Smoking kills! - Dominik Brülisauer - E-Book

Smoking kills! E-Book

Dominik Brülisauer

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Beschreibung

Eine liebeshungrige Raucherin wird von ihrem verhaltensgestörten Blind Date vor die Tür gestellt und erfriert in den Bergen. Ein hedonistischer Rockstar wird von einer verzweifelten Mutter erschossen. Einem Fremdgänger wird die Zigarette danach zum Verhängnis. Es gibt viele Möglichkeiten, wie die Nikotinsucht ein Leben brutal beenden kann. Dieses Buch erzählt zwanzig bitterböse Kurzgeschichten davon. Ein tödlicher Genuss.

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Seitenzahl: 435

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Der Schnorrer

Der Guru

Der Deal

Der Tourist

Die Räuberhöhle

Der Politiker

Das Missgeschick

Der Neonazi

Der Rockstar

Die Show

Das Arschloch

Das Dorf

Die Rundfahrt

Die Familie

Die Surfferien

Die Scheißwoche

Der Skiunfall

Der Glückstreffer

Der Bär

Der Abschied

DER SCHNORRER

Thömy zog vor sechzehn Jahren von Disentis im Bündner Oberland ins Zentrum von Zürich. Vor zwei Jahren musste er leider seine lieb gewordene Wohnung an der Idastraße aufgeben und nach Volketswil in die Agglomeration ausweichen. Er wäre viel lieber in der Stadt geblieben, aber sein Karosseriespengler-Lohn reichte für ein Leben an zentraler Lage nicht mehr aus.

Bei 20 Minuten online hat er mal gelesen, dass man dieses Phänomen Gentrifizierung nennt: Ein Quartier wird saniert, gewinnt an Attraktivität, die Mieten steigen und die Ansässigen werden von einer wohlhabenderen Bevölkerungsschicht verdrängt. Abgesehen von seiner ohnehin schon angespannten finanziellen Lage kommt dazu, dass er mittlerweile für eine Frau und ein Kind verantwortlich ist. Da muss man den Gürtel noch enger schnallen, das ist ganz klar.

Aber er will sich nicht beschweren. Er ist glücklich. Und wer weiß? Vielleicht ist seine Tochter Lisa frühreif und zieht bereits in fünfzehn Jahren von zu Hause aus, weil sie irgendetwas Computermäßiges erfindet und sich für den Rest ihres Lebens keine finanziellen Sorgen mehr machen muss. Das kann man von einem Wunderkind wohl erwarten. Thömy hat sie ja nicht umsonst nach der klugen Simpsons-Tochter benannt. Vielleicht wird sie sogar so reich, dass sie ihren Eltern noch ein paar Milliönchen abtreten kann. Quasi als kleines Dankeschön dafür, dass sie sich die Mühe gemacht haben, sie zu zeugen, zu gebären, zu füttern, zu kleiden, zu unterhalten, zu pflegen, zu fördern, zu sponsern, zu versichern und aufzuziehen. So ein Kind ist schließlich vor allem in den ersten Jahren ein Fulltime-Job, bei dem man nichts verdient, aber viel bezahlt. Man muss schon ziemlich bescheuert sein, sich so etwas anzutun. Kann es sein, dass die Menschheit zu so einer bescheuerten Spezies wurde, weil nur die Bescheuerten bescheuert genug sind, ihre Gene weiterzugeben, während die Intelligenten darauf verzichten und dementsprechend aussterben?

An Lisas 15. Geburtstag wird Thömy 50 sein. Das ist zwar saumäßig alt, aber nicht so saumäßig alt, dass er mit den Milliönchen seiner Tochter nichts mehr unternehmen könnte. Eine Weltreise mit seiner Frau Lara zum Beispiel. Das wäre geil. Vorausgesetzt, dass sie dann immer noch zusammen sind und sich noch lieben – oder sich wenigstens immer noch mögen und nicht den Drang verspüren, sich gegenseitig die Augen auszukratzen. Aber darauf kann man sich heutzutage ja auch nicht mehr verlassen – Ehe hin oder her.

Dass Thömy seine schwangere Freundin heiratete, war für ihn eine Selbstverständlichkeit. So viel Konformismus musste sein. Früher, als er noch zu Hause im Tal lebte, rebellierte er zwar immer wieder gegen gewisse Normen und Traditionen, allerdings nur in einem vernünftigen Rahmen. Beispielsweise ließ er sich während seiner Lehre einen Panther auf den linken Unterarm tätowieren, färbte seine Haare rot und kiffte regelmäßig. Aber da war er stets in bester Gesellschaft, schließlich durchlebten seine Freunde die gleichen Phasen wie er. Außerdem wächst im Bündner Oberland hochpotentes Gras. Das kann man nicht einfach verrotten lassen.

Trotzdem: Im Nachhinein wundert er sich doch immer wieder, wie brav er eigentlich sogar während seines aufmüpfigsten Lebensabschnitts war. Damals kam er sich zwar ab und zu vor, als ob er mit seinen Interventionen der Gesellschaft ans Bein pinkelte, aber retrospektiv war er ein ganz normaler Jugendlicher in der Pubertät. Das war auch gut so. Wogegen hätte er auch ankämpfen sollen? Klar gab es Leute im Dorf, deren stockkonservativen Ansichten jeden normaldenkenden Menschen regelmäßig auf die Palme trieben. Aber die gehörten auch dazu. Wenn es diese alten Spinner nicht gegeben hätte, dann hätte man sich selbst ja nicht als normal und vernünftig bezeichnen können. Und während er in Disentis in der Super-Bar sein Bier trank, unterhielt er sich immer mit allen Anwesenden – egal ob links, rechts, groß, klein, Anwalt oder Bauer, Skilehrer oder KV-Lehrling.

In Zürich änderte sich das. Sein Bekanntenkreis wurde homogener. Während der Arbeit tauschte er sich vor allem mit anderen Karosseriespenglern aus, beim Feiern vor allem mit anderen, mehr oder weniger gleichaltrigen Elektrofans und Partykanonen.

Seit ein paar Stunden ist es Samstag. Thömy denkt kurz darüber nach, ob es noch spät in der Nacht oder bereits früh am Morgen ist. Er kann sich nicht festlegen, aber er weiß, dass seine S-Bahn erst in rund eineinhalb Stunden fahren wird. Um diese Uhrzeit dauern 90 Minuten eine Ewigkeit, aber Thömy hat plötzlich keine Lust mehr gehabt, noch länger im Bakterium auf dem Dancefloor rumzuschwanken und so zu tun, als wäre er bestens unterhalten.

Wenn man unter der Haube ist, dann machen die Partys ganz einfach nur noch halb so viel Spaß. Als verheirateter Mann in Zürich in einem Nachtklub herumzustolpern, das kommt ihm immer vor, wie mit einer Schreckschusspistole auf die Jagd zu gehen.

Ginge man fremd, wäre das etwas anderes. Aber leider kommt das für ihn nicht infrage. What goes around, comes around lautet seine Lebensphilosophie. So wie er sich kennt, würde er sich bestimmt etwas einfangen, wenn er Lara betrügen würde. Um sicherzugehen, dass er sie mit nichts Beißendem oder Kratzendem ansteckte, würde Thömy seiner Frau den Sex verweigern, bis er seine Testresultate in der Hand hielte. In dieser Zeit würde sie natürlich schon lange Verdacht schöpfen, würde mit Lisa ausziehen und ihn mit seinem Eichelpilz oder Peniskäfer allein in der leeren und kalten Wohnung zurücklassen.

Von da an würde er sich jeden Abend ins Koma saufen und jeden Morgen zu spät zur Arbeit erscheinen. Zuerst würde Thömy seinen Job verlieren, dann seine Freunde und schlussendlich seinen Stolz. Er würde in der Gosse landen und irgendwann an seinem Erbrochenen ersticken. Oder er würde auf der kalten Straße seinen erlösenden Weg zu Jesus finden, auferstehen und fortan Passanten mit dem Wort Gottes belästigen. Und das wäre sogar noch erbärmlicher als der Bon-Scott-Abgang.

