So reich wie der König - Abigail Assor - E-Book

So reich wie der König E-Book

Abigail Assor

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Beschreibung

Sarah, die sechzehnjährige, bildschöne Französin, hat nichts. Driss, der Sohn einer der wohlhabendsten muslimischen Familien hingegen hat alles, ist reich wie der König. Sarah beschließt, ihn zu verführen, ihn zu heiraten. Ihr Weg dahin führt sie durch die Stadt Casablanca, in all ihren Facetten: von den Armenbaracken mit den Prostituierten und Abgeschlagenen, wo Sarah mit ihrer Mutter lebt, bis in die Villenviertel auf den Hügeln, zu den reichen Jugendlichen, die jointsrauchend in üppigen Gärten an Pools sitzen und nachts durch die Clubs der Stadt ziehen – während sich unten, in den Baracken, alle nach einem Ort weit weg sehnen, einem unerreichbaren Ort. Sarah ist entschlossen, diesen Ort zu erreichen, ganz gleich, was sie dafür opfern muss.

So reich wie der König erzählt vom Aufstieg und Fall einer jungen Frau im Casablanca der 1990er Jahre. Von einer pulsierenden Stadt voller Widersprüche und zwei jungen Menschen, für die die Liebe notgedrungen zur Verhandlungsmasse wird. Ein Roman von sinnlicher und poetischer Sprachgewalt, der zwischen Schönheit und Härte changiert.

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Seitenzahl: 271

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Titel

Abigail Assor

So reich wie der König

Roman

Aus dem Französischen von Nicola Denis

Insel Verlag

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Aussi riche que le roi bei Éditions Gallimard, Paris.Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert im Rahmen des Programms »NEUSTART KULTUR« aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

eBook Insel Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2022.

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2022© Éditions Gallimard, Paris, 2021Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlagfoto: Kate Bellm, London

Umschlaggestaltung: Anzinger und Rasp, München

eISBN 978-3-458-77318-4

www.suhrkamp.de

So reich wie der König

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Cover

Titel

Impressum

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Ein halbes Jahr früher

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Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

– 1 –

Ein Junge hatte ihr gesagt, anderswo, ganz weit weg, gebe es Sand, der weich sei wie Samt und weiß wie Wolken, und er hatte von den Muscheln und dem Salzgeschmack gesprochen, und von einer Musik der Wellen; sie hatte ihm nicht geglaubt. Die kleinen Dreckskerle aus Carrières Centrales schwindelten einem immer etwas vor, um einen zu behexen. Hier, unter ihr, war der Sand gelb und grau; er roch nach den Zigaretten, die in ihm ausgedrückt worden waren, und er konnte ihr die Haut schürfen, wenn sie sich an ihm rieb. Das war widerlich, aber so war er eben, der Sand von Casablanca. Wenigstens war es echter Sand.

Seit ungefähr drei Stunden schliefen sie inzwischen schon in der Sonne. Die Sonne von Casablanca enttäuscht einen allerdings nie – jedes Mal ein Ertrinken, sie überzieht und überschwemmt einen, bringt einen restlos zum Schmelzen. Vielleicht würden sie hier alle gemeinsam sterben, so schnell schmolzen sie, irgendwann würden sie ganz verschwinden, der Reihe nach zu klebrigen Fetttröpfchen werden, und wenn ihre Eltern sie suchen und zum Strand 56 kommen würden, wäre nur noch eine riesige Pfütze zu sehen, trübe und grünlich, und sie wüssten nicht, dass die Pfütze ihre geschmolzenen Körper enthielt. Na ja, vielleicht würden die anderen von ihren Eltern nicht einmal gesucht werden, immerhin waren sie schon dreiundzwanzig. Aber ihre Mutter würde sie suchen, mit Sicherheit.

Sie wusste nicht mehr, wo die Körper anfingen und wo sie aufhörten, wo sich die Grenzen ihrer Haut befanden; da waren die warmen, schnarchenden Beine und all die Sandkörner, ein Zipfel des rauen Handtuchs und ihre Nase irgendwo in einer Armbeuge. Sie dösen vor sich hin, und die Fußbälle, die auf das Wasser prallen und alle nass spritzen, das Geschrei der Straßenkinder, die dahinter auf der Avenue heulenden Autohupen ändern daran nichts – das sind die Geräusche des Lebens, sie erinnern uns daran, dass wir nicht tot sind, sagte Yaya immer.

