht hätte sie mehr Therapiestunden nehmen sollen, spätestens nach dem zweiten Rausschmiss aus der WG.

Andererseits: Was hatte das ganze Gerede schon gebracht? Kaum Fortschritte und keine Antworten, etwa auf die Frage, warum sie all ihre Ex-Lover zerstört hatte. Sie hatte immer so viel und so gut geliebt wie sie konnte und sie hatte es gemocht, von ihnen angefasst zu werden. Mit der Wärme ihrer Hände war immer auch ein Stückchen ihrer Seelen in sie eingesickert. Vielleicht hätte sie sich mehr um ihre eigene Seele kümmern sollen.

Der Weg über ein paar Stockwerke reichte weder aus, um all die aufgegriffenen Gedankenstränge zu Ende zu spinnen, noch, um Angst aufzubauen. In einem Nebel aus Gedanken wurde die Ahnung sichtbar, dass nun Schluss war mit allen Ängsten, allem Streben, allem Verstecken. Und war das nicht die Belohnung für alle Mühen? War das nicht die Gerechtigkeit, die am Ende allen Menschen widerfahren sollte?

So verkrampft, wie sie ihr Leben geführt hatte, so krampfhaft hielt sie diesen letzten Moment fest. Sie öffnete ihren Mund für einen letzten stummen Schrei.

Pontius

Der Mond am Morgen verblasste hinter dem, was wir für wichtiger halten. Dabei sah er so zerbrechlich aus, dass ich glaubte, er hätte unsere zärtlichsten Gefühle verdient. Vor der leuchtend dunkelblauen Folie am Himmel wirkte er stumpf und verblichen. Wenn ich den Mond trank, trat dennoch alles andere in den Hintergrund. Der Mond saugte meinen Blick auf, stellte meinen Kopf fest. Erst, wenn der Druck groß genug war, die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten, eine drohende Gefahr etwa oder ein Handyklingeln, erst dann konnte ich mich von seiner Erscheinung losreißen. Wie sollte das bloß werden, falls die Erde jemals einen zweiten Mond einfinge?

Ich konzentrierte mich auf meine Füße, die zwischen dem Boden und mir keinen Raum ließen. Der Fokus nach unten gab mir Gelegenheit, das Meer zu treffen, meinen großen, schwappenden Freund mit den starken Armen, die am Ufer in das Schweigen greifen. Das Meer war mein Rückzugsort, meine Wolke, meine Dunkelkammer. Die Rettung vor zu vielen Eindrücken, die auf mein Hirn drückten. Gott und die Natur waren hier vereint, alles andere war ein Missverständnis. Die Gischt war bis zum Haus zu hören, hundert Besen in tausend Blättern.

Noch in der Morgendämmerung schlüpfte ich hinaus, die Sparlampe vor der Tür bildete einen abgeschlossenen Kegel, der einen Schatten kurz einfing. Im Licht ist das Leben schneller, im Dunkeln lässt es sich besser träumen. Ich lief den Pfad durch die Weinberge den Vulkan hinunter, durch die Schlucht, dem lauter werdenden Rauschen entgegen. Das Haus hinter mir sah aus wie eine Radierung. Erst die Dunkelheit brachte es von der Druckplatte in die Landschaft. Ein paar Ziegen waren schon wach und schauten in die gleiche Richtung. Ich war der einzige Mensch unter lauter Ziegen oder das einzige Zicklein unter all den Räubern. Das Vulkanmassiv glich der Struktur der Herzkruste, der ungefähren Landkarte in mir, ziellos, zerklüftet und doch kraftvoll. Die Bäume standen am Weg wie Wachsoldaten in der Dunkelheit.

Jede Vulkaninsel beginnt irgendwann, Sand einzusammeln, um einen Strand zu haben, an dem Ruhe einkehrt. La Palma, die schönste der Kanaren, hatte bisher nur etwas Vulkanstaub anhäufen können, der den Touristen heiße Füße verschaffte. Der Strand lag in tiefem Schwarz, obschon die Dämmerung dem pastellfarbenens Orange einen Weg bahnte. Der Horizont kämpfte um eine klare Linie.

Da lag es. Es bewegte sich wie unter einer Decke, spielte sein ewiges Spiel. Die Wellen brachen, ohne einen Hafen zu suchen. Schon nach kurzer Zeit des Zuschauens, denn das machte ich immer zu Anfang, hatte ich den Atlantik verstanden. Ich erkannte ihn, wie sich Körper bei einer Umarmung erkennen können. Wie ich Inas Körper immer erkennen würde.

Anfangs erinnerte Herr Atlantik sich an seine karibischen Wurzeln, spielte eine Weile Badewanne, gurgelte sich durch einen imaginären Abfluss, schaukelte und rauschte bräsig hin und her wie eines dicken Mannes Bauch, kratzte sich am Hinterteil. Im Schritt. Danach ordnete er sich und vollführte eine Zeitlang ordentlichen Wellengang. Wie es sein sollte und dem Lehrbuch entsprach. Das war die Phase, in der er seinen Job tat. Vermutlich wollte er seine Gäste damit ins Wasser locken, denn er sah sehr einladend und nach Urlaubspostkarte aus. La Palma by Night. Anschließend verwandelte der Herr Atlantik sich in einen aufbrausenden Zaren, der weder in Kiel noch in Moskau geboren sein konnte. (Der Kieler an sich war ein ruhiger, in sich gekehrter Typ. Selbst wenn ein sehnsuchtsvolles Herz aus Moskau in seinem Brustkorb pulsierte.) Jetzt brachte er als Überraschung oder nur zum Spaß, weil er es konnte, in schneller Folge drei, vier echte Brecher, an denen risikobereite Profisurfer ihre Freude gehabt hätten. Für Frauen und Kinder über Bord war das dann nichts mehr. Badeverbot. Rote Fahne. Wenn dieser aufflammende Zorn verraucht war, gluckste er wieder friedlich, rauschte ein wenig hin und her – und begann von Neuem.

