Tod nach Anzeige - Dominik Brülisauer - E-Book

Tod nach Anzeige E-Book

Dominik Brülisauer

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Beschreibung

Daria Berthold flüchtet nach einer gescheiterten Beziehung von Zürich ins Engadin. In St. Moritz baut die junge Architektin für einen mysteriösen Bauherren eine Villa. Ihr neuer Alltag entgleitet ihr, als sie in der Lokalzeitung ihre eigene Todesanzeige entdeckt. Ein Scherz? Eine Drohung? Die Einheimischen raten ihr, die Anzeige ernst zu nehmen, ihr verbleibe erfahrungsgemäss noch eine Woche. Während ihr Leben zu einer Achterbahnfahrt durch das ganze Engadin wird, bahnt sich das grosse Finale gnadenlos an.

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Seitenzahl: 415

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Die Verlorene zeit

Tod im Nachtleben

Ein Sterbender Tag

Eine Neue welt

Die Grenzerfahrung

Eine Böse Überraschung

Ein Anderer Blickwinkel

Die Vergangenheit ist nie Vorbei

Hinter Verbotenen Mauern

Eine Kleine Rundfahrt

Der Letzte tag

Das Grosse Erwachen

Ein Neues Spiel?

DIE VERLORENE ZEIT

Es ist Mittwoch, der 14. Oktober 1992, um 6:32 Uhr. Aus der sterbenden Nacht ertönt das Kläffen eines Hundes. Bestimmt der Labrador von Caflisch. Nach einem kurzen, verzweifelten Jaulen gibt er aber sofort wieder Ruhe. Wahrscheinlich realisierte der Hund, dass seine Lärmemissionen die Stille im Dorf stören und Konsequenzen haben können. Immerhin ist der Caflisch nicht gerade für einen zimperlichen Umgang mit seinen Tieren bekannt. Duri hievt seinen olivgrünen Rucksack auf den Rücken und schnallt sich sein Gewehr um, ein Martini Kaliber 10.3 mm. Mit einem zufriedenen Lächeln betrachtet er die Berge rund um das kleine Engadinerdorf Ramosch. Der Piz S-chalambert, der Piz Ajüz und der Piz Tschütta gewinnen während des Morgengrauens immer mehr an Profil. Duri schließt den Kofferraum seines Toyotas und marschiert los. Das macht er, obwohl ihm seit zwei Tagen alle davon abraten, weiterhin auf die Jagd zu gehen. Aber Duri gehört nicht zu den Leuten, die alles glauben, was in der Zeitung steht.

Gestern Abend hatten ihn seine Frau Carla, seine Freunde, selbst seine siebzehnjährige Tochter Anna Barbla noch fast hysterisch angefleht, jetzt auf Nummer sicherzugehen und sich ein neues Hobby zu suchen. Und wenn er schon unbedingt wollte, könnte er doch einfach so morgens um fünf in den Wald gehen. Duri schüttelte ungläubig den Kopf. Wenn nicht einem Tier nachstellen, was zum Bartgeier sollte er sonst um diese Uhrzeit draußen in der Natur anfangen? Etwa Pilze pflücken? Die laufen nicht weg, die könnte er auch am Nachmittag noch sammeln. Aber eben. Duri war kein Sammler, er war Jäger. Doch seine Frau gab nicht auf. Unter Tränen schluchzte sie, dass er doch immer betont hatte, dass er die nette Gesellschaft und die Nächte auf der Hütte als den schönsten Teil der Jagd betrachten würde. Auf all das müsste er auch in Zukunft nicht verzichten. Er könnte doch einfach weiterhin mit seinen Freunden mit auf die Berghütte wandern. Aber während sie den Tieren nachjagten, sollte er das Risotto vorbereiten, ein Buch lesen, Pfeife rauchen oder ganz einfach das Bergpanorama, die frische Luft und die Ruhe genießen. Er lachte. Mit der Erklärung, dass er doch kein Hüttenhocker wäre, verabschiedete sich Duri aus der Diskussion, ließ seine Tochter und seine Frau augenrollend stehen und zog sich ins Gästezimmer seines alten Engadinerhauses zurück.

Weil er als Bäcker immer früh aufstehen muss und dabei seine Frau nicht wecken möchte, schläft er unter der Woche immer öfter in dieser etwas größeren Abstellkammer. Das ist jedenfalls die offizielle Version, auf die sich das Ehepaar irgendwann mal geeinigt hat. Aber er weiß, dass sie weiß, dass er auch ganz einfach gerne alleine schläft. Und sie wahrscheinlich auch. Es gibt für beide keinen Grund, deswegen künstlich eine Ehekrise heraufzubeschwören. Und genau deshalb würden sie noch viele Jahre zusammen erleben. Im Bett grübelte Duri kurz darüber nach, was in der aktuellen Ausgabe der Engadiner Woche zu lesen war. «Was für ein Humbug», dachte er sich. Und dann fing er an, über das Wort Humbug nachzudenken und wie lustig das doch klang. Lustig fand er auch, dass er zuvor in der Diskussion mit seiner Familie «Was zum Bartgeier» gesagt hatte. Das war zwar ein wenig komisch, unterstrich aber irgendwie seine Nähe zur Engadiner Natur. Seine Frau reagiert schon lange nicht mehr auf seine Wortwitzchen. Aber das ist eine andere Geschichte. Müde von der Jagd des vergangenen langen Tages drehte er sich schließlich zur Seite und schlief ein.

Als Duri heute in aller Früh voller Tatendrang und in voller Jägermontur das Haus verlassen wollte, musste er entsetzt feststellen, dass jemand während der Nacht sein Lieblingsgewehr, sein Heym-Ruger, aus dem Waffenschrank entwendet hatte. Da die Türe nicht aufgebrochen war, musste es jemand gewesen sein, der wusste, dass er den Schrankschlüssel in seiner Zigarrenkiste in der Wohnstube aufbewahrte. In Frage kamen seine Frau, seine Tochter und bestimmt noch sechs oder sieben seiner Freunde. Duri bekam einen regelrechten Wutanfall. Er durfte nur vier Wochen Urlaub pro Jahr beziehen. Das war in der Bäckerei Pitsch, in der er seit sieben Jahren angestellt war, normal. Selbstverständlich versuchte Duri seine Ferientage wenn möglich alle während der Jagdzeit geltend zu machen und diese dann optimal zu nutzen. Wenn ihm also jemand einen Strich durch die Rechnung machte, dann war es doch nachvollziehbar, dass er wütend wurde. Oder etwa nicht? Der Dieb hatte nicht nur sein Gewehr gestohlen, sondern, was noch viel schlimmer war, seine wertvolle Zeit. Das wäre während der Hochjagd im September bereits ärgerlich gewesen, aber Duri gehörte zu den wenigen Jägern, die dazu berechtigt waren, jetzt im Oktober auf die Steinwildjagd zu gehen. Das war ein absolutes Privileg. Nach Jahren der harten Arbeit hatte er jetzt endlich mal vom Amt für Jagd und Fischerei Graubünden die Chance erhalten, einen Steinbock zu erlegen. Immerhin das Wappentier des Kantons. Dass man ihm jetzt wertvolle Zeit geklaut hatte, empfand er als Sabotage und Hochverrat. Er würde heute Abend schon noch herausfinden, wer dafür die Schuld trug. Und die entsprechende Person würde dafür bluten, ganz egal, wer sich zu dieser Schandtat erfrecht hatte. Er wusste zwar, dass es alle nur gut mit ihm meinten, aber «gut meinen» und «falsch handeln» waren nur durch einen äußerst durchlässigen Zaun voneinander abgegrenzte Reviere.

