So glücklich wir waren - Daria Bignardi - E-Book

So glücklich wir waren E-Book

Daria Bignardi

4,4
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mit ihren Erinnerungen an die unbeschwerten Tage der Jugend und ihrer Leidenschaft für klassische Literatur lebt Alma lieber in der Vergangenheit als in der Gegenwart. Als ihre Tochter Antonia schwanger ist, weiht sie sie ein in ein wohl gehütetes Familiengeheimnis: das spurlose Verschwinden ihres Bruders. Antonia beschließt, nach Ferrara zu reisen und sich auf eine Suche zu machen, für die ihre Mutter nie genug Kraft hatte. Doch bei ihren Streifzügen durch die mysteriös anmutende Stadt, die mit ihren mittelalterlichen Gemäuern und den schmalen Gassen die perfekte Kulisse für Heimlichkeiten und Gerüchte bietet, kommt Antonia nicht nur der Geschichte ihrer verschlossenen Mutter und dem Verschwinden ihres Onkels auf die Spur, sondern enthüllt auch eine familiäre Tragödie, die sehr viel weiter reicht, als sie jemals hätte ahnen können. So glücklich wir waren erzählt ebenso fesselnd wie ergreifend von lebenslanger Reue und der fragilen Nähe zwischen Müttern und Töchtern. In ihrem aufwühlenden Roman stellt Daria Bignardi die alles entscheidende Frage, wie genau wir die Menschen kennen, die uns am nächsten stehen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 353

Bewertungen
4,4 (18 Bewertungen)
11
4
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mit ihren Erinnerungen an die unbeschwerten Tage der Jugend und ihrer Leidenschaft für griechische Mythen lebt Alma lieber in der Vergangenheit als in der Gegenwart. Als ihre Tochter Antonia schwanger ist, weiht sie sie in ein wohlgehütetes Familiengeheimnis ein: das spurlose Verschwinden von Almas Bruder. Antonia beschließt, nach Ferrara zu reisen und sich auf eine Suche zu machen, für die ihre Mutter nie genug Kraft hatte. Doch bei ihren Streifzügen durch die mysteriös anmutende Stadt, die mit ihren mittelalterlichen Gemäuern und Gassen die perfekte Kulisse für Heimlichkeiten und Gerüchte bietet, kommt Antonia nicht nur der Geschichte ihrer verschlossenen Mutter auf die Spur – sie enthüllt auch eine familiäre Tragödie, die sehr viel weiter reicht, als sie jemals hätte ahnen können.

So glücklich wir waren erzählt von der fragilen Nähe zwischen Müttern und Töchtern und stellt die alles entscheidende Frage – wie genau wir die Menschen kennen, die uns am nächsten stehen.

Daria Bignardi, 1961 in Ferrara geboren, ist eine gefeierte Schriftstellerin, Journalistin und Fernsehmoderatorin. So glücklich wir waren ist ihr vierter Roman. Bignardi lebt und arbeitet in Mailand, entdeckte aber bei der Recherche für ihr Buch die Liebe zu ihrer Geburtsstadt wieder.

Julika Brandestini, 1980 in Berlin geboren, arbeitet als literarische Übersetzerin in Potsdam. Sie hat u. a. Michela Murgia, Dino Buzzati und Michele Serra ins Deutsche übertragen.

Daria Bignardi

So glücklich wir waren

Roman

Aus dem Italienischen von Julika Brandestini

Insel Verlag

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel L’amore che ti meriti bei Arnoldo Mondadori Editore S. p. A., Milano.

eBook Insel Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2016.© 2014 Arnoldo Mondadori Editore S. p. A., Milano.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlagfoto: Getty Images, München

Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg

eISBN 978-3-458-74912-7

www.suhrkamp.de

Für Severino. Und für Toni.

»Der Bestand eines Bösen [ist] immer in dem schuldhaften Mangel der Liebe Aller zum Träger des Bösen mitbegründet. [Daraus] ergibt sich (…) das Prinzip der Solidarität aller sittlichen Wesen.«

Max Scheler

Alma

Aal-maa-Maa-ioo, Aal-maa-Maa-ioo.

Seit ich Toni erzählt habe, was vor dreißig Jahren geschehen ist, träume ich von meiner Mutter, die mit ihrer tiefen Stimme nach uns ruft, das »ma« bei jeder Wiederholung modulierend. »Almamaio«, das ist der Klang meines früheren Lebens, jenes glücklichen.

Das erste Mal, als ich ihn sah, hatte ich »Ma-io« gestammelt, und dabei blieb es. Als in der Zeitung sein richtiger Name stand, wussten nur wenige, dass dieser Marco mein Bruder war.

Es war ein nach Linden duftender Juniabend.

Ich saß auf Maios Fahrradstange, und er fuhr dicht an den sonnengewärmten Hauswänden entlang. Ich strich mit dem Finger über seine Lippen, und er versuchte, mit den Zähnen danach zu schnappen. Je mehr ich lachte und zappelte, desto mehr schlingerte er mit dem Fahrrad, damit ich noch lauter schrie.

Mein Rad hatte einen Platten, darum hatten wir seins genommen. Er lenkte mit einer Hand, in der anderen hielt er eine Zigarette mit schlechtem Marihuana, das wir am Ufer des Po anbauten.

Auf dem Kopfsteinpflaster schnitt mir die Fahrradstange in den Hintern, und Maio ließ absichtlich kein einziges Schlagloch aus.

»Meine Jeans sind extra dick, wie Polster«, trällerte ich.

»Popöchen, Popöchen, hier hast du dein Pölsterchen«, antwortete er in demselben Singsang.

Wir hatten an diesem Nachmittag einen Film von Antonioni gesehen und auf dem Nachhauseweg endlose Male die Szene nachgespielt, in der sie ihn fragt, wovor er weglaufe. Er antwortet, Schauen Sie nicht nach vorn, schauen Sie nach hinten.

Vor dem Abendessen, als die Pizza im Ofen brutzelte und ich auf dem Balkon eine Zigarette rauchte und dem Flug der Schwalben zusah, stieg Maio im blauen Bademantel unseres Vaters aus der Dusche, trat mit geschlossenen Augen an die Scheibe und deklamierte mit tropfendem Haar und hochgerecktem Kinn, die Arme weit ausgebreitet: »Wovor läufst du weg, Alma?«

Wenn ein Film uns gefiel, wiederholten wir die denkwürdigsten Sätze tagelang in allen möglichen Situationen.