Ich liebte die Wellen und war mir sicher, mit jeder Art von Unterströmung gut zurechtzukommen. Sind wir nicht alle dem Wasser entstiegen? Je größer der Kampf, desto besser. Ich trat einen Schritt vor und stellte mich mit den Füßen in die letzten Ausläufer einer Welle. Die morgendliche Kälte des Wassers weckte mich. Hallo. Mein innerer Schweinehund steckte den Kopf heraus, den ich ihm aber sofort abschlug. Heute wuchs nichts nach. Ich musste hinein.

Ich ging mit kleinen Schritten, fast schleichend, um mich an die Temperatur zu gewöhnen. Denn bei aller Routine wirkte Herr Atlantik in seinem Schauspiel doch recht schreckhaft, die Choreografie unausgegoren und surreal, als hätte er nicht immer alles unter Kontrolle. Hafenlos. Gegen den Wind. Die Strömung zog heute stark zur Seite. Wenn man das wusste, konnte man damit arbeiten. Wenn ich abgetrieben wurde, würde ich dort hinkommen, wo Süden war. Viele Menschen wollten spätestens am Ende der Strecke da hin. Das salzige Nass rauschte um mich herum, bemerkte mich und umschloss mich. Die Wellen machten mir Spaß, ihre Stärke war gerade so auszuhalten. Erlaubt ist, was gefällt. Auch wenn die rote Flagge auf dem Mast beim um diese Zeit noch verlassenen Rettungsschwimmerhäuschen da anderer Meinung war. So pflügte ich eine Weile durch die Wellen wie ein langsam abkühlendes Messer durch Butter, und hatte das Vergnügen eines Lebendigen, allein für mich am morgendlichen Strand. Ich sprach mit ihm, ich rief ihn, ich provozierte ihn, ich feuerte ihn an. Ich ließ mich gern zerreißen, das war mein Ding, da konnte ich mich spüren, als läge ich verliebt neben einer wilden Frau. Die Wellen schlugen auf meinen trotzigen Körper ein, doch der tauchte jedes Mal kräftiger auf. Ich war ein Delphin, ich bildete eine fettig glänzende Haut aus.

Ich wurde ständig stärker, er ließ mich das glauben. Ich schrie, ob das alles sei, was er drauf hätte und glaubte mich schon als Sieger gegen den ganzen Ozean. Ich spritzte ihn mit der flachen Hand nass: „Komm schon, komm schon!“ Der Wind blies mir den Kopf frei. Der Ozean türmte sich auf, gurgelte lässig und zeigte keine Angst. Er war das Gewicht der Welt und drückte auf die Erdplatten, hielt alles im Lot. Er wusste, dass er am Ende immer gewann, auch wenn es tausend Jahre dauerte. Diese lächerlich junge Menschheit hatte nicht einmal die Physik der Welle verstanden. Er zog sich ein wenig zurück, ich holte Luft. Ich ging etwas tiefer hinein, sodass ich grade noch mit den Zehen den Grund fühlen konnte. Es reichte mir, im Wellental festen Boden zu haben. Darauf hatte er gewartet. Er schaukelte sich auf, kam von links. Mir war ein wenig mulmig, und es wurde dunkler. Unter mir Schwarz, über mir Graublau, mit diesem eierschalenfarbigen, löchrigen Mond. Kein einziger Wasservogel, der sich einen Schrei getraute.

Eine Welle, gut doppelt so hoch wie die letzten, wurde sichtbar, rollte auf mich zu. Sie drohte zu brechen. Es war gerade so viel Licht, dass ich sie sehen konnte, ein Monster, das beißen würde. Ich konnte nur vorwärts hechten und hoffen, dass sie mich nicht mitreißen würde. „Runter, runter, unten durch!“, hörte ich meinen Vater in mir rufen. Ich stieß mich ab und schoss hindurch, gerade rechtzeitig, bevor sie brach. Ich kam oben aus ihr heraus wie eine Boje, mit rudernden Armen und Augen voll Salz, dahinter eine weitere Welle, noch größer, noch dunkler, mit noch mehr Hohn. Eine aufgestellte Kobra mit unruhigem Schwanz. Ich nahm die Arme hoch, drückte mich erneut vom Grund ab, der nun ganz nah war und nach mir rief. Ich kam knapp vor dem Brechen oben halb durch die Welle hindurch. Nicht ohne Erschütterung, ein Riss direkt durch meinen Körper. Der hintere Rest von ihr zerrte und zog, aber erwischte mich nicht richtig. Ich zerschnitt den Sog. Ich war froh, wollte schon lachen, aber sofort wich der Erleichterung Entsetzen.

Direkt vor mir, einen Meter entfernt, trieb eine bläulich glänzende Insel aus Gelee an der Oberfläche und schickte sich an, in die nächste, ebenfalls mächtige Welle zu geraten. Eine portugiesische Galeere! Das war jetzt nicht wahr! So arbeitete er also? Fiel ihm nichts Besseres ein? Ich geriet in Panik. Gemeinsam würden sie mich begraben, lähmen, ertränken. Wusste ich doch, dass dieser blaue Mörderpudding bis zu 15 Meter lange Tentakeln voller Nesselgift haben konnte. Nun blieb mir nur der Weg zurück, was auch ein Verhängnis war. Kein Entkommen, nur ein Versuch, die Zeit zu überlisten. Ich schwamm wie ein Irrer Richtung Strand gegen den Sog der nächsten Monsterwelle an. Aus dem Augenwinkel sah ich die Qualle schon ausholen. Das war die Situation, auf die er gewartet hatte, ich meinte, ein schrilles Lachen in der Gischt zu hören, als es über mir dunkel und für den Bruchteil einer Sekunde still wurde. Die nächste Wellenwand brach krachend über mir und schleuderte mich mit einer unfassbaren Wucht durch das Wasser. Jetzt hatte er mich, gurgelte mich durch seine Waschküche, drückte auf den Knopf für den Schleudergang. Jetzt war der ganze Druck des Wassers auf mir. Ein Knäuel Seetang tanzte mit mir meinen Totentanz. Die Welle ging in mein Blut über, der Wirbelsturm außen verband sich mit dem Inneren, unsere Nervenkostüme pulsierten wie eins.

