So viel Zorn und so viel Liebe - Sabaa Tahir - E-Book

So viel Zorn und so viel Liebe E-Book

Sabaa Tahir

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Beschreibung

Ein atemberaubender Roman über junge Liebe, späte Reue und Vergebung +++ Ausgezeichnet mit dem Printz Award und dem National Book Award for Young People's Literature

Salahudin und Noor sind mehr als beste Freunde: Beide sind pakistanische Migranten und gemeinsam in einem kleinen Ort in der Wüste Kaliforniens aufgewachsen. Sie verstehen einander wie sonst niemand. Doch ein Streit letzten Sommer hat alles zerstört.
Nun kämpft Sal allein darum, das Motel der Familie am Laufen zu halten, während es seiner kranken Mutter Misbah immer schlechter geht und sein Vater den Kummer im Alkohol ertränkt. Noor dagegen arbeitet im Spirituosengeschäft ihres strengen Onkels und versucht gleichzeitig, sich heimlich für ein College zu bewerben, um dem Onkel und diesem Ort für immer Lebewohl sagen zu können.
Als Sals Versuche, das Motel zu retten, außer Kontrolle geraten, müssen er und Noor sich fragen, was Freundschaft wert ist und was nötig ist, um die Monster der Vergangenheit zu besiegen – und die mitten unter ihnen.

Sabaa Tahir wurde mit der Platz-1-New-York-Times-Bestsellerreihe »Elias und Laia« als Schöpferin epischer Fantasywelten bekannt.
In ihrem großen neuen Roman zeigt Tahir, dass sie ebenso grandiose Geschichten in der realen Welt erschaffen kann, mit unvergesslichen Figuren und starken Bildern – tragisch und doch voller Hoffnung.
Für »So viel Zorn und so viel Liebe«, ebenfalls New-York-Times-Bestseller, erhielt Sabaa Tahir den National Book Award 2022 und den Printz Award 2023.
Ein packender All-Age-Roman für Fans von Angie Thomas, Amy Giles und Angeline Boulley.

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Seitenzahl: 471

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Sabaa Tahir

So vielZorn und so vielLiebe

Aus dem amerikanischen Englisch von Claudia Max

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Quellenverzeichnis »One Art« from Poems by Elizabeth Bishop. Copyright © 2011 by The Alice H. Methfessel Trust. Publisher’s note and compilation copyright © 2011 by Farrar, Straus and Giroux. Reprinted by permission of Farrar, Straus and Giroux. All rights reserved. The Elizabeth Bishop Papers may be found at the Archives and Special Collections, Vassar College Library, Bishop 60.2. Elizabeth Bishop, »Eine Kunst«, aus Elizabeth Bishop, Gedichte, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Steffen Popp, © 2018 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG. München Zitat aus »Medea«, aus Robinson Jeffers, Dramen, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Eva Hesse, © 1960 Rowohlt Verlag © 2022 Sabaa Tahir © 2022 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München, Neumarkter Straße 28, 81673 München Die Originalausgabe erschien erstmals unter dem Titel »All My Rage« bei Razorbill in der Verlagsgruppe Penguin Random House LLC, New York Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Aus dem amerikanischen Englisch von Claudia Max Umschlaggestaltung: buxdesign | Lisa Höfner unter Verwendung eines Motivs von © plainpicture / Minden Pictures / Tim Fitzharris kk · Herstellung: AJ Satz und E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-29611-7V003

Für die, die überleben.

Für die, die nicht überleben.

TRIGGERWARNUNG:

Dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Auf der nächsten Seite sind die betreffenden Themen aufgelistet.

So viel Zorn und so viel Liebe enthält folgende potenziell triggernde Inhalte: Drogensucht, Alkoholsucht, physische Gewalt, Erwähnung verdrängter sexualisierter Gewalt, Islamophobie, Tod.

Teil I

The art of losing isn’t hard to master;

so many things seem filled with the intent

to be lost that their loss is no disaster.

Verlieren, diese Kunst zu lernen ist nicht schwer;

so viele Dinge, scheints, sind geradezu bereit

für das Verlorengehn, sie fehlen dir nicht sehr.

Elizabeth Bishop, »One Art«/ »Eine Kunst«

Kapitel 1

Misbah

Juni, damals

Lahore, Pakistan

Die Wolken über Lahore waren so purpurfarben wie die Zunge eines Klatschmauls, als mir meine Mutter eröffnete, dass ich heiraten würde.

Nachdem sie mir die Nachricht überbracht hatte, ging ich zu meinem Vater auf die Veranda. Er nippte an einer Tasse Tee und beobachtete den Sturm, der sich über den bunten, vor der Skyline flatternden Drachen zusammenbraute.

Sorg dafür, dass sie ihre Meinung ändert!, hätte ich gern geschrien. Sag ihr, dass ich noch nicht bereit dafür bin.

Stattdessen stand ich neben ihm, wieder Kind, und wartete darauf, dass er mich trösten würde. Ich brauchte nichts zu sagen. Mein Vater wusste mit einem Blick Bescheid.

»Komm her, kleiner Schmetterling.« Er sah mich mit seinen mottenbraunen Augen an und legte mir die Hand auf die Schulter. »Du bist stark wie ich. Du wirst das Beste daraus machen. Außerdem bist du dann endlich deine Mutter los.« Er lächelte, nur halb im Scherz.

Einige Minuten später fegte der Monsunregen über Lahore und überflutete den Zementboden unseres Hauses, Hühner und Kinder suchten gackernd und schreiend Schutz unter dem Dach. Ohne sie zu beachten, senkte ich den Kopf und betete.

Lass meinen zukünftigen Mann sanft sein. Ich musste an die Blutergüsse meiner Cousine Amma denken, die gegen den Wunsch ihrer Eltern einen hellhaarigen englischen Geschäftsmann geheiratet hatte. Mach, dass er ein guter Mann ist.

Ich war achtzehn. Verängstigt. Ich hätte in meinem Gebet besser um einen ungebrochenen Mann bitten sollen.

Kapitel 2

Sal

Februar, jetzt

Juniper, Kalifornien

Es ist 6:37 morgens und mein Vater will nicht, dass ich mitkriege, wie betrunken er ist.

»Sal? Hörst du mir zu?«

Er nennt mich Sal statt Salahudin, um sein Lallen zu überspielen. Umklammert das Lenkrad unseres Civic, als könne das Auto ihm die Brieftasche klauen und damit abhauen.

Im tintenschwarzen Morgen erkenne ich von Abus Augen nur die dicken viereckigen Brillengläser, in denen sich die Rücklichter des auf die Schule zusteuernden Verkehrs spiegeln. Er trägt diese Brille schon so ewig, dass sie mittlerweile wieder modern ist. Ein Heuler aus der Mojave-Wüste rüttelt den Wagen durch – einer dieser Wüstenwinde, die einem drei Tage lang durch die Haut toben und sämtliche Hohlräume im Hirn besiedeln. Ich verkrieche mich in meinen Fleecepulli, vor meinem Mund bilden sich Atemwolken.

»Ich werde da sein«, verspricht Abu. »Mach dir keine Sorgen. Okay, Sal?«

Aus seinem Mund klingt die Kurzform meines Namens voll daneben. Als wolle er mir damit das Gefühl geben, er sei mein Freund und nicht das Wrack, das sich als mein Vater ausgibt.

Wäre Ama hier, würde sie sich räuspern und deutlich »Sa-lah-ud-din« sagen, die präzise Betonung eine dezente Erinnerung daran, dass sie mich nach einem berühmten muslimischen General benannt hat, was ich besser nicht vergessen sollte.

»Das hast du beim letzten Termin auch behauptet«, erkläre ich Abu.

»Dr. Rothman hat gestern Abend angerufen und mich noch einmal daran erinnert«, sagt Abu. »Du brauchst nicht dabei zu sein, falls du – Schreibclub hast oder Fußball.«

»Die Fußballsaison ist vorbei. Und bei der Zeitung hab ich schon letztes Halbjahr aufgehört. Und ich werde bei dem Termin dabei sein. Jemand muss Dr. Rothman sagen, dass Ama nicht auf sich aufpasst – und zwar möglichst in einem zusammenhängenden Satz.« Ich beobachte, wie ihn die Worte wie spitze kleine Steine treffen.

Abu lenkt den Wagen zur Bordsteinkante der Juniper High. Aus dem Schatten von Block C taucht ein in einem Parka vergrabener blondierter Kopf auf. Ashlee. Sie schlendert um den Fahnenmast und durch die Schülergruppen auf den Civic zu. Der blasse Streifen Bein ist angesichts der minus sechs Grad mutig.

Und lenkt mich ab.

Ashlee ist nun nahe genug am Wagen, dass mir ihr lila Nagellack auffällt. Abu hat sie noch nicht entdeckt. Er und Ama haben mir nie verboten, eine Freundin zu haben. Aber so wie Giraffen von Geburt an wissen, wie sie rennen müssen, kam ich mit dem angeborenen Wissen auf die Welt, dass es VERBOTEN ist, eine Freundin zu haben, solange ich bei meinen Eltern lebe.

Abu presst sich die Finger auf die Augen. Die Brille hat eine glänzende rote Druckstelle auf seiner Nase hinterlassen. Er hat die letzte Nacht damit im Fernsehsessel geschlafen. Ama hat es vor Müdigkeit nicht mitbekommen.