Maio war dünn und groß, wie ich. Bis vor drei Jahren hatten wir noch unsere Kleider getauscht, dann waren meine Brüste gewachsen, und mit ihnen meine Hüften. Mein Vater war zufrieden über meinen Entwicklungsschub, hinter meinem hormonellen Rückstand hatte er bereits schwere Störungen vermutet. Er malte sich ständig Krankheiten, Unfälle, finanzielle Schwierigkeiten, Rückschläge und alltägliche Niederlagen bis in die kleinsten Details aus: geschlossene Restaurants, ungültige Eintrittskarten, belegte Parkplätze. Sein Leben war stets überschattet von einem drohenden Desaster.

Er hatte jedes erdenkliche Unglück, jede Trauer, jeden Schmerz vorhergesehen, nur nicht den, der uns schließlich zerstörte.

An jenem Abend waren unsere Eltern bereits aufs Land gefahren, wir warteten noch auf die Zeugnisse, bevor wir uns ihnen anschlossen, obwohl wir die Ergebnisse schon kannten: Ich war durchgekommen, Maio musste eine Nachprüfung machen.

Unser Vater war nicht wütend geworden, er hatte nur wieder drohendes Unheil gewittert. Mama hatte mit den Schultern gezuckt und gesagt, sie habe doch gleich gewusst, dass mein Gymnasium nichts für Maio sei. Ich war diejenige gewesen, die insistiert hatte.

Maio war witzig, freundlich und faul. Ganz anders als ich.

Wir würden auf dem Land Nachhilfeunterricht bekommen, bevor wir mit dem Zug nach Bukarest fuhren. Den August würden wir wie immer am Meer verbringen.

Wir genossen diese letzten Abende ohne Eltern, wir freuten uns über den Beginn der Ferien. Alles war gut.

Vor dem marmornen Greif auf der Piazza, an unserem üblichen Treffpunkt, saß nur Benetti. Es war Sonntag, einige waren ans Meer gefahren und noch nicht zurück. Bald würde Michela kommen, sonnenverbrannt und glänzend vor Creme, und wir würden bei Mago ein Bier trinken gehen. Der Sonnenuntergang an diesem Abend wollte nicht enden.

Ich war siebzehn Jahre alt, und ich wusste nicht, dass wir glücklich waren.

Antonia

Ich drehe mich auf den Rücken. Linke Seite, Rücken, rechte Seite, seit zwei Monaten schlafe ich so. Mein Bauch ist rund wie ein Ball, fünf Kilo habe ich zugenommen. Genau richtig, sagt meine Gynäkologin. Ziemlich wenig, meint Leo.

Leo schläft auf dem Bauch, der Glückliche, ein Arm hängt seitlich aus dem Bett. Ich drehe mich wieder auf die Seite und starre ihn an, um zu sehen, ob er davon aufwacht. Montag werde ich fahren, und ich habe ihm noch nichts davon gesagt. Ich puste ihm leicht auf die Wange.

»Mmh … Was ist?«

»Hallo, guten Morgen!«

»Morgen … Wie spät?«, nuschelt er.

»Neun durch.«

»So früh! Komm, Toni, sei lieb«, murrt er und zieht sich das Laken über den Kopf. Er kann nur samstags ausschlafen, sonntags gibt es immer irgendeinen Notfall: Raubüberfälle von der Nacht zuvor, angereiste Fußballfans, sogar Mordfälle passieren im sonntäglichen Morgengrauen am häufigsten. An den übrigen Tagen steht er um sieben auf, viel früher als ich.

»Ich muss mit dir reden.«

Ich sehe, wie sein Kopf sich langsam unter dem Laken hervorschiebt, wie eine Schildkröte aus dem Panzer. Er öffnet das herausschauende Auge. Und er sieht mich mit klarem Blick an.

»Was gibt es?«

»Montag fahre ich für ein paar Tage nach Ferrara.«

»Nach Ferrara? Warum?« Jetzt hat er beide Augen geöffnet. Er kneift sie zusammen, als störe ihn das Licht, und schaut mich von unten herauf an. Ich liege auf den Ellenbogen gestützt, meine Haare kitzeln seine Nase. Doch er rührt sich nicht, er sieht aus wie eine erstarrte Katze im Scheinwerferlicht, mit zu Berge stehenden Haaren und angelegten Ohren.

»Ich muss Nachforschungen in einer Familienangelegenheit anstellen.«

Langsam richtet er sich auf, den Rücken gegen das Kopfende des Bettes gelehnt. Die Augen sind jetzt weit offen. Er blickt mich erstaunt an.

»Was hast du vor?«

»Das habe ich dir doch gerade gesagt.«

»Und das im sechsten Monat?«

Er ist an meine Abwesenheiten gewöhnt, meine Recherchereisen. Ich habe bei einem kleinen Bologneser Verlag drei Krimis veröffentlicht, und ich recherchiere immer wieder einmal am Ort eines Verbrechens. So haben wir uns kennengelernt. Seit ich aber mit Ada schwanger bin, war ich nicht mehr unterwegs.

»Eben deshalb. Ich muss es tun, solange es noch geht.«

»Wohin willst du denn?«

»Schläfst du noch? Nach Ferrara, wo meine Mutter geboren ist. Gar nicht weit weg.«

»Und warum kommst du abends dann nicht nach Hause?«

Ferrara ist weniger als eine Zugstunde von Bologna entfernt, doch für mich könnte es ebenso gut auf dem Mond liegen. Als ich klein war, sind wir noch ab und zu hingefahren, auf den Friedhof, aber inzwischen war ich seit zwanzig Jahren nicht mehr dort.

Bis vor drei Tagen hat meine Mutter nie von Ferrara und ihrer Familie gesprochen, ich wusste nur, dass alle tot waren. Ich dachte, die Erinnerung an sie mache sie traurig, darum hörte ich irgendwann auf zu fragen.

»Ich brauche ein bisschen Zeit. Es ist besser, wenn ich über Nacht bleibe.«

Jetzt ist er vollständig wach. Er schwingt die Beine aus dem Bett und sagt: »Ich bin gleich zurück, dann erzählst du mir alles.«

Während er im Bad ist, öffne ich Vorhänge und Fensterläden.

Unser Schlafzimmer geht hinaus auf einen Balkon, und durch die Glasscheiben flutet die Sonne herein. Es ist Anfang März, draußen ist es noch kalt, und die Pflanzen in ihren Kübeln sind steif gefroren. Ich ziehe mir eine Strickjacke über das Nachthemd und spüre, wie Ada sich bewegt. Gestern hat die Ärztin gesagt, sie sei jetzt so groß wie eine Banane. »Eine ziemlich dicke Banane«, präzisierte sie.