Anstatt seine Frau und seine Tochter zu wecken und sie zu zwingen, ihm im Nullkommanichts zu verraten, wo sie sein Gewehr versteckt hatten, stürmte er aus dem Haus. Wie er in seiner Jägermontur durch die kühle Morgenluft eilte, fühlte er sich so ganz ohne Waffe ziemlich kastriert. Er dachte an Kühe, denen man die Hörner abgesägt hatte, und an sein Idol Slash, dem man während eines Gitarrensolos sein Instrument aus den Händen gerissen und ihn ganz verloren auf der Bühne stehenlassen hatte. Obwohl diese Vergleiche ein wenig wirr waren, fand er sie doch ziemlich passend.

Falls seine Tochter Anna Barbla die Verantwortliche war, würde er ihr für die nächsten zwei Wochen verbieten, das Festnetztelefon zu benutzen. Ihre abendlichen, sinnentleerten Gespräche mit ihrer weggezogenen Schulfreundin Annina nervten ihn ohnehin. Wer wusste schon, wie oft in diesen endlosen Stunden jemand versucht hatte, Duri zu erreichen? Er würde es nie erfahren. Ja, fertig lustig! Die beiden konnten sich ja Briefe schreiben, dann würden sie endlich lernen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das würde seiner Tochter Zeit und ihm Geld sparen.

Mehr oder weniger leise stieg er in seinen Toyota und startete den Motor. Es war ihm egal, ob er dabei seine Nachbarn weckte oder nicht. Falls sich jemand beschweren wollte, würde er dieser Person dann schon noch erklären, wer dafür verantwortlich war, dass er um diese Zeit überhaupt Auto fahren musste.

Während er seinen Wagen durch die Dunkelheit den Berg hinauf steuerte, kündigte die DRS-3-Moderatorin im Autoradio «Knockin’ on Heaven’s Door» seiner Lieblingsband Guns N’ Roses an. Sein leises Fluchen verwandelte sich in ein sanftes Lächeln. Duri fand diese Coverversion schon immer besser als das Original von Bob Dylan. Er fragte sich, ob Bob Dylan das auch so sah und ob ihn das wohl eher erfreute oder nervte. Selbstverständlich kassierte Dylan an der Coverversion von Guns N’ Roses auch mit, aber von jemandem einen Song zu covern und dann weltweit dafür Applaus zu bekommen, das war doch ungefähr so, als wenn man ein Kleinkind entführte und es als sein eigenes ausgab. Und wenn sich das Kind dann mit der Zeit auch noch als Genie herausstellte und mit irgendeiner Erfindung Millionen verdiente, dann wurde das Verbrechen ja noch schlimmer, als wenn es seinen Entführern nur Sorgen bereitete und viel Geld kostete. Wie zum Beispiel der Sohn von Morell, dem Malermeister aus Ramosch. Das war vielleicht ein Idiot. Der würde mit dreißig noch zuhause wohnen und sich fragen, wie die Eier in die Eierschale gekommen waren. Ob die Morells sich mal gewünscht hatten, dass ihr Sohn entführt wird? Sie würden es wohl kaum zugeben. Die Liebe von Eltern war doch bedingungslos. Duri würde ja auch seiner Tochter eines Tages wieder verzeihen. Aber bestimmt nicht heute und morgen.

Duri versuchte, seine Gedanken zu ordnen und konzentrierte sich wieder auf die enge, staubige Straße. Der Dieb hatte bestimmt nicht damit gerechnet, dass er sich um fünf Uhr morgens die Mühe machen würde, in sein Maiensäss weit oberhalb von Ramosch zu fahren, um dort seine alte Büchse aus ihrem Ruhestand zu befreien. Die hatte zwar kein Zielfernrohr, Schüsse über 200 Meter konnte er sich also abschminken, aber Duri fiel im Moment nichts Besseres ein. Am Steuer wunderte er sich, wie lange sein altes Jagdgewehr bereits als Dekoration über dem Kamin hing. Vierzehn Jahre? Fünfzehn Jahre? Vielleicht sogar sechzehn. Oben angekommen, ließ er den Motor ausnahmsweise brummen, stieg aus, öffnete die schwere Türe und betrat das Häuschen. Im Schein seiner Taschenlampe griff er nach der Waffe. Sie fühlte sich gut an. Nachdem er dann in einem Reichle-Schuhkarton in der Truhe noch die passenden Bündner-Patronen gefunden hatte, ließ seine Missstimmung weiter nach. Er hatte zwar Zeit verloren, aber es konnte immer noch ein guter Tag werden.

Es wäre praktisch gewesen, hätte ihm der Wildhüter diese Talseite für die Steinbockjagd zugewiesen. Dem war aber nicht so. Er musste also vom Maiensäss wieder hinunter ins Tal fahren. Zurück in Ramosch parkte Duri seinen Toyota vor seinem Haus, so, als ob er nie weg gewesen wäre. Dann konnte er sich endlich auf den Weg machen.

Jetzt überquert er die Brücke über den Inn und beginnt seinen Aufstieg auf dem Wanderweg. Duri weiß, dass er als Jäger einen Anachronismus darstellt. Vor allem Gäste aus dem Unterland werfen ihm immer wieder vor, dass es barbarisch sei, sich heutzutage als erwachsener Mann so aufzuführen, als lebe man noch in der Steinzeit, in der man sein Fleisch selber im Wald erlegen muss. Duri geht solchen Diskussionen mittlerweile aus dem Weg. Die wahren Barbaren sind für ihn die Betreiber von Massentierhaltungen und sämtliche rücksichtslosen Konsumenten, die mit ihrer unersättlichen Gier nach billigem Fleisch diese Maschinerie des Todes am Leben erhalten. Die Steinzeit war vielleicht barbarisch, aber für eine Perversion wie den industriellen Massenmord, dafür braucht es zuerst eine Zivilisation.

Außerdem ist er als Jäger viel mehr als nur ein Relikt aus vergangener Zeit. In Graubünden dauert die Jagdsaison normalerweise über ein paar Herbstmonate. Den Rest der Zeit ist der Jäger mit ganz anderen Arbeiten beschäftigt. Mit seinem Einsatz und einem vom Kanton erstellten Abschussplan sorgt er nicht nur dafür, dass sich die Wildbestände in einem gesunden Rahmen entwickeln, sondern er hegt und pflegt auch den Wald. Nein, Jäger sind definitiv keine schießwütigen Irren, sondern engagierte Bürger, die sich um das Wohl der Natur kümmern, der Evolution sanft unter die Arme greifen, die Wildbestände dem Lebensraum anpassen, das Ausbreiten von Krankheiten verhindern und dafür sorgen, dass die Tiere stark genug bleiben, um die harten Winter zu überleben. Jedenfalls ticken die meisten Jäger in seinem Umfeld so wie er. Mit dieser Definition kann Duri leben. Jäger wird man nicht einfach so. Als Jäger wird man geboren.

Dass seine Frau, seine Tochter und seine Freunde wegen einem Furz der Engadiner Woche jetzt plötzlich von ihm verlangen, dass er seine Passion aufgibt, macht ihn gleich wieder rasend. Da könnte man genauso gut einen Löwen zwingen, auf das Jagen zu verzichten. Er denkt an seinen letzten Besuch im Zoo Zürich und daran, wie die einst stolzen Raubtiere heute von den Wärtern vorgefertigte Bissen serviert bekommen. Eine Vergewaltigung der Natur, da gibt es nichts zu diskutieren. Dass Duri auf das Jagen verzichtet, das ist nicht verhandelbar.

Seine Wut hilft ihm, schnell an Höhe zu gewinnen. Irgendwie hat er plötzlich das Gefühl, dass er die Hälfte seiner verlorenen Zeit bereits wieder aufgeholt hat. Er möchte diesen Schwung beibehalten. Oben angekommen, wird er den Lauf seines Martini sorgfältig kontrollieren und säubern. Wer weiß, was sich in den letzten Jahren darin alles angestaut hat und ob nicht irgendein Kind mal zum Spaß da irgendetwas reinklebte?