Oder wollte es nicht mitbekommen.

»Putar –« Sohn.

Ashlee klopft an die Scheibe. Der Reißverschluss ihres Parkas ist weit genug heruntergezogen, dass man das knappe WELCOME-TO-TATOOINE-Shirt darunter sieht. Ihr muss so was von kalt sein.

Vor zwei Jahren wären Abus Augenbrauen in seinen Haaren gewesen. Er hätte gefragt: »Wer ist das, Putar?« Dass er schweigt, ist brutaler; es fühlt sich an, als würde Glas in meinem Kopf zerbrechen.

»Wie willst du ins Krankenhaus kommen?«, erkundigt sich Abu. »Soll ich dich abholen?«

»Bring einfach Ama hin«, antworte ich. »Ich finde jemanden, der mich hinfährt.«

»Okay, aber schreib mir, falls –«

»Mein Handy funktioniert nicht.« Weil man die Telefongesellschaft bezahlen muss, Abu. Die eine Sache, für die er verantwortlich ist, und nicht mal die kriegt er auf die Reihe. Normalerweise brütet Ama über dem Rechnungsstapel und bittet den Stromversorger, das Krankenhaus und die Kabelgesellschaft um Ratenzahlung. Und brummt »Ullu de Pathay« – Eulensöhne –, wenn sie ablehnen.

Als ich mich zu ihm hinüberbeuge und schnuppere, kommt es mir fast hoch. Er riecht, als habe er in Old-Crow-Whiskey gebadet und dann noch was davon als Aftershave aufgetragen.

»Wir sehen uns um drei«, sage ich. »Geh duschen, bevor sie aufwacht. Sonst riecht sie es.«

Keiner von uns spricht aus, dass es auch keinen Unterschied mehr macht. Selbst wenn Ama den Schnaps riecht, würde sie nie ein Wort darüber verlieren. Ich nehme mein zerfleddertes Tagebuch, das mir aus der Hosentasche gerutscht ist, und bin aus dem Wagen, bevor Abu etwas erwidern kann. Ich schlage die Tür zu, die Kälte lässt meine Augen tränen.

Ashlee schiebt sich unter meinen Arm. Atmen. Fünf Sekunden einatmen. Sieben Sekunden ausatmen. Falls sie die Anspannung in meinem Körper spürt, lässt sie sich nichts anmerken.

»Mir ist kalt.« Ashlee zieht mich für einen Kuss an sich, ich habe den Aschegeruch ihrer Morgenzigarette in der Nase. Fünf Sekunden ein. Sieben Sekunden aus. Autos hupen. Ein Stück weiter fällt mit einem dumpfen Schlag eine Autotür zu, und einen Moment lang denke ich, es ist Abu. Ich mache mich auf einen missbilligenden Kommentar gefasst.

Zeig ein bisschen Tamiz, Putar. Ich sehe die Szene in Gedanken vor mir. Ich wünsche sie mir.

Doch als ich mich von Ashlee löse, blinkt der Civic gerade und mein Vater ordnet sich in den Verkehr ein.

Wäre Noor hier und nicht Ashlee, hätte sie mich von der Seite gemustert und mir ihr Handy gegeben. Andere wären froh, wenn sie einen Vater hätten, Idiot. Ruf ihn an und hol dir deinen Anschiss.

Aber sie ist nicht da. Noor und ich haben seit Monaten nicht mehr miteinander geredet.

Ashlee schiebt mich Richtung Schulgelände und fängt an, von ihrer zweijährigen Tochter Kaya zu erzählen. Ihre Worte verschwimmen ineinander, ihr glasiger Blick erinnert mich an Abu am Ende eines langen Tages.

Ich löse mich von ihr. Ich habe Ashlee in der Elften kennengelernt, damals, als es mit Amas Krankheit anfing, und ich fast alle Honor-Kurse gestrichen und nur noch das Pflichtpensum belegt habe. Nach dem Streit mit Noor war ich letzten Herbst viel allein. Ich hätte mit den Jungs von der Fußballmannschaft abhängen können, aber ich habe es gehasst, wie sie mit Wörtern wie »Windelkopf« und »Schlampe« und »Apu« (wie der Typ aus den Simpsons) um sich geworfen haben.

Ashlee hatte sich gerade von ihrer Freundin getrennt und kam zu meinen Spielen, hinterher wartete sie in ihrem alten schwarzen Mustang mit der knallroten Kühlerhaube auf mich. Wir haben gequatscht. Und irgendwann hat sie mich überraschenderweise nach einem Date gefragt.

Ich wusste, dass es eine Katastrophe würde. Aber zumindest eine, die ich mir ausgesucht hatte.

Obwohl wir erst seit zwei Monaten zusammen sind, bezeichnet sie mich als ihren Boyfriend. Ich habe drei Wochen gebraucht, bis ich mich endlich getraut habe, sie zu küssen. Wenn sie nicht high ist, lachen wir und reden über Star Wars oder Saga oder diese Serie Crown of Fates, auf die wir beide stehen. Dann denke ich nicht so viel über Ama nach. Oder das Motel. Oder Noor.

»MRMALIK.« Principal Ernst, ein Bowlingkegel von einem Mann, dessen Nase wie eine zermatschte Aubergine aussieht, taucht zwischen den Schülerschlangen auf, die auf dem Weg zum Unterricht sind.

Hinter ihm steht Security Officer Derek Higgins, aka Darth Derek; so wird er genannt, weil er ein autoritärer Vollidiot ist, der durch die Juniper High stolziert, als wäre sie sein höchstpersönlicher Star Destroyer.

Ashlee kommt mit einem finsteren Blick des Direktors davon, doch ich kriege einen knochigen Finger in den Oberkörper gebohrt, weil es schon das zweite Mal diese Woche ist, dass ich ihn angepisst habe. »Sie sind dem Unterricht ferngeblieben. Das war’s. Beim nächsten Zuspätkommen heißt es Nachsitzen. Erste und einzige Warnung.«

Fassen Sie mich nicht an, möchte ich sagen. Aber dann würde sich Darth Derek einmischen und auf einen Schlagstock im Gesicht kann ich echt verzichten.

Als Ernst weitergeht, streckt Ashlee wieder die Hand nach mir aus. Ich schiebe die Hände in die Taschen meines Hoodies. Als ich statt Haut Baumwolle spüre, lässt die Verspanntheit in meinem Oberkörper nach. Ich werde später darüber schreiben. Ich versuche, mir das Knacken vorzustellen, wenn ich mein Tagebuch aufschlage, das gleichmäßige, vorhersehbare Kratzen meines Stifts auf dem Papier.

»Zieh nicht so ein Gesicht«, sagt Ashlee.

»Wie?«

»Als wärst du lieber woanders.«

Um nicht lügen zu müssen, reagiere ich ausweichend. »Hey – ähm, ich muss mal aufs Klo«, erkläre ich ihr. »Wir sehen uns später.«

»Ich warte auf dich.«

»Nee, lass mal.« Ich bin schon am Gehen. »Ich will nicht, dass du Stress mit Ernst bekommst.«

Die Juniper High ist riesig, aber keine dieser Hochglanz-Highschools aus dem Fernsehen. Sie besteht aus mehreren langen Betonblöcken mit jeweils einer Tür am Ende, dazwischen ist einfach blanke Erde. Die Sporthalle sieht wie ein Flughafenhangar aus. Alles ist staubig und sandgestrahlt weiß. Das einzig Grüne hier sind unser Maskottchen – ein plumper Rennkuckuck auf der Wand neben dem Sekretariat – und Klowände in der Farbe von Gänsekacke, das sagt Noor jedenfalls.

Die Toilette ist leer, aber ich verschwinde trotzdem in eine Kabine. Ob jeder Typ mit Freundin sich irgendwann vor ihr auf dem Klo versteckt?

Wäre ich mit Noor zusammen statt mit Ashlee, würde ich bereits im Englischkurs sitzen; sie besteht darauf, immer pünktlich zu sein.

Stiefel knirschen über die schmutzigen Fliesen, als jemand hereinkommt. Durch den Spalt erkenne ich Atticus, Jamie Jensens Freund. Er steht auf Fußball, weiße Rapper und gepflegten Rassismus.

»Ich brauche zehn«, sagt Atticus. »Aber ich habe bloß hundert Dollar.«

Eine schlaksige Gestalt taucht auf: Art Britman, groß und blass wie Atticus, aber ausgemergelt von zu viel miesem Gras. Er trägt das übliche rot karierte Hemd und schwarze Arbeitsstiefel.

Art kenne ich seit dem Kindergarten. Obwohl er mit White-Power-Typen abhängt, kommt er mit allen klar. Vermutlich versorgt er den Großteil der Juniper High mit Drogen.

»Für hundert kriegst du fünf. Nicht zehn.« Art hat ein Lächeln in der Stimme, er ist echt der netteste Drogendealer der Welt. »Ich geb dir, wofür du zahlen kannst, Atty!«

»Komm schon, Art –«

»Ich muss auch essen, Bro!« Art zieht eine Tüte mit kleinen weißen Pillen aus der Hosentasche und hält sie so, dass Atticus nicht danach greifen kann. Hundert Tacken? Dafür? Kein Wunder, dass Art ununterbrochen vor sich hin grinst.