Ich schlüpfe wieder unter die Decke, mir ist kalt. Ich rede gerne im Bett, es ist, als wäre man auf einer Wolke, oder in einem Boot, in einer Freizone. Mir fällt ein Gedicht von Stevenson ein, in dem es heißt: »Mein Bett ist wie ein kleines Boot« … Ob Ada einmal gerne lesen wird? Als Kind verschlang ich ein Buch pro Tag, bis Alma sagte, ich solle das lassen, ich solle lieber hinausgehen zum Spielen, das sei ja zwanghaft. Ich wusste nicht, was das bedeutete, »zwanghaft«, das stand nicht in meinen Büchern. Es war mir ein Rätsel, warum ich als Einzige in meiner Klasse Ärger bekam, weil ich zu viel las.

Jetzt, da sie mir von ihrem Bruder erzählt hat, verstehe ich, woher ihre Angst vor Abhängigkeiten kommt.

Leo ist wieder zurück. Er trägt seinen himmelblauen Popeline-Schlafanzug, wie ein Opa. Nicht mal mein Vater, der dreißig Jahre älter ist als er, besitzt so einen Pyjama.

Leo ist älter als ich, er war schon einmal verheiratet, aber er hat keine Kinder. Als wir uns kennenlernten, ließ er sich gerade von seiner Frau Cristina scheiden.

»Zum Glück nimmst du ihn, es täte mir leid, wenn er allein bleiben würde«, sagte sie mir bei unserem ersten Treffen. Cristina ist Richterin, eine resolute Person, vielbeschäftigt und intelligent. Sie gefiel mir auf Anhieb.

»Sie kümmert sich nur um ihre Arbeit«, erzählte mir Leo. »Sie wollte keine Familie, ich weiß nicht, warum sie mich überhaupt geheiratet hat.«

»Und du, warum hast du sie geheiratet?«, fragte ich ihn.

»Ich weiß nicht mehr, was ich getan habe, bevor du in mein Leben kamst. Frag mich nicht. Ich habe eben das getan, was alle taten. Du nicht, du bist hier die Besondere von uns beiden.«

Ich liebe Leo, auch wenn er nie Stevenson gelesen hat. Aber das war der Grund für seine Ahnungslosigkeit. Das sagte ich ihm: Wenn man nicht liest, ist man ahnungslos. »Nicht wenn man bei der Polizei arbeitet«, antwortete er. »Bei der Polizei erlebt man alles, was in den Büchern steht, aus nächster Nähe: Liebe, Verrat, Tod.«

»Was ist das für eine Geschichte mit Ferrara?«, fragt er, als er wieder im Bett liegt, sich auf die Seite dreht und mir seine große Hand auf den Bauch legt.

»Es hat etwas mit meiner Mutter zu tun. Soll ich es dir erzählen?«, antworte ich und lege meine Hand auf seine.

»Bitte«, sagt Leo. Er hat seine Brille aufgesetzt und sieht mich neugierig und aufmerksam an, so wie damals vor vier Jahren, als ich sein Büro im Kommissariat betrat. Damals hatte ich gedacht, dass ich nie zuvor einen Mann mit einem solch interessierten Gesichtsausdruck getroffen hatte wie ihn. Normalerweise sehen einen nur Frauen so an.

Alma

Benetti trug Stiefel ohne Absatz und verströmte einen säuerlichen Geruch. Ich hatte den Eindruck, er wisse Dinge, die ich nicht wusste, er zog mich an und stieß mich gleichzeitig ab. Er tauchte nur selten auf, zu den unmöglichsten Zeiten, wenn niemand sonst unterwegs war.

Einmal hatte er sonntags um zwei Uhr nachmittags bei meiner Mutter geklingelt und nach einer Scheibe Zitrone gefragt, und meine Mutter, die Apothekerin war, wusste, wofür er sie brauchte. Sie hatte bedauernd den Kopf geschüttelt.

»Der Arme«, hatte sie gesagt. Sie bat uns nicht, uns von ihm fernzuhalten. Sie vertraute uns.

Ich weiß nicht, was mich an diesem Abend packte. Es war neun Uhr, aber ich erinnere mich, dass es noch nicht dunkel war. Der Marmor des Doms leuchtete weiß zwischen den im Licht der untergehenden Sonne glühenden Häusern. Michela würde nicht mehr kommen, vielleicht musste sie ihren Eltern in der Bar aushelfen.

»Und wenn wir es auch einmal probieren? Nur ein einziges Mal?«, sagte ich plötzlich zu Maio und deutete mit dem Kopf auf Benetti.

Das war mir vorher nie in den Sinn gekommen.

Und ich bin sicher, ihm auch nicht.

Doch er verstand augenblicklich, was ich sagen wollte. Er breitete die Arme aus, hob das Kinn, schielte und sagte: »Sagen Sie mir, wovor Sie weglaufen.«

Wir lachten.

Ich habe immer geglaubt, dass es Geheimnisse gibt, die man niemals lüften darf. Ich habe mit Antonia nie über diese Dinge gesprochen, um sie nicht mit meinem Schmerz zu infizieren.

Nicht einmal Franco, mein Mann, weiß genau, was damals passiert ist. Er weiß, dass mein Vater sich umgebracht hat, aber nicht, unter welchen Umständen. Dass meine Mutter krank wurde und unsere Familie zerbrach, und dass es meine Schuld war.

Er hat sich um mich gekümmert, doch gerettet hat mich Antonia. Ich war zwanzig, als sie zur Welt kam. Jetzt, wo auch sie ein Kind erwartet, war es an der Zeit, ihr alles zu erzählen.

Ich habe ihr nie gesagt, wie ihr Onkel verschwunden ist, auch weil ich es selbst nicht weiß.

Es war Januar. An einem Sonntagmorgen war meine Mutter zu mir ins Zimmer gekommen. Sie hatte sich aufs Bett gesetzt und mir eine Hand auf die Schulter gelegt.

Am Abend zuvor war ich auf einer Party gewesen und hatte mich nicht besonders amüsiert. Um eins hatte ich mich auf den Heimweg gemacht, mit dem Fahrrad, durch einen dichten, feuchten Nebel. Ich hatte vor dem Schlafen Der große Gatsby zu Ende gelesen, um mich über den vergeudeten Abend hinwegzutrösten. Seit ich nicht mehr mit Maio ausging, fand ich alles langweilig.

Um zwei Uhr hatte ich das Licht gelöscht, nachdem ich immer wieder den letzten Satz des Buches gelesen hatte: »So regen wir die Ruder, stemmen uns gegen den Strom – und treiben doch stetig zurück, dem Vergangenen zu.« Dann hatte ich das Buch auf den Boden neben das Bett gelegt, aufgewühlt und traurig. Ich hatte keine Ahnung, dass dieser Satz mein Leben beschrieb, wie es ab dem folgenden Tag sein würde.