Duri öffnet ein paar Jackenknöpfe und atmet tief durch. Er liebt den Geruch von feuchtem Gras, von Moos und von den Rinden der Lärchen. Die Sonne ist vor gut einer halben Stunde aufgegangen, die Steine und Felswände beginnen sich aufzuwärmen. Er spuckt auf den Boden, verlässt den Wanderweg und konzentriert sich bei jedem Schritt darauf, nicht auszurutschen. Eine kleine Unachtsamkeit und er würde ganz schnell ganz viele der gewonnenen Höhenmeter wieder verlieren. Man muss nicht Physik studiert haben, um zu begreifen, dass der Steigungswinkel, die Erdgravitation und der Reibungskoeffizient zwischen seiner Kleidung und dem feuchten Gras eine Kombination darstellen, die keine Fehler verzeiht.

Eine halbe Stunde später ist er endlich da, wo er sein möchte. Duri machte der Aufstieg ein wenig zu schaffen. Er ist nun mal nicht mehr der Jüngste, aber das würde er sich niemals eingestehen. Oberhalb der Baumgrenze wurde das ohnehin schon steile Terrain noch steiler. Die letzten dreißig Höhenmeter musste er sogar klettern. Aber die Mühe hat sich gelohnt. Von seinem Felsvorsprung aus hat er einen hervorragenden Überblick über das Unterengadin und die Plateaus rundherum. Duri legt sein altes Jagdgewehr auf den Boden, entblößt seinen Oberkörper, genießt für ein paar Sekunden die kühle Luft auf seiner Haut und zieht sich ein trockenes Unterhemd über. Dann setzt er sich hin, greift nach der Feldflasche in seinem Rucksack, nimmt einen kräftigen Schluck lauwarmen Schwarztee und isst ein Salami-Sandwich. Sein Schmatzen und das entfernte Rauschen des Inns sind die einzigen Geräusche, die er hört. Ja, das Leben ist doch in Ordnung. Hier oben jedenfalls.

Plötzlich nimmt er aus seinem rechten Augenwinkel eine Bewegung wahr. Vorsichtig dreht er sich um und greift instinktiv nach seinem Gewehr. Sechzig oder fünfundsechzig Meter vor ihm steht ein Steinbock auf einem Felsbrocken und schaut Duri ziemlich desinteressiert an. Die Hörner und die Fellfärbung verraten ihm, dass das ein kapitaler fünfeinhalbjähriger Bock sein muss. Mit anderen Worten: ein Tier, das Duri tatsächlich schießen darf. Außerdem ist der Steinbock so nah, dass er ihn auch ohne Zielfernrohr nicht verfehlen wird.

Duri jubelt innerlich. Diese Situation ist vergleichbar mit einem Sechser im Lotto – einfach noch viel besser. Euphorisch lädt er die Waffe. Nach ein paar Augenblicken dreht sich der Steinbock um und frisst ein paar der spärlich zwischen den Steinen wachsenden Grashalme. Dabei präsentiert er Duri seine ganze linke Seite. Duri kann sein Glück kaum fassen und denkt nicht mal daran, dieses Geschenk nicht anzunehmen. Er lehnt sich gegen die Felswand und entsichert das Gewehr. Mit langsamen Bewegungen legt er an und sucht durch Kimme und Korn das Herz des Tieres. Dabei denkt er an die anerkennenden Blicke seiner Jägerkollegen an ihrem Stammtisch und daran, wie seine Frau und seine Tochter sich bei ihm dafür entschuldigen werden, dass sie ihm das Jagen ausreden wollten.

Langsam krümmt sich sein Zeigefinger. Der äsende Steinbock macht einen kleinen Schritt nach vorne. Duri folgt ihm mit seinem Lauf. Er zielt, findet den Druckpunkt des Abzuges, hält den Atem an und drückt ab. Es knallt und tausende von Körnchen schießen Duri ins Gesicht und in seine Augen. Der brennende Schmerz ist nicht zu ertragen. Laut schreiend lässt Duri das Gewehr fallen, macht einen Schritt zurück, spürt, wie ein Stein unter seinem rechten Wanderschuh nachgibt, tritt mit seinem linken Fuß ins Leere und beginnt zu fallen. Panisch versucht er, in der Dunkelheit Halt zu finden. Aber er hat keine Chance. In seiner Blindheit weiß er nicht mal, ob er mit dem Gesicht oder mit den Füssen voran von der Schwerkraft in die Tiefe gerissen wird. Aber er weiß, dass er diesen Sturz nicht überleben wird.

TOD IM NACHTLEBEN

Es ist Freitag, der 19. Dezember 2003, um 21:47 Uhr. Sombrero wehrt sich dagegen, als Alkoholiker bezeichnet zu werden. Er sieht sich viel eher als lustige Partysau, die an jedem Fest gute Stimmung verbreitet. Das kommt seinem Selbstverständnis viel näher. Dass er zu diesem Zweck trinken muss, liegt wohl in der Natur der Sache. Sombrero gefällt sich in dieser Rolle. Das klingt zwar komisch, aber er pflegt dieses verrückte Image mit viel Disziplin.

Unter der Woche arbeitet Sombrero in Scuol im Sportgeschäft Cadonau. Hier hatte er eine Lehrstelle als Fahrradmechaniker gefunden und vor drei Jahren zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht. Selbstverständlich lernte er in dieser Zeit auch noch alles über das Ski-Wachsen, Tennisschläger-Bespannen und Kletterschuh-Besohlen. In einem kleinen Geschäft sind nun mal Allrounder gefragt. Und was das Faszinierendste ist: Man hört ihm je länger je mehr seine Thurgauer-Wurzeln nicht mehr an. Es schmeichelt ihm, wenn die Gäste glauben, er sei ein waschechter Bündner.

Obwohl Sombrero die Arbeit an den Maschinen im Keller gefällt, ist seinem Chef nicht entgangen, wie gern die Stammgäste aus dem Unterland Sombrero mögen, vor allem die weiblichen. Deshalb arbeitet Sombrero mittlerweile in der Hochsaison vermehrt an der Front, sprich an der Kasse und als Berater. Da vergeht kaum ein Tag, an dem er nicht von Kundinnen Angebote zu einem Feierabendbier oder Abendessen bekommt. Scheue Mädchen begründen die Einladungen zum Beispiel damit, dass er ihnen in privaterem Ambiente die Details über die Skitaillierung nochmals in Ruhe erklären könne. Die Offensiveren suggerieren ihm, dass es ihn als Verkäufer doch garantiert wahnsinnig interessiere, wie die neu gekaufte Thermounterwäsche an der Kundin aussehe und er später in ihrem Hotelzimmer bestimmt seine konstruktive Kritik formulieren wolle.

Sombrero liebt seinen Job. Und er genießt die Reputation, die er sich in Scuol und Umgebung in den letzten Jahren aufbauen konnte. Er ist zwar in der Regel am Freitag- und Samstagabend sturzhagelbetrunken, aber es sind sich alle einig, dass er dabei nie ausfällig wird und sich stets seinen Humor und seinen Anstand bewahrt. Wenn man ihn an einer Party nicht antrifft, muss man davon ausgehen, dass irgendwo eine bessere stattfindet. Jedenfalls ist er von all dem überzeugt. Sombrero überlegt sich bereits, ein Gütesiegel mit seinem fröhlichen Gesicht und seinen beiden erhobenen Daumen zu entwickeln, das Eventveranstalter gegen Bezahlung für Werbezwecke nutzen dürfen. Sie könnten damit auf allen Kanälen kommunizieren, dass er auch vor Ort sein würde. Eine Garantie für gute Stimmung sozusagen.