Schließlich machten sie sich vorsichtig voneinander los. Aus der unförmigen Masse lösten sich die Körper nacheinander wie einzelne Fäden; wie ein Tanz, ein moderner Tanz aus Frankreich – kein Tanz von hier. Die Jungen hatten ihre Arme um die Beine geschlungen, die Mädchen hatten sich auf den Bauch gelegt und die Beine angewinkelt, um sich wie Lolitas zu fühlen. Sarah aber wollte so etwas Albernes nicht mitmachen. Sie setzte sich zu den Jungs. Sie unterhielten sich ein bisschen, tranken Wasser von Sidi Ali und sagten: Sidi Ali schmeckt aber säuerlich. Yaya warf Steine in den Atlantik, er sagte, eines Tages würde er unfreiwillig eine Möwe töten, daran wäre dann aber die Möwe schuld, denn sie müsse eigentlich wissen, dass Yaya jeden Tag genau an dieser Stelle Steine in den Atlantik warf. Recht hat er, dachte Sarah. Ärgerlich war, dass Driss sie nicht anschaute. Er verhielt sich genauso wie vor einem halben Jahr, dieser Dreckskerl, wie damals, als diese schmutzige Geschichte noch gar nicht angefangen hatte. Dabei schauten sie alle Jungs, sogar die verärgertsten, immer noch an; sogar nach ihren schlimmsten Lügen schauten sie sie weiterhin an. Als der Typ aus dem La Notte erfahren hatte, dass sie erst sechzehn war, hatte er sie weiterhin angeschaut – noch mehr sogar. Driss aber mit seinem Heft, in dem er irgendwelchen Blödsinn notierte, schmiss mit Sand um sich und tat so, als wäre sie Luft. Sonderlich gut sah er ohnehin nicht aus. Eher hässlich sogar.

»Mann, hört der endlich auf, der kleine Scheißer da?«

Das kam von Chirine, die noch auf dem Bauch lag, wie eine amerikanische Schauspielerin. Ein Straßenjunge versuchte, ihr einzelne Zigaretten zu verkaufen oder Flash-Wondermint-Kaugummi. Manchmal wurden sie aufdringlich, diese Straßenjungen. Sie bettelten: Flash Wondermint, bitte, Madame, Flash Wondermint, bitte. Sie sprachen extra Französisch, das wirkte wohlerzogen.

»Was ist denn, Chirine?«, fragte Alain.

»Der kleine Scheißer fragt mich jetzt schon zum zehnten Mal.«

»Nervt er dich?«

»Ja, ganze zehn Mal!«

Also stand Alain auf, das machte er gut, und ging zu dem Kleinen. Er war noch nicht einmal vierzehn, klapperdürr, mit Flecken auf der braunen Haut.

»Wie heißt du, Kleiner?«, fragte Alain auf Arabisch.

»Abdellah.«

»Abdellah. Abdellah, meine Freundin hat dich schon zehn Mal gebeten, wegzugehen. Du lässt uns jetzt in Ruhe, verstanden?«

»Aber, Monsieur, nur eine Zigarette, Monsieur, nur eine, bitte.«

»Siehst du, wie penetrant er ist«, stieß Chirine auf Französisch hervor.

»Dann ein Kaugummi, Monsieur, bitte.«

Alain gab dem Jungen einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken und versuchte ihn zum Gehen zu bewegen, indem er auf die Straße deutete. Aber der Junge ging nicht. Er hatte seine durchlöcherten Turnschuhe in den Sand gestemmt, unnachgiebig, wie ein Krieger, kampfeslustig. Immer noch sagte er mit flehentlicher Stimme: eine Zigarette, bitte, Monsieur, eine Zigarette; in seinen Augen aber war nichts Flehentliches. In seinen Augen war der Kampf.

»Lass schon, ignorier ihn einfach«, sagte Chirine, ohne ihren Satz beenden zu können: Ein schnelles, aggressives Geschoss sauste durch die Luft und traf den Kleinen am Arm; er bekam Angst und rannte los. Es war Badr. Er hatte seinen Schuh nach ihm geworfen. »Den wären wir los«, sagte er.

Sie überließen sich wieder ihrer Trägheit, ihrer schwitzenden Haut, dicht an dicht. Sie schliefen noch ein bisschen, und sie lachten. Ein paar Stunden später, als die Sonne tiefer stand, machten sie sich auf den Heimweg. Sarah schlüpfte in ihr Kleid und in ihre Badeschuhe, und sie gingen alle auf die große Avenue zu, wo die Motoren heulten und die Maishändler. Sie küssten sich zum Abschied, und als sie an der Reihe war, Driss zu küssen, bemühte sie sich um einen besonders langsamen Kuss auf seine Wange, der etwas bedeuten, der ihm auf die Sprünge helfen sollte. Das funktionierte nicht. Kaum hatte sie ihre Lippen gelöst, wandte er sich wortlos und mit gesenktem Blick dem Boulevard zu und ging zum Parkplatz von McDonald’s. Dort stand sein Motorrad.

Auch die anderen brachen auf, alle in verschiedene Himmelsrichtungen. Sarah tat so, als würde sie nach Norden gehen, Richtung Anfa Supérieur, dort, wo die schönen Villen schlummerten, doch bald schon schlug sie den Weg Richtung Osten ein, nach Hay Mohammadi. Sie lief fast eine Stunde lang, und als sie das Haus erreichte, war es stockdunkel.