Sonntags schliefen Maio und ich lange. Ich machte in diesem Jahr das Abitur und ging nur samstags aus, er dagegen war neuerdings jeden Abend unterwegs und kam erst nach Mitternacht nach Hause. Mein Vater, der sich sonst wegen allem sorgte, schien es nicht zu bemerken. Vielleicht dachte er, das sei normal für einen Jungen in einer Kleinstadt. Meine Mutter ahnte etwas, doch sie schwieg. Sie kümmerte sich vor allem um meinen Vater.

Seine finanziellen Höhen und Tiefen hatten sie gezwungen, die Arbeit in der Apotheke beizubehalten, die sie schon während des Studiums begonnen hatte, damals noch ohne Abschluss, und wenn uns auf Reisen jemand fragte, welchen Beruf sie habe, sagte sie: »Verkäuferin.«

»Francesca, sag ihnen doch, dass du Apothekerin bist!«, ermunterte sie mein Vater.

»Was macht das für einen Unterschied?«, antwortete sie. »Ich verkaufe Bonbons, Binden und Pflaster. Wenn es hochkommt, messe ich mal jemandem den Blutdruck.«

Das war keine Anklage. Sie hatte diese Apotheke gewählt, die wichtigste der Stadt, weil sie dort halbtags arbeiten konnte: Sie hatte zwei Kinder und einen Mann, der wie ein drittes war. Sie liebte ihn. Zu Zeiten meiner Mutter zerbrach man sich nach der Heirat nicht ein Leben lang den Kopf, ob man die richtige Wahl getroffen hatte.

Ich für meinen Teil glaube nicht, dass sie sie getroffen hat.

Mein Vater war ein anstrengender Mann: ängstlich und sprunghaft. Unvorhersehbar in jeder Hinsicht, das einzig Konstante an ihm war sein Pessimismus. Heute weiß ich, dass er ein sehr trauriger Mann war, auch wenn ich das damals nicht verstand. Langsam, teilnahmslos und gedämpft im Winter, im Sommer euphorisch. Anfang November verlosch er, Anfang Mai erblühte er zu neuem Leben. Sein Vater hatte ihm ein Landgut vererbt, das er mehr schlecht als recht verwaltete, obwohl er viel Zeit in diesem Haus am Deich des Po-Flusses verbrachte. Er angelte, ging mit dem Hund spazieren, versuchte sich um die Bewirtschaftung der Felder zu kümmern, obwohl letztlich der Verwalter alle Entscheidungen traf.

Wenn er gutgelaunt war, sagte er, dass der Hanfanbau ihm den Kopf verdreht habe. Dass in seiner Familie alle verrückt seien. Als ich der Psychologin davon erzählte, zu der sie mich schickten, nachdem Maio verschwunden war, wollte sie mir einreden, dass Maios Hang zur Abhängigkeit erblich bedingt gewesen sei und von meinem Vater stamme.

Niemand wird mich je davon überzeugen, dass Maio auch dann mit dem Heroin angefangen hätte, wenn ich ihm an jenem Juniabend nicht vorgeschlagen hätte, es zu versuchen.

Hätte ich diese törichte Idee nicht gehabt, würde mein Bruder noch leben, und meine Eltern wahrscheinlich ebenfalls. Mein Vater senil, meine Mutter vom Leben gezeichnet, aber am Leben. Sie wären aufs Land gezogen, und wir würden sie ab und zu besuchen. Wir würden in der Sonne mittagessen und am Ufer mit dem Hund spazieren. Antonia hätte Großeltern und Cousins gehabt, und ich ein anderes Leben.

Ohne meine Initiative hätte Maio niemals gewagt, sich zu spritzen, da bin ich sicher. Das ist keine fixe Idee, sondern eine Gewissheit. Er traf nie Entscheidungen, er folgte mir in allem, er vertraute mir. Alle vertrauten mir.

Ich habe alles kaputt gemacht, und ich verdiene jeden Augenblick in dieser Hölle, in der ich lebe.

An jenem Morgen hatte ich mich umgedreht. Ich hatte die Hand berührt, die meine Wange streichelte. Ich hatte den Ring ertastet, den meine Mutter über dem Ehering trug, ein kleiner Saphir, von Brillanten umsäumt, den ich später Antonia geschenkt habe.

Die eiskalte Hand und der Stein erschreckten mich. Das war nicht mein Vater. Normalerweise kam er uns wecken. Irgendetwas war passiert.

»Was ist los?«

»Hast du Maio gestern Abend gesehen? Es ist neun Uhr, und er ist noch nicht zurück.«

»Ich war bei Laura, du weißt doch, dass er nicht mehr mit uns ausgeht.«

Wir hatten uns auseinandergelebt. Nach seinen endlosen Beschaffungsritualen beschloss er den Abend üblicherweise in einer heruntergekommenen Kneipe, die sich hochtrabend Paul Verlaine nannte.

»Er wird irgendwo eingeschlafen sein«, sagte ich.

Ich sah es genau vor mir. Dicht bis obenhin, könnte er überall zusammengebrochen sein. In einem Auto, in einer öffentlichen Toilette. Er würde stinkend und völlig neben der Spur, oder aber gleichmütig und versöhnlich zurückkommen, je nachdem, wie viel von dem Zeug er in sich hineingepumpt hatte.

»Ja, das glaube ich auch. Papa habe ich gesagt, dass er auswärts übernachten wollte, damit er sich nicht aufregt.«

»Und warum hast du mich dann geweckt?«

Es war ungewöhnlich, dass meine Mutter etwas ohne guten Grund tat, sie war kein impulsiver Mensch.

»Ich habe gerade so eine Geschichte im Radio gehört. Heute Nacht …«, begann sie. Dann stockte sie und nahm meine Hand.

»Sag schon.«

Ich hatte mich im Bett aufgesetzt und die Nachttischlampe eingeschaltet. Mama trug über ihrem Nachthemd eine Jacke aus weißer Wolle mit Perlenknöpfen. Sie war immer elegant, selbst wenn sie gerade erst aufgestanden war. Ich mochte diese Jacke, sie hatte sie selbst gehäkelt.

Ich schämte mich meiner Kleider, die ich am Vorabend auf den Stuhl geworfen hatte, die Unterhose steckte noch in der Hose, die Socken lagen auf dem Boden, daneben das Buch, das ich vor dem Einschlafen gelesen hatte, die Luft im Zimmer war verbraucht. Ich wollte die Fenster öffnen, aufräumen, alles in Ordnung bringen. Ich wollte nicht wissen, was im Radio gesagt worden war.

»Heute Nacht sind zwei Jungen an einer Überdosis gestorben, man hat sie in der Nähe von Pontelagoscuro gefunden, in einem Auto.« Sie drückte meine Hand.

Ich spürte in meinem Magen etwas vibrieren. Ein tiefer, unheilvoller Ton.