Atticus lässt einen Fluch ab und reicht ihm die Scheine. Ein paar Sekunden später sind er und die Pillen verschwunden.

Art späht zu meiner Kabine. »Wer ist da drin? Hast du die Scheißerei oder schnüffelst du rum?«

»Ich bin’s, Art. Sal.«

Für einen Typen, der eine illegale Nummer nach der anderen abzieht, kriegt Art erschreckend wenig mit. »Sal!«, ruft er. »Versteckst du dich vor Ashlee?« Sein von den Wänden widerhallendes Lachen lässt mich zusammenzucken. »Sie ist weg, du kannst rauskommen.«

Ich überlege, ob ich einfach keine Antwort geben soll. Einen Typen beim Kacken in ein Gespräch zu verwickeln, ist unhöflich. Das weiß jeder.

Außer Art offenbar. Ich verziehe das Gesicht und verlasse die Kabine, um mir die Hände zu waschen.

»Alles klar, Mann?« Art rückt seine Beanie vor dem Spiegel zurecht, die blonden Haare stehen wie eine widerspenstige Pflanze darunter hervor. »Ashlee hat mir erzählt, dass es deiner Mutter scheiße geht.«

Ashlee und Art sind Cousine und Cousin. Obwohl sie weiß sind – und ich dämlicherweise davon ausgegangen bin, dass Weiße sich nicht um ihre Verwandtschaft kümmern –, haben sie einen guten Draht zueinander. Sie stehen sich näher als ich und mein Cousin in Los Angeles, der die Meinung vertritt, Wohnungslose sollten sich »einfach einen Job suchen«. Normalerweise, während er Pellegrino aus einem Keramikbecher trinkt, den er bestellt hat, weil ihm eine Werbung auf Pixtagram erklärt hat, so ein Becher würde Delfine retten.

»Ja«, sage ich zu Art. »Meiner Mutter geht’s nicht besonders.«

»Krebs ist voll beschissen, Mann.«

Sie hat keinen Krebs.

»Als meine Oma Ethel krank war, das war echt übel«, sagt Art. »Den einen Tag ging es ihr gut, am nächsten sah sie wie eine Leiche aus. Ich dachte schon, sie macht den Abgang. Aber jetzt ist sie okay. Und mit dem Schmerzmittelrezept, das sie nie einlöst, springt sogar noch was bei raus.« Erneut hallt Arts Lachen von den Wänden wider. »Alles gut? Sonst könnt ich dir Rabatt unter Kumpels geben.«

»Alles bestens.« Ich bin nicht mal in Versuchung. Ein Alki in der Familie reicht.

Als es klingelt, haste ich davon. Der kahle Hof leert sich schneller, als Wasser den Abfluss hinunterfließt. Als ich um die Ecke zum Englisch-Flügel biege, kommt mir Noor entgegen.

Die im Fenster reflektierte Sonne malt ein Dutzend Farben auf ihre geflochtenen Zöpfe. Ich denke an die vielen mit einem großen Weltraumteleskop aufgenommenen Bilder, die sie in ihrem Zimmer bei ihrem Arsch von Onkel aufgehängt hat. So sehen ihre Haare aus, schwarz und rot und gold, der von innen leuchtende Mittelpunkt des Weltraums. Sie läuft mit gesenktem Kopf und sieht mich nicht, weil sie schneller als die Klingel sein will.

Wir erreichen Mrs Michaels’ Tür gleichzeitig. Noors Gesicht sieht anders aus, und ich brauche einen Moment, bis mir auffällt, dass sie geschminkt ist. Als sie die Ohrstöpsel herauszieht, die von ihrem Hoodie verdeckt werden, ist ein blechern klingender Song zu hören. Ich erkenne ihn, weil Ama ihn liebt. »The Wanderer.« Johnny Cash und U2.

»Hey«, sage ich.

Sie nickt mir zu wie jemandem, mit dem man nichts mehr zu tun hat, weil man sich um seinen eigenen Scheiß kümmern muss, dann verschwindet sie im Klassenzimmer. Perlenarmbänder, dunkle Jeans und die billige adstringierende Seife, die ihr Onkel in seinem Spirituosenladen verkauft, verschwimmen miteinander.

Eine Sekunde lang hängt DERSTREIT zwischen uns, die schemenhaften Versionen von uns vor einem halben Jahr stehen sich auf dem Campingplatz von Veil Meadows gegenüber. Noor, die gesteht, dass sie in mich verliebt ist. Mich küsst.

Ich habe sie weggeschoben und ihr gesagt, dass ich nicht dasselbe empfinden würde. Habe ihr alles entgegengeschleudert, was mir einfiel, um sie zu verletzen, weil ihr Kuss wie eine Klinge etwas in mir aufgerissen hatte.

Und Noor starrte mich an, als hätte ich mich in einen wütenden Kraken verwandelt. Sie hielt einen Kiefernzapfen in den Händen. Ich wartete nur darauf, dass sie ihn nach mir schmeißen würde.

Die Tür schlägt hinter ihr zu und ich greife nach der Klinke, um Noor zu folgen, doch dann halte ich inne. Die Klingel schrillt. Die Uhr im Gang hinter mir bewegt sich schwerfällig weiter, jedes Ticken eine auf den Boden knallende Hantel. Eine Minute vergeht. Ich lese mehrmals den Aushang für einen Schreibwettbewerb an der Tür. Mrs Michaels drängt mich ständig, daran teilzunehmen.

Ich war fünf Monate lang jeden Tag im AP-Kurs Englisch, aber heute kann ich mich einfach nicht überwinden. Ich kann Noor nicht mit dem Wissen gegenübersitzen, dass sie mich nie wieder wegen meiner Lamawollsocken aufziehen oder mich bei Night Ops 4 fertigmachen wird, dass sie nie wieder samstagmorgens vorbeikommen und mit Ama und mir Paratha essen wird.

Ich versuche, mich an Amas Lächeln zu erinnern, als es ihr noch gut ging und sie mich vom Unterricht abholte. Wie sie dabei strahlte und mich über mein Leben ausfragte, als hätte ich den Everest bestiegen und nicht bloß einen weiteren Schultag überlebt.

»Mera putar, undar ja«, würde sie jetzt sagen. Mein Sohn, geh rein. Als ich seufzend nach der Türklinke greife, packt mich eine knochige Hand am Arm.

»Mr Malik –« Meine Hand rutscht von der Klinke ab. Ernsts blassgrüne Augen mustern mich durchdringend, provozieren mich, einen dummen Spruch abzulassen, vielleicht wollen sie es sogar. »Was habe ich vorhin gesagt?«, fragt er.

»Lassen Sie das.« Ich reiße mich los. Halt den Mund, Salahudin. »Fassen Sie mich nicht an.«

Ich warte darauf, dass er mich noch mal antatscht. Mich suspendiert. Darth Derek ruft. Aber er lässt mich los und schüttelt den Kopf wie ein Mann, der tief enttäuscht an der Leine seines aufsässigen Hundes reißt.

»Nein«, widerspricht Ernst. »Ich sagte: ›Erste und einzige Warnung‹. Nachsitzen. In meinem Büro. Um drei.«

Kapitel 3

Noor

Mein Onkel liebt Lehrsätze. Und vor allem liebt er es, sie anderen Leuten zu erklären. Das Publikum, das seinem Genie lauschen will, ist allerdings begrenzt. Es sind entweder ich oder seine Frau, Brooke, oder die Alkis, die in seinen Spirituosenladen kommen. Weil sie ihn für brillant halten, sind ihm die Alkis am liebsten.

Unter der Kasse liegt neben seinem Schlagstock ein Stapel Millimeterpapier und ein Drehbleistift. Beides füllt er jeden Sonntag nach.

Die Ladenglocke über der Tür bimmelt und Mr Collins tritt ein. Er ist ein Ingenieur vom Militärstützpunkt vor der Stadt und mag einen kleinen Jack Daniels in seinem Kaffee. Hinter ihm weht kalte Luft herein. Der Himmel draußen ist dunkel. Nicht mal die Berge rings um Juniper sind zu erkennen. Die Zeit reicht noch für das Fadschr – das Gebet zur Morgendämmerung.

Aber ich bete nicht. Chachu würde das nicht gefallen. »Gott«, lamentiert er gern, »ist ein Konstrukt für Schwachköpfe.«

Mit Kopfschmerzen fülle ich das Süßigkeitenregal auf. Laut meines pakistanischen Reisepasses und meiner amerikanischen Greencard, die ich immer in meinem Rucksack dabeihabe, ist heute mein achtzehnter Geburtstag.

Mein Handy meldet eine Nachricht. Ich schaue zu Chachu, aber sein knochiger Körper ist in die andere Richtung gewandt. Die braunen Haare fallen ihm ins Gesicht; er kritzelt auf dem Millimeterpapier herum, das er zwischen Feuerzeugen und Lottoscheinen auf der Ladentheke ausgebreitet hat. Ich werfe einen Blick auf das Display meines Handys.

Die Nachricht stammt von Misbah Auntie. Sie ist nicht wirklich meine Tante. Aber da sie Pakistani ist, würde, sie einfach nur Misbah zu nennen, »die Vorfahren anpissen«, wie Salahudin gern sagt.