Thömy genießt die frische Luft und schlendert Richtung Hauptbahnhof. Er ist warm angezogen und trägt eine dicke Wollmütze. Als Bündner ist er zwar in der Kälte aufgewachsen, aber die seebedingt feuchte Zürcher Kälte, die fühlt sich immer noch ungleich bissiger an als die trockene Kälte zu Hause. Die Februar-Kälte im Bündner Oberland spendet ihm jeweils emotionale Wärme, weil sie sich wie Heimat anfühlt, während die Februar-Kälte in Zürich einfach nur eisig und frostig und scheiße ist.

Am Straßenrand liegt noch Schnee vom letzten Mittwoch. Mittlerweile ist er allerdings pickelhart gefroren. Thömy tritt einen Eisklotz und wundert sich, wie weit er über den Asphalt gleitet. Das Eis kommt nach schätzungsweise fünfzig Meter zum Stillstand. Nicht schlecht, denkt Thömy, und lächelt zufrieden. Schon findet er einen zweiten, leicht größeren Block und versucht, diesen möglichst nah an den ersten zu treten. Es gelingt ihm ziemlich gut. Urban Soccer Curling – das wäre eine geile Sportart. Vielleicht wird die sogar mal zu einer olympischen Disziplin. Zu Ehren des Erfinders, Thömy Canova, dürfte man diesen Sport selbstverständlich nur mitten in der Nacht und ausschließlich in angetrunkenem Zustand ausüben. Das ist Zukunftsmusik.

Er denkt darüber nach, wie das Olympische Komitee die Größe und die Dimensionen der Eiswürfel festlegen und darüber diskutieren würde, wie viel Promille die Spieler beim Startschuss mindestens aufweisen müssen. Wahrscheinlich würden irgendwann ein paar Cool-Runnings-Typen aus dem Kongo auftauchen und überraschend olympisches Gold gewinnen. Thömy spaziert zwischen seinen beiden Eisblöcken hindurch und verliert dabei das Interesse daran, die Regeln für diese neue Trendsportart genauer zu definieren.

Trotz Daunenjacke macht sich die Kälte langsam bemerkbar. Während er durch die Zürcher Nacht torkelt, erwischt er sich kurz beim Gedanken daran, ein Uber zu bestellen oder nach einem Taxi Ausschau zu halten. Aber wenn er das tatsächlich tun würde, müsste er das ganze restliche Wochenende mit seiner Frau darüber diskutieren, wie saudämlich er wieder mal Geld aus dem Fenster geworfen hat. Nein, das ist es ihm nicht wert. Aber er hätte definitiv den letzten Zug nehmen können. Seine Freunde wären ihm bestimmt nicht böse gewesen.

Momentan ist sich Thömy gar nicht mehr sicher, warum er heute überhaupt ausgegangen ist. Wie jeden Freitagabend hatten sie in der Spenglerei noch ein paar Bierchen getrunken. Irgendwann wurden alle hungrig und sie fuhren mit dem Tram an die Langstraße. Zufälligerweise fanden sie sogar eine Pizzeria, die noch für fünf Leute Platz hatte.

Seine Frau gab ihm via WhatsApp grünes Licht. Sie habe zu Hause alles im Griff und er habe sich einen Abend mit seinen Freunden schon lange verdient. Da konnte Thömy natürlich nicht Nein sagen, sonst wäre er von seinen Arbeitskollegen garantiert als Muschi-Peter bezeichnet worden, der sich von seiner Frau zu einem häuslichen Leben zwingen lässt. Lara wiederum hätte ihn bestimmt einen bemitleidenswerten Soziopathen genannt, der keine Freunde mehr hat und sogar am Wochenende nur noch zu Hause abhängt.

Der Fall war also klar: Thömy musste mit seinen Kumpels noch ein paar Häuser weiterziehen. Sie arbeiteten sich vom Gandhi über die Ay-Caramba-Bar bis ins Fünf-vor-Zwölf und schlussendlich eben ins Bakterium. Irgendwann, während er im Bakterium zu feinstem Elektro abging, verschwanden seine Kollegen. Entweder zusammen oder jeder allein. Vielleicht wurde einer sogar von einem Partymäuschen abgeschleppt oder schleppte ein Partymäuschen ab. Oder eine Kombination dieser Möglichkeiten. Thömy wird es am Montag während der Kaffeepause in der Werkstatt sehr detailgenau erfahren – wie immer.

Sascha brachte bei einem potenziellen Opfer bestimmt wieder seinen Lieblingsspruch: Dass er als Spengler alles selbst ausbeulen könne, außer die Beule in seiner Hose. Haha, lustig. Oder auch nicht. Jedenfalls sind solche französischen Abgänge zu dieser späten Uhrzeit für sie nichts Ungewöhnliches.

Da Thömy noch gut Zeit hat, spaziert er nicht auf direktem Weg zum Hauptbahnhof, sondern driftet ein wenig planlos durch die Stadt. Er überquert die Quaibrücke zum Bellevue und folgt der Limmat hinunter Richtung Central. Der Vollmond spiegelt sich im schwarzen Wasser. Thömy fragt sich, wo die Schwäne wohl gerade pennen. Legen die sich überhaupt schlafen? Wie lustig sähen die aus, wenn sie auf dem Rücken liegen und dabei ihre Füsse in die Luft halten würden? Oder was wäre, wenn sie sich jeden Abend – nachdem sie für die Touristen ihre Runden am Seeufer geschwommen sind – zusammen in ihre geheime Schwanenburg zurückziehen und dort in richtigen Daunenbetten übernachten würden? Daunen von Enten oder Gänsen natürlich, nicht von anderen Schwänen. Das wäre ja schon fast Kannibalismus.

Mit einem mulmigen Gefühl greift sich Thömy an seine Daunenjacke. Was wäre, wenn die voller Schwanendaunen wäre und die Angehörigen seiner Opfer hier irgendwo im Dunkel der Nacht auf ihn lauern würden? Die angepissten Schwäne könnten in der nächsten Sekunde hinter einem Container oder einem Schneehaufen hervorpreschen, ihn angreifen und ihm die Augen auspicken. «Absoluter Schwahnsinn» würde 20 Minuten online kurz darauf als Headline auf die Front setzen und bereits eine Umfrage unter den Lesern starten: Finden Sie es gut, dass sich die Schwäne endlich zur Wehr setzen? Ja, nein, unentschlossen? Obwohl Thömy weiß, dass seine Gedanken absoluter Blödsinn sind, schaut er sich doch kurz um, ob ihn nicht von irgendwoher aus der Dunkelheit ein paar böse Schwanenaugen aufmerksam beobachten.

Die alten Zunfthäuser, die verlassenen Tramschienen und die unmerklich fließende Limmat strahlen eine Ruhe aus, die seinen Puls gleich wieder senkt. Thömy muss über seine merkwürdige Panikattacke schmunzeln. Er versucht, sich die Schwäne wieder lustiger vorzustellen – und nicht als blutgeilen Killerschwarm mit giftroten Augen und scharfen Schnäbeln.

Vielleicht schlafen sie jeden Tag auf dem See schwimmend ein, treiben dann die Limmat hinunter und werden beim Kraftwerk Letten ans Auffanggitter geschwemmt. Und jeden Morgen wachen sie dort ganz verwirrt auf und denken sich: «Fuck, schon wieder?» Dann bringen sie ihr Federkleid in Ordnung und machen sich auf den Weg hinauf Richtung See, wo gleich ihre nächste Schicht beginnt und sie für Schweiz Tourismus ihre Runden an der Seepromenade schwimmen müssen.

Thömy kann sich beim besten Willen nicht daran erinnern, ob er beim Kraftwerk Letten überhaupt mal ein Auffanggitter vor der Turbine gesehen hat. Aber ohne Auffanggitter würden die flussabwärts treibenden Schwäne doch im Schlaf zerfetzt werden. Das wäre ungefähr so grausam wie die Geschichten über die Millionen von Vögeln, die angeblich jedes Jahr von Windrädern zerstückelt werden. Verdammte Stromproduktion! Um Vögel daran zu hindern, in die Windräder zu fliegen, sollte man Katzen an die Rotorblätter binden. Thömy stellt sich vor, wie die Katzen den ganzen Tag hoch in der Luft im Kreis drehen und kotzen. In den Kotzpausen versuchen sie dann laut fauchend nach den vorbeifliegenden Vögeln zu greifen – und warnen diese dabei unfreiwillig vor der Gefahr der Windräder. Würden die Tierschützer diese Maßnahme begrüßen? Was wäre ihnen wichtiger? Katzen- oder Vogelschutz?