»Haben sie die Namen gesagt?«

»Renato Orsatti und Sandro Putinati, beide zwanzig Jahre alt. Kennst du sie?«

»Nie gehört.«

»Sie kamen von außerhalb, Massa Fiscaglia. Die armen Jungen.«

Die Tatsache, dass sie aus einem Dorf außerhalb von Ferrara stammten, beruhigte mich, sie hatten also nichts mit Maio zu tun.

Meine Mutter dagegen hatte die richtigen Schlüsse gezogen. Zwei Tote durch Überdosis bedeuteten, dass zu reines Heroin im Umlauf war. In den folgenden Monaten, als Maios Freunde und die Dealer der Gegend befragt wurden, kam heraus, dass viele Abhängige in dieser Samstagnacht eine besonders schöne Reise unternommen hatten.

Alle waren davon zurückgekehrt, alle außer Renato und Sandro. Und Maio.

Maio war verschwunden.

Antonia

Leos Hand ist warm. Ich liebe seine großen Hände und die kräftigen, hellen, sommersprossigen Handgelenke. An dem Tag, als wir uns kennenlernten, beobachtete ich, während er mir geduldig den Verlauf einer Mordermittlung beschrieb, die ganze Zeit diese Handgelenke, die da aus den Ärmeln eines blassen hellblauen Hemdes hervorsahen, dessen Farbe identisch mit der seiner Augen war. Dieselbe Farbe hat auch der Opa-Schlafanzug, den er heute Morgen trug, obwohl er gerade einmal vierzig Jahre alt ist. Er sieht älter aus, vielleicht weil er ein kleines Bäuchlein hat, dazu eine Brille und eine seltsame Glatze, wie ein Mönch: eine Tonsur groß wie eine Teetasse inmitten dichter kupferroter Haare, die nur von wenigen weißen Fäden durchzogen sind.

Seine Handgelenke waren es, die mir gesagt haben, was für ein Mensch Leo ist. Ich habe mich in seine Handgelenke verliebt.

»Erinnerst du dich, dass ich Mittwoch bei meiner Mutter gegessen habe? Sie war ganz aufgeregt. Ich dachte, sie hätte Fieber, so seltsam war sie. Franco war zum Abendessen beim Rektor, wir waren also allein. Beim Tischdecken kündigte sie an, dass sie mir etwas Wichtiges zu sagen habe. Sie meinte, ich solle mich setzen, und goss sich Wein ein, dabei trinkt sie sonst nie. Und dann hat sie mir eine unglaubliche Geschichte erzählt.«

Jetzt ist Leo völlig konzentriert. Er hat aufgehört, meinen Bauch zu streicheln, und die Arme auf der Brust verschränkt, als säße er nicht im Bett, sondern in seinem Armstuhl am Schreibtisch im Kommissariat.

»Ich fasse kurz zusammen, was sie gesagt hat, ich kann es unmöglich nacherzählen. Es geht um ihren Bruder, du weißt schon …«

»Welchen Bruder?«

»Ich habe dir doch erzählt, dass sie einen Bruder hatte. Marco. Er war ein Jahr jünger als sie. Ich dachte, er wäre an einer Krankheit gestorben, sie hat nie mit mir über ihn gesprochen.«

»Und, ist er nicht?«

»Er ist kurz vor seinem siebzehnten Geburtstag verschwunden. Man hat ihn für tot erklärt, doch die Leiche wurde nie gefunden.«

Leo löst die Verschränkung seiner Arme und nimmt die Brille ab, wie immer, wenn er sich auf etwas keinen Reim machen kann. Er beugt sich näher zu mir.

»Wie ist das möglich?«

»Verstehst du jetzt, warum ich da hinmuss? Es ist eine absurde Geschichte. Und meine Mutter ist überzeugt, dass alles ihre Schuld war.«

»Ihre Schuld?«, fragt Leo mit fragendem Blick.

»Sie hat gesagt, sie habe ihm eines Abends vorgeschlagen, einmal zusammen Heroin zu probieren, danach hat er begonnen zu fixen, und eines Nachts ist er dann verschwunden.«

»Deine Mutter und Drogen? Was ist das denn für eine Geschichte?«

Er hat sich die Brille wieder aufgesetzt und sieht mich an, als wolle ich ihn auf den Arm nehmen.

»Jetzt spiel doch nicht den Moralapostel, das war Ende der Siebziger, die beiden waren noch jung, sie wollten es nur einmal ausprobieren. Sie hat das Zeug danach nie wieder angerührt, er hat weitergemacht. In der Nacht, in der er verschwand, sind zwei andere an einer Überdosis gestorben, darum nahm man an, auch er wäre gestorben, und dass er mit irgendjemandem zusammen war, der die Leiche hat verschwinden lassen, um keine Scherereien zu haben. Sechs Monate später hat mein Großvater sich umgebracht. Und meine Großmutter hat Krebs bekommen.« Das alles bringe ich in einem einzigen Atemzug heraus.

»Verfluchte Scheiße!«

»Das kannst du laut sagen!«

»Erzählst du mir da gerade, dass dein Onkel vor vierunddreißig Jahren spurlos verschwunden ist?«

»So ungefähr, ja.«

»Und was hast du jetzt vor?«

»Hinfahren und mit den Leuten reden, die sie kannten. Mir einen Eindruck verschaffen.«

»Warum?«

»Um meiner Mutter zu helfen. Sie ist bis heute überzeugt, dass alles ihre Schuld war, nach all der Zeit, kannst du dir das vorstellen? Und auch meinetwegen.«

»Das ist aber doch nicht einer deiner Krimis, Liebling. Abgesehen von der Tatsache, dass du schwanger bist, wird auch niemand etwas Interessantes über eine Geschichte zu sagen haben, die so viele Jahre her ist. Die Polizei wird doch ermittelt haben, was glaubst du, was man heute herausfinden kann, das man damals nicht entdeckt hätte?«

»Du sagst doch selbst, dass ihr manchmal schlecht arbeitet, dass jemand von außerhalb sich nicht vorstellen kann, wie schlampig manche Ermittlungen geführt werden, verschwundene Beweismittel, halbherzige Untersuchungen …«

»Du spinnst, das habe ich nie gesagt …« Er verstummt, weil er weiß, dass ich recht habe.