Misbah Auntie: Alles Liebe zu deinem achtzehnten Geburtstag, meine liebe Noor. Du bringst so viel Licht in mein Leben. Ich hoffe, du besuchst mich. Ich habe deine Lieblingsgerichte gekocht.

Über der Nachricht sind noch eine ganze Reihe andere. Von Januar. Dezember. November. September.

Misbah Auntie: Bist du auch auf mich wütend?

Misbah Auntie: Du fehlst mir, meine Dhi. Ich werde Samstag Paratha für dich machen. Bitte komm vorbei.

Misbah Auntie: Noor, es regnet! Ich denke daran, wie sehr du den Regen liebst. Du fehlst mir.

Misbah Auntie: Noor, rede mit mir.

Misbah Auntie: Noor, bitte. Ich weiß, dass du sauer auf Salahudin bist. Aber kannst du nicht mit ihm reden?

Die letzte Nachricht habe ich bestimmt ein Dutzend Mal gelesen. Sie macht mich immer noch wütend. Salahudin ist Misbah Aunties Sohn.

Und außerdem mein ehemals bester Freund. Meine erste Liebe. Mein erster Liebeskummer. So was von Klischee und dermaßen bescheuert.

Vor ein paar Wochen kam Misbah Auntie sonntags in den Laden. Ich hätte sie gern umarmt. Und ihr erzählt, dass Sal mir das Herz gebrochen hat und ich mich verloren fühle. Mit ihr geredet, wie ich es vor DEMSTREIT gemacht habe, auch wenn ich Angst hatte, dass sie mich abblitzen lassen würde.

Doch als sie mich angesprochen hat, stand ich nur da. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.

»Noor.« Chachus Stimme lässt mich zusammenfahren. Ich schiebe mein Handy in die Hosentasche zurück, aber er sieht mich gar nicht an. »Sieh zu, dass du mit dem Auffüllen fertig wirst.«

»Tut mir leid, Chachu.«

Mein Onkel runzelt die Stirn. Er hasst es, wenn ich ihn Chachu nenne. Es ist Urdu und bedeutet Vaters Bruder. Kurz darauf wendet er sich wieder Mr Collins zu und diskutiert den Großen Fermatschen Satz mit ihm.

Mr Collins nickt, während Chachu alles zusammenfasst. Als sich Mr Collins’ Miene erhellt, habe ich die Melodie des »Halleluja« aus Händels Messias im Ohr. Ein Höhlenmensch, der das Feuer entdeckt. Eigentlich sollte es mich nicht überraschen. Egal wie unverständlich ein Lehrsatz ist, Chachu kann ihn erklären. Es ist sein Talent.

»Sie könnten meinen Job machen«, sagt Mr Collins. »Mein Gott, Sie haben nicht mal einen Akzent wie manche der Jungs auf dem Stützpunkt. Warum verkaufen Sie Schnaps und Lebensmittel?«

»Die Launen des Schicksals«, erwidert Chachu. Meine Wirbelsäule kribbelt. Seine Stimme hat diesen schneidenden Unterton.

Mr Collins sieht zu dem Gang, wo ich gerade die Regale auffülle.

»Noor, richtig?« Manchmal kommt Mr Collins am Sonntagmorgen, wenn ich den Laden aufmache. »Bist du auch so schlau wie dein Onkel?«

Ich zucke mit den Achseln. Hör bitte auf.

Aber Mr Collins hört nicht auf. »Na, dann mach was draus«, sagt er. »Wenn du auch nur annähernd so schlau bist wie er, schaffst du es auf jede Uni.«

»Ach.« Chachu steckt Mr Collins’ Flasche in eine Tüte und sieht mich an. »Hat Noor von Uni geredet?«

Zum Glück habe ich nicht gefrühstückt. Mir ist übel, ich bekomme keine Luft.

»Nein«, sagt Mr Collins. Ich atme wieder. »Sollte sie aber. Du machst gerade deinen Highschool-Abschluss, oder?«

Mein Achselzucken lässt Mr Collins den Kopf schütteln. »Mein Sohn war genauso. Und jetzt ist er ein menschliches Aushängeschild für einen Apartmentkomplex in Palmview.«

Mr Collins sieht mich an, als würde ich jede Sekunde in die Fußstapfen seines Sohnes treten. Am liebsten würde ich ein Snickers nach ihm werfen. Und ihn genau zwischen den Augen treffen.

Aber das wäre Verschwendung eines leckeren Schokoriegels.

Als er weg ist, zerknüllt Chachu das Millimeterpapier. Schalte das Radio ein. Außer dass wir miteinander verwandt sind, ist unsere Vorliebe für Musik der Neunziger das einzig Verbindende zwischen uns. Wir sehen uns nicht mal ähnlich – meine Haare und meine Haut sind dunkler, ich bin kleiner. Schalt es an. Lenk dich ab.

Doch er deutet mit einem Kopfnicken zum anderen Ende des Ladens.

»Draußen steht was für dich«, sagt er.

Ich bin so überrascht, dass ich ihn anstarre, bis er mich mit einer Handbewegung davonscheucht. Ein Geburtstagsgeschenk? Chachu hat meinen Geburtstag fünf Jahre lang vergessen. Sein letztes Geschenk war das verdellte Laptop, das er vor anderthalb Jahren kommentarlos in meinem Zimmer abgestellt hat.

Ich gehe durch das Lager nach draußen. Als ich die Tür schließen will, reißt mir der Wind die Klinke aus der Hand. Die Wüste hinter der schmalen Straße ist ein flacher blauer Schatten, und ich brauche einen Moment, bis ich mein Geschenk entdecke, das an der verputzten Ladenwand lehnt. Ein ramponiertes silbernes Fahrrad.

Als ich mit der Hand über den Stahlrahmen fahre, lässt mich das Klick von Chachus Feuerzeug zusammenfahren.

»Nach deinem Schulabschluss kannst du die Tagschicht übernehmen, während ich an der Uni bin«, erklärt er zwischen Zügen an seiner Zigarette. »Das wird das Leben für uns alle einfacher machen.«

Leute reden gern darüber, wie fantastisch das menschliche Herz ist. Obwohl es nur so groß ist wie eine Faust, pumpt es täglich siebeneinhalbtausend Liter Blut. Und so weiter.

Aber das menschliche Herz ist auch dumm. Meines jedenfalls. Egal wie oft ich ihm eintrichtere, die Hoffnung aufzugeben, dass Chachu sich Gedanken um mich macht, es hofft trotzdem weiter.

Im Laden stellt Chachu den Rocksender ein und dreht voll auf, als Nirvanas »Heart-Shaped Box« kommt. Ich nehme mit rasenden Kopfschmerzen meinen Rucksack und überlege, ob ich ihn nach Aspirin fragen soll.

Überspann den Bogen nicht. Der Gedanke macht mich wütend. Warum kann ich meinen Onkel nicht um Aspirin bitten? Warum, wenn –

Hör auf, Noor. Ich darf nicht wütend auf Chachu sein. Nur seinetwegen stehe ich hier.

Ich war sechs, als mein Dorf in Pakistan von einem Erdbeben erschüttert wurde. Chachu fuhr zwei Tage von Karachi mit dem Auto, weil es keine Flüge mehr nach Nord-Punjab gab. Im Dorf angekommen, kletterte er über Trümmer zum Haus meiner Großeltern, in dem auch meine Eltern lebten. Er zerrte die Steine mit bloßen Händen beiseite. Die Rettungskräfte erklärten ihm, dass es sinnlos sei.

Seine Handflächen bluteten. Seine Nägel waren abgerissen. Alle waren tot. Aber Chachu grub immer weiter. Er hörte mich weinen, ich steckte in einem Schrank fest. Er zog mich heraus. Brachte mich ins Krankenhaus und wich nicht von meiner Seite.

Chachu nahm mich mit nach Amerika, wo er auf die Uni gegangen war. Gab sein Ingenieurspraktikum auf dem Stützpunkt auf und leistete mit seinen kümmerlichen Ersparnissen eine Anzahlung für einen schlecht laufenden Spirituosenladen. Dort hat er die letzten elf Jahre zugebracht, damit wir irgendwie über die Runden kamen.

Er hat alles für mich aufgegeben. Jetzt bin ich dran.

Chachu räuspert sich, seine Aufmerksamkeit wandert zu meinen Zöpfen, einer über jede Schulter, dann zu dem grünen hinter meinen Ponyfransen zusammengeknoteten Tuch.

»Mit diesen Zöpfen siehst du aus, als wärst du gerade aus einem Flüchtlingsboot gestiegen.«

Ich erwidere nichts. Auf dem Foto für meinen Reisepass trage ich auch Zöpfe. Ich mag sie. Sie erinnern mich an das Mädchen, das ich mal war. An die Menschen, die mich geliebt haben.

»Deine Schicht beginnt um Viertel nach drei«, sagt Chachu. »Ich habe einen Termin. Sei pünktlich.«

Für Chachu ist Zuspätkommen unlogisch, und wenn es etwas gibt, dass Chachu hasst, dann ist es Unlogik.