Es war eine verfallene Ansammlung aus Ziegelsteinen, warmes Wasser hatte es nie gegeben. Da die Fenster weder Läden noch Vorhänge hatten, sah sie von draußen, dass die Glühbirnen ausgeschaltet waren und ihre Mutter noch nicht zuhause war. Etwas weiter rechts lag das Barackenviertel, das sich hinter einem verrosteten Zaun ausdehnte – die Baracken dort bestanden aus alten, flachgedrückten Benzinkanistern, sodass man überall die Namen und Farben der Tankstellen sah, Afriquia, Mobil, Total. Wenigstens, dachte Sarah, gab es bei ihr Ziegelsteine, das war, trotz der Feuchtigkeit und auch wenn es nicht die tollsten Ziegelsteine waren, gar nicht übel; ihre Mutter sagte immer, solange man nicht hinter dem Zaun ist, ist man eben nicht hinter dem Zaun. Gerade wollte sie die Tür aufmachen, als sie die Stimme hörte – sie hatte gewusst, dass er da sein würde, der kleine Dreckskerl.

»Sarah! Sarah!« Ohne sich umzudrehen, sagte sie auf Arabisch zu ihm: »Tut mir leid, aber das hast du echt verdient.« Sie hörte ein leises Lachen. Auf der anderen Seite des Zauns balancierte Abdellah wie ein Affe auf dem Eisendraht. »Glaubst du, du bist was Besseres, Lalla Sarah, weil du mit den Reichen rumhängst?«

Diese Geschichte mit den Reichen tischte er ihr immer wieder auf. Er musste lachen, wenn er sie Lalla nannte, weil das ein Adelstitel war und er meinte, dass sie sich für eine Königin hielt. Doch eines Tages, das wusste sie, würde man sie wirklich Lalla nennen, und der kleine Araber wäre immer noch in seinem Barackenviertel.

»Natürlich bin ich besser als ihr. Ich bin nämlich Französin. Wir sind nicht vom gleichen Schlag, du Idiot.«

Als sie ihm das im Hineingehen an den Kopf warf, konnte sie noch deutlich hören, wie Abdellah zischte: »Wir sind ganz genau vom gleichen Schlag.«

– 2 –

Ein halbes Jahr früher

Es war eine Masche von Driss, die Mädchen nicht anzuschauen. Schon als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, Anfang des Jahres 1994, waren seine Augen über sie hinweggeglitten. Als wäre sie ein Luftzug – nichts an Driss kam ihr entgegen. Plötzlich war sie wieder das kleine Mädchen im Lynx, dem Kino in der Avenue Mers Sultan, in das sie sich oft hineinschlich, schlangengleich. Dann versenkte sie sich vollständig in die stürmischen Pupillen der ägyptischen Stars; und die schönen Augen Kairos, die sie doch von der Leinwand anstarrten, gaben ihr nichts zurück. Auch sie glitten über sie hinweg.

An diesem Tag, ein halbes Jahr vor dem Strand 56 und dem ganzen Rummel, war sie gerade mit Kamil im Campus, dem Café gegenüber vom Gebäude K des Gymnasiums, in das die hübschen Mädchen und die Lederwestenjungen gingen – dem für die Bessergestellten. Ein paar Meter davon lag auch das Billard-Café, in das sie manchmal ging. Dort konnte man rauchen, was man wollte, und die Sandwiches mit Thunfisch und Tomatensauce mitbringen, für die man bei Moustache, dem Alten aus dem Lebensmittelladen in der Straße nebenan, anschreiben ließ. Kamil hätte sie allerdings nie gestanden, dass sie schon einmal im Billard-Café gewesen war. Er hatte ihr die Tür aufgehalten, als sie hineingegangen waren, und sie hatte gehört, dass er mit seinem Vater in der Telekommunikationsbranche arbeitete. Das sagte schon alles.

Kamil war nicht hässlich, schön aber auch nicht, was ihr sympathisch war. Manchmal dachte sie, dass er ein bisschen angab mit seinem Auto und seinem Haus in einem der schicken Stadtviertel, wohin alle abends Kartenspielen gingen; aber Jungs von seiner Sorte gab es wirklich schlimmere. Hinter seinem schwarzen Kaffee und dem Bananasplit schaute er sie an. Er wirkte so verblüfft, dass ihm jeder ihrer Gesichtszüge einzeln entgegenfieberte. Er sah und mochte die lange, gerade Nase, ebenso die braune Haut und die Prinzessinnenaugen, die sich bis zu ihren Schläfen zogen. Er mochte alles, wollte alles besitzen. Also nahm er sie jetzt schon zum dritten Mal mit ins Café. Sarah hatte im vergangenen Jahr eine Technik gelernt: abzuwarten, bevor sie sich auszog. Das funktionierte gut. Idiotisch, diese Jungs, die einem dafür wochenlang einen Kaffee nach dem nächsten zahlten. Manchmal sogar noch danach, wenn sie sich für verliebt hielten. Kamil war der Schlimmste, er hatte sie noch nicht einmal geküsst; das fand sie schon ziemlich nett.