Ich schlug hart auf und wurde über den Grund geschleift. Ein stechender Schmerz unterhalb des Bauchnabels, als würde jemand die Haare dort mit Feuer beseitigen. Ich spürte meine Hände nicht, die wie abgeknickt waren. War ich nun das Boot, das lautlos vom Nebel verschluckt wurde, das niemand je wiedersah? Leider zu wenig Erfahrung mit Übermut! Ich schluckte Wasser und ärgerte mich darüber, lachte aber gleichzeitig über mich selbst, weil ich geglaubt hatte, ich könnte es mit dem Meer aufnehmen, und schluckte dadurch noch mehr Wasser. Ich wollte die Augen öffnen, um zu sehen, wo das Licht herkam. War das schon das Licht, in das ich hineingehen musste?

Der Mensch braucht Luft und Liebe, beides war mir vollkommen entzogen. Ich stellte mir vor, wie meine Lungen sich mit Wasser füllten, wenn ich nicht bald herausfand, wie ich auf Kurs zurückkommen konnte. Der Tang hatte seinen Tanz aufgegeben und ließ sich nur noch treiben. Wo war die lähmende Tonne Gallertmasse? Lauerte oben noch eine Welle? Ich spürte irgendetwas an meinem Fuß. Hoffentlich würde ich nicht für die ersten Touristen, die mich am Ufer finden würden, das Titelfoto irgendeines Käseblattes abgeben. Mann am Strand mit Riesenqualle über ihm aufgefunden. Qualle putzmunter.

Ich ruderte mit den Armen wie eine Schildkröte auf dem Rücken, wollte aus meinem Körper ein Surfbrett machen und an Land gleiten. Vergebens. Seeigel steckten in meiner Brust, die Welle hielt mich fest im Griff. Der Ozean war noch nicht mit mir fertig, die Lektion noch nicht zu Ende. Quälend lange Sekunden. Ein Jahrtausend. Die Meergeister spielten Federball mit mir.

Als das Meer mich wieder mit zurücknehmen wollte, um mich der nächsten Welle zu übergeben, weil sie selbst den Strand und ihre Begrenzung fürchtete, streckte ich einem Impuls folgend die Beine, kam auf die Füße und hielt dem Druck des sich zurückziehenden Wassers stand. Der Sand rauschte wie Schleifpapier an meinen Knöcheln vorbei wie ein letzter Versuch, die Trennung von Land und Wasser aufzuheben. Ich machte ein paar Schritte und legte mich hustend ans Ufer. „Badesalz“, brachte ich heraus, aber es klang verstört und wie aus der Ferne. Meine Brust und mein Gesicht brannten wie aufgerissen, Blut strömte aus mehreren tiefen Fissuren an mir herab. Meine Knie waren Magnesiumfackeln. Die Hüfte fühlte sich an, als wäre sie seitlich gegen einen eisernen Dreizack gelaufen, den Neptun persönlich dort ins Wasser gerammt hatte. Ich blieb einen Moment liegen und fühlte mit geschlossenen Augen in mich hinein. Wie das Wasser im Sand versickerte die Zeit in meinen Wunden. Normales Tempo, haha. Gab es Zeit wirklich oder war sie nur ein Konstrukt, um Bewegung zu erklären? Ich hing da wie eine Trauerweide, die von dem Fluss, an dem sie seit Jahrzehnten stand, ihrem besten Freund, betrogen worden war. Meine Hose war voller Glitzerkram.

Die Qualle trieb bereits unbeschwert weiter, zurück aufs offene Meer, aus dem sie gerufen worden war.

Der Atlantik gurgelte schon wieder das gleiche Lied, als wäre nichts gewesen. Als wäre ich ein Stück Fleisch, das neben den Fleischwolf gefallen war, und das er jetzt wie nebenbei aufgehoben, hineingeworfen und durchgearbeitet hatte. Lektion erteilt, Lektion gelernt. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, an meiner Beziehung zu ihm zu zweifeln, Chef und Lehrling könnten nie Freunde sein. Hätte mir eine Lehre sein sollen, doch später versuchte ich im Berufsleben immer wieder, Vorgesetzte als Freunde zu sehen. Welch fataler Irrtum.

Ich kroch wieder in Richtung Wasser und ließ mich in die versandenden Ausläufer im seichten Wasser nieder, damit das Salzwasser die Wunden spülen konnte. Heilwasser musst immer literweise verabreicht werden, damit es wirkt. So lag ich eine Weile da, wie ein weggeworfenes Aquarell, das Blut lief mir über den Körper und das Meer sorgte für den Abtransport. Spülte Teile von mir weg. Es holte sich seinen Lohn, aber machte keinen zufriedenen Eindruck. Ich schloss die Augen und hörte nun das laute Rauschen in meinem Kopf, der vorher schon erobert gewesen sein musste. Das Brennen der oberen Hautschichten drang in mich ein. Ich zitterte. Ich blutete aus und quoll gleichzeitig auf. Ich war festgefroren im Sand.