An manchen Tagen überlege ich, ihm den Gödelschen Unvollständigkeitssatz entgegenzuschleudern, der besagt, dass jedes existierende Logiksystem entweder widersprüchlich oder unvollständig ist.

Im Prinzip sagt Gödel, dass die meisten Theoreme Schwachsinn sind.

Ich hoffe, das stimmt. Denn Chachu hat auch ein Theorem über mich. Chachus Theorem der Zukunft nenne ich es. Es ist ziemlich simpel.

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Als ich mein Rad am Fahrradständer anschließe und zum Englischkurs gehe, ist mein Gesicht eiskalt. Aber es ist mir egal. Auf dem Weg zur Schule konnte ich nachdenken. Über Auntie Misbah und das Krankenhaus, in dem ich als Freiwillige arbeite. Über Salahudin und die Uni. Und im Moment denke ich über Zahlen nach.

Sieben Bewerbungen abgeschickt.

Eine Absage.

Bleiben sechs Unis.

An der UVA, der University of Virginia, habe ich mich wegen des guten Bio-Studiengangs über das frühzeitige Verfahren beworben. Und weil ich davon ausgegangen bin, dass ich reinkomme. Die Absage kam gestern.

Mein Gesicht wird heiß vor Wut. Ich verdränge sie. Ich hätte sowieso ein Stipendium gebraucht, um dort zu studieren. Außerdem ist es nur eine Uni. Eine von sieben ist kein großes Ding.

»Noor …« Mrs Michaels räuspert sich vor der Klasse. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, die Tür geöffnet zu haben. Ich möchte mich in Luft auflösen, aber ich stehe wie angewurzelt auf der Türschwelle. Jamie Jensen dreht sich um und stiert mich an. Ihr Pferdeschwanz wippt hin und her. Ihre blauen Augen taxieren mich, genau wie die aller anderen.

Mitläufer.

»Das Licht, Noor.« Mrs Michaels fährt mit ihrem Rollstuhl neben ihr Laptop. Ich schalte es aus und forme stumm mit den Lippen Danke, als die allgemeine Aufmerksamkeit zu dem Gedicht auf dem Whiteboard wandert. Ich lasse mich auf meinen Platz in der letzten Reihe fallen, neben Jamie. Die mich immer noch beobachtet.

In meinem Kopf läuft das echt gruslige »Every Breath You Take« von The Police. Ich wette zehn Dollar, dass Jamie es eines Tages bei ihrer Hochzeit von einer Band spielen lassen wird.

»Was hast du?« Sie beugt sich zu mir herüber und deutet mit einem Kopfnicken auf das Blatt, das verkehrt herum auf meinem Tisch liegt. Der Aufsatz von letzter Woche. Mrs Michaels muss die Arbeiten ausgeteilt haben, bevor ich hereingekommen bin. Wir sollten uns mit den Themen in einem Gedicht namens »Licht bricht, wo keine Sonne scheint« von Dylan Thomas auseinandersetzen. Ich habe mein Bestes gegeben. Aber ich weiß, dass der Aufsatz scheiße war.

Jamie starrt mich an. Wartet. Als ihr klar wird, dass sie keine Antwort bekommt, lehnt sie sich zurück. Lächelt ihr verkniffenes aufgesetztes Lächeln.

»… arbeiten Sie an Ihren Abschlussaufsätzen, sie werden dieses Halbjahr die Hälfte Ihrer Note ausmachen«, sagt Mrs Michaels gerade. »Sie müssen ein Werk einer amerikanischen Dichterin oder eines amerikanischen Dichters auswählen …«

Ich spähe zu dem Platz neben dem roten Feuermelderkästchen auf der anderen Seite des Raums. Er ist leer. Was er nicht sein sollte. Salahudin war hinter mir. Ich dachte, er sei nach mir ins Klassenzimmer gekommen.

»Mr Malik«, sagt eine Stimme auf dem Gang. Principal Ernst, der sich Salahudin vorknöpft, weil er schon wieder zu spät kommt. Da Vokale unter seiner Würde sind, spricht Ernst »Malik« wie »Mlk« aus.

Ich ziehe mein Notizbuch heraus. Salahudin ist nicht mein Problem. Ich habe größere. Zum Beispiel die Absage der UVA. Zum Beispiel, diesen Kurs zu bestehen, obwohl ich total schlecht in Englisch bin, wenn Salahudin meine Aufsätze nicht durchsieht. Zum Beispiel Chachus Theorem der Zukunft und wie ich ihm trotzen kann.

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Im Sportunterricht passt mich Jamie ab. Sie wartet, bis Grace und Sophie, ihre grusligen Klone, über den ausgetretenen Trampelpfad vor der Umkleide davongegangen sind, bevor sie sich anpirscht.

»Hey – Noor!«

Mein Name wird wie »nur« ausgesprochen. Nicht weiter schwierig. Ich erwarte nicht mal, dass Leute das r am Ende rollen, wie Auntie Misbah es tut. Doch Jamie spricht ihn immer »Nor« aus. Ich kenne sie, seit ich in der ersten Klasse nach Juniper gezogen bin, aber trotz meiner Bitten weigert sie sich immer noch, meinen Namen richtig auszusprechen.

Die ersten fünf oder sechs Jahre hier hat Jamie meine Existenz größtenteils ignoriert.

Doch dann war ich in der Siebten Schülerin des Monats. Ich habe einen Debattierwettbewerb gewonnen. Ich habe AP-Kurse belegt. Sie hat sich nicht etwa mit mir angefreundet. O nein. Aber sie fing an, mich aufmerksam zu beobachten.

»Du siehst müde aus.« Ihr Blick ruht auf meinem Gesicht. »Die Matheaufgaben gestern Abend waren krass, oder?«

Nach außen hin wirkt Jamie wie die Unschuld in Person. Klassensprecherin. Supernoten. Breites Lächeln. Ihr angenehmes Wesen hat ihr die Aufnahme in den Homecoming-Hofstaat verschafft, wenn auch nicht die Krone.

Und trotzdem.

»Hast du schon Rückmeldungen von Unis?« Sie will nicht fragen, aber ihr Konkurrenzdenken lässt ihr keine Ruhe. »Ich weiß, es ist erst Februar, aber du hast dich doch über das frühe Zulassungsverfahren beworben, oder? Meine Schwester meinte, ich hätte mittlerweile von Princeton hören sollen …«

Ich kann mich nicht daran erinnern, Jamie erzählt zu haben, dass ich mich frühzeitig beworben habe. Ich habe überhaupt niemandem an der Schule davon erzählt. Es gibt niemanden, dem ich etwas erzählen könnte. Bis vor einem halben Jahr war Salahudin mein einziger Freund und mehr brauchte ich nicht.

Es entsteht ein verlegenes Schweigen. Als Jamie kapiert, dass ich nichts sagen werde, tritt sie einen Schritt zurück. Ihre Gesichtszüge verhärten sich. Wie damals, als ich unter den Top Ten der Golden State Engineering and Science Fair war, der Wissenschaftsmesse hier in Kalifornien, und sie leer ausging.

»Gut. Ja. Gut. Verstehe. Okay. Klar.« Sie klingt ein bisschen wie eine bellende Robbe. Als sich das Bild erst mal in meinem Kopf festgesetzt hat, kriege ich es nicht mehr raus. Was dazu führt, dass ich lächle. Was sie noch wütender macht, weil sie annimmt, dass ich über sie lache.

Ein paar aus unserer Klassenstufe laufen vorbei, darunter Grace und Sophie. Sie mustern uns neugierig – sie wissen, dass wir nicht befreundet sind. Jamie rennt mit ihrem aufgesetzten Zehntausend-Kilowatt-Lächeln auf sie zu. Sie gäbe eine super Politikerin ab. Oder eine Serienmörderin.

Als sie aufs Spielfeld verschwindet, kommt Salahudin aus der Umkleide. Er zieht das Shirt nach unten, ich erhasche einen Blick auf angespannte braune Bauchmuskeln.

»Was wollte die Psychozicke von dir?«

Wie locker er das sagt. Als würden wir uns nicht seit sechs Monaten, zwei Wochen und fünf Tagen aus dem Weg gehen.

Mein Hirn sträubt sich, eine Antwort zu formulieren. Nach DEMSTREIT – als er mir erklärte, er könne sich nie in mich verlieben; als er behauptete, ich hätte unsere Freundschaft zerstört – habe ich wach gelegen und über all die Dinge nachgedacht, die ich hätte erwidern können.

Doch jetzt fällt mir kein einziges Argument mehr ein. Ich sollte ihn einfach ignorieren. Aber sein Blick – vorsichtig und hoffnungsvoll – ist ein Schlag in die Magengrube. Und ich knicke ein.

»W-weißt du noch, wie sie dir vorgeschlagen hat, dich an Halloween als Terrorist zu verkleiden?«

»Sechste Klasse. Danach hab ich ihr nie wieder über den Weg getraut.«

Wir starren finster auf Jamies Rücken, als sie davongeht. Einen Moment lang sind wir wieder Kinder. Vereint gegen ein unsichtbares Übel.

Als er den Arm hebt und sich den Hinterkopf reibt, sehe ich kurz Bizeps. Nicht hinschauen, Noor.