»Antonia …?«

»Ja, mein Schatz?«

»Ich liebe dich …«

»Ich liebe dich auch.«

»Kann ich dir helfen?«

»Du kannst deinem Kollegen in Ferrara sagen, dass ich ihn besuchen werde. Werden Ermittlungsakten aufbewahrt?«

»Manchmal, je nachdem. Ich kann ihn bitten, etwas zusammenzusuchen. Gib mir die Daten, wann Marco verschwunden ist. Wenn sie nicht umgezogen sind, wenn die Akte nicht verlorengegangen ist … Diejenigen, die damals die Ermittlungen geleitet haben, werden inzwischen tot sein.«

»Vielleicht auch nicht. Vielleicht sind sie nur in Pension.«

»Vielleicht. Soll nicht lieber ich mich darum kümmern? Für mich wäre es ein Leichtes.«

»Ich würde es lieber selbst machen. Selbst hinfahren. Ich muss diese Geschichte verstehen. Ein drogenabhängiger Onkel, ein Großvater, der Selbstmord begangen hat … Ich habe sie zwar nie kennengelernt, aber trotzdem.«

»Dass deine Mutter dir so eine Geschichte ausgerechnet jetzt erzählt, wo du ein Kind erwartest …« Leo sieht bekümmert aus.

»Sie sagt, dass sie es genau darum getan hat. Weil schwangere Frauen unverwundbar sind.«

»Dann wird das wohl stimmen.«

Leo seufzt. Er vergöttert meine Mutter. Um mich zu necken, behauptet er manchmal, sie sei viel hübscher als ich, und dass er sich vielleicht statt in mich in sie verliebt habe. Es stimmt, meine Mutter ist schön, das war sie immer, obwohl sie sich dessen nicht bewusst ist.

Alma ist ein seltsamer Mensch. Sie wirkt unsicher, aber in Wirklichkeit ist sie sehr stark. Sie ist unvorhersehbar und widersprüchlich. Sie muss immer alle Entscheidungen treffen. Sie ist so sensibel, dass man sie unmöglich nicht gernhaben kann, obwohl sie selbst überzeugt ist, unerträglich zu sein, und es tatsächlich oft ist. Als Jugendliche war es schwer für mich, mit ihr auszukommen. Immer wirkte sie wie das Kind von uns beiden, und manchmal ist das heute noch so.

»Wie lange willst du in Ferrara bleiben?«

»Höchstens eine Woche. Am Montag habe ich den nächsten Vorsorgetermin. Ich will auch versuchen, mit ihren damaligen Freunden zu sprechen, nicht nur mit der Polizei. Ich muss das tun, bevor Ada auf der Welt ist. Ich habe nie etwas über die Familie meiner Mutter erfahren. Jetzt weiß ich auch, warum.«

»Hast du ihr etwas davon gesagt?«

»Ich kann nicht. Es würde sie zu sehr mitnehmen. Und du musst mich decken, ja? Man kann über diese Sache mit ihr nicht vernünftig reden. Du hast ja keine Ahnung … Sie ist überzeugt, ihre Familie zerstört zu haben!«

»Und dein Vater?«

»Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen. Morgen sehe ich ihn, ich muss ihn einiges fragen. Alma ist in Rom wegen der Ghirri-Ausstellung, und ich habe ihn gebeten, mit mir zusammen mittagzuessen.«

»Und was sagt Doktor Marchetti dazu?«

»Dass es mir gut geht, und dass es davon abgesehen auch in Ferrara eine hervorragende Geburtshilfe gibt.«

»Hat sie das wirklich gesagt?«

»Nein, Schatz. Glaubst du, ich erzähle meiner Gynäkologin davon? Aber es geht mir wirklich gut. Deine Mutter hat mir gesagt, dass sie noch bis einen Tag vor deiner Geburt gearbeitet hat, und schau, wie gut du gelungen bist.«

»Aber wenn meine Mutter nicht … Na gut, Toni, tu, was du nicht lassen kannst. Das tust du ja sowieso.«

»Sonntag bin ich zurück. Spätestens. Mach dir keine Sorgen.«

Alma

Benetti führte uns zu jemandem nachhause, der das Zeug verkaufte. Es war ein älterer Typ mit Koteletten, den ich noch nie gesehen hatte. Er wirkte nicht wie ein Junkie, und er wollte kein Geld von uns nehmen. Wir dachten, wir hätten Glück gehabt. Die Sache schien ihm Spaß zu machen, er war nett zu uns. Er setzte uns die Spritze, und es war, als hätte er uns eine plötzliche, heftige Betrunkenheit in die Vene verabreicht. Wir kotzten die ganze Nacht und den folgenden Tag, und als wir, grün im Gesicht, erwachten, war es schon spät.

Schweigend eilten wir mit den Fahrrädern zur Schule, um die Zeugnisse abzuholen. Maio musste, wie wir bereits wussten, im September zur Nachprüfung in Latein. Ich war versetzt worden, mit einem Durchschnitt von acht von zehn Punkten, besser als erwartet. Wir waren weder froh noch enttäuscht, nur leer und erschöpft, so als hätten wir aus Unachtsamkeit etwas Wertvolles verloren, schämten uns aber und wollten es nicht zugeben.

Im Bus, der uns hinaus aufs Land brachte, sagten wir nur »Nie wieder«, ohne uns in die Augen zu schauen.

Ich hielt mich daran. Ich hörte sogar auf, Joints zu rauchen, so schlecht war es mir gegangen. Maio dagegen probierte es nach den Ferien noch einmal. Ohne mir etwas zu sagen, besorgte er sich eines Abends den Stoff. Etwas hatte ihn gepackt, das Gift hatte seine Wirkung gezeigt. Wer weiß, wie diese Dinge funktionieren, es ist rätselhaft. Ich war offenbar im Besitz des Gegenmittels, und er nicht.

Einen Monat lang machte er es einmal in der Woche, jeden Samstagabend. Das wusste ich von Michela.

Ich wollte es nicht glauben. Ich konnte es nicht glauben. Es machte mir Angst, aber vor allem war ich wütend. Ich versuchte mit ihm zu reden, doch er spielte die Sache herunter, es sei nichts Besonderes, ich solle mir keine Sorgen machen. Dann begann er, sich jeden Tag zu spritzen. Meine Mutter bemerkte es. Sie besorgte ihm Methadon. Sie bewahrte einen klaren Kopf. Absurderweise verschlimmerte sich die Situation durch die Tatsache, dass ihr die Angelegenheit in gewisser Weise vertraut war wegen der Jungs, die in der Apotheke ihre Spritzen kauften. Sie war nicht verstört, sie machte kein Drama daraus. Aber Maio nahm morgens das Methadon, und am Nachmittag setzte er sich einen Schuss. So wurde er noch schneller abhängig.

Wir wussten nicht, wie wir es meinem Vater sagen sollten. Er glaubte, Maio sei erschöpft von der Schule. Ich lernte für das Abitur, ging mit meinen Klassenkameraden aus, doch irgendetwas hatte sich verändert. Wenn ein ernstes Problem in einer Familie Einzug hält, ist das wie eine Stille, wie eine Leere, die im Magen wühlt, ein ständiges Unwohlsein.