Bevor Thömy sich vorstellt, wie Fachmänner – und natürlich auch Fachfrauen – für Philosophie, Energiewissenschaften und Tierrecht diese Diskussion im Schweizer Fernsehen führen, denkt er, dass er sich gern ein wenig an den Fluss setzen würde, um eine Zigarette zu rauchen. Ein Griff in seine Hosentasche erinnert ihn aber daran, dass er seine letzte Zigarette vor etwa zwei Stunden im Bakterium geraucht hat. Scheiße, das nervt! In diesem Augenblick taucht aus dem Dunkel einer Seitengasse ein Schatten auf. Ein Mann überquert die Tramschienen und die Straße, reißt dabei das Zellophan von einer neuen Zigarettenpackung, zieht eine Kippe raus und zündet sie an.

Thömy glaubt nicht an Zufälle, Thömy glaubt ans Schicksal. Und das meint es gerade ausgesprochen gut mit ihm. Der Raucher geht wortlos an ihm vorbei und bewegt sich flussaufwärts Richtung Bellevue. Auch wenn es Thömy komisch vorkommt, dass ihn der Typ nicht grüßt, obwohl sie weit und breit die einzig wachen Menschen sein müssen, betrachtet er sein Auftauchen doch als Geschenk des Himmels. Ein perfektes Timing. Bestimmt hat es etwas damit zu tun, dass Thömy heute seinen Freunden mehr Drinks spendiert hat als sie ihm. Das Universum begleicht offene Rechnungen. Und um diese Uhrzeit an diesem Ort noch eine Zigarette zu genießen, das lässt sich fast nicht mit Geld aufwiegen.

Bevor er noch weiter darüber nachdenken kann, dreht sich Thömy um und folgt mit schnellen Schritten dem verschwindenden Schatten. «Entschuldige, hast du mir vielleicht eine Zigarette? Das wäre super!»

Der Mann, Thömy schätzt ihn auf Mitte fünfzig, dreht sich um und antwortet lächelnd: «Nein, sorry! Ich habe keine mehr.»

Thömy ist von der brüsken Antwort überrumpelt. Diese Reaktion hätte er beim besten Willen nicht erwartet. Er sollte jetzt sagen, dass das kein Problem sei und ihn ziehen lassen. Da aber um diese Zeit bestimmt niemand mehr mit Zigaretten auftauchen wird, fühlt er sich jetzt doch gezwungen, nicht kampflos aufzugeben. Thömy holt den Schatten erneut ein. «Bist du dir sicher?» – «Ja, ziemlich sicher. Schönen Abend noch, schlaf gut!»

Unglaublich, unfassbar. Thömy bleibt stehen, während der Mann unbekümmert auf seinem Weg und an seiner Zigarette weiterzieht. Ein richtiges Arschloch! Und das Schlimmste daran ist, dass der Rauch, den er wie einen Schweif hinter sich herzieht, Thömys Lust auf eine Zigarette zusätzlich anfeuert. Er kann es nicht lassen. Mit drei, vier schnellen Schritten folgt er erneut dem Fremden und stellt ihn zur Rede. «Dude, ich habe doch gerade gesehen, dass du noch ein volles Päckchen hast!» – «Ich habe mir doch selbst gerade eine angesteckt, da kann das Päckchen ja nicht mehr voll sein. Oder? Dude?»

Das Wort Dude betont der Mann auf eine Art, die Thömy spüren lässt, dass er wahrscheinlich noch nie so genannt wurde. «Okay, deine Schachtel ist ziemlich voll. Komm, bitte, ich zahle dir auch einen Franken. Alles kein Problem!»

Thömy zückt demonstrativ seine Brieftasche, muss aber sogleich feststellen, dass er kein Kleingeld mehr hat. Stimmt. Das letzte Hartgeld hat er an der Garderobe im Bakterium zusammengekratzt. Fuck!

«Sorry, kannst du auf einen Zwanziger rausgeben? Oder hast du PayPal? Oder Twint?» – «Komm, verpiss dich jetzt! Ich bin kein Zigaretten-Automat. Auch kein Kiosk und keine Bank und ich sehe nicht aus wie ein Hotel oder wie ein Kassenschrank. Falls du weißt, was ich meine. Das hat ein Kifferfreund von dir gesungen.»

Er weiß, dass er den Wichser einfach in Ruhe lassen sollte. Aber Thömy kann nicht fassen, auf was für ein geiziges Arschloch er hier gerade gestoßen ist. Er selbst gibt immer allen alles – Zigaretten, Geld, Hilfe, Ratschläge, Kaugummis, einfach alles.

Thömy glaubt, dass er mit seinen großzügigen Aktionen jeweils sein Karma auflädt und dass alles in irgendeiner Form wieder zu ihm zurückkommen wird. Der Film Pay it Forward inspiriert ihn wie kein anderes Werk. Thömy ist davon überzeugt, dass sich das Gute verdoppelt, wenn man es teilt. Und auch die schlechten Taten bleiben nicht ohne Konsequenzen. Das hat der Fall Kevin Spacey bewiesen – einer der Hauptdarsteller in Pay it Forward. Im richtigen Leben wurde ihm eine sexuelle Belästigung, die bereits Jahre zurücklag, zum Verhängnis und kostete ihn Rollen, Ansehen und Millionen von Dollar.

Würden endlich alle Leute verstehen, dass alles zurückkommt, was man ausstrahlt, dann wäre diese Welt schon lange ein richtig guter Ort zum Leben. Aber solange es Menschen wie diesen knausrigen Vollpfosten hier gibt, wird es auf diesem Planeten nicht besser. Thömy schließt erneut zu ihm auf.

«Was ist denn dein Problem? Wie teuer ist eine Zigarette? Dreißig Rappen? Du könntest mir mit dreißig Rappen eine Freude machen.»

Der Mann lässt sich von Thömy immer noch nicht aus der Ruhe bringen und antwortet ihm in unaufgeregtem Ton: «Es geht nicht ums Geld. Es geht ums Prinzip.» – «Welches Prinzip?» – «Mein Prinzip.» – «Und das lautet?» – «Ich kaufe mir mit meinem Geld Zigaretten, damit ich sie rauchen kann. Genauso wie ich mir mit meinem Geld Hosen kaufe, die ich trage, Essen kaufe, das ich esse, und mir eine Wohnung miete, in der ich wohne. Frag mich doch noch, ob du meine Schuhe haben kannst.»

Das Wörtchen ich und sämtliche Possessivpronomen betont der Typ in seinen letzten Sätzen extra und unterstreicht damit seinen Egoismus zusätzlich. Thömy fällt es nicht schwer, etwas zu erwidern. «Das ist doch nicht das Gleiche. Schuhe habe ich selbst. Es wäre was anderes, wenn ich keine hätte und du gerade mit einer Wagenladung Schuhe vorbeigefahren wärst. Dann hätte ich dich wahrscheinlich gefragt, ob du mir ein Paar leihen könntest.» – «Leihen? Schenken meinst du wohl. So wie die Zigarette. Aber ehrlich gesagt, die Schuhe hätte ich dir wahrscheinlich verkauft, wenn es so kalt gewesen wäre wie jetzt gerade und du offensichtlich in einer Notsituation gewesen wärst.» – «Das hier ist eine Notsituation!»

Der Typ dreht sich zum ersten Mal zu Thömy um, mustert ihn und fragt in süffisantem Tonfall: «Du stirbst, wenn du nicht rauchst? Eigentlich sagt man doch, dass es genau umgekehrt ist.» – «Das hier ist ein Notfall, weil du mit einer einfachen Geste die Menschheit retten könntest.»

Der Mann lacht so laut wie künstlich: «Hahaha! Jetzt muss ich schon die Menschheit retten?» – «Gutes Verhalten bewirkt Gutes. Kostet dich gerade mal dreißig Rappen. Die Zeit, die wir darüber diskutieren, sollte dir doch mehr wert sein.» – «Wie gesagt, das Geld ist mir scheißegal. Es geht um das Prinzip, dass jeder für seinen Scheiß selbst verantwortlich ist. Außerdem – was heißt hier gute Tat? Ich verlängere dein Leben, indem ich dich nicht mit Nikotin vergifte. Hast du darüber schon mal nachgedacht, Einstein? Sag Danke!» – «Fick dich!» – «Ja, das mache ich jetzt. Schönen Abend – respektive guten Morgen – noch.»