»O Mann. Ich wünschte, sie hätte irgendeine Schwäche.« Auch wenn Gott vermutlich nicht dort wohnt, werfe ich einen vorwurfsvollen Blick zum Himmel. »Unsicherheit. Arschloch-Eltern. Scheißhaare. Blähungen. Irgendwas.«

»Sie hat einen furchtbaren Schuhgeschmack. Schau dir die Dinger an.« Er deutet mit einem Kopfnicken auf Jamies neonfarbene Nikes. »Sieht aus, als wären ihre Füße von Absperrkegeln gefressen worden.«

Normalerweise ist Salahudin nicht gerade für seinen Witz bekannt, aber der war nicht schlecht. Fast sage ich es. Er wirft mir einen Blick zu. Ich möchte mich verstecken. Er kommt näher.

»Noor.« Er sieht zu viel. Ich wünschte, es wäre nicht so.

»Du solltest gehen.« Ashlee beobachtet uns vom Feld. »Deine Freundin wartet.«

Dieses Wort löst immer noch den Wunsch in mir aus, ihm eine runterzuhauen. Freundin. Ich würde ihm gern einen giftigen Blick zuwerfen, doch dazu müsste ich mir den Hals verrenken. Das letzte Mal, als ich ihm so nah war, war er noch fünf Zentimeter kleiner. Und hatte schlechtere Haut.

Wäre das Universum gerecht, wäre er geschrumpft. Oder hätte eine fragwürdige Gesichtsbehaarung entwickelt. Eine Warze wäre auch gut. Und vielleicht noch eine Charaktertransplantation. Eine Wampe statt eines Sixpacks.

Aber das Universum ist nicht gerecht.

»Stimmt«, sagt Salahudin. »Äh – ich wollte dich um einen Gefallen bitten.«

Ich verschränke die Arme. Eine kurze Unterhaltung ist eine Sache. Aber wir wissen beide, dass er mich nicht um Gefallen bitten sollte.

»Könntest du meiner Mutter eine Nachricht schreiben?«, fragt er. »Und ihr sagen, sie soll ihren Arzttermin verschieben? Ernst hat mich zum Nachsitzen verdonnert, weil ich zu spät gekommen bin und …« Er hält sein Telefon hoch. »Es – funktioniert nicht.«

»Ich habe ein Ladegerät dabei.«

»Nein, es ist –« Er zappelt herum, was komisch ist, weil Salahudin normalerweise nie herumzappelt. »Wir haben ein Problem mit unserem Account. Irgendwas … mit der Rechnung. Ama hat ihren eigenen Vertrag, deshalb funktioniert ihr Telefon. Egal. Vergiss, dass ich gefragt habe.«

Er dreht sich weg. Die angespannten Sehnen in seinem Nacken verraten mir seine Nervosität. Es macht mich wütend, dass ich überhaupt darüber nachdenke. Ich kenne ihn so gut. Ich wünschte, es wäre nicht so.

»Hey –« Ich will ihn am Arm fassen, doch als er zusammenzuckt, ziehe ich die Hand zurück. Ich hätte nicht nach ihm greifen sollen. Er hasst es, angefasst zu werden.

Doch sobald ich ihn berührt habe, will ich es noch einmal tun. Ihn anzufassen, macht ihn real. Und erinnert mich daran, was ich früher für ihn empfunden habe.

Was ich immer noch empfinde.

»Ich werde Auntie schreiben.« Ich denke an die Nachricht, die sie mir heute Morgen geschickt hat. An das Essen, das sie für mich zubereitet hat. Sie liebt mich. In meinem tiefsten Inneren weiß ich das. Es ist nicht ihre Schuld, dass Salahudin ein Idiot ist. »Und wenn ich im Krankenhaus fertig bin, werde ich kurz vorbeischauen. Wie geht es ihr?«

Eine lange Pause. Er könnte hundert Dinge sagen. Aber seine Schultern spannen sich an. Seine braunen Augen schauen weg.

»Nicht besonders.«

»Wie meinst du das?«, frage ich. »Was ist passiert?«

Salahudin lächelt mich verhalten und traurig an. Dieses Lächeln kenne ich nicht. »Auf ihn vertrauen wir«, sagt er.

Einer von Aunties religiösen Sprüchen. Normalerweise würde Salahudin mit ihr darüber streiten. »Und was ist mit unserem Willen?«, würde er erwidern. »Was ist mit unseren Wünschen?«

Und sie würde mit ihrer Pass-auf-dass-ich-dir-nicht-eins-mit-meinem-Chappal-überziehe-Stimme antworten: »Was du willst, ist, was du willst. Aber du tust, was du nach Gottes Willen tun sollst. Und nun bitte um Vergebung, Putar. Ich möchte nicht, dass mir die Himmelspforte verschlossen bleibt, weil mein Sohn keinen Respekt gezeigt hat.«

Salahudin würde vor sich hin grummeln. Aber dann würde er um Vergebung bitten. Jedes Mal. Auntie wusste, wie sie auf seine Fragen antworten musste. Sie wusste, was sie ihm sagen musste.

Ich nicht. Er geht davon. Und ich lasse ihn ziehen.

Kapitel 4

Misbah

November, damals

Inmitten der leuchtenden Seidenstoffe des Anarkali-Basars wirkte die Wahrsagerin wie ein Spatz. Ihre kleinen Füße in den kaputten Gummisandalen tippten ungeduldig auf den Boden. »Sie ist zwar jünger als du, Misbah«, erklärte mir meine Cousine Fozia, »aber danach wird dir leichter ums Herz sein.«

Die Wahrsagerin bedeutete mir, mich auf die andere Seite des wackligen Holztischs zu setzen, und nahm meine Hände.

»Du wirst heiraten«, erklärte die Wahrsagerin.

»Ich zahle dir keine hundert Rupien, damit du mir erzählst, dass Kühe Milch geben.« Ich hielt die Tüte von Sahibs Brautmoden hoch. Dem Mädchen entfuhr ein quietschendes Lachen. Vielleicht war sie doch älter, als sie aussah.

»Dein Verlobter ist eine ruhelose Seele.« Sie fuhr die Linien in meiner Handfläche nach und drückte auf die Schwielen. »Du wirst übers Meer reisen.«

»Mein Verlobter ist der einzige Sohn. Er wird seine Eltern nicht im Stich lassen.«

»Trotzdem, du wirst Pakistan verlassen«, erklärte sie. »Du wirst deine Kinder fern von hier zur Welt bringen. Drei.«

»Drei!«

»Einen Jungen. Ein Mädchen. Und ein drittes, das weder eine Sie noch ein Er noch das dritte Geschlecht sein wird. Du wirst sie alle enttäuschen.«

»Was soll das heißen, ich werde sie enttäuschen? Wie? Werden – werden sie sterben? Werden sie krank sein?«

Die Wahrsagerin blickte mir in die Augen. Ihre waren klein mit langen Wimpern und hatten das klare Braun von Laub.

»Du wirst sie alle enttäuschen.«

Ich bot ihr hundert Rupien an, um die Zukunft zu ändern. Dann zweihundert. Doch ganz gleich, was ich ihr bot, sie sagte kein Wort mehr.

Kapitel 5

Noor

Chachu will zwar, dass ich Viertel nach drei im Laden bin, aber ich mache mir Sorgen, weil Auntie nicht auf meine Nachricht reagiert hat.

Die letzten zwei Stunden eines jeden Schultags verbringe ich in einem Freiwilligenprogramm am Juniper Regional Hospital. Chachu passt das nicht, aber da es während der Schulzeit ist, kann er nicht viel dagegen unternehmen. Nach meiner Schicht fahre ich zum Motel. Mit dem Fahrrad sind es nur zehn Minuten. Die Zeit sollte reichen, um nach Auntie zu sehen und trotzdem rechtzeitig im Laden zu sein.

Das Motel ist ruhig, als ich über den rissigen Asphalt des Carports neben dem Hauptapartment rolle, in dem Sals Familie wohnt. Auntie schließt nie ab, und als ich eintrete, strömt mir der warme Duft von mit Zucker geröstetem Grieß entgegen. Ich rufe, aber niemand antwortet. Ich gehe um den Carport herum zum eingezäunten Pool und dem Werkzeugschuppen, aber auch dort ist keiner. In meinen Ohrstöpseln spielt »Cold Moon« von den Zolas. Als der Refrain leiser wird, schalte ich mein Handy aus.

Der Ostflügel des Motels ist ruhig, auf dem Parkplatz sind keine Autos. Das Geschäft scheint nicht zu laufen. Im Westflügel steht auch kein Zimmer offen. Nur die leuchtend blaue Tür der Wäschekammer knarrt im Wind.

Als ich sie aufstoße, finde ich Auntie an die Wand gelehnt, ein Handtuch gegen die Brust pressend.

Sie sieht furchtbar aus. Ihre braune Haut ist grau und wirkt ungesund. Sie atmet zu schnell. Ich sehe ihren Puls an der Halsschlagader. Ihr im Nacken geknoteter pinkfarbener Hijab hat sich gelöst.

»Auntie?« Ich eile sofort zu ihr.

»Oh!« Sie fährt zusammen. »Asalaam-o-alaikum. Kithay rehndhi, meri dhi?« Friede sei mit dir. Wo bist du gewesen, meine Tochter?