Natürlich sind das nur blöde Hirngespinste. Aber wer weiß, ob er nicht mal Geld braucht und auf so eine Schnapsidee angewiesen sein wird? Er lächelt beim Wort Schnapsidee. Ja, das passt. Er würde auch eine Website mit der Domain «www.stimmungskanone.ch» programmieren und Visitenkarten drucken lassen. Darauf würde ungefähr Folgendes zu lesen sein: «Sombrero belebt WG-Partys, Dorffeste, Bars, Konzerte, Apéros und alles, was noch dazwischen passt.» Er findet außerdem, dass auf seiner Visitenkarte sein Spitzname und nicht sein Taufname Alexander Mayer stehen muss.

Den Spitznamen Sombrero heftete man ihm bereits in der Schule an. Warum weiß niemand mehr so genau. Die einen sagen, weil er mal in der dritten Klasse mit seinen Eltern in Cancún in den Ferien war und allen Mitschülern eine Postkarte mit einem breitgrinsenden Mexikaner nach Hause geschickt hatte. Seine frühere Liebe zu den mexikanischen Trickfilmfröschen Sancho und Pancho muss auch immer wieder als mögliche Erklärung herhalten. Andere glauben, es habe etwas mit seinem sonnigen Gemüt zu tun. Leute allerdings, die ihn erst in den letzten Jahren kennengelernt haben, sind felsenfest davon überzeugt, dass der Name eine Anspielung auf seine Liebe zu Tequila-Shots sein muss.

Sombreros Gedanken schweifen ab und er überlegt, ob er für seinen Partyservice einen Businessplan aufstellen lassen müsste und wie er seinen Eltern zuhause in Arbon erklären würde, was genau sein neuer Job sei. Dann weicht die gute Laune wieder aus Sombreros Gesicht. Er seufzt leise. Bis vor zwei Tagen verfolgte er eine eiserne Regel: niemals alleine trinken, weder zuhause noch unterwegs. Diese Regel hat er heute gebrochen. So einsam, wie überhaupt jemand sein kann, sitzt er jetzt an seinem kleinen Küchentisch.

Die ersten fünf leeren Bierdosen warf er noch in den Coop-Papiersack, in dem er das Aluminium sammelt. Allerdings liegen die letzten drei zerdrückt auf dem Tisch und füllen sich mit Zigarettenstummeln. Alexander fühlt sich aufgebläht und muss auch immer öfter pissen gehen. Höchste Zeit, auf etwas Potenteres umzusteigen. Auf etwas, das in seinem Magen nicht so viel Platz beansprucht. Er stolpert zum Kühlschrank und findet darin diverse Shot-Fläschchen, die von seiner letzten Wohnungsparty übriggeblieben sein müssen. Er greift wahllos zu und torkelt mit seiner Beute kurzfristig zufrieden zurück an den Tisch.

Zwei Jägermeister, ein Kleiner Feigling und vier Underberg ext er in Rekordzeit. Die geleerten Fläschchen wirft er eins nach dem anderen von seinem Stuhl aus ins Spülbecken. Dabei zersplittert beim Aufprall nur eins von sieben Fläschchen. Während er darüber nachdenkt, ob das für seine Wurfqualitäten oder für die Stabilität von Glas spricht, fällt ihm auf, dass keine Musik mehr gespielt wird. Er fragt sich, warum ihm das nicht früher aufgefallen ist, und versucht zu erraten, wie lange es in seiner Einzimmerwohnung schon ruhig sein muss. Wahrscheinlich seit etwa zehn Minuten. Höchstens eine Viertelstunde. Er wechselt die CD in seiner Stereoanlage und dreht die Lautstärke auf. «Burger Dance», der erste Song auf dem neuen Album von DJ Ötzi, kracht schon richtig rein. An normalen Tagen würde Sombrero dazu tanzen und mitsingen, an schlechten Tagen zumindest mit dem Fuß wippen. Heute fühlt Alexander die Après-Ski-Hymne überhaupt nicht. Vielleicht ist das auch nicht gerade die beste Musik, um seine aktuelle Situation zu untermalen. Er sucht in seinem vertikal angeordneten CD-Regal nach dem Album «Steam» von East 17, legt es ein und skippt zu Lied Nummer fünf. Die Ballade «Stay Another Day» passt um einiges besser zu seiner momentanen Verfassung. Er stellt das traurige Liebeslied auf Endlosschlaufe und wankt zurück zum Tisch. Auf diesem sieht es aus, als hätten hier tausend Ballermänner einen Junggesellenabschied gefeiert. Kaum zu glauben, dass Alexander für diese Sauerei alleine verantwortlich ist. Aber er hat keine andere Wahl, als sich zu betrinken. Schließlich hat er vor drei Tagen sein Todesurteil bekommen.

Er kann es heute noch kaum fassen. Ihm hat nicht ein Arzt schonend die Diagnose einer unheilbaren Krankheit übermittelt und ihm geraten, seine verbleibende Zeit noch so gut wie überhaupt möglich zu genießen. Nein, das wäre ja zu schön gewesen. Er musste aus der Zeitung von seinem baldigen Ableben erfahren. Seine angebliche Todesursache: Alkohol. Die logische Konsequenz wäre eigentlich gewesen, jetzt nichts mehr zu saufen. Das nahm sich Alexander auch ganz fest vor. Die ersten beiden Tage war er sogar davon überzeugt, dass er das schaffen würde. Aber irgendwann konnte er die bösen Gedanken nicht mehr ignorieren. Wird eine Leberzirrhose sein junges Leben auslöschen? Eine Alkoholvergiftung? Wird er betrunken eine Treppe hinunterstürzen? An seinem Erbrochenen ersticken? Wird ihm ein Fass Bier auf den Kopf fallen? Die Möglichkeiten scheinen unendlich. Er kann es nicht wissen. Er weiß nur, dass dieses Orakel in den letzten elf Jahren immer recht behalten hat. Irgendwie ist er froh, dass seine Eltern weit weg sind und von diesem ganzen Theater nichts mitkriegen. Auf dieses Drama kann er gerne verzichten. Und da sein baldiger Tod unter seinem bürgerlichen Namen Alexander Mayer angekündigt wurde, wissen auch die wenigsten Menschen hier im Tal, dass er damit gemeint war. Wäre in der Zeitung Sombrero gestanden, wäre wahrscheinlich das ganze Unterengadin in einen Schockzustand verfallen. Davon geht er jedenfalls aus. Momentan beschränkt sich der Kreis der Mitwisser auf seinen Chef und seine engsten Freunde, aber denen scheint die ganze Sache so unangenehm zu sein wie ihm selbst. Deshalb haben bisher alle darauf verzichtet, ihn auf seinen baldigen Tod anzusprechen. Er ist ihnen dafür dankbar. Sterben ist nicht nur Kacke, es ist auch Privatsache. Davon ist er mittlerweile überzeugt.

Außerdem hat er hier einen Ruf zu verlieren. Er ist derjenige, der die Menschen zum Lachen bringt. Er könnte es nicht ertragen, wenn die Leute ihn jetzt plötzlich bemitleiden würden. Das passt überhaupt nicht zu seinem Konzept. Angenommen, er würde diese ganze Geschichte hier überleben, was für einen Imageschaden müsste er davontragen, wenn man ihn plötzlich mit Tod und Vergänglichkeit anstatt mit Lebensfreude und Party in Verbindung bringt? Nein, das darf nicht sein.

Während seine Gedanken wandern, spielt seine Stereoanlage «Stay Another Day» zum mittlerweile siebten Mal. Alexander steht auf, drückt die Eject-Taste und wechselt erneut die CD. Jetzt ist er bereit für DJ Ötzi und «Burger Dance». Der Song dröhnt aus den Boxen. Sombrero singt einigermaßen euphorisch mit: «The Pizza Hut, The Pizza Hut, Kentucky Fried Chicken and the Pizza Hut ... ». Währenddessen holt er sein buntestes Hawaiihemd aus dem Schrank, schmiert sich Gel in seine dunkelblonden Haare, sprayt sich großzügig mit Axe ein und macht sich bereit zum Ausgehen.