Er redete viel. Er sagte: Meine Villa in Dar Bouazza hat fünf Schlafzimmer und sechs Badezimmer, ich nehme dich mit, weißt du, na ja, wenn du willst. Er sagte: In Casa hat man es wirklich gut, aber was ich gern einmal sehen würde, das ist Amerika, auf der anderen Seite des Atlantiks. Ist dir klar, dass, wenn wir am Strand 56 sind, am anderen Ende des Ozeans tatsächlich Amerika liegt? Wenn ich gehe, nehme ich dich mit, warum lachst du denn, ich meine es ernst, wirklich.

Doch Sarah lachte. Sie zweifelte nicht, dass es ihm mit seiner Begeisterung ernst war. Sie lachte, weil er ihr plötzlich wunderschön vorkam, und sie selbst sich noch schöner mit ihm, dort drüben, auf der anderen Seite des Wassers. Sie würde einen großen, grünen Hut tragen, und er einen Schnurrbart, und so würden sie wie richtige Herrschaften in einem Hafen durch die Menge schreiten, die sich an den Schiffen drängte. Überdreht und nervös lachte sie über diese amerikanischen Schönheiten, denn sie waren verboten, so schön waren sie. Kamil unterbrach sich angesichts der kleinen Spötterin, aber Sarah bettelte: Nein, rede weiter.

Als er von der feuchten Schwüle in einem New Yorker Kabarett erzählte, hielt er auf einmal inne: »Hey, Kumpel!« Er hatte hinter Sarah jemanden entdeckt; sie wandte sich um. Im Türrahmen setzte ein junger Mann seinen Helm ab; er hatte kurze Beine und einen schwabbeligen Bauch. Bei Kamils Worten lächelte er, seine kleinen, von dem dicken Zahnfleisch verdrängten Nagezähne kamen zum Vorschein, und das dicke Zahnfleisch wölbte sich unter dem Schatten seiner Hakennase, die zum Boden zeigte. Wirklich hässlich, keine Frage. Driss kam auf sie zu.

»Lang ist’s her, Driss! Du schuftest wohl wie ein Verrückter für deinen Vater?«

»Ja, ziemlich … ziemlich, und du?«

Kamil plauderte wieder über die Telekommunikationsbranche und über Amerika; da sah Sarah plötzlich diese Augen. Sie waren winzig, aber grün, aus einem unbequemen Grün, einem Grün von draußen, einem Grün der Natur, dem Grün der Thymianblätter im Hohen Atlas, das in niemandes Augen etwas zu suchen hatte – und dieses Grün glitt über sie hinweg. Driss sah sie nicht an.

Mit seinem watscheligen Gang, der seinen Bauch schlackern ließ, machte er schon wieder Richtung Motorrad kehrt, als Kamil ihr zuraunte: »Dieser Typ ist der Reichste der Reichen. Reicher als wir alle zusammen. Vielleicht so reich wie der König. Aber siehst du, er ist trotzdem schwer in Ordnung.«

So hatte es angefangen: Driss war nämlich reich. Reicher als sie alle und genauso reich wie der König, reicher als Kamil und die Villa in Dar Bouazza. Vielleicht aber auch, weil in seinen winzigen grünen Augen Thymian war und Lorbeer, dessen Blätter sie als Kind so oft in der von Loubna zubereiteten Rindertajine hatte zerkochen sehen. Loubna war das Mädchen ihrer Freundin Séverine, bei der sie im ganzen letzten Grundschuljahr mittwochs immer zum Essen gewesen war. Statt Dienstmädchen sagte Séverine Mädchen – weil sie höflich war und Französin. Und Sarah sagte mit vollem Mund und verschmierten Zähnen: Bei mir zuhause gibt es auch eine Loubna, mit Thymianblättern, Rindfleisch und Oliven, und Tontöpfe, wie bei dir. Auch Gold und Kronen, Diamanten auf dem Boden, und in meiner großen Villa stolpert man über sie, wie hier, genau wie bei dir. Es war nicht schlimm, wenn Séverine ihr nicht glaubte.