»Auntie, du musst dich hinsetzen. Halt dich an mir fest. Hast du meine Nachricht erhalten? Dass Salahudin nachsitzen muss?«

»Ja, ich habe den Termin abgesagt.« Ich biete ihr meinen Arm an, doch sie winkt ab. »Und bilde dir nicht ein, ich hätte dir verziehen, weil ich mit dir spreche. Nach all diesen Paratha konntest du deine alte Tante nicht besuchen kommen?« Sie lächelt. Aber ich spüre ihre Traurigkeit.

»Mafi dede, Auntie«, bitte ich hastig um Verzeihung. Wenn man sich entschuldigt, ist es schon halb verziehen, hat sie mir einmal erklärt. »Ich bin eine Idiotin. Lass uns in die Wohnung gehen.« Sie ist so grau, ein Wunder, dass sie überhaupt noch stehen kann. Ich muss sie zum Arzt bringen. Aber vorher muss ich ihr die Vorstellung schmackhaft machen – vielleicht bei einer Tasse Tee.

»Ich habe nicht geglaubt, dass du kommen würdest.« Sie blinzelt ins grelle Winterlicht. »Aber ich habe trotzdem Halva und Puri für dich gemacht.«

Beim bloßen Gedanken an das frittierte fluffige Brot läuft mir das Wasser im Mund zusammen. »Du hättest nicht –«

»Schließlich hast du heute Geburtstag, oder? Achtzehn! Sehr … sehr wichtig –« Als sie stehen bleibt, um Luft zu holen, kann ich sie endlich überzeugen, sich auf mich zu stützen. So leicht, wie sie ist, könnte ich sie auf den Arm nehmen.

In der Wohnung bekommt sie wieder ein bisschen Farbe und lässt mich los. Sie geht durch das düstere Wohnzimmer und tätschelt die Wand, als wäre sie eine alte Freundin. Sie liebt diese Wohnung. Obwohl sie alle Kraft aus ihr gesaugt hat.

Die Küche liegt an der Seite und ist wie ein L geschnitten. Ein großes Fenster blickt auf den Ostflügel. Neben dem Esstisch für vier Personen, an dem ich Hunderte von Mahlzeiten gegessen habe, stehen drei Glaskeramikkasserolen auf der alten Holzarbeitsplatte.

Ich strecke schon die Hand nach dem Cholay aus – Aunties Kichererbsen mit Kurkuma und Kreuzkümmel – doch sie stellt den Ofen an, um die Puri aufzuwärmen. Ihre Hände zittern.

Ich schiebe sie zu einem Stuhl. »Ich mach dir einen Tee. Und dann rufe ich den Arzt, Auntie. Das Geburtstagshalva kann warten.«

»Ich habe den Termin auf morgen verlegt, mach dir keine Sorgen. Wir haben Zeit für Tee.«

Als ich zwei unterschiedliche Tassen und PG-Tips-Teebeutel herausnehme, lässt meine Anspannung nach. Die Absage der UVA erscheint mir nicht mehr so wichtig. Ebenso wenig der verpatzte Englischaufsatz. Irgendetwas an Auntie gibt mir das Gefühl, dass ich damit klarkommen werde.

Ich möchte ihr das alles sagen. Das hier ist mein Zuhause. Du und Salahudin, ihr seid mein Zuhause. Es tut mir leid, dass ich so lange nicht gekommen bin. Ich knacke ein paar Kardamomkapseln mit den Zähnen auf, überlege mir ein Dutzend Ausreden und verwerfe sie wieder. Wie bei meinen Schreibversuchen. Nur noch schlimmer.

»Schon gut«, sagt Auntie, als ich zu ihr hinüberspähe. Ihre Augen sind haselnussbraun, viel heller als Salahudins. Und im Moment sind sie auf mich gerichtet. Sie legt eine Hand aufs Herz. »Ich weiß Bescheid.«

Der Schmerz, den ich seit Monaten in der Brust herumtrage, löst sich. Während das Halva blubbert und die Puri sich aufblähen, verfallen wir in ein vertrautes Schweigen. Ich setze mich zu Auntie an den Tisch, aber sie rührt ihr Essen nicht an; und als sie den ersten Schluck Tee nimmt, bin ich mit meinem schon halb fertig.

»Wow.« Ich hole endlich Luft. »Du hast dich selbst übertroffen, Auntie.«

»Du hast nicht genug gegessen.« Die Falte zwischen ihren Augen vertieft sich. »Weißt du, ich habe Riaz angeboten, ihm Kochen beizubringen.« Sie hat Chachu immer mit seinem Nachnamen angesprochen. »Damals, als er mit dir nach Juniper kam.«

Ich lasse mein Puri sinken. Chachu hasst pakistanisches Essen. Er hasst alles, was mit Pakistan zu tun hat. »Hm, ich glaube, er isst lieber Sandwiches.«

»Brooke wollte es lernen«, sagt Auntie. »Wusstest du das?«

Ich schüttle den Kopf. Theoretisch könnte ich Brooke »Chachee« nennen, schließlich ist sie Chachus Frau. Sie fand es süß, als ich es vorgeschlagen habe, doch Chachu hat es sofort unterbunden. Chachu darf ich ihn bloß nennen, weil ich »Onkel« damals mit sechs nicht richtig aussprechen konnte und er falsch ausgesprochene Wörter noch mehr hasst als Urdu.

»Ist auch egal, dein Chachu hat es mitgekriegt. Deshalb ist sie nicht wiedergekommen.« Sie trinkt einen Schluck Tee.

»Auntie, warum bist du nicht –«

»Weißt du, Noor, jetzt, wo du achtzehn bist –«

Wir reden beide nicht weiter, bis sie mir ein Zeichen gibt fortzufahren.

»Du hast deine Dialysetermine nicht wahrgenommen, Auntie.«

Ihre Miene verdüstert sich. »Ach, das ist sowieso Unfug«, erklärt sie. »Danach geht es mir nicht besser, es kostet nur einen Haufen Geld. Ich trinke Milch mit Kurkuma –«

»Niereninsuffizienz ist gefährlich, Auntie«, sage ich. »Die kannst du nicht mit Kurkuma heilen. Du musst zur Dialyse. Was ist mit der Versicherung?«

»Keine Versicherung.« Sie sieht zu ihrem Schreibtisch, auf dem sich die Rechnungen türmen. »Ich muss weiterputzen. Spiel mir ein Lied vor, bevor du gehst, Noor Jehan.«

Diesen Kosenamen hat sie mir gegeben, als ich noch klein war und sie meine Liebe zur Musik mitbekommen hat. Noor Jehan, nach der berühmten pakistanischen Play-back-Sängerin.

»Okay, du stehst doch so auf diesen Song von Johnny Cash und U2?« Ich ziehe das Smartphone heraus, das sie mir letztes Jahr geschenkt hat – sie behauptet zwar, ein Mieter habe es vergessen, doch ich habe den Verdacht, dass sie es aus eigener Tasche bezahlt hat. »Ich habe noch einen anderen von Johnny Cash. Es heißt ›Bridge Over Troubled Water‹ und er singt ihn mit Fiona Apple. Die magst du doch auch.«

Ich finde den Song, und die ersten Akkorde von Johnnys Gitarre ertönen. Auntie schließt die Augen. Als Fiona und er gemeinsam den Refrain singen, greift sie nach meiner Hand.

»Das bist du, Noor«, sagt sie. »Meine Brücke über aufgewühltes Wasser. Und Salahudins. Aber …«

Sie beugt sich vor und sieht mich an. In mich hinein. Ich senke den Kopf und lasse mir die Ponyfransen ins Gesicht fallen.

»Noor«, sagt sie. »Ich muss – ich muss dir etwas sagen …«

Aber sie redet nicht weiter. Als wäre sie zu müde. »Es geht mir nicht gut, Dhi«, flüstert sie. Als sie nach vorne kippt, kann ich sie gerade noch auffangen; ihr Körper ist mit einem Mal ganz schlaff.

»Auntie – o nein – okay –« Ich versuche, nach meinem Telefon zu greifen, ohne sie loszulassen. Doch es rutscht vom Tisch und fällt aufs Linoleum. Die Wohnungstür geht auf.

»Salahudin!«, rufe ich. »Mit Auntie stimmt etwas nicht!«

Aber es ist nicht Salahudin, sondern sein Vater, ich rieche den Schnaps schon, noch bevor er in der Küchentür auftaucht.

»Noor?«, murmelt er. Als er seine Frau sieht, versagt ihm die Stimme. »Misbah?«

»Ruf den Notarzt, Uncle Toufiq«, sage ich. Auntie lehnt sich kraftlos an meinen Körper, ihr Herzschlag pocht merkwürdig gegen meine Schulter. »Sofort!«

Juniper ist so klein, dass der Krankenwagen nicht lange zum Motel braucht. Uncle Toufiq starrt ins Leere, während die Sanitäter Auntie einladen. Die Angst vor der Krankheit seiner Frau lässt ihn kurz nüchtern werden.

Er versucht, mir seine Autoschlüssel in die Hand zu drücken, aber ich schüttle den Kopf. »Ich kann nicht fahren.« Zu meiner Erleichterung unternimmt er keinen Versuch, den Wagen selbst zu steuern. »Fahr du im Krankenwagen mit. Ich schreibe Salahudin eine Nachricht und komme mit dem Fahrrad hinterher.«

Ich nehme ein Blatt Papier.