Es ist das Wochenende kurz vor Weinachten. Für die Einheimischen, die im Unterland arbeiten oder studieren, haben die Ferien begonnen und sie sind bereits ins Unterengadin zurückgekehrt. Der Fall ist klar, Sombrero muss sich sehen lassen, sonst haben die Leute das Gefühl, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung sein könnte. Was zwar stimmt, aber eben. Und wenn er ohnehin sterben muss, dann wäre es doch scheiße, jetzt eine Party auszulassen.

Da es schon fast Mitternacht ist, beschließt Sombrero, direkt die Dorfdiskothek La Marmotta anzupeilen. Er ist ja schließlich angetrunken genug, um auf die ansonsten obligatorische Route durch die diversen Bars zu verzichten. Auf seiner Durststrecke, wie er diesen Weg gerne nennt, soll es angeblich Einheimische geben, die nach seinem Auftauchen ihre Uhren stellen. Er bleibt jeweils für ein paar Sprüche und zwei Stangen Calanda, bevor er sich wieder auf den Weg macht. Jetzt, wo er durch die sternenklare Nacht durch die Gassen von Scuol torkelt, hofft er, dass die jeweiligen Barbetreiber nicht zu sehr enttäuscht sind, dass er heute nicht aufgetaucht ist. Er stellt sich ihre traurigen Gesichter vor. Dann denkt er sich, dass es auch gut ist, wenn sie wieder mal zu spüren bekommen, was sie an ihm haben.

Als er beim La Marmotta ankommt, ist er überrascht, wie groß die Warteschlange vor dem Eingang ist. Normalerweise spaziert man hier einfach rein. Offensichtlich sind das hier alles Österreicher oder Zürcher oder andere Unterländer, die auf Einlass warten. Er kennt jedenfalls niemanden. Und was noch schlimmer ist: Niemand kennt ihn. Unter Pfiffen, Protest und Buhrufen drängt er sich an den Wartenden nach vorne zum Eingangsbereich. Ein unangenehmes Gefühl überkommt ihn. So etwas hat er hier noch nie erlebt. Erinnerungen an seine ersten Schuljahre im Thurgau werden wach. Da wollte er oft mit Seili, Philipp und Balz im Wald abhängen und Holzhütten bauen. Allerdings wollten die drei nie etwas mit ihm zu tun haben, schickten ihn nach Hause oder rieten ihm, doch mit den Kindern etwas zu unternehmen, die sich in seiner Coolness-Kategorie bewegten. Alexander wird wütend. Er hat daran geglaubt, dass diese Zeit längst vorbei war. Heute ist er doch eine angesagte Nummer, vor allem hier im Tal. Sombrero wird doch nicht darum bitten müssen, in diese verfickte Disco zu kommen, die zu Beginn seiner Lehrzeit noch eine heruntergekommene Schreinerei war. In einer Mischung aus Zorn und Betrunkenheit stellt er sich vor den Türsteher und erklärt ihm lauter als nötig: «Hör zu. Du kennst mich nicht, weil du neu hier bist. Aber du musst mich reinlassen. Jetzt! Sofort! Ich bin ein VIP!»

Der Türsteher, ein kahl geschorener Kopf größer als Alexander und von der Physiognomie her mehr Silberrücken als Mensch, zeigt sich wenig beeindruckt. Allem Anschein nach ist er solche Situationen gewohnt. Er antwortet in übertrieben anständigem, aber doch unmissverständlich bestimmtem Tonfall: «Erstens müssen Sie sich hintenanstellen wie alle anderen auch. Aber zweitens lasse ich Sie auch dann nicht rein. Sie sind zu alkoholisiert. Es tut mir leid.» Alexander traut seinen Ohren nicht. «Du verstehst wohl kein Englisch? Ist ja auch egal, du bist ja nur Türsteher. Aber VIP heißt Very Important Person. Ich kann so betrunken sein, wie ich will.» Der Türsteher nickt bejahend: «Ja, das dürfen Sie. Aber nicht hier. Bestellen Sie ein Taxi und lassen Sie sich nach Hause fahren. Bitte.»

Alexander schaut ungläubig zu ihm rauf. Es ist jedes Jahr das Gleiche mit den neuen Gastarbeitern. Dieser hier ist bestimmt aus dem nahen Österreich. Oder aus Bayern, so genau kann er es nicht sagen. Jedenfalls haben sie nie eine Ahnung und man muss sie jedes Mal zuerst mit den lokalen Gegebenheiten bekannt machen. Sombrero machte das auch immer gerne. Viele Gastarbeiter sind zu Freunden geworden, schließlich ist er von seinem Naturell her eine offene Person und für Leute, die neu in Scuol sind, nicht selten die erste Anlaufstelle. Das liegt daran, dass er selbst auch erst seit ein paar Jahren hier ist und genau weiß, wie es sich anfühlt, in einem fremden Dorf niemanden zu kennen. Aber Alexander hat heute keine Geduld. Unter Tränen brüllt er: «Du blöder Primat! Lass mich rein oder du kannst was erleben!»

Die anderen wartenden Gäste treten ein paar Schritte zurück, eine Mädchenstimme ruft: «Was soll das? Verpiss dich zurück in den Thurgau, du Mongo!» Alexander dreht sich um: «Wer war das? Welche verdammte Schlampe war das? Ihr habt keine Ahnung, wer ich bin, ihr beschissenen Züzis!»

Die Züzis lachen, der Türsteher verlangt mehr Ruhe wegen den Anwohnern. Alexander ist außer sich. Er sucht sich ein Mädchen aus, von dem er das Gefühl hat, dass sie es war, die ihn gerade beleidigt hat. Er greift mit seiner linken Hand nach ihren langen blonden Haaren, die unter ihrer Wollmütze hervorschauen, zieht sie zu sich und verpasst ihr eine Ohrfeige. In diesem Moment realisiert er, dass er zu weit gegangen und überhaupt nicht mehr sich selbst ist. Aber es ist zu spät. Drei Begleiter des Mädchens stürmen nach vorne. Die erste Faust prallt mitten in Alexanders Gesicht und bricht ihm seine Nase. Er ist zu betrunken, um seine Hände zu heben. Blut fließt ihm über das Gesicht. Eine zweite Faust landet in seinem Mund. Der Schmerz ist viel schlimmer, als er jemals erwartet hätte. Der Typ, der ihn gerade geschlagen hat, muss einen Schlagring tragen. Seine tastende Zunge bestätigt seinen Verdacht. Drei oder vier seiner vorderen Zähne sind abgebrochen oder ausgeschlagen. Er spuckt Blut und Zahnsplitter. «Friss das, du Dorfpromi!» hört er einen der Züzis schreien und spürt, wie der Absatz eines Schuhs auf seine Wirbelsäule knallt. Lautes Gelächter. Er möchte schreien, da trifft ein schwerer Winterschuh seine ohnehin schon gebrochene Nase. Jemand brüllt: «Schlachten wir die Partysau!»

Jetzt gibt es kein Halten mehr. Ein Gewitter an Tritten und Schlägen donnert auf seinen wehrlosen Körper herunter. Er möchte sich einigeln, aber seine gebrochenen Rippen verunmöglichen jegliche Art von Bewegung. Er beginnt zu weinen. Der akustische Mix aus kreischenden Mädchen, grölenden Jungs und dem überforderten Türsteher, der verzweifelt versucht, die entfesselte Meute zur Vernunft zu bringen, dringt von immer weiter weg zu Alexander durch. Er denkt wimmernd an seine Mutter. Sie wird ihn im Krankenhaus besuchen kommen und ihm erklären, dass er Arbon niemals hätte verlassen dürfen, sondern er einfach Vaters Hof hätte übernehmen sollen. Nachdem sie ihm mitleidig über das geschundene Gesicht gestreichelt und er ihr zehntausende von Fragen zum Vorgefallenen beantwortet haben wird, wird er ihr vor seinen lachenden Zimmergenossen beweisen müssen, dass er saubere Unterhosen trägt. Peinlich, peinlich. Alexander spürt, wie er das Bewusstsein verliert. Er wehrt sich nicht dagegen.

