Sittenlehre - Martín Kohan - E-Book

Sittenlehre E-Book

Martín Kohan

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Beschreibung

Buenos Aires, Anfang 1982: Dicke Mauern umgeben das streng traditionelle Elitegymnasium Colegio Nacional, in dem die junge María Teresa ihre Stelle als Aufseherin angetreten hat. Außerhalb der Mauern herrschen die Militärs, der Falkland-Krieg ist in vollem Gange. Drinnen soll María Teresa die strikte Einhaltung der Disziplin überwachen. Sie ist nur ein kleines Glied in der Kette, aber sie will es gut, ja peinlich genau machen. Schließlich ist Ordnung der sicherste Halt in einem Leben, in dem die Mutter in der Küche Kriegsnachrichten hört und der Bruder verstörend rätselhafte Postkarten aus der Etappe schickt. Eines Tages geht sie in ihrem Überwachungseifer so weit, daß sie sich in der Jungentoilette einschließt, um einen Schüler in flagranti zu ertappen, den sie im Verdacht hat, heimlich zu rauchen. Mit ebendiesem Schritt gelangt ihre Moral in eine eigentümliche, beunruhigende Schieflage. Darf die Darstellung des Schrecklichen ins Komische kippen? Soll man sich in eine Mitläuferin einfühlen? Martín Kohan ist ein blitzwacher Beobachter und ein kompositorischer Meister des Nebeneinanders von Banalem, Bösem und Groteskem.

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Seitenzahl: 304

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Martín Kohan

Sittenlehre

Roman

Aus dem Spanischen vonPeter Kultzen

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel Ciencias morales

bei Editorial Anagrama, Barcelona.

© Martín Kohan, 2007

Die Übersetzung wurde im Rahmen des Sur-Programms

zur Förderung von Übersetzungen des Außenministeriums

der Republik Argentinien gefördert.

ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag

Berlin 2010

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags

sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,

auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages

reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

www.suhrkamp.de

eISBN 978-3-518-74390-4

Juvenilia

Früher war dies – das Colegio Nacional – eine reine Knabenschule. Damals, zu jener weit zurückliegenden Zeit, zur Zeit des Colegio de Ciencias Morales, und erst recht davor, zur Zeit des Real Colegio de San Carlos, muß hier zwangsläufig alles eindeutiger und klarer gewesen sein. Ganz einfach: Die Hälfte dessen, was diese Welt heutzutage ausmacht, war noch nicht vorhanden. Diese Hälfte mit ihren Trägerkleidchen, ihren Haarbändern, -spangen und -schleifen, für die in der Schule eigene Toiletten und beim Sportplatz eigene Umkleideräume geschaffen werden mußten, diese Hälfte gab es früher, viel früher, zur Zeit eines Miguel Cané, eines Professor Amadeo Jacques schlicht und ergreifend nicht. Die Schule, das Colegio, war eine kompakte Sache, es gab nichts anderes als Jungen. Damals ging es hier bestimmt ruhiger zu, nimmt die Aufseherin der zehnten Obertertia wenigstens an, jetzt, wo ihre Aufmerksamkeit nachläßt, kurz vor Ende der zweiten Nachmittagspause. Wie alle wissen, heißt sie María Teresa; daß sie abends, bei ihr zu Hause, Marita genannt wird, auf die Idee käme wohl niemand. Das sind so die Gedanken María Teresas, wenn sie abschweift – was man der Aufseherin der zehnten Obertertia aber nicht anmerkt; von den zehn Minuten, die die zweite Nachmittagspause dauert, sind da schon mehr als acht verstrichen. Richtete man sich allerdings – das macht sich María Teresa nicht klar – immer noch danach, was während jener Glanzzeit des Colegio die Norm war, könnte sie sich unmöglich an ihrem jetzigen Platz befinden; denn so wie damals keine weiblichen Schüler zugelassen waren, gab es natürlich auch keine weiblichen Lehrkräfte, geschweige denn weibliche Aufseher. Damals, anders als heute, war diese Welt nicht gespalten; damals mußte gegebenenfalls etwas ganz anderes unter einen Hut gebracht werden, wie man in Juvenilia nachlesen kann, einem der Klassiker unter den Büchern, die zum Lektürekanon dieser Schule gehören – die jetzigen Schüler sprechen den Titel, absichtlich oder aus Ahnungslosigkeit, falsch aus, hartnäckig reden sie immer nur von »Juvenilla«: Was erreicht werden mußte, war ein friedliches Miteinander der Schüler aus Buenos Aires und der Schüler aus dem Rest des Landes. Nicht selten kam es aus diesem Grund zu Streitereien, ja körperlichen Auseinandersetzungen, bei denen die Beteiligten sich alle möglichen Blessuren zuzogen, aber das war trotzdem nichts im Vergleich zu der heutigen Aufgabe, die darin besteht, Jugendliche männlichen und weiblichen Geschlechts im ständigen Miteinander zu überwachen. Daß die Jungen aus Buenos Aires sich mit denen aus der Provinz prügelten, war letztlich nichts anderes als Ausdruck einer tiefen Wahrheit der argentinischen Geschichte; in dieser Hinsicht erfüllte die Schule längst ihre Bestimmung: Sie sollte einen Querschnitt der ganzen Nation ergeben. Oder hatte Schulgründer Bartolomé Mitre seinerzeit Urquiza, den Mann aus Entre Ríos, in der Schlacht bei Pavón nicht endgültig und zum Wohle aller bezwungen? Hatte, noch davor, Juan Manuel de Rosas, der das Bündnis der Republiken seiner Tyrannei unterwarf, während der langen Zeit der Düsternis, die seine Herrschaft für Argentinien bedeutete, das Colegio etwa nicht schließen lassen? Bemühte sich Domingo Sarmiento, der Mann aus San Juan, nicht vergeblich darum, in diese Schule aufgenommen zu werden? Gelang dies dafür etwa nicht Juan Bautista Alberdi aus Tucumán, der sich dadurch für den Rest seines Lebens den Neid und die Mißgunst Sarmientos einhandelte? Daß Hauptstädter und Provinzler ihre Schwierigkeiten untereinander ausfochten, gehörte zur Geschichte dieser Schule, so wie es zur Geschichte dieses Landes gehörte. Miguel Cané nimmt in diesbezüglich kein Blatt vor den Mund. Daß die heutigen Schüler so über dieses Buch reden, wie sie es nun einmal tun – im Grunde nicht anders als ungebildete Menschen –, spielt keine Rolle; sie haben es gelesen, und sie wissen sehr wohl, was es bedeutet, daß das Colegio in gleicher Weise Jungen aus den nördlichen Provinzen Argentiniens wie auch aus der Stadt Buenos Aires aufzunehmen hatte. Dieses Zusammenleben friedlich zu gestalten war für jemanden wie Professor Amadeo Jacques – ein gebürtiger Franzose – oder einen Schulleiter wie Santiago de Estrada eine durchaus zu bewältigende Aufgabe. Aber diese Schule war damals eben eine reine Knabenschule. Ohne sich mit ihnen messen zu wollen, einfach bloß, indem sie die Gedanken schweifen läßt, begreift María Teresa, wie anders sich ihre Aufgabe unter den gegenwärtigen Verhältnissen darstellt. Sie will sich nicht messen, auf die Idee, es mit so angesehenen Persönlichkeiten der Vergangenheit aufnehmen zu können, käme sie nicht; sie erlaubt es sich bloß, während sie wie abwesend vor sich hin starrt, daß die eine oder andere Idee aus dem Verborgenen hervorkommt und sich mit einer zweiten verbindet, die sich ihrerseits davonstiehlt und mit wieder einer anderen verbindet, und in diesem Hin und Her bildet sie sich eine Vorstellung davon, wie die Schule gewesen sein mag, als sie noch ein kompaktes und harmonisches Ganzes war, damals, vor mehr als hundert Jahren, zu einer anderen Zeit.

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