Hallo,ARSCHLOCH, schreibe ich, streiche es aber sofort wieder durch.

Deine Mutter ist zusammengebrochen – Nein. Da flippt er nur aus.

Komm so schnell wie möglich ins Krankenhaus. Notaufnahme. Deine Mom ist okay. Aber sie musste eingeliefert werden.

Als ich aufs Fahrrad springe, meldet mein Handy eine Nachricht. Ein kurzer Blick informiert mich, dass es Chachu ist. 15:17. Ich bin zwei Minuten zu spät.

Der Spirituosenladen ist fünf Minuten entfernt. Aber wenn ich erst mal dort bin, wird Chachu gehen. Ihm wird es egal sein, dass Auntie krank ist. Er hat es nie leiden können, dass ich herkomme.

Ich schiebe das Telefon in meine Hosentasche, schnappe mir meinen Rucksack und fahre dem Krankenwagen hinterher.

Kapitel 6

Sal

Kurz vor sieben erreiche ich endlich das Krankenhaus, ich sehe aus, als wäre ich durch die Autowaschanlage gerannt, so durchgeschwitzt bin ich. Ich habe Noors Notiz gefunden, aber nicht den Ersatzschlüssel fürs Auto. Als ich sie vom Telefon des Motels aus anrief, ist sie nicht drangegangen. Also bin ich gerannt.

»Wo zum Teufel hast du gesteckt?« Noor geht im Eingang der Notaufnahme auf und ab. »Sie liegt auf der Intensivstation – komm mit.«

Während wir durchs Juniper Hospital hasten, bringt Noor mich auf den neuesten Stand. Ihre Stimme lässt mich zusammenzucken, wie eine Gatling-Kanone feuert sie Fakt nach Fakt ab. Deine Ama ist schwach. Halluziniert. Sie hat einen hohen Preis dafür gezahlt, dass sie nicht zur Dialyse gegangen ist. Hohe Kaliumwerte im Blut – das kann zu einer Herzrhythmusstörung führen –

Noor wird im Vorbeilaufen von einigen Pflegern begrüßt, aber sie bekommt es kaum mit. Beim Sprechen bewegt sie nervös die Hände, streicht mit der einen über die andere, als würde sie sie einseifen. Sie hat schreckliche Angst.

Ein Teil von mir will ihr erklären: »Hör auf. Sieh mich an. Alles wird gut.« Das würde Ama sagen.

Aber ich hasse es, zu lügen. Vor allem hasse ich es, Noor anzulügen. Ihre Angst überträgt sich auf mich, steckt mich an. Als sie vor der Tür der Intensivstation stehen bleibt, läuft mir erneut der Schweiß herunter, aber nicht vom Rennen.

»Sag ihnen deinen Namen, wenn du reingehst. Sie lassen immer nur einen Besucher zu ihr, deinen Vater haben sie schon rausgeworfen.« Als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkt, wird Noors Stimme sanfter. »Ihm … ist ein bisschen übel geworden. Ich werde mich um ihn kümmern.«

Ama hängt an Tausenden von Maschinen. Sie ist erst dreiundvierzig. Aber sie sieht um zwanzig Jahre gealtert aus. Ich streiche die Haare unter ihren Hijab und zupfe das Nachthemd zurecht, das sie ihr angezogen haben, außerdem ziehe ich die Decke über ihre bloßen Beine. Ama hält sie in der Öffentlichkeit immer bedeckt. Die Ärzte hier kennen sie. Sie wissen, dass sie nicht gern Haut zeigt. Und sie haben nicht mal den Anstand besessen, sie ordentlich zuzudecken? Arschlöcher.

»Warum bist du nicht zur Dialyse gegangen?«, flüstere ich ihr zu. »Warum hast du nicht auf die Ärzte gehört?«

»Putar.« Sohn.

Ich nehme Amas Hand – sie ist der einzige Mensch, dessen Hände sich jemals sicher angefühlt haben. Sie sieht mich an.

»Wie geht es dir, Ama?«

»Wo ist dein Abu?«

Macht sich zum Affen, indem er auf den Gang kotzt.

»Er ist draußen.« Mehr erzähle ich ihr nicht, doch das Gift in meiner Stimme lässt sie zusammenzucken.

»Er ist krank, Putar«, sagt sie leise. »Er –«

Er ist nicht krank. Er war nie krank. Schwach vielleicht. Erbärmlich. »Er ist besoffen, Ama. Wie immer halt.« Der Schmerz auf ihrem Gesicht sorgt dafür, dass ich mich selbst hasse. Aber ich entschuldige mich nicht. Diese Wut muss wie eine zusammengerollte Schlange lange in mir gelauert haben.

Ama drückt meine Hand. »Dein Vater … Er –«

»Entschuldige ihn nicht. Er ist draußen und dekoriert die Notaufnahme mit seinem Mittagessen, während du hier –« Ich schüttle den Kopf. »Aber mach dir keine Sorgen. Wir haben alles im Griff –«

»Wo ist Noor?«

»Im Wartezimmer.« Ich kann mit Ama nicht über Noor reden. Nicht schon wieder.

»Putar, du musst dich mit ihr aussöhnen. Sie braucht dich. Mehr als du ahnst. Und du brauchst sie.«

»Ama – mach dir keine Gedanken über Noor und mich, okay?« Ich wünschte, ich könnte diesen scharfen Unterton aus meiner Stimme kriegen. Ich versuche es. Ich versuche, ruhig zu bleiben, aber mein Körper fühlt sich überhaupt nicht wie ein Körper an, sondern wie eine dunkle Höhle voller Stress und Unsicherheit und Angst; er stößt Wörter aus, die keine Wörter sind, sondern Habichte mit Rasierklingen als Flügel und Messern als Schnäbel.

»Noor geht es gut«, sage ich. »Sie ist ein halbes Jahr bestens ohne uns ausgekommen. Immer machst du –«

»Du musst meine Cousinen und Cousins in Pakistan anrufen«, flüstert sie.

»Warum …« Meine Stimme versagt, ich stelle sie mir als Wörter auf einem Blatt vor, angeschubst, geformt, gebogen nach meinem Willen. Als ich weiterspreche, klinge ich normal. »Du wirst sie selbst anrufen, Ama.«

»Du musst die Rechnungen bezahlen, Putar. Dein Vater vergisst es«, sagt sie. »Und gieß die Blumen. Bitte – bitte Uncle Faisal um Hilfe –«

»Ama, bei seinem Besuch letzten Sommer hat er mir einen Müllsack mit den alten Brooks-Brothers-Klamotten seines Sohnes gegeben, damit ich nicht wie ein ›Daku‹ aussehe.« Wie ein Verbrecher. »Ich werde ihn um nichts bitten.«

»Er … er fehlt mir.« Amas Stimme ist schwach, aber sie sieht so konzentriert an mir vorbei, dass ich einen Blick über die Schulter werfe.

»Du vermisst Uncle Faisal?«

»Nein«, flüstert Ama. »Meinen Vater. ›Kleiner Schmetterling‹ hat er mich immer genannt. Er spielte mit Toufiq und seinem Vater dieses Brettspiel Carrom. Er liebte Toufiqs Witze.«

Ich nicke, obwohl ich noch Unterwäsche mit Hulk-Motiven getragen habe, als Abu das letzte Mal einen Witz erzählt hat.

»Sir?«

Eine große dunkelhaarige Pflegerin kommt herein. »Ihr, ähm – Vater. Ich denke, er braucht Ihre Hilfe.«

Mein Vater, möchte ich antworten, ist nicht derjenige, der mich gerade braucht.

»Danke für die Info.« Ich drehe mich wieder zu Ama, doch die Pflegerin streckt eine Hand aus, als wolle sie mich an der Schulter berühren. Ich zucke zurück, bevor es dazu kommt, und sie mustert mich mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Es tut mir wirklich leid, aber Ihr Dad kann nicht hierbleiben. Er macht die Leute im Wartezimmer nervös. Spricht in irgendeiner anderen Sprache –«

»Das ist Punjabi«, erkläre ich. »Seine Muttersprache.«

»Sie müssen sich um ihn kümmern. Sonst sehen wir uns gezwungen, die Polizei zu rufen.«

Noor kommt herein und hört den Rest des Gesprächs mit.

»Ich habe mir von deinem Vater die Schlüssel geben lassen«, sagt sie, als die Pflegerin hinausgeht. »Imam Shafiq hat euer Auto vorbeigebracht.«

Der junge Imam und Ingenieur, der die winzige Moschee in Juniper leitet, ist ein Freund von Ama. Aber ich habe ihn nicht informiert. »Wie –«

»Ich habe ihn vorhin angerufen. Er musste weg, aber, ähm, dein Vater sollte besser nach Hause gebracht werden.« Noor tritt von einem Fuß auf den anderen. Ich dachte, sie wüsste nicht, wie schlimm es mittlerweile zwischen Abu und mir ist. Aber vermutlich hat sie es sich zusammengereimt.

»Ich würde ihn heimbringen, aber Auntie hat mir nur ein paar Stunden lang gezeigt, wie man Auto fährt, bevor …«