EIN STERBENDER TAG

Es ist Samstag, der 23. Februar 2013, um 17:12 Uhr. Langsam, aber sicher verschwindet die Sonne hinter dem Piz Lunghin. Zum Abschied taucht sie das ganze Oberengadin in einen apokalyptisch orangen Farbton. Die ersten Sterne leuchten am Firmament. Riet zieht sein Snowboard aus, rammt es mit der Bindung nach unten in den Tiefschnee und setzt sich auf den Belag. Mit der Sonne sinkt auch die Temperatur. Das Leben erstarrt. Totenstille breitet sich aus.

Alles, was Riet noch hört, ist das Brummen vereinzelter Autos weit unten im Tal. Es sind die Wintersportler, die nach diesem herrlichen Tag nach Hause oder zurück ins Hotel fahren und für eine Stunde in einer Sauna verschwinden oder sich kurz in ein warmes Bett legen. Später werden die Leute irgendwo in St. Moritz oder in der nahen Umgebung essen gehen. Riet versucht, die fernen Motorengeräusche einem bestimmten Fahrer zuzuordnen, und fragt sich, was dieser später im Restaurant bestellen wird. Dieses Brummen klingt nach Maserati und Jakobsmuscheln, dieses nach Fiat und Tortellini, dieses nach Mercedes und Weißwurst. Riet glaubt, dass er anhand der Art, wie die Leute ihr Auto beschleunigen, heraushören kann, welches Geschlecht und welches Alter die Person hat, und ob sie einheimisch oder im Engadin zu Besuch ist. Auf solche Gedankenspiele kommt man, wenn man viel Zeit für sich hat. Normalerweise sitzt Riet hier nicht alleine auf dem Berg, sondern mit seinen besten Freunden. Bei einem letzten Joint hier auf der Furtschellas oder in irgendeinem anderen Skigebiet der Region lassen sie jeweils den vergangenen Snowboard-Tag Revue passieren. Wer besonders spektakulär hingefallen ist, der wird nochmal ausgelacht, wer im Park einen Trick besonders gut ausgeführt hat, bekommt weitere High-Fives und schwerverdiente Komplimente, die er je nach Charakter und Tagesverfassung geschmeichelt oder übertrieben zelebrierend entgegennimmt.

In diesen Momenten ist alles andere vergessen. Niemand denkt an seine Ausbildung, an seinen Stress im Lyceum Alpinum, an seine überforderten Eltern, daran, dass er schon wieder pleite ist, oder dass Flavia letztes Wochenende im Nachtclub Vivai mit Hannes rummachte. In diesen Augenblicken befindet sich das Leben im Idealzustand. Hier tanken sie die Kraft, mit der sie die nächste Woche in Angriff nehmen können. Selbstverständlich ist diese Art von Kraft kein Ersatz für die Energie aus den Dosen, die sie jeden Morgen trinken, und die sie immer wieder darüber debattieren lässt, ob Red Bull, Monster oder Rockstar der effektivste Wachmacher sei. Nein, diese Kraft gibt ihnen nicht nur einen kurzfristigen Zucker-Boost, sondern schenkt ihnen einen tiefgründigen Optimismus. Sie alle wissen, dass sie sich immer aufeinander werden verlassen können, dass sie zusammen durchs Leben surfen und sich eines Tages eine Etage im Altersheim teilen werden. Dort angekommen, werden sie sich dann gegenseitig High Fives und Fist Bumps für gelungene Rollstuhl-Tricks in der Halfpipe oder die anzüglichsten Sprüche gegenüber den jungen Pflegerinnen oder Mitbewohnerinnen schenken. «Grüezi Schwester, können Sie mal schauen, ich glaube, bei mir in der Hose beginnt bereits die Leichenstarre.» Oder «Grüezi Mitbewohnerin, könnten Sie Ihr Gebiss rausnehmen, ich habe Lust auf seniorale Befriedigung.» Die Kombination aus Abendstimmung, pubertärer Hirnmasse und THC führt jeweils dazu, dass sie lachen, sich in den Armen liegen und ihre Zukunft in total unrealistisch rosaroten Farben ausmalen.

Aber eben. Heute sitzt Riet alleine hier im Schnee. In den letzten vier Stunden hat er auf einer Schanze auf dem Corvatsch an einem neuen Sprung – an einem sogenannten Frontside 900 – gearbeitet. Ab und zu stellt er sich während des Trainings vor, wie er eines Tages an den Olympischen Spielen diesen Trick ausführen und der Moderator und Snowboard-Experte Gian Simmen während der Liveübertragung dem Publikum des Schweizer Fernsehen erklären wird, dass ein 900er ein komplizierter Sprung mit zweieinhalb Drehungen sei und Riet diesen gerade extrem schön in den Schnee gestellt habe.

Er ist mit seiner Leistung sehr zufrieden, doch als er heute den Frontside 900 nach mehreren Anläufen zum ersten Mal sauber landen konnte, vermisste er die Jubelschreie seiner Freunde. Aber davon abgesehen können sie ihm heute gestohlen bleiben. Das Komische an der ganzen Sache ist, dass Riet gar nicht genau weiß, warum er heute alleine unterwegs ist. Seine Kumpel haben sich in der letzten Woche ihm gegenüber sehr merkwürdig verhalten. Gestern Abend rief ihn Gianki an und teilte ihm mit, dass sie dieses Wochenende ohne ihn snowboarden gehen wollen und er am besten etwas anderes unternehmen solle. Das klang ungefähr so: «Dude, wir lieben dich, du weißt das. Aber wir treffen uns besser in einer Woche wieder. Wir erklären dir dann, warum.» Nachdem Riet ein paar Mal nachgehakt hatte und unbedingt wissen wollte, was denn mit ihnen los sei, meinte Gianki nur ganz beschämt, dass es für sie in seiner Nähe gerade zu gefährlich sei, und legte auf. Diese verdammten Wichser, was fällt denen überhaupt ein?

Auf seine Anrufe heute Morgen reagierten sie schon gar nicht. Selbst seine Mutter wollte nicht, dass er heute auf den Berg geht. Zuerst versteckte sie sein Snowboard, dann verpasste sie ihm pseudomäßige Arbeiten wie Staubsaugen und Kelleraufräumen. Irgendwann wurde er sauer, holte sich auf dem Estrich sein altes Burton Twin und rannte zur Bushaltestelle. Seine Mutter folgte ihm hysterisch, machte ihm auf offener Straße eine Szene und rief ihm nach, er dürfe sie nicht auch noch verlassen. Riet kann plötzlich verstehen, warum sein Vater damals von der Brücke gesprungen ist. Sie spinnt. Anders kann man sich ihr Benehmen der letzten Tage nicht erklären. Ununterbrochen Küsschen, alle drei Minuten anrufen und fragen, ob alles in Ordnung sei, und zur Krönung noch davon ausgehen, er bleibe am Wochenende bei schönstem Wetter zuhause und sortiere mit ihr den alten Müll.

Er bekommt immer wieder zu hören, dass alle Mütter so sind. So überfürsorglich, so übertrieben liebend, so übertrieben besorgt. Aber die Mütter von Dino, Roman, Luc, Röbi, Gummi, Möni oder Gianki, die sind nicht so. Die sind normal. Dafür spinnen gerade deren Söhne. Ja, seine Kumpel, das sind momentan einfach richtige Arschlöcher. Wahrscheinlich waren sie heute auf der Diavolezza oder auf der Corviglia. Who knows, who cares? Er kann sich nicht erklären, warum sie ihn nicht dabeihaben wollten. Er ist normalerweise derjenige, der die Gruppe pusht, vielleicht auch mal in einen Lawinenhang dropt, ohne sich zuvor groß zu informieren, wie gefährlich die Lage gerade ist. Aber am Ende des Tages haben sie dank ihm auch immer am meisten erlebt. Schließlich erzählt am Abend niemand eine Geschichte davon, wie er fast etwas gewagt hätte, wie er fast ein Couloir runtergefahren sei, wie er fast versucht hätte, einen Backflip zu springen oder wie er sich in einem Anfall von Wagemut fast schon beim Gedanken daran erwischt habe, die große Schanze anzufahren. Vielleicht brauchen sie gerade eine Pause von ihm und cruisen lieber vorsichtig auf der Piste den Orientierungspfosten entlang. Hauptsache, sie fahren so, dass niemand versehentlich im Pulverschnee landet und Spaß hat.