Was war das nur, das mich ins Meer trieb? Was meine Dämonen aufrüttelte, sodass sie anfingen, in meinem Kopf zu tanzen und mich an den Rand der Zerstörung brachten?

Wenn es kein Schicksal und keinen Zufall gibt, sondern lediglich Sowas-kommt-von-Sowas, dann muss sich jeder vielleicht schon am Anfang eines Kapitels entscheiden, gehe ich diesen Weg weiter oder stürme ich in den Wald, voll von sichtbaren Bäumen, wo hinter jedem Baum ein weiterer Traum lauern kann? Werde ich Holzfäller oder Handelsreisender? Glaube ich an Gott oder daran, dass ein Pfund Rindfleisch eine gute Suppe gibt? Warte ich, bis die Verletzung groß genug ist, oder gehe ich rechtzeitig die Heilung an? Genügt mir eine Frau oder muss ich alle haben? Will ich bis zur Sonne oder reicht mir der Mond? Aber zu allererst: Woher kommt diese verdammte Sucht nach Wasser?

Moorsoldaten

Ich rutsche auf der Wippe zwischen Verschwommenheit und Wachsein ein wenig auf die helle Seite. Wieder einmal ertappte ich mich dabei, darüber zu sinnieren, wie ich Ina kennengelernt hatte. Und das vor dem Frühstück! Ich habe zu viel Zeit.

Ich will zurück in den Nebel aus Medikamenten und flachem Schlaf, aber es ist zu spät. Mit einem Blick auf die grünlichen Wände wird mir wieder bewusst, dass ich in der Klinik bin: Mein ursprünglicher Plan, den Vormittag ohne Hose zu begehen, ist krass gescheitert. Der Protest in mir ist erstickt.

Der Morgen hat mit einem leisen Schrei begonnen, also eigentlich mit einem lauten, aber durch das Fenster, das deren Draußen von meinem Drinnen trennt, habe ich ihn nur leise hören können. Seitdem ist schon wieder eine tot. Ich halte mir die Hände an die Schläfen. Das kann doch alles nicht wahr sein. Später wird man mir erzählen, dass die Kleine unten über den Zaun hing wie eine Schrumpfpuppe. Das ganze Blut rausgelaufen. Die rosa gefärbten Haare nun richtig rot.

Ich will nur noch weg. Ich will, dass es zu Ende geht. Ich wehre mich gegen die dunkle Wolke im Kopf, die sich jederzeit wieder ausdehnen kann. Ob ich jemals hier herauskomme? Wo soll ich hin? Ich habe es in den Nachrichten gelesen, es ist überall. Das Virus liegt in der Luft wie ein Phantom-Hurrikan. Und sie erzählen dir nicht alles. Es ist ja kein Zufall, dass alle Nachrichtenseiten im Internet plötzlich kostenpflichtig sind bis auf eine. Und die eine finanziert sich, indem sie der Regierung Artikelplätze verkauft. Liegt doch auf der Hand. Und die Regierung will nicht, dass wir Panik kriegen. Jedenfalls nicht zu viel. Dass wir alle laut schreiend rausrennen und die Politiker umnieten.

Auch hier drinnen kocht jeder sein eigenes Süppchen. Manche aus der Pflege haben sich einfach krank gemeldet, geht jetzt telefonisch. Wir Patienten können das nicht, wir müssen hierbleiben, denn wir gelten als krank, auch wenn das heute niemand mehr schreibt. Aber das ist nur fair, denn einige von uns kommen wieder raus, aber die Pfleger haben lebenslänglich.

Ich bin jetzt seit zwei Monaten hier drin und habe mich bisher nicht getraut, Kontakt nach außen aufzunehmen. Es ist so viel passiert, dass es mir vorkommt, als würden sich die Gedanken in meinem Kopf wie eine Flutwelle auftürmen, aber nicht ans Ufer auslaufen.

Dieser Schrei, wie der letzte Laut einer erstickenden Katze im Schminkkoffer. Er hängt noch immer in meinem Gehör. Je stiller es wird, desto deutlicher kann ich ihn hören. Ich habe überlegt, Nachrichten zu schreiben. Meine Nachrichten sind immer kurz, damit sie durch die schmalen Ausgänge passen. Ich habe verschiedene Namen bei Whatsapp gesehen. Aber die Namen haben mich so vorwurfsvoll angestarrt, dass ich das Handy gleich wieder ausmachen musste. Ich habe den On-/Off-Knopf so fest gedrückt, dass mein Zeigefinger weiß und rot wurde.

Filme aus der Vergangenheit kamen in meinem Kopf wie Zombies aus dem Sumpf. Das ist ein Diensthandy. Die orten mich. Die machen Bewegungsprofile. Zwar neuerdings auch offiziell mit der Virus-Tracing-App, aber das ist nur ein Versuch, alles zu legalisieren. Während die Linken in Berlin noch davon träumen, Drogen zu legalisieren, da sind die Jungs am großen Rad bereits dabei, das ganze Ding in ein Gesetz zu bringen. Damit Sie gesund bleiben!

Ich schaue ständig hinter die grünen Vorhänge, ich bin paranoid, ich bin mir sicher, dass die sich schon jetzt Zugriff auf meine Daten gesichert haben. Und dann laden sie die von der NSA-Seite runter, die ist ja nur halbstaatlich – Rent a Spy –, alles zur Sicherung des korrupten Systems. Sie werden mich finden. Mir die Kniescheiben zerschießen.

Bin doch extra weit weg, tief in den wilden Osten in eine Klinik an der polnischen Grenze, damit mich niemand aufspüren kann. Ich konnte das Handy nur noch in die Ecke werfen und da liegt es seitdem, räkelt sich glänzend von meinen fettigen Fingerabdrücken auf dem Teppich. Blendet mich mit seiner spiegelnden Oberfläche. Auch verdreckt noch makellos. Die da oben sacken Milliarden ein, und wir hier unten werden verrückt gemacht. Ausgekotzt. Sie haben mich mir die Würde nehmen lassen.

Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, die wollen mich vergiften. Überall ist dieser Süßstoff drin, davon bekommt man Gehirnkrebs. Und die arbeiten mit den ganzen anderen Korrupten zusammen, erledigen die Entsorgung. Auf dem Weg in die Hölle noch ein letztes Mal gemolken werden – jeder kriegt seinen Anteil. Die werden es niemals zulassen, dass ich hier gesund rausspaziere. Außerdem, der Süßstoff wird doch auch in der Schweinemast eingesetzt, das ist alles getestet. Das Schweinegehirn merkt: „Da kommt süßes Futter“, und meldet der Bauchspeicheldrüse: „Bitte eine Arschbombe voll Insulin!“, und dann kriegt der Körper aber gar keinen Zucker und das Insulin langweilt sich irgendwie, und die armen Schweine bekommen immer mehr Hunger und fressen immer mehr. Bis sie ’ne Stopfleber bekommen, schlachtreif a.s.a.p. Wie viele hier in der Klinik - mit hervorragenden, fetten Bäuchen, was ich natürlich nie laut sagen würde. Denn dann wäre ich ein Body-Hater.

Die erzählen dir hier zwar, die Gewichtszunahme käme vom Mirtazapin (das schlucken hier alle, die nicht richtig schlafen können), aber ich glaube das nicht. Sicher, das macht so rammdösig im Kopf, da kann man nicht mehr klar denken, aber gut schlafen auch nicht. Die Gehirnwellen verändern sich irgendwie, und der Schlaf bringt nichts mehr. Vielleicht bin ich davon so durcheinander. Die sind raffiniert, die wollen einen hierbehalten. Passen auf, dass die Seele nicht zur Ruhe kommt, immer weiter flackert wie eine Kerze im Wind. Bis die Flamme aus und man selbst tot ist, oder in der Fachsprache: nicht mehr versichert. Der Totenschein wird dann, so weit es geht, nachdatiert, hat mir mein Mitpatient Kralle erzählt – gibt ja für jeden Tag einen Tagessatz von der Krankenkasse. Die Geschäftsführung läuft immer rum und grüßt alle mit einem breiten Lächeln, wertet dann wohl die neusten durchschnittlichen Bleibezeitzahlen aus oder so was. Tariert systematisch das Glück-Kosten-Verhältnis aus. Was kann man tun, um die Leute weiter hier drin zu behalten? Gibt bestimmt Berater dafür, da kommen zumindest immer wieder mal Leute mit weißem Hemd, Schlips und Aktenkoffer. Und das Haus gehört einem Investor, da weißt du gleich, was los ist, der will natürlich Rendite, der Geldsack. Das ist alles so überdreht, alles so ausgelutscht. Die nächste Geschäftsführung muss dann für ihren Bonus natürlich noch mehr rausholen als die letzte, und schon die hat alles rausgequetscht, was ging.

Ich hoffe nur, die lesen nicht meine Aufzeichnungen … wie im Knast, da muss man seine Botschaften ja auch verschlüsseln, wenn man eine Feile für die Gitterstäbe haben will.

Einem von denen, die schon länger hier sind, geben die jede Woche zusätzliche Medikamente, der ist dermaßen fertig. Er hat einen alten Namen, wie heute niemand mehr heißt. Peter oder Günther, wie der nächste Bundespräsident, ich weiß es nicht mehr. Der will abhauen. Ist er auch schon mal: Raus aus dem Überwachungsraum, durch die Feuertür und weg war er. Sie haben ihn dann mit Großeinsatz wieder eingefangen, die laufen wohl immer nur in zwei Richtungen, die Ausbrecher. Entweder in das Moorgebiet südlich oder zur Warthe-Mündung, vielleicht in der Hoffnung, sie versinken, womit auch die inneren Dämonen verschwinden würden. Aber dort darfst du nicht sterben, weils ein Landschaftsschutzgebiet ist. Und dann hauten sie ihm gleich sieben verschiedene Medikamente rein, per Spritze. Den halten sie sediert, zur Abschreckung für alle anderen. Dabei helfen diese Medis gar nicht richtig. Denn ein neues braucht immer seine Zeit, bis es wirkt, so drei Wochen. Das ist bei fast allen Psycho-Medis so. Und bevor es greift, greift es erst mal nach dir, bringt dich zum Kotzen und treibt dich noch tiefer in den Wahnsinn. Medikamentenumstellung ist die erste Wahl, damit du nicht rauskannst. Ich schreibe mir das jetzt alles auf, damit ich meinen Fluchtplan ausarbeiten kann, sonst vergesse ich nachher noch alles und werde am Ende ausgelacht, weil ich ohne Hosen vor dem Zaun stehe. Oder drüber liege, mit einem Pfahl durch das Herz.

Ich stand letztens morgens an der Medi-Theke (da überwachen die immer, ob ordentlich runtergeschluckt wird – die gucken tatsächlich live in den Mund, lassen die Zunge zeigen) und da steht dieser Typ neben mir, ich glaube der heißt Horst. Ich spreche ihn an von der Seite: „Na? Wieder rausgekommen aus der Verwahrungsschublade?“ Aber der hat nicht einmal den Kopf gehoben, nicht gezuckt, gar nichts. Hat fünfeinhalb Tabletten bekommen, nur zwei in der gleichen Farbe. Musste eine ganze Discokugel herunterbringen ohne einen Becher Wasser. Mann, ist der abgeschossen, die arme Sau. Manche Leute hier schlucken das Zeug wie Smarties, die wehren sich nicht mehr, die sind durch. Passen perfekt in die Zielfolien der Buchhaltung. Dazu kommt noch, dass diese Medis alle aus den 70ern und 80ern stammen! Das habe ich bei Wikipedia gelesen. Die wollen gar keine neuen, wirksamen entwickeln, weil dann könnten die Leute ja schneller wieder nach Hause.