Ja, der Thymian hatte in dieser ganzen Geschichte wohl seinen Teil der Verantwortung. Später dachte Sarah, dass sie, wären da nicht die Augen und mit ihnen die Tajine, Séverine und das letzte Grundschuljahr gewesen, nicht so weit gegangen wäre; sie hätte sich einen anderen gesucht, der ebenfalls reich war, vielleicht ein bisschen weniger, aber doch reich genug. Jedenfalls hatte sie nach dieser Begegnung überall die Thymianaugen gesehen. Schon im Café war Kamils Gesicht blasser und größer geworden, hatte sich einmal um sich selbst gedreht, um zu dem von Driss zu werden, mit seiner Hakennase, seinem Zahnfleisch, seinen Nagezähnen und diesen Augen. Und so war es, als hätte sie mit Driss geredet, im Campus bei einem Bananasplit. Als Kamil sie ein paar Tage später ins Kino eingeladen hatte, war es die Hand von Driss gewesen, die sie mit dem Klettverschluss der Brieftasche hantieren sah, und dieselbe Hand, die ihre drückte, als mit Amina Rachid auf der Leinwand geschimpft wurde, weil sie dem Schaflieferanten die Tür geöffnet hatte, während die Ärmel ihrer Djellaba hochgekrempelt waren. Kamil schleckte an einem Wassereis und lachte bei dem Geschrei des Ehemannes – Sogar dem Lieferanten zeigst du dich splitternackt, und wer bin ich, vielleicht das vierte Schaf? –, und wieder war es Driss, den Sarah im Dunkeln lachen hörte. Es war, als hätte sie in der darauffolgenden Woche in der Villa in Dar Bouazza mit Driss Karten gespielt, ja, als hätte sie sich auch mit Driss geliebt und dabei gehofft, dass diese Liebe nicht das Ende für die Kaffees im Campus, für das Kino und für die Villa in Dar Bouazza einläutete. In der neunten Klasse war Sarah immer sofort zur Liebe bereit gewesen, um sich ein Panini ausgeben zu lassen, aber ein paar Tage später spuckten ihr die Typen dann mit ihren Kumpels in den Gängen der Schule ins Gesicht, nannten sie eine Nutte und zahlten ihr nie mehr irgendwas. Auch die Mädchen sagten mit angewidertem Gesicht: Die Französin ist keine Jungfrau mehr, so eine hchouma. Sarah scherte sich nicht darum, weil es noch haufenweise andere gab, reiche Typen in Casa und haufenweise Paninis – aber es war ihr öfter passiert, dass manche nicht einmal mehr das Panini kauften, und das war grauenhaft. Daraus hatte sie gelernt. Seit der zehnten Klasse hatte sie eine neue Zielgruppe: ausschließlich Jungs, die schon älter und nicht mehr auf dem Gymnasium waren, mindestens neunzehn und mit einem Luxuswagen. Bei ihnen spielte sie die schüchterne Verliebte, wie die anderen Mädchen; und wenn sie sich liebten, sagte sie immer, es sei ihr erstes Mal. Das funktionierte besser – nach der Nacht bei sich zuhause hatte Kamil sie nach wie vor vom Gymnasium abgeholt und ihr mittags ein Essen spendiert. In seinem Porsche-Cabrio sagte er, dass er sie liebe, und sie hielt seine Hand – sie roch ein wenig nach Thymian.

Angeblich hatte Driss’ Vater einen Rolls-Royce. Seit ihrer Begegnung ritzte sie mit der Spitze ihres Kugelschreibers seinen Vornamen in die Holztische des Gymnasiums. Zuhause starrte sie aus dem Fenster ins Weite – sie hatte keine Augen für die wehende Wäsche oder die kleinen Jungs, die Klebstoff schnüffelten. Zum tausendsten Mal sah sie, wie sich Driss’ kurze Beine auf das Motorrad schwangen. Reicher als sie alle, so reich wie der König; und auf ihren Lockenkopf setzte sie sich keinen Helm, sondern eine Königinnenkrone, so reich wie die Königin.

– 3 –

Wenn man direkt neben dem Barackenviertel Carrières Centrales wohnte, aber nicht drinnen, hatte das den Vorteil, dass man sich ein Stück weiter im Westen befand, näher an Anfa Supérieur, also auch an Amerika. Obwohl dazwischen nur ein Drahtzaun lag, war man draußen, so als hätte man sich schon fast daraus befreit. Als Sarah sah, wie Abdellah mit fünfzehn Wasserkanistern, die größer waren als er selbst, aus der Innenstadt kam, lief sie schnell in die kleine Küche, spülte eines der beiden Gläser und füllte es mit fließendem Wasser. Dann setzte sie sich betont lässig vor die Tür, schlug die Beine übereinander und tat so, als würde sie sich, das Wasserglas in der Hand, mit geschlossenen Augen sonnen. Keuchend näherte sich Abdellah dem Zaun – mittlerweile schleifte er die Kanister hinter sich her –, und als sie ihn hörte, öffnete Sarah die Augen und zugleich den Mund in ihrem schönsten Überraschungsausruf:

»Oh, hallo Abdellah! Ganz schön heiß heute, was?«

Dann legte sie den Kopf auf die Seite, klimperte mit den Wimpern, schenkte ihm ihr breitestes amerikanisches Lächeln und nahm einen Schluck aus ihrem Glas. »Ganz schön heiß heute, was?«, das war einer der Lieblingssätze der Schauspieler in den telenovelas, die im Billard-Café rund um die Uhr liefen, und sie fand, das klang richtig gut. Sie wiederholte ihn oft auf den Mädchentoiletten des Gymnasiums vor dem Spiegel, mit unterschiedlichen Betonungen und manchmal mit englischem Akzent, während sie sich die Stirn mit dem fleckigen Handtuch abtupfte, das sämtliche Hände trocknete, aber noch von niemandem gewaschen worden war. Manchmal beobachteten sie dabei ein paar andere Mädchen und prusteten vor Lachen, aber Sarah scherte sich nicht darum. Ganz schön heiß heute, was, Abdellah? In Wirklichkeit war es gar nicht so heiß. Abdellah beachtete sie kaum durch den Zaun und schleifte die Kanister nacheinander zu seiner Tür. Sarah nippte noch immer an ihrem Wasser. Sie wartete, bis Abdellah im Haus verschwunden war, bevor sie alles auf den Boden spuckte; man trank es besser nicht in echt, dieses eklige Wasser.

Abdellah war zwar nett, aber ein richtiger kleiner Dreckskerl. Er verdiente es, dass sie ihm so ein Theater vormachte. Einmal hatte er zu ihr gesagt: Lalla Sarah, du bist auf der anderen Seite vom Zaun und du meinst, dass du draußen bist? Vielleicht sind ja eher wir draußen, und du bist in Wirklichkeit drinnen. Das war ein richtiger Dreckskerlspruch, der einem wie Schmutz unter der Haut und unter den Nägeln sitzt. Seither träumte sie nachts oft davon, dass sie in einem Sandmeer schwamm, mit einem Drahtzaun über den Mund; er ließ überall Sandböen in ihre erstickte Kehle dringen, und sie versuchte zu schreien, und der Sand war drinnen, und draußen war er auch. Irgendwo hörte sie das Geräusch von fließendem Wasser.

Doch eine Woche nach dem Café, in dem sie Driss gesehen hatte, passierte etwas – etwas, das mit den Augen zu tun hatte, genauer gesagt mit Augen, die thymianfarben sind und über die Mädchen hinweggleiten. Da wusste Sarah, dass sie nachts nie mehr davon träumen würde; und dass das Wasser, das sie bald trinken würde, nur noch das aus den Sidi-Ali-Flaschen sein würde; und dass sie eines Tages in einer Badewanne aus hellem Marmor, die hundertmal so groß wäre wie sie und zum Garten hinausführte, in diesem Wasser baden würde. Gerade wartete sie in dem Cabrio vor der Villa in Anfa Supérieur auf Kamil, als sie plötzlich ein Motorrad aufheulen hörte.

Sie wandte den Kopf: Da, hinter ihr, war Driss, der erst auf das Nummernschild des Wagens und dann zur Villa schaute. Dieser Idiot brauchte eine Weile, bis er begriffen hatte, dass sie auf der Beifahrerseite saß. Als er sie endlich sah, klappte er das Visier an seinem Helm hoch und rief mit seiner hellen, zittrigen Stimme:

»Wohnt hier Kamil?«

»Ja«, antwortete sie.

»Schöne Grüße von Driss«, und schon startete er wieder sein Motorrad.

Er fuhr davon. Aber das war nicht schlimm; dieses Mal hatten die Thymian- und Lorbeeraugen sie gesehen. Seit dem Tag im Café Campus dachte sie nur noch an ihn und an sich selbst, wenn sie erst einmal bei ihm wäre, sie beide hoch oben auf Kupfertabletts, die ihre Diener in der stockfinsteren Nacht mit ausgestreckten Armen balancierten; daran, wie sie tanzten, einander gegenüber, im Rhythmus der arabischen Hochzeitslieder und der bewundernden Zurufe der Gäste, vor denen sie mit den schimmernden Goldfäden in ihrem Brautkaftan, mit den schimmernden Rubinen in ihrem Diadem prahlten. Sobald sie von dem Tablett heruntergestiegen wäre, würde ihr eine für diesen Anlass zurechtgemachte Bedienstete die Stirn abtupfen; Sarah würde ihr nicht danken.

Anstatt ins Gymnasium zu gehen, war sie eines Tages bis zur Rue de la Méditerranée, dem kleinen Weg am anderen Ende von Anfa gelaufen – er war von Hibiskus und Geflecktem Schierling gesäumt, und die Bäume darüber neigten sich einander zu, bis sie sich berührten, und bildeten einen Hochzeitsbaldachin, unter dem sie, langsam und ungesehen, weitergelaufen war. In den darauffolgenden Tagen hatte sie all die Rolex-Modelle aufgelistet, die er ihr schenken würde – sämtliche Modelle, die Kamil trug –, hatte sich Namen für ihre zukünftigen Gärtner ausgedacht, die sie einstellen und je nach Belieben mit einem Fingerschnippen wieder entlassen würde. Sie würden sich darum reißen, bei ihr zu arbeiten, so gut würde sie sie bezahlen. An einem warmen Januartag, gegen Mittag vor Kamils Haus, hatten sich endlich dann Driss’ Augen auf sie gerichtet, sie waren nicht über sie hinweggeglitten. Und Sarah wusste, dass die Jungs, die sie sahen, ihre Augen danach nicht mehr von ihr abwenden konnten.