Der Typ beschleunigt seinen Gang. Instinktiv hält Thömy ihn an seiner Jacke zurück. Dass er diesen Wichser jetzt anfasst, das ist die nächste Eskalationsstufe. Thömy ist von sich überrascht. Vor allem, weil er nicht damit rechnet, dass er noch eine Zigarette bekommen wird. Aber er will hier ein paar grundsätzliche Dinge mit diesem Arschloch klären. Wenn er ihn nicht vom Guten überzeugen kann, wer denn sonst? Außerdem braucht er noch ein wenig Entertainment, bis seine S-Bahn fährt. Bei 20 Minuten online wurde in den letzten Stunden bis auf ein paar Katzenvideos, Hundefotos oder Bachelorette-Updates bestimmt nichts Aktuelles raufgeladen. Sonst hätte er längst eine Push-Meldung erhalten. Er muss also selbst für seine Unterhaltung sorgen. Und ehrlich gesagt hat Thömy auch das Gefühl, dass der andere Typ nichts dagegen hat. Es wäre für ihn ja wirklich sehr viel einfacher, wenn er ihm einfach eine Zigarette geben würde und dann seine Ruhe hätte, statt sich auf seinem Heimweg von einem angetrunkenen Partygänger belästigen zu lassen.

«Du weißt schon, dass du ein elendes Arschloch bist, oder?» Der Mann zieht an seiner Zigarette und dreht sich um. «Na gut, ich will mal nicht so sein. Du kannst gerne passiv mitrauchen.»

Er bläst Rauch in Thömys Gesicht und schaut ihn erwartungsvoll an. «Na? Schmeckt es dem Herrn? Höre ich ein Dankeschön?» – «Jetzt mal im Ernst, bist du genetisch so unglaublich niederwertig? Oder war deine Mutter während der Schwangerschaft auf Heroin? Es kann ja nicht sein, dass du dir diese ganze Arschlochhaftigkeit selbst erarbeitet hast, oder?» – «Du würdest dich wundern, wenn du wüsstest, was ich mir schon alles erarbeitet habe. Hättest du nur einen Tausendstel von dem hinbekommen, könntest du dir sogar deine eigenen Zigaretten leisten.» – «Es ist nicht so, dass ich sie mir nicht leisten kann, ich habe einfach keine mehr.» – «Dann kannst du entweder schlecht organisieren oder mit deinen Ressourcen nicht haushälterisch umgehen. Du solltest die heutige Nacht als Lernprozess verstehen.» – «Als Lernprozess? Du meinst wohl Kennenlernprozess! Ein richtiges Arschloch habe ich kennengelernt, das ist alles!» – «Schau, du wirst es eines Tages begreifen: Ich tue dir gerade einen Gefallen. Gib einem Verlierer eine Zigarette und er verpafft sie. Zeig einem Verlierer, wie man seine Zigaretten selbst kauft und nicht über seine Verhältnisse lebt, dann hat er was fürs Leben. Das ist eine auf dich zugeschnittene Version eines Konfuzius-Spruchs, aber das hast du ja bestimmt schon selbst gemerkt, oder? Einstein?» – «Danke, nein, aber ich werde ihn bei Gelegenheit googeln.» – «Sehr gut. Und nicht vergessen: Google ist gratis, weil Leute wie ich es für Leute wie dich entwickelt haben.» – «Du arbeitest für Google?» – «Nein. Aber es ist egal, was ich mache. Du musst nur wissen, dass Leute wie ich dieser Welt einen Mehrwert bringen, während Leute wie du Trittbrett fahren.» – «Was soll die Scheiße? Trittbrett fahren? Du kennst mich doch gar nicht! Ich zahle meine Tramtickets immer! Auch die Zugtickets, Flugtickets … alle!»

Das Arschloch lacht. «Wunderbar. Einen guten Radar für Metaphern hast du anscheinend auch noch.» – «Meta… was?» – «Hör zu. Leute wie du haben doch ständig das Gefühl, alle schulden ihnen etwas. Der Staat, die Gesellschaft, die Reichen, einfach alle, die nicht in ihrem linken Biotop wohnen. Wacht mal auf, werdet nüchtern und nehmt euer Schicksal selbst in die Hand. Von nichts kommt nichts. Das ist ein Naturgesetz.» – «Alter, was erzählst du da? Ich arbeite den ganzen Tag. Und ein Linker bin ich auch nicht wirklich. Ich habe sogar eine Familie. Bürgerlicher geht es wohl kaum!» – «Eine Familie? Solltest du nicht zu Hause sein und auf sie aufpassen, statt hier morgens um vier anständige Leute zu belästigen?» – «Das geht dich echt einen Scheiß an!» – «Das behauptest du jetzt einfach. Wenn dein verwahrlostes Kind auch keinen Job findet und von meinen Steuergeldern leben muss, wird es spätestens zu meinem Problem.» – «Dude, du bist ja echt paranoid! Meine Tochter wird super!» – «Hoffen wir das Beste, Dude. Aber ehrlich gesagt sehe ich sie jetzt schon am Babystrich stehen und Leute wie mich um ein kleines Abenteuer bitten.»

Der Typ leckt sich mit der Zunge über die Lippen und fragt dann, ob Thömy verstehe, was er meine. Thömy jagen Bilder seiner kleinen Lisa durch den Kopf. Wie die Zunge dieses Wichsers über ihr Gesicht leckt und er dazu lüstern stöhnt. Er kann sich nicht gegen die aufsteigende Wut wehren. Seine rechte Hand ballt sich und er schlägt mit seiner Faust mit voller Granate auf den glühend orangen Punkt im Mund dieses Schweines. Der Mann zuckt fluchend zusammen und hält sich schützend die Hände vors Gesicht. Sauer starrt er Thömy an, beginnt zu schreien und stürzt sich wie ein wilder Stier auf ihn. Die Fäuste fliegen in beide Richtungen. Nach wenigen Augenblicken scheinen beide zu bemerken, dass der andere ebenfalls kein geübter Schläger ist, was beide ermutigt, noch wilder auf den anderen loszugehen.

Thömy ist sich sicher, dass er dem Arschloch bereits einen Zahn rausgehauen hat. Er selbst hat Atemprobleme, weil er in die Seite getroffen worden ist. Aber sie gönnen sich keine Pause. Thömy kann den Egoisten am Kragen packen und haut seinen Kopf gegen das Geländer am Limmat-Ufer. Der Mann dreht sich aber wieder um und nimmt Thömy in den Würgegriff. Als sie sich gegenseitig treten, beißen und schlagen, denkt Thömy darüber nach, wie seine Frau ihn später anschauen und seine Wunden verarzten wird. Sie wird ihm bestimmt sagen, er solle das nächste Mal gefälligst ein Uber oder ein Taxi nach Hause nehmen. Ironie des Schicksals nennt man das wohl.

In diesem Moment weiß er noch nicht, dass es kein nächstes Mal geben wird. Die beiden werden sich in etwa dreißig Sekunden gegenseitig über das Geländer prügeln und durch die Dunkelheit in das eiskalte Wasser fallen. Beide werden wissen, dass sich der nächste Ausstieg aus der Limmat ein paar Hundert Meter weiter flussabwärts befindet. In rund drei Minuten wird die Polizei, die von den geweckten Anwohnern alarmiert worden ist, mit einer Taschenlampe in Richtung der Hilfeschreie des Wichsers auf die Wasseroberfläche leuchten. Er wird etwa fünfundzwanzig Minuten später auf dem Weg ins Krankenhaus an Unterkühlung sterben.

Zu diesem Zeitpunkt wird Thömy bereits seit einer Viertelstunde tot sein. Er wird sich nicht von seiner schweren Daunenjacke befreien können. Beim Untergehen wird er noch denken, dass das wohl die Rache für das Leid ist, dass man den Vögeln für diese Jacke zugefügt hat. In einer Stunde wird 20 Minuten online folgende Push-Meldung verschicken: «Zwei Freunde nach Partynacht in Limmat gefallen und ertrunken.»