Riet schüttelt lächelnd den Kopf und zieht an seinem Joint. Shit. Das Zeug fährt ein. Aus reiner Gewohnheit mischte er gleich viel Gras hinein, wie wenn sie zu viert oder zu fünft hier oben sitzen. Abgesehen von einem schönen Tag mit ihm verpassen sie halt auch noch einen anständigen Ofen. Ihm soll es recht sein. Er raucht gemütlich seinen Joint zu Ende. Die Papiermotivationswurst, wie er ihn gerne nennt.

Unten im Tal fährt ein weiteres Auto in Richtung warme Stube. Volvo, Familie, der Vater am Steuer ärgert sich über den schlechten Radioempfang, die Mutter betrachtet sich im Rückspiegel und fragt sich, ob sie am Morgen zu wenig Sonnencreme aufgetragen hat. Der Sohn auf dem Rücksitz hält seiner Schwester seine feuchten, stinkenden Handschuhe unter die Nase und kassiert dafür Prügel, später gibt es zuhause Brot und Käse, weil sie schon auf der Skihütte zum Mittagessen Pommes und Schnitzel gegessen haben. Das kommt bestimmt ungefähr hin.

Riet bläst den letzten Zug in die kalte Bergluft, löscht den Joint aus und steckt sich den Filter in die Hosentasche. No Littering! Er zieht die Schnürsenkel seiner Schuhe nach und steht auf. Fuck. Ihm wird schwindlig und er muss sich wieder hinsetzen. Das war wirklich ein wenig zu viel Munition in der Ganja-Flinte. Riet muss laut lachen und denkt daran, wie lustig seine Kumpel das gerade finden würden. Aber die sind ja nicht hier. Und wenn sie hier wären, hätte er ja gar nicht so viel geraucht und wäre jetzt auch nicht so drauf. Darum könnten sie jetzt auch nicht über seinen Zustand lachen. Eine verwirrende Logik. Riet denkt noch weiter über diese Spirale nach. Dann kämpft er sich erneut auf die Beine, dieses Mal ein wenig vorsichtiger, steht in die Bindung seinen Boards und schließt die Schnallen. Es wird bestimmt noch die nächsten dreißig Minuten genug Licht für die Abfahrt haben. Er steckt sich die Kopfhörer in die Ohren und sucht auf seinem Smartphone das neue Album von Santigold. Bei «Master of My Make-Believe» scrollt er zu «Disparate Youth» und drückt Play. Ja, das Album ist einfach geil. Er dreht die Lautstärke auf, verstaut sein Gadget sicher in der Innentasche seiner Jacke, zieht sich seine Handschuhe an und fährt los.

Die elektronischen Beats und Santigolds kräftige Stimme versorgen ihn mit dem nötigen Adrenalin, um einigermaßen wach zu bleiben und sich auf die Abfahrt zu konzentrieren. Riet ist ein guter Snowboarder. Bei jeder Kurve sprayt er den Pulverschnee in die Luft, bei jedem kleineren und größeren Hügel hebt er ab und macht, je nach Lust und Laune, Backside Airs oder Drehungen in alle Uhrzeigersinne. Er landet trotz seines momentanen halbbetäubten Zustandes jedes Mal sicher wieder im Tiefschnee und fliegt weiter Richtung Tal. Das ist das wahre Leben. Seine Kumpel können ihn mal. Snowboarden ist doch eigentlich ein Einzelsport. Wenn die wüssten, was sie gerade verpassen, diese Ärsche.

Riet rast in den Wald. Er liebt es, über Pillows zu springen und mit Hochgeschwindigkeit zwischen den Bäumen durch zu surfen. Santigold gibt in seinen Ohren Vollgas, die Musik scheint in andere Sphären abzuheben. Riet wachsen Flügel. Immer schneller fährt er immer näher an den Tannen und Lärchen vorbei. Plötzlich fühlt er einen heftigen Schlag gegen die Nose seines Snowboards. Würde nicht alles so schnell gehen, würde er sich jetzt wundern, ob er gerade gegen einen schneebedeckten Stein oder einen Baumstamm gefahren ist. Riet überschlägt sich. Er sieht gerade noch, wie er mit höllischer Geschwindigkeit auf einen Baum zufliegt, und versucht, schützend seine Hände vor sein Gesicht zu halten. Es gelingt ihm nicht.

EINE NEUE WELT

Es ist Montag Morgen am 20. Mai 2019 um Punkt sieben Uhr in St. Moritz-Bad. Darias Wecker reißt sie aus ihrem Tiefschlaf. Sie zieht sich an, macht sich bereit, verlässt das Haus und steigt auf ihr Mountainbike. Vor ein paar Tagen hat sie den Stazersee für sich entdeckt. Dieser kleine Bergsee befindet sich oberhalb des St. Moritzersees auf einer Lichtung mitten im Stazerwald. Er liegt in Gehdistanz von Pontresina, Celerina und St. Moritz und ist von allen drei Ortschaften gut mit dem Fahrrad erreichbar. Neben dem See steht das Hotel und Restaurant Lej da Staz mit seiner großen Sonnenterrasse. Vor dem Gebäude befindet sich eine Liegewiese, ein Holzsteg führt in den See hinaus. Es ist zu Darias Ritual geworden, hier wenn möglich jeden Morgen vor der Arbeit ins kühle Nass zu springen und sich dabei für ihren eigenen Wagemut gleichzeitig zu bewundern und zu verfluchen. Nach dem ersten Kälteschock krault sie ein paar hundert Meter hin und her, schwimmt dann ein wenig auf dem Rücken und blinzelt dabei gegen die Sonne, die hinter den Baumwipfeln aufgeht. Dann kehrt sie ans Ufer zurück, kuschelt sich möglichst schnell in das bereitgelegte Badetuch und wartet mit klappernden Zähnen darauf, dass das Leben in ihren Körper zurückkehrt.

Jetzt, Ende Mai, ist sie meistens alleine hier oben. Sie fragt sich, ob sich das mit den ansteigenden Wassertemperaturen ändern wird. Der See füllt sich mit Schmelzwasser vom Piz Rosatsch. Es ist also klar, dass man keine Badewannentemperaturen erwarten kann. Aber im Sommer soll der Lej da Staz ein beliebter Badesee für Einheimische und Gäste sein. Werden dann auch andere Leute bereits früh am Morgen hier oben sein? Für Daria ist das noch kaum vorstellbar. Schließlich laden momentan nicht mal die Lufttemperaturen dazu ein, die warme Kaschmirwollmütze auszuziehen, geschweige denn, sich seiner Klamotten zu entledigen und dann auch noch ins Wasser zu springen.

Daria kann sich noch nicht entscheiden, ob sie diese morgendliche Prozedur als sinnliche Erfahrung oder als sadomasochistischen Akt betrachten soll, aber sie möchte auf keinen Fall mehr darauf verzichten. Nicht nur, weil es sie dazu zwingt, jeden Morgen ihren inneren Schweinehund zu überwinden. Sie betrachtet es als einen weiteren Schritt dazu, sich im Engadin so etwas wie einen Alltag aufzubauen. Außerdem fühlt sie sich danach richtig vital und bereit, mit ihrem neu gekauften Mountainbike den Weg zurück nach St. Moritz zu fahren, sich im Architekturbüro Clavuot & Nägeli kurz im Badezimmer frisch zu machen und dann mit ihrer Arbeit zu beginnen.