Nein, die wollen dir das Gehirn manipulieren, dass du die Wahrheit nicht siehst. Du siehst ja auch den ganzen Tag deine Nase, aber dein Hirn blendet sie einfach aus. Ich habe das Gefühl, meine Welt ist zusammengebrochen und ich krieche in den Scherben herum. Dabei befindet sich alles, was ich will, auf der anderen Seite … hinter der Angst.

Eigentlich schreibe ich mir das alles auf, weil ich fürchte, den Verstand zu verlieren. Ich kann nicht mehr alle Fakten zusammenhalten. Von der vielen Chemie ist der Ordner in meinem Kopf zerfressen, es geht nichts mehr rein und alles durcheinander. Es ist seit kurzem wieder Wind in meiner Seele, wie ein bescheuerter Dichter sagen würde. Ich steigere mich immer in Sachen hinein und dann sehe ich den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Fantasie ist stärker als Wissen, denn sie ist unbegrenzt. Ich glaube, auch deshalb habe ich von La Palma geträumt und dem Urlaub, in dem Ina und ich uns endlich nähergekommen sind, nach all den Jahren der Freundschaft. Dieses ganze Kumpel-Zeug, das hat mich vorher auch echt fertig gemacht. Dabei saß ich einmal stundenlang nur da und habe ihr auf den Rücken gestarrt – was ich mir dabei vorgestellt habe … nun ja, das geht niemanden etwas an. Aber Ina war immer mein bester Freund, und es hat mir früher sehr geholfen, mit ihr in solchen Fällen zu sprechen. Um Sachen einzuordnen und so. Das fehlt mir jetzt. Ich habe zwar inzwischen begriffen, dass ich zu übertriebener Panik neige, es ist trotzdem schwer, zu sehen, wann das der Fall ist.

Und es ist komisch, denn wenn ich an Ina denke, kommen auch andere Gefühle hoch. Ist es nicht so, dass die Liebe ewig bleibt? Die Redewendung ,Darüber hinwegkommen‘ ist nur ein Wunsch des wunden Verstandes, dass es aufhört. Zeit heilt keine Wunden, Zeit bringt keine Wunder. Oder geht das nur mir so? Ich bin verwirrt, ich meine, neben der Verwirrung, die diagnostiziert und dokumentiert ist. Es scheint so zu sein, dass man an die Eine denken kann und Liebe empfindet und wenn die Gedanken dann zu einer anderen springen, ändert das Gefühl die Farbe. Wenn man an beide Frauen denkt, vermischen sich die Gefühle sogar zu einem Klumpen. Ich wage gar nicht, noch eine andere Beziehung einzugehen, das verstößt am Ende noch gegen das Grundgesetz.

Ich pule an einem Splitter in meinem Daumen herum. Ich spüre nichts. Als Kind hat es immer wahnsinnig gestochen, wenn ich über diese Fremdkörper in meiner Haut auch nur gestrichen habe. Oder wenn meine Mutter mit der Pinzette heranwollte.

Es klopft, ich werde abgeholt. Vor meiner Tür zwei grinsende Pfleger. Ich sehe das Lauern dahinter: „Wir holen Sie zur Physiotherapie ab. Da fahren wir Sie zu einer Therapeutin nach extern.“

„Ergotherapeutin“, verbessere ich, wissend, dass das nur in der Vergütung einen Unterschied macht.

„Und hinterher holen wir Sie wieder ab. Fast wie ein Transfer zum Ferienflieger.“

Ich nicke übertrieben freundlich, schnappe mir meine Jacke und registriere beiläufig, dass man zu mir die kräftigsten Exemplare von Pflegern geschickt hat. Eher eine Security als eine Reisebegleitung. Wenn ich sterben wollte, müsste ich nur eine Flucht versuchen. „Dann mal los.“

Die Bolzen des Schließmechanismus schlagen hörbar ein, als sich der Wagen in Bewegung setzt.

Die Ergotherapeutin ist klein und drahtig, aber mit quadratischen Männerhänden ausgestattet. Sie ist kein Freund vieler Worte, sondern führt mich durch den kurzen Flur in einen Raum mit einer Liege und einem klapprigen Schreibtisch aus Kiefernholz. Ich setze mich auf einen der herumstehenden Stühle und lege den Arm auf eine Stütze, sie nimmt meine Hand in ihre beiden Hände und bewegt sie sanft. Mein Bauch wird ganz warm. Die plötzliche Vertrautheit überrascht mich, zumal ich bei dem Gedanken an Physiotherapie eher brutale Übungen im Kopf hatte.

„Noch 20 Wiederholungen … und jetzt noch 20.“

Ich erzähle, dass ich in der Klinik am Wald untergebracht bin. Sie nickt wissend und schaut mir in die Augen. Ihr Blick ist forschend und mitfühlend. In mir bricht ein Damm. Ich bin wie ein Busfahrer, der es nicht erträgt, dass die Landschaft stillsteht. Es sprudelt aus mir heraus: „Ich kann da niemandem trauen, ich kann auch niemandem sagen, was mich beschäftigt. Ich habe da diese Frau kennengelernt und bin – ich traue mich kaum, es auszusprechen – total verknallt. So. Jetzt ist es raus. Nur das hält mich gerade am Leben. Ja, klingt pathetisch, ist aber so. Keine Ahnung, wohin mit all den Gefühlen, wo sind Stauraum und Steuerrad, wenn man sie braucht?“

Sie wendet den Blick kurz auf meine Hand, und lässt sie am Gelenk kreisen. Dann scheint sie hinein zu spüren und schaut mich wieder mit ihrem offenen Blick an. Ich fühle mich ermuntert.