DERGURU

Käthi pilgert von Spiez nach Ebnat-Kappel. Sie unternimmt die lange Reise vom Thunersee ins Toggenburg mittlerweile zum fünften und letzten Mal. Eigentlich könnte sie heute auf den ganzen Aufwand verzichten. Käthi ist niedergeschlagen, ernüchtert, desillusioniert. Komischerweise hält sie sich trotzdem an die Regeln. Eine davon lautet, dass sie jedes Mal eine andere Route einschlagen muss – schließlich führen viele Wege von A nach B respektive von Spiez nach Ebnat-Kappel. Das ist nur eine der zahlreichen Lektionen, die sie angeblich zu lernen hat. Heute fährt sie beispielweise mit dem Zug von Spiez über Bern und Luzern nach Ziegelbrücke und von dort aus weiter mit dem Postauto. Das hat sie noch nie so gemacht, deshalb fühlt sich auch heute noch alles wie neu an und kein bisschen wie Routine.

Eine andere Regel schreibt vor, dass sie nie selbst mit dem Auto fahren oder sich von einer bekannten Person chauffieren lassen darf. Erlaubt sind sämtliche öffentlichen Verkehrsmittel und die eigene Muskelkraft. Das heißt, Fahrrad, Rollerblades und ähnliche Fortbewegungsmittel sind ebenfalls gestattet. Gern gesehen ist es, wenn sie große Streckenabschnitte zu Fuß oder mit ihrem Daumen zurücklegt. Mit dem Daumen bedeutet, dass sie am Straßenrand steht und Autofahrern signalisiert, dass sie gern mitgenommen werden würde. Aber eben: Sie darf nur in einen Wagen steigen, wenn sie die wagenlenkende Person nicht kennt. «Du musst zu Fremden ins Auto steigen!» Diese Forderung widerspricht natürlich allen Ratschlägen, die sie früher von Eltern oder Lehrern zu hören bekommen hat. Aber so ist das Leben.

Eine weitere wichtige Regel besagt, dass sie unterwegs mit mindestens einer fremden Person ein Gespräch führen muss, bei dem sie selbst mehr Fragen stellt, als sie Antworten gibt. Dabei darf sie aber unter keinen Umständen verraten, was das Ziel ihrer Reise ist. Käthi hat immer noch nicht herausgefunden, was das Ganze soll, aber mittlerweile ist es ihr auch schon fast egal. Wahrscheinlich geht es darum, unterbewusst alte Denkstrukturen und gewohnte Verhaltensformen zu durchbrechen, aber eben, so genau kann sie das nicht sagen.

Die letzten zwei Stunden ihrer Reise muss sie sich dann von Ebnat-Kappel aus auf die Alphütte des sagenhaften Ueli Bollhalder raufkämpfen. Sobald sie den Asphalt verlässt, muss sie ihre Schuhe ausziehen und den Rest des Weges barfuß gehen. Ab diesem Moment darf sie auch nur noch trinken und essen, was sie unterwegs findet, darf niemanden grüßen und keinen Wanderweg benutzen. Während ihrer ersten Reise war das für ihre Füße eine wahre Tortur. Mittlerweile haben sie sich an die Steine, Äste und Brennnesseln gewöhnt.

Ihre erste Reise dauerte knapp fünf Stunden. Das war der direkte Weg über Bern und Zürich. Heute rechnet sie mit mindestens sieben Stunden Reisezeit. Und zwar nur für einen Weg, wohlgemerkt. Käthi erinnert sich daran, wie hoffnungsvoll sie sich am Samstag vor vier Wochen zum ersten Mal auf den Weg machte, ohne genau zu wissen, was sie erwartete. Sie ließ sich auf das Experiment ein, weil sie nichts zu verlieren hatte. Käthi ist zwar nicht spirituell veranlagt und sie glaubt auch nicht an überirdische Kräfte. Aber woran soll man sich sonst halten, wenn alle herkömmlichen Methoden und Mittelchen nicht den gewünschten Erfolg bringen? Und sie hatte definitiv nichts unversucht gelassen, um sich endlich das Rauchen abzugewöhnen.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits jeden nennenswerten Ratgeber auf dem Markt gelesen, jede erdenkliche Behandlung über sich ergehen lassen und es mit sämtlichen Nikotinpräparaten, Kaugummis, Pflastern und Lutschtabletten versucht. Ab und zu schaffte es Käthi tatsächlich, einen Tag auf den Glimmstängel zu verzichten. Aber das kostete sie jeweils so viel Anstrengung, dass sie ihren Erfolg nicht genießen konnte. Stattdessen kam sie dann jeweils an den Punkt, an dem sie bereit war, rückfällig zu werden, um dann wenigstens kurzfristig wieder mal an etwas anderes als an ihren Entzug und an ihre gnadenlose Lust auf eine Zigarette zu denken.

Aber kaum hatte sie diese eine Zigarette geraucht, brachen alle Dämme und sie ließ sich wieder gehen. Dann war alles wieder wie vorher. Während des Rauchens freute sie sich bereits darauf, die nächste Zigarette anzuzünden. Hunger hatte sie auch nicht mehr wirklich. Wenn sie mit Freunden essen war, entschuldigte sie sich jeweils zwischen den einzelnen Gängen und ging vor die Tür, um zu rauchen. Ab und zu wurde sie von jemandem nach draußen begleitet, aber im Verlauf der Jahre gaben immer mehr Freunde das Rauchen auf und sie kam sich je länger, je mehr vor wie eine Aussätzige. Aber Käthi konnte sich nicht dagegen wehren.

Ihre schönsten Ferienerinnerungen sammelte sie jeweils während der Zwischenstopps in den Raucherräumen in den verschiedensten Flughäfen des Planeten. Ihren absoluten Tiefpunkt erreichte sie, als sie mal beim Sex einen Orgasmus vortäuschte, um früher die Zigarette danach rauchen zu können. Ihre Nikotinsucht war aber nicht nur ein teures Hobby, sie hatte auch das Gefühl, dass es sie schneller altern ließ als ihre Freundinnen. Als mittlerweile 43-Jährige würde sie durchaus als 50-Jährige durchgehen. Das ist umso verheerender, weil ihre gleichaltrige Freundin Petra immer wieder auf 35 geschätzt wird.

Das Postauto fährt in Ebnat-Kappel ein. Es ist faszinierend, wie bekannt und vertraut ihr das Kaff bereits vorkommt. Sie mag die einfachen Häuser. Wie jedes Mal hält sie Ausschau nach Lokal-Promi, SVP-Politstar und Strahlemann Toni Brunner, der hier im Dorf bestimmt den gleichen Status genießt wie Elvis in Graceland. Aber wie immer sucht sie ihn ohne Erfolg. Wahrscheinlich schaufelt er gerade lächelnd Kuhmist in seinem Stall, schlachtet gut gelaunt ein Huhn oder repariert breit grinsend einen Zaun auf einer Weide. Egal was er macht, er ist bestimmt gut drauf. Ein tröstlicher Gedanke, dass es wenigstens jemandem auf diesem Planeten immer gut geht. Wenn jemand so kompromisslos fröhlich sein kann, dann wird es ihr selbst bestimmt auch mal wieder besser gehen. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie zugeben, dass die Gedanken an Toni Brunner ihr gerade ein scheues Lächeln ins Gesicht gezaubert haben.

Käthi steigt an der Haltestelle Kapplermühle aus. Es ist bereits Mittag. Die nassen Straßen lassen darauf schließen, dass es am Morgen geregnet hat. Die Wolken haben sich aber mittlerweile verzogen und die Augustsonne sorgt für gute Wanderbedingungen. Käthi schaut auf die umliegenden saftig grünen Hügel und Berge und bedauert, dass eine der Regeln ihr das Mitnehmen ihres Smartphones strikt untersagt. Sie hätte jetzt gern ein Foto als Erinnerung an ihre letzte Reise geschossen. Wenn sie schon nicht mit dem Rauchen aufhören kann, so hat sie doch wenigstens einen Teil der Schweiz kennengelernt, in dem sie sonst wahrscheinlich nie gelandet wäre.

Sie zündet sich eine Memphis an, zieht den Rauch tief in ihre Lungen und marschiert los. Am Dorfrand zieht sie ihre Turnschuhe und ihre Socken aus und verstaut beides in ihrem kleinen Rucksack. Das feuchte Gras unter ihren Füssen erinnert sie an ihre Kindheit und daran, wie sie mit ihrem Bruder nackt vor dem Haus spielte und sie sich mit dem Gartenschlauch gegenseitig abspritzten. Da war ihre Welt noch in Ordnung.