Ich war böse auf ihn, meine Eltern, auf alle. Es war ungerecht. Ich hatte doch nur einen Scherz machen wollen, an diesem Frühsommerabend. Ich war erst siebzehn. Es war doch nur eine Schnapsidee, wie damals, als wir uns in den Bergen mit Grappa betranken. Das konnte er mir nicht antun, wenn er mich gernhatte. Es war einfach nicht fair. Meine Mutter sagte, er würde wieder gesund, sie hatte schon viele solche Fälle gesehen. Sie schickte ihn zu einem Psychologen, aber kaum kam er aus der Sitzung, verschwand er, um sich einen Schuss zu setzen. »Dieser Idiot schafft es, dass es mir noch schlechter geht«, sagte er einmal zu mir.

Er hatte sich verändert. Wenn er drauf war, schwatzte er unaufhörlich, plapperte Banalitäten, verzapfte Unsinn, und wenn er nicht drauf war, blieb er stumm, mit aufgerissenen Augen. Ich glaube, um sich Stoff kaufen zu können, verkaufte er auch. Sofort nach dem Mittagessen verließ er das Haus, um zwei Uhr nachmittags, und kam erst um acht Uhr abends zurück. Er lernte nicht mehr, und oft schwänzte er die Schule. Ich war so wütend, dass ich nicht mit ihm sprechen konnte. Ich erkannte ihn nicht mehr. Ich ertrug ihn nicht. Ich ertrug seinen Verrat und meine Schuldgefühle nicht.

Eines Abends gab es Scaloppine mit Marsala-Sauce. Mein Vater hatte zweimal nachgefasst, dann hatte er Maios unangetasteten Teller gesehen und gesagt: »Isst du nicht? Hast du keinen Hunger? Du magst doch Schnitzel so gerne.«

Ich hielt es nicht mehr aus. Ich explodierte: »Papa, er isst seit Monaten nichts! Wie kann es sein, dass du das nicht bemerkst?«

Mein Vater sah erst mich an, dann ihn, dann meine Mutter.

»Was ist los, Maio? Bist du krank? Francesca, sag schon.«

Und Mama rückte endlich heraus: »Giacomo … Maio hat ein Suchtproblem, aber das kriegen wir schon wieder hin. Ich bin auf der Suche nach einer Klinik.«

Maio versuchte zu lächeln. Er sagte: »Entschuldigt, tut mir leid. Es ist gar nicht so schlimm, ich habe nur einfach keinen Hunger.«

Er kratzte sich. Er stank nach altem Schweiß und Rauch. Er war drauf, und ich wusste, dass es ihm leidtat, aber nicht so sehr wie mir.

Ihm bedeutete niemand mehr etwas.

Mein Vater stand auf und ging zu ihm, um ihn von hinten zu umarmen. Maio blieb sitzen, mit steifem Rücken und unbewegtem Gesicht.

Mein Vater weinte und drückte ihn. »Entschuldigt«, sagte auch er.

Dann ging er aus dem Raum und legte sich im Schlafzimmer aufs Bett.

Ich verstand nicht, wofür wir ihn entschuldigen sollten, aber ich hasste ihn, ich hasste sie alle. Meine Mutter, die keine Entscheidung traf, und meinen Vater für seine Schwäche. Warum wurden sie nicht wütend? Es gab niemanden, der uns beschützte. Der mich beschützte.

Es war das letzte Mal, dass wir vier zusammen waren.

Ich weiß nicht, worüber meine Eltern an diesem Abend sprachen, aber bis spät in die Nacht drang Licht unter ihrem Türspalt hindurch. Ich stellte mir vor, wie meine Mutter meinen Vater tröstete.

Der nächste Tag war ein Samstag, ich ging zur Schule, meine Mutter in die Apotheke, mein Vater zu einem Termin mit der Agrargenossenschaft. Maio schlief bis mittags. Die Putzfrau sagte, er habe nach dem Aufstehen Kekse und Tee gefrühstückt. Dann war er zu Fuß fortgegangen. Und wir haben ihn nie wiedergesehen.

Antonia

»Hat sie es dir erzählt?«, fragt mein Vater.

Wir haben gerade im Diana, seinem Lieblingsrestaurant in der Via Indipendenza, Platz genommen.

»Ja. Wusstest du davon?«

»Seit du schwanger bist, hatte sie den Plan gefasst. Sie hat immer gemeint, dass sie es dir erst dann würde erzählen können.«

Der Kellner mit der langen Nase und den grauen Haaren bringt uns einen Teller mit aufgehobelten Parmesanscheiben und in Würfel geschnittene Mortadella. Er arbeitet hier, seit ich geboren wurde, und er scheint sich überhaupt nicht zu verändern, ein schöner Mann mit sympathischem Lächeln, doch ich weiß nicht, wie er heißt. Ich frage meinen Vater danach.

»Keine Ahnung«, antwortet er. »Warum?«

»Nichts, nur so. Warum konnte Alma mir vorher nichts von ihrem Bruder und dem ganzen Rest erzählen? Wovor hatte sie Angst?«

Ich nenne meine Eltern oft bei ihren Namen: Alma und Franco, wie sie sich untereinander nannten, als ich sprechen lernte. Ich habe das auch bei anderen Einzelkindern bemerkt.

»Vor vielen Dingen. Es ist ja auch nicht ganz ohne, wenn man erfährt, dass sich der eigene Großvater das Leben genommen hat, und der Onkel spurlos verschwunden ist.«

»Und fandst du nicht, dass ich es trotzdem wissen sollte?«

»Ich habe darüber nachgedacht. Aber ich habe ihre Entscheidung respektiert, wie immer.«

»Glaubst du, es war ihre Schuld?«

Er schenkt mir einen Schluck Lambrusco ein.

»Darfst du trinken?«

»Ein halbes Glas schon.«

Er füllt sich den kleinen runden Kelch. Es ist ein lebhafter Wein, angenehm und leicht.

»Natürlich nicht. Das war nichts als Zufall. Alles ist reiner Zufall. Aber es ist unmöglich, sie davon zu überzeugen, denn einen hieb- und stichfesten Beweis dafür wird es nie geben. Es gibt nur eine Sache, die sie vielleicht etwas beruhigen würde.« Ein unmerkliches Lächeln leuchtet in seinen Augen. »Weißt du, was das sein könnte?«, fragt er und sieht mich erwartungsvoll an.

Mein Vater kann einfach nicht aus seiner Haut, er würde selbst inmitten einer Naturkatastrophe noch den Lehrer spielen. »Kannst du mir sagen, welche der Gegenstände um uns herum aus feuerbeständigem Material sind?«, würde er fragen, während um uns herum alles explodiert und die Flammen an uns lecken.

Aber ich habe die Antwort parat.

»Wenn ich herausfinden würde, wie er verschwunden ist.«

Er schaut mich zufrieden an.