Da bekam sie Lust, zum Zaun zu gehen, nach Abdellah zu rufen und ihm zu sagen: Abdellah, es ist mir egal, wenn Drinsein bedeutet, zwischen dem Hibiskus und den Büschen von Anfa zu gehen, Wasser von Sidi Ali zu trinken, ohne es wieder auszuspucken, und Gärtner vor die Tür zu setzen, die weniger arm sind als du, dann ist es mir egal, dann ist mir das Drinsein egal.

– 4 –

Am Anfang hatte sie gedacht, dass sie nur ein bisschen länger mit Kamil zusammenbleiben müsste, um Driss irgendwann wiederzusehen. Doch das war nicht der Fall gewesen. Kamil, dieser Idiot, wollte sie immer alleine sehen. Er sagte: Wir könnten doch eine Spritztour mit meinem Auto machen. Oder er sagte: Wir könnten vielleicht was rauchen, wir beide, oben auf dem Dach meiner Villa. Und dann brausten sie über die Straße nach Azemmour, oder sie schliefen über Casa in der Sonne ein, zwischen der aufgehängten Wäsche und den riesigen Satellitenschüsseln. Sie wachten auf, wenn der Muezzin zum Abendgebet rief und all die weißen Dächer wegen der Sonne, die auf sie niedertropfte, schon orangefarben waren. Eigentlich war das gar nicht übel; aber Driss würde sie so nicht wiedersehen. Leider konnte sie Kamil nicht begreiflich machen, dass sie auch andere Leute sehen wollte; Jungs kann man zu einem bestimmten Zeitpunkt nur um bestimmte Dinge bitten, sonst werden sie panisch. Sarah wusste, wie das lief. Am Anfang muss man um ganz einfache Dinge bitten. Zum Beispiel sagen, dass man gerne Sardinen essen möchte, auch wenn man in Wirklichkeit gar keine Lust hat, Sardinen zu essen. Indem man Ansprüche stellt, gibt man sich sofort als wertvolles Mädchen zu erkennen, und außerdem sind Sardinen leicht aufzutreiben. Anschließend lädt der Junge einen zum Sardinenessen ein und ist rundum mit sich zufrieden. Und selbstzufriedene Jungs sind restlos aufgewühlt, sie bringen alles durcheinander und denken, das alles nenne sich dann Liebe. Das war also nicht sehr schwer. Nach einer Weile konnte man zu einer anderen Anspruchshaltung übergehen, wie Ich hätte gerne dieses Parfum oder Ich würde gerne auch andere Leute sehen. Es war also besser, Kamil nicht vor den Kopf zu stoßen, ihn in Ruhe für Sardinen und Coca-Cola zahlen zu lassen und ihn im Gegenzug hin und wieder zu küssen. Um Driss wiederzusehen, hatte sie eine andere Strategie: Sie hatte mit Yaya gesprochen.

Yaya kannte alle, und er war alterslos. Man wusste nicht genau, was er machte, aber man wusste, dass er immer irgendwo in der Nähe des Gymnasiums zu finden war, oft im Billard-Café, wo er am hintersten Tisch Dosenthunfisch in Öl aß. Er sagte, in seinen Adern fließe Thunfischöl und er müsse es dosenweise essen, um am Leben zu bleiben. Das war sicher völliger Unsinn. Eines Nachmittags hatte sie das Billard-Café betreten; er saß da wie immer, ganz hinten, und kaute. Sie setzte sich ihm gegenüber.

»Hallo. Ich heiße Sarah.«

Er tat so, als würde er sie nicht sehen, aber sie wusste, dass er sie irgendwann anschauen würde. Alle Jungs schauten sie irgendwann an, und Yaya war auch ein Junge, obwohl man das gerne vergaß.

»Ich muss dich etwas fragen.«

»Nein.«

Er hatte einfach so Nein gesagt, ohne den Blick von seiner Thunfischdose zu heben, mit seinem ölig glänzenden Mund. Seinetwegen roch es im ganzen Café nach Thunfisch, aber auch nach Zigaretten, Gras und dem Eau de Cologne, mit dem sich die kleinen Abiturienten besprengten.

»Warum nein?«

»Du hast doch nichts, kleine Französin. Du kannst mir nichts geben.«

Dass er ihr so etwas ins Gesicht schleuderte, hatte sie geärgert. Durch die Selbstsicherheit von Yayas Stimme war ihr allerdings die Lust zu lügen vergangen.