Ihr Bruder Sedrick ist heute ein erfolgreicher Geschäftsmann und Verwaltungsrat des Verkehrsunternehmens BLS, während Käthi sich immer noch mit Gelegenheitsjobs in der Gastronomie oder in diversen Shops über Wasser hält. Sedrick ist Vater von drei Kindern, während Käthi gerade ihre ungefähr zwölfte mehr oder weniger ernsthafte Beziehung hat beenden müssen. Aber was hätte sie sonst tun sollen? Zum Schluss hat Fabrizio sie nicht mehr nur mit der flachen Hand, sondern auch mit den Fäusten oder in ganz schlechten Momenten sogar mit seinem Gurt ins Gesicht geschlagen. Das hat Spuren hinterlassen. Irgendwann hat sie niemandem mehr glaubhaft erzählen können, dass sie schon wieder die Treppe runtergefallen, mit dem Fahrrad gestürzt oder in der Dusche ausgerutscht sei. Deshalb hat sie Fabrizio gehenlassen. Sonst hätte sich einen Job suchen müssen, bei dem sie keinen direkten Kontakt zu Gästen oder Kunden hat.

Was Käthi an ihrem Bruder Sedrick aber am meisten nervt, ist, dass er für seine Familie gerade ein Haus an bester Lage am Thunersee gebaut hat, während sie mittlerweile wieder mal auf der Suche nach einer günstigeren Wohnung ist. Oder noch besser: nach einem WG-Zimmer. Eigentlich ist sie es, die immer von einem Eigenheim geträumt hat. Von einem Haus mit Garten, in dem sie den Rest ihres Lebens hätte verbringen können und sich keine Sorgen mehr darüber hätte machen müssen, dass sich ein flüchtig bekannter Mitbewohner an ihrer Mayonnaise bedient oder am Morgen stundenlang das Badezimmer besetzt.

Vor rund einem Monat war sie davon überzeugt, dass, sobald sie mit dem Rauchen aufhörte, sich ihr ganzes Leben zum Guten wenden würde. Sie würde plötzlich mehr Geld zur Verfügung haben, was bestimmt ihren gesellschaftlichen Status verbessern würde. Sie würde attraktiver werden und bald ihren Traummann kennenlernen. Vielleicht in einem Fitnessstudio oder auf dem Tennisplatz. Sie würde mehr Gesundheit und Lebensfreude ausstrahlen, was auch potenziellen zahlungskräftigen Arbeitgebern auffallen würde. Aber eben: Erzähl Gott von deinen Plänen, wenn du ihn zum Lachen bringen willst.

Die Sonne brennt. Käthi wischt sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn. Während sie barfuß über die Wiese den Berg hinauf Richtung Wald wandert, wundert sie sich, wann sie wohl vom rechten Weg abgekommen ist. Als Kind war sie immer optimistisch. Käthi war davon überzeugt, dass aus ihr etwas werden würde. Sie war gut in der Schule und sie war äußerst beliebt. Das alles konnte man von ihrem Bruder nicht wirklich behaupten. Sie erledigte ihre Hausaufgaben immer gewissenhaft, während er bei den Lehrern den Ruf hatte, ein absoluter Minimalist zu sein. Wenn das Leben fair wäre, wäre sie heute an seiner Stelle – verheiratet, erfolgreich, in einer Familie aufgehoben, im Leben angekommen, glücklich und zufrieden.

Käthi kann sich gut an den Samstagnachmittag erinnern, als sie mit fünf Schulfreunden mit dem Fahrrad von Spiez nach Interlaken fuhr. Bei Coop klauten sie Bier und tranken es versteckt im Wald. Carlo hatte außerdem Zigaretten dabei. Alkohol und Nikotin gehörten zusammen wie Dylan und Kelly aus Beverly Hills, 90210, wiederholte er immer und immer wieder. Käthi kann sich noch daran erinnern, dass sie für den Weg zurück nach Spiez fast doppelt so lang brauchten und sie zwei Mal beinahe von einem Auto angefahren wurde.

Für ihre nächsten Partys fuhren sie immer weniger weit weg. Und irgendwie kam es, dass Käthi tatsächlich jedes Mal rauchte, wenn sie mit ihren Freunden irgendwo Bier, Wein oder Alkopops trank. Plötzlich rauchte sie auch an stinknormalen Tagen, selbst dann, wenn sie allein war. Sie rauchte, während sie auf den Bus wartete, in den Schulpausen, nach dem Essen oder am Abend hinter dem Haus ihrer Eltern. Die Zigarette wurde sehr schnell zu einem Teil von ihr.

Mittlerweile hat sie 28 Jahre lang mehr oder weniger jeden Tag ein Päckchen geraucht. Kürzlich hat sie ausgerechnet, wie viel Geld sie in ihrem Leben bereits in blauen Dunst verwandelt hat. Bei der Zahl ist ihr schwindlig geworden und sie hat sich setzen müssen. Über 70'000 Schweizer Franken – viel mehr als ein Jahreslohn.

Käthi durchquert einen Wald. Vor drei Wochen, als sie tatsächlich weniger geraucht hat, hat sie die Gerüche hier viel intensiver wahrgenommen. Oder vielleicht redet sie sich das auch nur ein, weil alle Ex-Raucher in ihrem Freundeskreis immer behaupten, wie wahnsinnig toll man als Nichtraucher plötzlich Düfte und Geschmäcker wahrnehme, fast so, als ob man als Blinder plötzlich sehen könne.

Jetzt tut es ihr zusätzlich leid, dass sie wieder rückfällig geworden ist. Aber im Ernst: Warum hätte das ganze Theater funktionieren sollen? Sie hätte sich viel erspart, wenn sie sich gar nicht auf dieses Projekt eingelassen hätte. Als ihre Freundin Simone vor zwei Monaten anfing, von diesem sagenhaften Ueli Bollhalder zu schwärmen, hätte sie auf ihre inneren Alarmglocken hören sollen. Es klang doch alles viel zu fantastisch, um wahr zu sein. Ein Guru mit magischen Kräften, der ganz allein im hintersten Tal des Toggenburgs in einer Alphütte wohnt und nur von Liebe und Luft lebt, soll sie von ihrer Nikotinsucht heilen?

Mittlerweile weiß Käthi, dass Ueli Bollhalder nicht nur von Liebe und Luft lebt, sondern auch von dem Geld, das ihm leichtgläubige Opfer wie Simone und Käthi jede Woche vorbeibringen. 500 Schweizer Franken kostet jeder einzelne der fünf Besuche. Dabei läuft immer alles nach dem exakt gleichen Muster ab. Man erreicht die Alphütte, klopft dreimal an die Tür, betritt den kleinen, rustikal eingerichteten Wohnraum, setzt sich schweigend zum grimmig dreinschauenden Älpler an den Holztisch, legt den neutralen Umschlag mit dem Geld auf den Tisch, bekommt ein Glas süßlich schmeckender Kuhmilch eingeschenkt und trinkt das Glas leer. Dann legt der Typ einem zum Abschied seine zwei übergroßen Hände, die Käthi jedes Mal an Schneeschaufeln erinnern, auf den Kopf, man steht auf und verschwindet wieder.

Über den sagenhaften Ueli Bollhalder darf man mit niemandem sprechen, sonst würde der Zauber respektive der Heilungsprozess nicht funktionieren. Erst bei der fünften Session darf man dem Guru drei Fragen stellen und ihm einen hoffnungslosen Raucher vorschlagen, den er als Nächstes heilen soll. Nickt er mit dem Kopf, darf man der entsprechenden Person von ihm erzählen. Bei Simone war es eben Käthi. Simone konnte ihr weismachen, dass sie die neue Auserwählte sei und sich diese Investition wirklich lohnen werde. 2500 Franken, das sei ja schließlich ungefähr das Geld, das sie jedes Jahr in ihre Sucht und ihren frühzeitigen Tod investiere.