„Wie das passiert ist? Wie passiert so etwas? Keine Ahnung, es muss an der Frau liegen. Ich weiß nicht, wie ich sie beschreiben soll, und Sie können sie ja sowieso nicht mit meinen Augen sehen. Das hört sich jetzt platt an, aber: Ich habe das Gefühl, in ihr meine Seelenverwandte gefunden zu haben. Wir sind wie ein einziges wild schlagendes Herz. Das ist unglaublich. Ich glaube, ich habe noch nie so gefühlt, auch mich selbst noch nie so gefühlt. Ich denke an sie und triefe augenblicklich vor Schmalz, als wäre ich mitten in einem Kitschroman. Wenn ich ihr in die Augen schaue, dann geht ein ganzes Universum für mich auf. Da finde ich eine unglaubliche Wärme und Geborgenheit, aber auch etwas Gefährliches, ein verletztes wildes Tier, das mich in Stücke reißen kann. Helle schiefergraue Augen, irgendwo Spuren von Grün – ich wusste vorher nicht, wie sehr ich darauf stehe. Feine kühlmittelgrüne Streifen. Eine kleine Narbe unter dem linken Auge Hat sie ihre Augen bei mir, habe ich mein Herz bei ihr. Manchmal fixiert sie mich, als wollte sie mich niederringen, und sie gewinnt immer. Ich weiß nur nicht: Will sie mich besiegen, um mich zu verschlingen oder um eine Weile mit mir zu spielen wie die Katze mit der Maus? Oder will sie mich für sich haben, mich in ihre Tasche stecken? Könnte ich, würde ich ihre Augen um ein Autogramm bitten. Ich glaube, jemanden wie sie habe ich immer gesucht. Ich fühle mich selbst wild, lebendig und schön und, wenn sie mich anschaut, wie geschmolzene Schokolade. Ich werde zu einer Tüte Yoghurt-Gums, ach, was sag ich, zu Katzenohren, die gekrault werden müssen. Ich habe keine Erektion, sondern ich bin eine, wenn ich an sie denke.“

Das Letzte habe ich gesagt, weil mir die Schwülstigkeit meiner Äußerungen nicht entgangen ist und ich die daraus resultierende peinliche Verletzlichkeit oder verletzliche Peinlichkeit durch einen machohaften Witz überspielen wollte.

Meine Ergotherapeutin lächelt und nickt. Sie hat Falten um die Augen, ihr Gesicht könnte sicher auch einige Geschichten erzählen. Mir fällt ein, dass ich nicht einmal ihren Namen kenne. Aber weil ich frech sein darf, erzähle ich weiter: „Letztens lagen wir herum, denn viel mehr kann man in der Klinik ja nicht machen. Und sie sagte ganz unvermittelt, sie wolle eine Beziehung mit mir. Und in genau dem Moment musste ich an Ina – meine Verflossene – denken und hätte das gern mit ihr besprochen. Ich wünschte mich in eine Nähe, konnte nicht in ihre und nicht in die andere. An dieser Stelle fing mein Problem an: Ich zögerte.“

Jetzt werde ich unsicher. Was ist, wenn sie einen Vertrag mit der Klinik hat und denen alles erzählt? Aber was soll mir schon passieren? Werde ich dann rausgeschmissen? Ich schaue noch einmal nach innen und rede weiter: „In so einem Moment stürzt einfach alles auf dich ein, es entstehen Bilder wie gurgelnde Wassermassen. Irgendetwas würgte mich. Dabei kann ich gar nicht mal sagen, ob alles in meiner Vergangenheit in dieser Hinsicht schief gegangen ist. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, also lächelte ich sie an und nahm ihr Gesicht in meine Hände. Für einen Augenblick sah es so aus, als wollte ihr Kopf darin verschwinden.“

In meinem Handgelenk taucht ein dumpfer Schmerz auf, der sich in meinem Gesicht abgezeichnet haben muss. Meine Ergotherapeutin lässt in der Drehung locker und zieht sanft an der Hand.

„Ich kann einfach nicht vertrauen. Irgendwas lässt mich zurückschrecken. Irgendwer hat mal gesagt, ich habe diese feinen Antennen. Dieses verdammte Dauerquatschen im Kopf. Das ist der Verstand, glaube ich, vielleicht aber auch nur der Mistkäfer Meister Kauderwelsch, irgendwo zwischen Herz, Bauch und Kopf. Kennen Sie diesen Titel, Herz über Kopf? Der ist Bullshit. Bei mir rotiert der Kopf immer, ein total übertakteter Quad-Core-Prozessor, alles wird zu Tode analysiert, bewertet, systematisiert. Und dabei sind die Verbindungen untereinander total gestört. Und doch bin ich hin und weg. Total bekloppt. Wie ein 16-Jähriger. Festgefahren. Kann weder vor noch zurück und muss mich ergeben. Das kann doch nicht nur von den Medis kommen! Und es ist auch nicht, was jeder jetzt glauben … Ich meine … vögeln kann man mit der ganzen Chemie ja überhaupt nicht – das ist es also nicht. Da unten regt sich rein gar nichts. Aber sonst: Himmel. Hölle. Bratpfanne. Wenn mir diese Story jemand noch vor einem Jahr erzählt hätte, dem hätte ich gesagt, sorry, du hast wohl rosa Einhörner gefrühstückt und bist ’n bisschen plemplem. Oder kann das doch von den Medis kommen? Ich kann es nicht überprüfen, man bekommt die Beipackzettel leider nicht mit ausgehändigt, akute Suizidgefahr und so. Aber ernsthaft … diese Frau, diese Göttin. Ich will sie beschützen, festhalten. Damit sie Ruhe findet. Mit ihr gegen den Rest der Welt. Kennt das jemand? Hat darüber ernsthaft schon mal jemand gesungen?“