»Wirst du es versuchen?«

Der Kellner mit der großen Nase bringt die Tortellini. Er lächelt noch mehr als üblich, und ich spüre, dass er sich gleich nach meiner Schwangerschaft erkundigen wird. Ich habe gesehen, wie sein Blick von meinem Gesicht zu meinem Bauch geglitten ist.

Bevor ich meinem Vater antworte, nehme ich einen Löffel von der heißen, kräftigen Brühe. Sie schmeckt fantastisch. Seit ich schwanger bin, schmecke ich viel intensiver als früher.

»Natürlich versuche ich es.«

Franco legt den Löffel hin und mustert mich wohlwollend.

»Als ich jünger war, hätte ich es selbst gerne getan.«

»Und was hat dich davon abgehalten?«

Er sieht mir tief in die Augen, während er mit dem Zeigefinger und dem Daumen der rechten Hand den Ehering am linken Ringfinger dreht. Es ist ein alter Ring aus Rotgold. Ich weiß, dass der Name meiner Großmutter Francesca eingraviert ist, so wie im Ring meiner Mutter »Giacomo«, der Name meines Großvaters steht. Die Eheringe gehören zu den wenigen Dingen, die meine Mutter von ihrer Familie aufbewahrt hat. Den Verlobungsring meiner Großmutter, einen kleinen, von Brillanten umkränzten Saphir, hat sie mir geschenkt. Ich trage ihn immer, auch in diesem Moment. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, kommt es mir seltsam vor, dass wir nie über die toten Großeltern gesprochen haben, obwohl wir ihre Ringe an den Fingern tragen.

»Wenn ich dir eine unsinnige Antwort darauf gebe, würdest du deinen Vater dann für kindisch halten?«, fragt er und senkt den Blick.

»Wenn ich doch nur einmal eine unsinnige Antwort von dir bekäme!«

Jetzt lächelt er offen.

Meine Eltern sind begeistert von allem, was ich sage, wie damals, als ich vier war und begann, die ersten Wörter auf eine kleine Tafel zu schreiben, die sie mir geschenkt hatten. »Affe.« »Fee.« »Gut gemacht!«

Als Jugendliche beschlich mich irgendwann das Gefühl, dass das Elterndasein ihnen so fernlag, dass sie lernen mussten, eine Rolle zu spielen, möglichst gut und richtig, aber ohne innere Überzeugung. Ich wollte unbedingt von zuhause ausziehen, bevor ich anfing, sie dafür zu hassen.

Franco trocknet sich die bereits trockenen Lippen mit der großen weißen Serviette des Restaurants.

»Ich war sicher, dass nur du es tun könntest, als wäre es eine Aufgabe, die für dich bestimmt war. Das ist eine vollkommen irrationale Überzeugung, aber ich kann nicht sagen, dass ich mich dafür schäme.«

Obwohl er behauptet, sich nicht zu schämen, sind seine Wangen rot geworden. Das wird die Brühe sein oder der Wein.

»Semel in anno licet insanire. Du bist dieses eine Mal im Jahr, wo ich verrückt sein darf. Das warst du schon immer«, sagt er.

Ich will gerade antworten, dass ich die Hoffnung, ich könnte etwas über unsere Familie herausfinden, nicht für allzu verrückt halte, doch der Kellner kommt mir mit seiner Frage zuvor: »Was darf ich als zweiten Gang bringen? Das übliche Grillgemüse? Oder heute mal einen Braten?«

Wie ich mir schon dachte, hat er den Bauch bemerkt, und schon kommen sie, die üblichen Sprüche über Schwangere, die das Doppelte essen. Allerdings muss ich zugeben: Es ist wahr, wenigstens in meinem Fall. Ich esse mehr und bin ziemlich naschhaft.

Franco macht eine Geste, als wolle er sagen: »Für mich nicht, aber mach, was du willst.«

»Ich nehme die gemischte frittierte Platte und eine doppelte Portion Kroketten in Sahnesauce, danke«, antworte ich, in der Gewissheit, dass es den Kellner glücklich macht, wenn ich das gehaltvollste Gericht auf der Speisekarte bestelle. Ich will ihn dafür entschädigen, dass ich ihn seit dreißig Jahren kenne und nicht einmal seinen Namen weiß, auch wenn das nicht an mir liegt, sondern an der krankhaften Diskretion meiner Eltern. Tatsächlich strahlt er und ist nicht mehr zu bremsen: »Wunderbar! Auf die Gesundheit! Und wann ist es so weit? Darf ich dem Professore meine Glückwünsche aussprechen, zu seiner Großelternschaft?«, platzt es aus ihm heraus, und er schaut erwartungsvoll meinen Vater an, der keine Ahnung hat, was er darauf antworten soll, und sich mit einem höflichen Lächeln und einem Kopfnicken begnügt.

Der Professore wird lernen müssen, die Rolle des Großvaters zu spielen.

Alma

Ich denke wieder häufig an die Zeit, als wir Kinder waren. An die Familienreisen im Auto, die Spiele. An die Fledermäuse.

Wenn wir abends im Sommer auf dem Land die Fenster öffneten, bei eingeschaltetem Licht, flog sofort eine Fledermaus herein, das einzige Ereignis, das meine Mutter aus der Fassung brachte. Sie fing an zu schreien: »Giacomooo, Giacomooo, komm schnell, es ist wieder eine drin.«

Mein Vater stürmte in das Zimmer, in dem die Fledermaus blind herumflatterte, er schlug mit dem Besen nach ihr und warf sie schließlich aus dem Fenster. Uns gefiel es, meine Mutter so außer sich zu sehen, und meinen Vater, wie er herbeieilte, wie ein Ritter, der einen Drachen besiegt, und manchmal schalteten wir absichtlich das Licht bei offenem Fenster ein. Am nächsten Morgen suchten wir dann im Hof nach dem Leichnam: Er war so klein, dass wir Mühe hatten, ihn zu finden, eine kleine weiche, behaarte Maus.

Um Buße zu tun für unsere Grausamkeit, hatte ich beschlossen, die gefallenen Fledermäuse unter dem Nussbaum zu begraben, mit einem Ritual aus Kerzen und Feldblumenkränzen.

In diesem Haus hat sich mein Vater umgebracht. In meinem Beisein.

Das heißt, direkt dabei war ich nicht: Ich habe es gehört. Als ich jenes Geräusch vernahm, wusste ich genau, was es bedeutete. Seit Tagen schon fürchtete ich, er würde sich erschießen. Es ist schrecklich, das zu sagen, aber in dem Augenblick war es beinahe eine Erleichterung, dass die Angst, er könnte es tun, ein Ende hatte. Wie ich dafür bezahlt habe, für dieses Gefühl der Erleichterung …