Die erste Session, falls man diesen Kurzaufenthalt überhaupt so bezeichnen konnte, war tatsächlich vielversprechend. Käthi fasste zwei Tage lang keine Zigarette an. Das hatte wahrscheinlich damit zu tun, dass sie sich wirklich wünschte, dass sie die 500 Franken und ihren Samstag nicht umsonst geopfert hatte.

Nach ihrem zweiten Besuch konnte sie ihren Erfolg wiederholen und rauchte erst am nächsten Montagabend wieder eine Zigarette. Danach fühlte sie sich richtig scheiße. Käthi rauchte die ganze Woche durch, als ob nichts gewesen wäre, nur um am Samstag erneut auf Umwegen mit Zug, Postauto, Autostopp und Wandern auf die Alphütte zu gelangen und dem angeblich so tollen Ueli Bollhalder weitere 500 Franken auf den Tisch zu legen und dafür nicht mal ein Dankeschön zu bekommen. Zugegeben, die frische Milch schmeckte jeweils hervorragend, aber aufgerechnet kostete der Liter etwa 2000 Franken – die Reisespesen nicht berücksichtigt.

Auf ihrer Heimreise nach dem dritten Besuch war der Zug gefüllt mit betrunkenen Young-Boys-Fans, die ihren Frust über das verlorene Spiel gegen den FC St. Gallen mit Pöbeleien, dummen Sprüchen und Handgreiflichkeiten abzubauen versuchten. Käthi stürmte in Bern aufgebracht aus dem Zug, kaufte sich am Bahnhofskiosk ein Bier und eine Packung Memphis und versuchte, sich mit Tränen in den Augen trinkend und rauchend zu beruhigen. Dieser Ausflug war definitiv umsonst. Verdammte Fußballproleten!

Logischerweise rauchte sie dann die ganze Woche durch und dachte darüber nach, auf den vierten Besuch ganz zu verzichten und sich das Geld zu sparen. Allerdings hatte sie bis zu diesem Zeitpunkt bereits 1500 Franken ins Toggenburg getragen. Sie wollte nicht, dass das alles für die Katz war. So begab sie sich letzten Samstag erneut auf die Reise und hat tatsächlich bis vorgestern durchgehalten. Wäre sie nicht am Donnerstagabend bei Linus zu einer Grillparty eingeladen gewesen, hätte sie es vielleicht sogar bis heute geschafft. Jedenfalls ist sie nach dem zweiten Bier rückfällig geworden – schließlich muss man während diesem verregneten Sommer die Gelegenheit doch nutzen, wenn man am Abend mal draußen sitzen und das Leben genießen kann. Seither hat sie mehr oder weniger alle Zigaretten nachgeraucht, auf die sie in den fünf Tagen davor verzichtet hatte.

Simone hatte ihr viel zu viel versprochen und Käthi wollte ihr viel zu viel einfach glauben. Sie ist jetzt überraschenderweise auch nicht wirklich sauer auf irgendjemanden. Weder auf ihre Freundin Simone, die sie in diese Situation gebracht hat, noch auf sich selbst. Auf sich selbst ist sie sogar ein wenig stolz, dass sie es überhaupt probiert und sich auf dieses absurde Abenteuer eingelassen hat. Sie hat sich also noch nicht ganz aufgegeben. Sie wird ihren Rückstand zu ihrem Bruder Sedrick im Spiel des Lebens schon noch aufholen. Wer zuletzt lacht, lacht am besten.

Käthi verlässt den Wald und tritt erneut auf eine saftig grüne Wiese. Während sie über das feuchte Gras wandert, stellt sie sich eine Frage, die sie in den letzten Wochen immer wieder mal beschäftigt hat. Sie fragt sich, wie die Stimme des für sie nicht mehr so sagenhaften und immer schweigenden Ueli Bollhalder wohl klingen mag. Zu seinem kräftigen, gesunden Körper passt eine tiefe Stimme – angesiedelt irgendwo zwischen Bass und Bariton. Sie würde bestimmt einen Lachanfall bekommen, wenn er eine Piepsstimme hätte und dabei noch lispeln würde. Das könnte so richtig peinlich werden. Käthi verscheucht diesen Gedanken wieder. Würde er nicht wie ein Bär klingen, hätte Simone diese lustige Diskrepanz zwischen seinem Äußeren und dem Klang seiner Stimme bestimmt erwähnt.

Leicht außer Atem kommt Käthi zum kleinen Bergbach, badet ihre Füße und ist überrascht, wie kalt das glitzernde Wasser immer noch ist. Sie weiß, dass sie einfach dem Lauf des Baches nach oben folgen muss.

Eine Viertelstunde später ist die Alphütte auch schon in Sichtweite. Käthi wird ein wenig nervös und verlangsamt ihren Gang. Durch das Rauschen des Baches hört sie das Gebimmel der Kuhglocken. Von Ueli Bollhalder ist wie gewohnt nichts zu sehen. Warum sitzt er jedes Mal in der Hütte, wenn sie hier oben ankommt? Hat er den ganzen Tag nichts anderes zu tun? Oder weiß er, wann sie ankommt und bereitet sich im Haus vor, sodass er möglichst geheimnisvoll aussieht, wenn seine Patienten – oder besser gesagt seine Kunden – eintreten? Seine Wirkung wäre wohl eine ganz andere, wenn sie ihn hier beim Onanieren oder beim Kacken erwischen würde. Oder noch schlimmer: wenn er gerade seine Lieblingskuh besteigen würde. Käthi stellt sich vor, wie er die Kuh zuerst noch zu einem romantischen Abendessen in den Heustall ausführt, bevor er sich an sie ranmacht. Würde er ihr die Glocke abnehmen oder würde er sich an dem ganzen Gebimmel zusätzlich aufgeilen? Käthi ist immer wieder überrascht, zu welch abartigen Gedanken sie fähig ist.

Die letzten fünfzig Meter findet sie immer ein wenig ekelhaft. Sie kann nicht mehr auf dem saftigen Gras spazieren, sondern muss durch eine schleimige Mischung aus Schlamm und frischen Kuhfladen zur Tür waten. Wie immer wäscht sie ihre Füße im Brunnen an der Hauswand. Dann atmet sie kurz durch, klopft an, öffnet die schwere Holztür und tritt ein. Wie gewohnt sitzt Ueli Bollhalder an seinem Tisch. Und siehe da: Dieses Mal schaut er sogar auf. Sonnenstrahlen, die durch das Fenster in den staubigen Raum fallen, lassen seine hellblauen Augen strahlen. Er mustert sie von oben bis unten. Käthi bleibt auf dem Holzdielenboden stehen.

Mit einer langsamen Bewegung weist er sie an, sich zu ihm an den Tisch zu setzen. Sie räuspert sich, sagt Danke und nimmt Platz. Ihr fällt auf, dass heute zwei Krüge auf dem Tisch stehen – ein roter und ein blauer. Allerdings schenkt er ihr aus irgendeinem Grund keine Milch ein. Stattdessen mustert er sie weiter.

Nach etwa zwei Minuten absoluter Stille denkt Käthi, dass er sie mit diesem Blick hypnotisieren könnte. Sie stellt sich vor, wie sie von seinen Augen angezogen wird, langsam von ihrem Stuhl abhebt und in seinen Pupillen versinkt. Niemand würde sie hier oben suchen, weil niemand weiß, dass sie hier ist. Sie würde einfach in seinen bergseeklaren Augen ertrinken. Weg. Für immer. Abgetaucht im Kopf dieses merkwürdigen Mannes. Was ist er überhaupt? Ein Schamane? Ein Guru? Ein Heiler? Ein verdammt schlauer Trickbetrüger? Ein Abzocker? Oder ein Seher? Wenn jemand solche Augen hat, dann muss er doch ein Seher sein.