In meiner Zuhörerin steigt ein Lachen auf, ein kurzes Schnauben aus der kleinen Nase. Ich glaube, sie macht ihren Job gern. Ein Nicken lässt mich fortfahren: „Großes Verliebtsein auf der einen Seite und gleichzeitig das Störfeuer in meinem Kopf, vom Papagei, der mit seinem Gequatsche immer alles verdirbt. Es sind viele kleine Dinge, Unebenheiten, die mich auf dem Weg vom reinen Gedanken in eine gemeinsame Zukunft stolpern lassen. Eigentlich müsste ich sagen: Scheiß drauf, ich muss sie vorher nicht komplett kennen, ich stürze mich rein, bin ein Fähnlein im Wind, was habe ich zu verlieren – Hauptsache, das Gefühl stimmt. Aber dann kommt dieser glühende Draht, der mich schneidet, ein Verdacht, ein Zweifel wie ein vorbeihuschendes Kaninchen. Manchmal sagt sie Dinge in einem Ton, der mir komisch vorkommt. Aus heiterem Himmel. Und dann reißt meine Fantasie die Macht an sich. Da denke ich etwa, sie will verbergen, wie wichtig ihr etwas ist. Oder sie will verdecken, dass sie gerade lügt. Oder sie sagt etwas nur, damit ich ein falsches Bild von ihr bekomme. Oder sie wirft mir Sachen vor, die sie selbst tut. Frauen sind da cleverer als Männer. Sie sind einfach klüger, machen wir uns nicht länger etwas vor. Und konsequenter.“

„Bitte krümmen Sie einmal einzeln jeden Finger, gegen meinen Widerstand. Wenn es weh tut, hören Sie bitte sofort auf.“

„Ich bin ziemlich empfindlich, meinen Sie mit Wehtun richtig doll oder nur ein bisschen?“

„Jede Art von Schmerz findet hier Beachtung.“ Sie sagt diesen Satz so, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, und ich fahre fort, sie mit meinem Kummer zu überschütten: „Oder ich denke, ich höre Sätze, die sie schon in anderen Beziehungen ausprobiert hat. Sie will vorsorgen, eine Verlängerung aushandeln, bevor es überhaupt begonnen hat, schwierig zu werden. Weil sie schon jetzt weiß, dass es nicht gutgehen wird. Ihre Stimmlage ändert sich, entweder schlagartig oder ganz sanft, als würde ein naives Kind etwas Schreckliches erzählen. Ihr Gesicht verdunkelt sich dann für ein paar Sekunden.

Vielleicht kennen Sie das: Man geht in Gedanken ein Gespräch noch einmal durch und dann legt sich die Stirn in tiefe Falten und denkt: Moment mal … da stimmte doch was nicht. Es fällt mir schwer, diese Zweifel in Worte zu fassen. Und ich denk mir ja auch: Komm schon, lass dich einfach fallen. Wenn man liebt, dann muss es ausgelebt werden. Jaja, ich weiß schon, was Sie mir raten werden: Ich steigere mich wieder unnötig hinein, überlasse meiner Beziehungsphobie das Ruder, will wieder alles perfekt haben, alles vorausberechnen und überhaupt, eine aus der Anstalt. Ich höre schon die Witzchen: Sieh dich bloß vor, die kann ja nicht ganz richtig im Kopp sein.“

Einen Moment verfinstert sich ihr Blick: „Ich bin nicht hier, um Ihnen etwas zu raten oder Sie zu beurteilen. Ich spüre nur Verunsicherung, vielleicht durch ein schlimmes Erlebnis. Ich weiß es nicht. Ihre Konstitution muss neu aufgebaut werden. Ich möchte Ihnen etwas schenken.“ Sie holt ein Fläschchen von ihrer Fensterbank. Es macht den Eindruck, als habe sie es dort für den richtigen Moment aufbewahrt. „Sehen Sie, dies ist ein Aura-Spray. Immer wenn Sie sich durcheinander fühlen, einfach rundherum einsprühen.“ Dann schiebt sie mich zurück ins Wartezimmer, ich richte meinen ungläubigen Blick auf die Flasche. Ich ziehe das Plastikdeckelchen ab und rieche Jasmin. Hat denn in dieser Stadt hier jeder einen Schuss?

Andererseits, nach einem Blick hinter die Kulissen, in denen wir hier alle herumturnen: Die Leute in der Anstalt sind richtig im Kopf, jeder einzelne ist ein sensibler, toller Mensch, manche hochsensibel wie ich. Jeder von ihnen hat einen Wertekompass und weiß, was richtig und was falsch ist. Und die Verrückten, die sind draußen unterwegs.

Vielleicht sollte ich das lieber mit mir selbst ausmachen. Ich kann mich nicht festlegen, mit ihr zusammen zu sein. Und ich denke, es wäre fair, sich so langsam mal zu entscheiden. Natürlich spürt sie meine Zurückhaltung, das ist ja wie eine angezogene Handbremse, wie eine allgegenwärtige Barriere in Zeit und Raum. Aber ich will auch nicht, dass es aufhört. Ich weiß nicht, was ich tun soll! Mit einem Psychotherapeuten in der Anstalt darüber reden geht nicht. Da gibt es strenge Regeln, Beziehungen sind nicht zulässig. Nachher lande ich noch in Einzelhaft. Wer weiß, was im Keller dieses alten Hauses noch alles ist. Ich würde gern mit einem Freund darüber reden. Mit Ina. Die wüsste, was zu tun ist.

Morgennebel

Ich lag am Strand und blutete. Ich sickerte in den Sand, um mit ihm eins zu werden.