»Woher weißt du denn, dass ich nichts habe?«

»Ich weiß alles.«

Bei dieser Antwort hatte er den Kopf gehoben und sie so eindringlich angeschaut, dass sie gedacht hatte, er wüsste vielleicht wirklich alles von ihr: von dem schäbigen Mosaik über dem Waschbecken bei ihr zuhause, den Fliesen, von ihrer Mutter, von jedem einzelnen Panino, das sie sich verdient hatte, und sogar von dem, was in ihren Adern floss – vielleicht stimmte die Sache mit dem Thunfischöl ja. Er musste ihre Verärgerung bemerkt oder sie irgendwie charmant gefunden haben, jedenfalls sagte er gleich danach seufzend:

»Na gut, was willst du denn?«

»Driss.«

Kaum hatte sie das gesagt, hatte er das Öl ausgespuckt – es war ihm aus der Nase gekommen.

»Driss? Den Reichen mit dem Motorrad?«

»Ja.«

»Mit deinem Gesicht und deinem Hintern willst du ausgerechnet Driss?«

»Ja.«

Er hatte ein paar Sekunden lang geschwiegen. Dann wischte er sich mit dem Ärmel über den Mund, klaubte mit den Fingern einzeln die gerade ausgespuckten Thunfischfetzen auf und steckte sie sich wieder in den Mund. Und mit einem weiteren Seufzer sagte er:

»Du musst aber wirklich arm sein, Kleine.«

– 5 –

Yaya sah man im Billard-Café, aber oft auch auf dem Gehweg in der Rue Al Kabir neben dem Gymnasium. Er hockte immer zwischen der roten Ampel und dem Imbiss Jus Ziraoui. Er hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt, rauchte und summte altmodische Melodien aus Tunesien. Er sagte, seine Mutter sei Tunesierin, und das sei das Lied, das sie damals, als er klein und glücklich gewesen sei, dort für ihn gesungen habe. Er sagte, eines Tages wolle er wieder zurück, bald schon, sicher nächstes Jahr schon – denn Sidi Bou Saïd sei in jedem Fall viel besser als dieser versiffte Gehweg, viel besser als das Billard-Café, die Autos und die Luftverschmutzung; in Sidi Bou Saïd würde er den Platz mit den Orangenbäumen wiedersehen, die Zitronenbäume längs der Wege und auch die Gitarren, die Kastagnetten, die weißen Kleider und die Mädchen. Das erzählte er nun seit tausend Jahren – aber bisher war er noch nicht zurückgegangen. Manchmal stritt Yaya alles ab, all diese Geschichten aus Tunesien, und er schwor auf das Grab des Propheten, dass er keine Melodien aus Sidi Bou Saïd singe, sondern Suren aus dem Koran; dass er sie von seinem Großvater gelernt habe, der in Mekka gewesen sei, und dass er eines Tages aufhören werde, Mist zu bauen und auch nach Mekka gehen wolle. Anderen erzählte er, dass sein Vater Tunesier sei, ein reicher Kaufmann aus Hammamet. Chirine hatte er einmal im Vertrauen gesagt, seine Mutter sei Schauspielerin in Constantine. Also, es war kompliziert.

Oft verschwand er kurz vor dem Ramadan. Erst nach einer Weile merkte man, dass es an den Yaya-Orten auf einmal leer war – dass niemand mehr auf dem Gehweg und kein Öl mehr auf seinem Tisch war. Man dachte, er müsse irgendwo in der Nähe sein, ein bisschen so wie der Mond, wenn man ihn nicht sieht. Das war beruhigend. Dann begannen allmählich die Fragen: Hast du Yaya in letzter Zeit gesehen? Nach zwei oder drei Wochen folgerte man, dass er wohl, wie angekündigt, nach Tunesien zurückgekehrt war. Schließlich gab es ja wohl auch in Tunesien den Mond. Doch er kam immer wieder; wenn man ihn fragte, wo er gewesen sei, sagte er: Aber ich war doch gar nicht weg.

Sarah rechnete damit, dass er es auch mit ihr so machen würde – dass er ihr erst Driss versprechen und dann plötzlich abhauen würde. Doch am Tag nach ihrem Gespräch im Billard-Café war er pünktlich vor dem Jus Ziraoui zur Stelle. Schon von Weitem sah Sarah ihn dahocken und unter seiner roten Baseballkappe etwas vor sich hin murmeln – bestimmt eine Koransure aus Sidi Bou Saïd.

Sie wollte sich gerade neben ihn setzen, als er aufstand.

»Was fällt dir denn ein?«

»Ich wollte mich setzen.«

Yaya wiegte traurig den Kopf hin und her.

»Glaubst du wirklich, dass du dich einfach hier auf meinen Gehweg setzen kannst?«

Dann legte er Sarah seinen dünnen Arm um die Schulter und zog sie ins Jus Ziraoui hinein.