Als sie vor gut einem Jahr ihr Studium an der ETH in Zürich mit einem Master abschloss, glaubte sie noch an eine gemeinsame Karriere mit ihrem damaligen Freund Sebastian in Barcelona, Amsterdam oder London. Aber anscheinend können selbst Architekten nicht alles planen. Das Fundament ihrer Beziehung war das gemeinsame Lernen, ihre Liebe entpuppte sich als Kartenhaus, das den Winden des richtigen Lebens nicht viel entgegensetzen konnte. Sie findet diese Formulierung zwar reichlich metaphorisch, aber sie passt, schließlich ist sie Architektin. Kurz gesagt: Sie bewarben sich gemeinsam bei diversen Topadressen, kassierten dabei nur Absagen, fanden sich gegenseitig plötzlich nicht mehr so toll und beschlossen, das ganze Projekt «gemeinsame Zukunft» zu begraben.

Sebastian wollte sie zwar eine Woche später wieder zurückhaben und ihnen nochmals eine Chance geben, aber für Daria kam das bereits nicht mehr in Frage. Er war enttäuscht und offensichtlich auch sauer auf Daria. Sie haben sich dann trotzdem versprochen, Freunde zu bleiben, aber das stellte sich bald als wahre Herausforderung heraus. Sie brauchte Abstand von ihm. Und zwar möglichst viel. Ihren spontanen Umzug letzten Herbst in die Bergwelt des Engadins kann man durchaus als Flucht bezeichnen, aber sie setzt heute noch alles daran, dass ihre Familie und Freunde diese Adressänderung als selbstbestimmten Akt wahrnehmen. Sie würde mindestens zwei Jahre hier oben bleiben, das schwor sie sich, als sie mit dem gemieteten und mit ihren nötigsten Sachen beladenen Lieferwagen über den Julierpass in ihre neue Heimat gefahren ist. Die schöne Natur betrachtet sie für eine befristete Zeit als einen adäquaten Ersatz für die lange Nacht der Museen, Opernbesuche und die Möglichkeit, morgens um vier noch irgendwo einen Döner zu bekommen oder von einem Penner um zwei Franken angebettelt zu werden.

Sie hat ihr Pensum für heute erfüllt und schwimmt mit kräftigen Zügen Richtung Ufer. Ihre Füße berühren den schleimigen Boden. Sie ist sich nicht ganz sicher, ob ihre Zehen abgefroren sind. Während sie vorsichtig ans Ufer tritt, hofft sie, dass sie sich dabei nicht ihre Beine bricht und auf ihren Ellbogen ins Trockene robben muss. Eine groteske Vorstellung, als ob sie eine Figur in einem Zeichentrickfilm wäre. Mit kleinen, vorsichtigen Schritten bewegt sie sich auf ihre Sachen zu und erschrickt. Auf ihren Klamotten liegt eine überraschend große Kreuzotter. Die Schlange ist bestimmt einiges über einen Meter lang. Das Tier schaut Daria mit leblosen Pupillen an und züngelt, ansonsten bleibt es regungslos liegen. Das Reptil wurde wohl von der Restwärme von Darias Klamotten angelockt. Daria weiß, dass diese Giftschlangen extrem scheu sind und Menschen aus dem Weg gehen. Aber dieses Exemplar hier hat anscheinend noch nie etwas davon gehört, wie groß es werden darf oder wie es sich seiner Natur gemäß zu verhalten hat.

Daria starrt die Schlange fasziniert an. Die Kreuzotter scheint nicht mal daran zu denken, ihr die Kleider wieder zu überlassen und im Gras oder im Unterholz Deckung zu suchen. Daria kann sich das Verhalten der Schlange nicht erklären. Das Tier muss doch wissen, dass es einen Kampf gegen sie nicht gewinnen kann. Der Biss einer Kreuzotter ist für Menschen ungefähr so gefährlich wie ein Bienenstich, während Daria das Tier mit einem Stein erschlagen könnte. Aber auch das scheint die Schlange nicht zu interessieren. Daria betrachtet für ein paar weitere Augenblicke die Schönheit des Reptils, dann sucht sie sich einen möglichst langen Stecken, um damit die Schlange sicher in den nahen Wald tragen. Als sie zurückkommt, ist die Kreuzotter allerdings verschwunden. Sie sticht mit dem Stück Holz auf ihren Kleiderhaufen, um sich zu vergewissern, dass die Schlange sich nicht darin versteckt, aber das Tier ist tatsächlich weg. Daria greift nach ihrer Jeans und nimmt instinktiv ihr iPhone aus der Hosentasche. Sie staunt nicht schlecht. In den letzten 30 Minuten hat sie dreizehn Anrufe verpasst und siebzehn WhatsApp-Nachrichten erhalten. Das lässt auf nichts Gutes schließen. Leicht aufgeregt entsichert sie ihr Smartphone. Dreimal hat ihre Mutter sie zu erreichen versucht. Das ist nicht so ungewöhnlich. Ihre Mutter ist vor zwei Wochen eine Treppe runtergestürzt und hat sich dabei beide Beine gebrochen, seither sitzt sie bewegungsunfähig zuhause, lässt sich von ihrer Nachbarin Frau Lüthi pflegen und nutzt die Zeit, Daria mit Anrufen zu belästigen. Allerdings wartet sie damit normalerweise bis am Nachmittag. Die anderen verpassten Anrufe stammen von Leuten, die sie in den letzten Monaten zufällig in der Stübli-Bar, beim Skifahren oder an einem der diversen Engadiner Dorffeste kennengelernt hatte. Mit diesen Leuten tauschte sie zwar Nummern aus, nachdem sie ein paar lustige Stunden zusammen verbracht hatten, aber seither hat sie nie mehr etwas von ihnen gehört. Ihre Anrufe um diese Uhrzeit irritieren sie deshalb erst recht.

Leicht beunruhigt öffnet sie die WhatsApp-Nachricht ihrer Mutter und liest: «Geht es dir gut? Ruf mich zurück. Sofort!!!» In diesem Moment klingelt ihr iPhone, auf dem Display steht «Mami». Daria nimmt den Anruf entgegen und hört die aufgebrachte Stimme ihrer Mutter: «Schätzchen, um Gottes Willen, wie geht es dir?» – «Mami, was ist denn los? Mir geht es gut, warum fragst du?», wundert sich Daria. «Hast du denn heute Morgen die Engadiner Woche nicht gelesen?», fragt ihre Mutter ganz nervös zurück. «Nein, habe ich nicht. Warum kennst du überhaupt die Engadiner Woche?» – «Ich habe sie abonniert, als du ins Engadin gezogen bist. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Viel interessanter ist die Frage, warum heute eine Todesanzeige von dir in der Zeitung ist. Wer erlaubt sich so einen Scherz? Das ist doch makaber!»

Daria hat keine Ahnung, was sie auf diese Fragen antworten soll, aber irgendwie muss sie reagieren, schließlich verrät das Zittern in der Stimme ihrer Mutter, dass sie ernsthaft besorgt ist. «Eine Todesanzeige? Von mir? Das kann doch nur ein Irrtum sein.» – «Ein Irrtum? Ich erkenne doch meine eigene Tochter!», schreit ihre Mutter durch das Gerät. Daria ist die ganze Sache unangenehm. «Ich bin jedenfalls noch am Leben, wie du mittlerweile bestimmt mitbekommen hast. Also beruhig dich bitte! Schau besser, dass du nicht gleich einen Schlaganfall bekommst.» Sie hat keine Ahnung, was sie zum Thema noch sagen könnte, und verspricht ihrer Mutter, sie zu informieren, sobald sie mehr weiß. Alle anderen verpassten Anrufe wird sie ignorieren.