Käthi kann ihren Blick nicht mehr von ihm abwenden und wird von Assoziationen und Bildern überschwemmt. Wie heißt die Schlange im Dschungelbuch? Baghira? Nein. Shir Khan? Nein. Kaa? Jawohl, Kaa! Die hat auch solche Augen wie der Ueli. Einfach nicht in diesem Bergseeblau. Kaa, was für ein komischer Name. Wer kaam auf diesen Namen? Kaa, Kaa, Kaa. Kaam Kaa, kaam die Kaatastrophe. Katastrophe? Das ist wie bei Justin Bieber – jede Strophe eine Katastrophe. Wieso denkt sie das? Sie mag Justin Bieber. Sie sollte einen Biber als Haustier haben und ihn Justin taufen. Justin Biber, ja, das wäre lustig. Käthis Gedanken driften immer weiter ab. Sie stellt sich vor, wie sie mit einer Nadel in die Augen des Gurus sticht, sich diese in zwei rauschende Wasserfälle verwandeln und sie in der reißenden Flut aus der Hütte in den Bergbach und zurück ins Tal gespült wird. Unten angekommen wird sie vom grinsenden Toni Brunner rausgefischt und sie heiraten zwei Wochen später. Ihren Kindern wird Papa Toni in zehn Jahren erklären, mit welchem Köder er damals ihre Mutter geangelt hat. How I met your Mother im Toggenburg, das wäre eine lustige Sendung.

«Und? Haben wir nicht etwas vergessen?», unterbricht Ueli Bollhalder die Stille. Seine voluminöse Stimme mit prägnantem Ostschweizer-Dialekt scheint von weit her zu ihr durchzudringen und füllt den ganzen Raum. Sie klingt noch viel beeindruckender, als Käthi sie sich vorgestellt hat. Sie wacht aus ihrem Tagtraum auf und muss sich kurz sammeln. «Entschuldigung! Was?»

Der Mann verzieht keine Miene und tippt mit seinem rechten Zeigefinger dreimal auf die Tischplatte. Sie versteht sofort. Sie hat das Geld immer noch in ihrem Rucksack. Und eigentlich sollte sie es auch dort lassen, schließlich ist sie ja nicht geheilt worden, obwohl er ihr das versprochen hat. Oder hat er das gar nie? Was heißt versprechen? Um etwas zu versprechen, muss man doch sprechen und das hat er bis gerade eben noch nie in ihrer Anwesenheit getan. Aber Käthi ist nicht konfliktfreudig genug, um hier wegen 500 Franken einen Aufstand zu machen. Außerdem will sie aus irgendeinem Grund auch nicht, dass er sich wegen ihr schlecht und als Versager fühlt. Und – das spielt unterbewusst bestimmt eine Rolle, wenn nicht sogar die Hauptrolle – will sie selbst nicht als Versagerin vor ihm sitzen, die sich nicht im Griff hat und sich immer noch von ihrer Sucht beherrschen lässt.

«Ach ja, sorry!» Käthi greift ihn ihren Rucksack und legt den Umschlag mit dem Geld für den heutigen Besuch vor ihm auf den Tisch. Er schaut sie weiterhin regungslos an. Sie wundert sich, dass er ihr keine Milch einschenkt. Aber anscheinend will er, dass sie spricht. Sie ist verlegen. «Wissen Sie was, Sie haben eine wirklich schöne Stimme. Sie passt zu Ihnen.»

Kaum hat sie das ausgesprochen, ist es ihr auch schon peinlich. Hat sie ihm gerade gesagt, dass seine Stimme zu ihm passt, weil er auch schön ist? Fühlt er sich jetzt angemacht? Sie kommt sich billig vor. Was denkt er jetzt von ihr? Dass sie hier einen auf Flittchen machen und sich von ihm im Strohhaufen durchbumsen lassen will? Würde er noch genug Anstand haben, seine Lieblingskuh zuerst auf die Wiese zu treiben, bevor er es mit ihr treibt? Sie hat keine Lust auf ein Eifersuchtsdrama hier oben. Er schweigt weiter. Für Käthi ist die Stille fast nicht auszuhalten. Sie muss reden.

«Sind Sie das ganze Jahr über hier oben?»

Stille.

«Auch im Winter?»

Stille.

«Das stelle ich mir sehr einsam vor. Da muss man schon der Typ dafür sein.»

Stille.

«Aber wenn man gut mit den Tieren kann, dann geht das sicher.»

Peinliche Stille.

«Ich meine, wenn man mit den Tieren gut auskommt. Einen Draht zu ihnen hat.»

Stille.

«Und die Natur. Die spürt man bestimmt viel intensiver. Die Zyklen, Jahreszeiten und so.»

Stille.

«Können Sie nur von der Milchwirtschaft leben?»

Stille.

«Oder produzieren Sie auch Käse?»

Stille.

«Produzieren wir nicht alle ab und zu Käse?»

Sie lächelt verkrampft ab ihrer eigenen Bemerkung.

Stille.

Sie zeigt auf die Milchkrüge.

«Darf ich?»

Stille.

Sie will nach einem von ihnen greifen. Er hebt seine Hand und hindert sie daran. Eine unangenehme Spannung breitet sich aus. Käthi schaut ihn fragend an. Sie freut sich darauf, hier endlich rauszukommen. Der Guru verzieht immer noch keine Miene.

«Also, wie geht es weiter?», fragt Käthi und macht sich schon gar keine Hoffnungen mehr, noch eine Antwort zu bekommen.

Stille.

«Hören Sie zu. Es ist folgendermaßen: Ich habe ganz viel Geld in diese sogenannte Therapie investiert. Gebracht hat sie mir aber überhaupt nichts. Ich rauche immer noch, falls Sie das überhaupt interessiert.»

Der Mann starrt sie weiter an. Stille.

«Ja, schon klar, es ist Ihnen egal. Also hören Sie, ich habe Ihnen schon wieder 500 Franken auf den Tisch gelegt. In meiner Welt ist das sehr viel Geld. Mindestens ein Glas Milch sollte schon drin liegen, finde ich.»

Käthi versucht, nach dem Krug zu greifen und sich ein Glas einzuschenken. Er hindert sie erneut daran. «Also, das wird mir hier langsam zu blöd.» Sie will aufstehen. «Bleiben Sie sitzen», spricht er leise, aber leicht bedrohlich. Käthi sinkt wieder auf ihren Stuhl und schaut ihn erwartungsvoll an.

«Sie rauchen immer noch?» – «Ja, aber weniger als auch schon. Und ich glaube, dass ich schon noch damit aufhören kann.»

Das klingt sogar für sie wie eine schamlose Lüge.

«Sie haben sich also nicht an die Regeln gehalten?» – «Was? Nein! Ich meine … doch! Ich habe alle Anweisungen befolgt!»

Der Mann schaut sie zweifelnd an.

«Verdammt, ich habe jedes Mal kompliziertere Wege auf mich genommen. Als Nächstes wäre ich mit den Rollschuhen über den Nordpol hierhergereist. Ich habe mich mit unterschiedlichsten Personen unterhalten. Mit einem Rentner über den Herzinfarkt seiner Frau in Tunesien, mit einer asiatischen Touristin über den Bärengraben und … wer war noch? Ach ja, heute Morgen mit einem Studenten über das Leben in Wohngemeinschaften und letzte Woche mit …» – «Haben Sie mit jemandem über mich gesprochen?» – «Nein, mit niemandem. Wirklich nicht. Auch nicht zu Hause. Außer mit Simone natürlich. Aber ich habe ihr nicht verraten, dass ich jemals hier gewesen bin. Ich schwöre es. Das ist schon so lange her, ich habe sie seither nicht mal mehr gesehen.»

Er hebt seine Augenbrauen und fragt kalt: «Sie wollen mir also sagen, dass ich etwas falsch gemacht habe?»

Sehr gespannte Stille.

«Sagen wir es mal so: Sie haben ja überhaupt nichts gemacht. Ich meine, für 2500 Franken muss ich drei Wochen arbeiten. Und Sie? Sie sitzen dafür einfach ein paar Minuten auf Ihrem Stuhl und sagen kein Wort.»

Käthi ist überrascht, dass sie jetzt plötzlich doch so ehrlich mit ihm spricht. Ihm scheint das nicht zu gefallen. «Was wollen Sie mir damit sagen?» – «Damit will ich sagen, dass Sie sich wenigstens für das ganze Geld bedanken könnten.» – «Sollte ich das?» – «Ja, finde ich schon. Das wäre nichts als anständig.» – «Wollen Sie mir sagen, ich sei nicht anständig?»

Stille. Käthi realisiert, dass sie hier nicht weiterkommen wird. Sie nimmt ihren ganzen Mut zusammen und sagt genervt: «Wissen Sie was? Ich sollte Sie anzeigen! Und bei Kassensturz sollte ich Sie auch verpfeifen. Das ist ja wirklich eine Riesensauerei hier! Ficken Sie sich! Wirklich, fuck you!»