Sodom und Berlin - Yvan Goll - E-Book

Sodom und Berlin E-Book

Yvan Goll

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Beschreibung

Exklusive Manesse-Entdeckung: Eine bilderreiche Hauptstadtbesichtigung in der turbulentesten Epoche Berlins

Berlin, 1918 ff. Lebenskünstler, Tagediebe, Kriegsheimkehrer, Vergnügungssüchtige, Schieber und andere Halbweltexistenzen drängen sich in der deutschen Nachkriegsmetropole. Das liebe Leben, das so schnell an sein Ende kommen kann, will schließlich gelebt werden. Immer mit dabei: Dr. Odemar Müller, der Wandelbare: »naiver Student, mittelalterlicher Mystiker, überzeugter Krieger, wilder Revolutionär, Inflationsgewinnler, Romantiker auf der Suche nach der blauen Blume, Stammgast in Spielhöllen und Betrüger«, einer von Abertausenden zugezogener Provinzteutonen, erst Salonbolschewist, dann Spekulant, prinzipienlos aus Prinzip, Hauptsache, der Weltgeist schreitet voran ...

Mit großer Lust an der satirischen Überzeichnung komponiert, gelang dem deutsch-französischen Grenzgänger Yvan Goll mit seinem Berlin-Roman eine groteske Zeit- und Stadtbesichtigung, ein unterhaltsames Panorama deutscher Absurditäten und Phantasmagorien.

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Zum Buch

Berlin, 1918 ff. Lebenskünstler, Tagediebe, Kriegsheimkehrer, Vergnügungssüchtige, Schieber und andere Halbweltexistenzen drängen sich in der deutschen Nachkriegsmetropole. Das liebe Leben, das so schnell an sein Ende kommen kann, will schließlich gelebt werden. Immer mit dabei: Dr. Odemar Müller, der Wandelbare: «naiver Student, mittelalterlicher Mystiker, überzeugter Krieger, wilder Revolutionär, Inflationsgewinnler, Romantiker auf der Suche nach der blauen Blume, Stammgast in Spielhöllen und Betrüger», einer von Abertausenden zugezogener Provinzteutonen, erst Salonbolschewist, dann Spekulant, prinzipienlos aus Prinzip, Hauptsache, der Weltgeist schreitet voran …

Mit großer Lust an der satirischen Überzeichnung gelang dem deutsch-französischen Grenzgänger Yvan Goll mit seinem Berlin-Roman eine groteske Zeit- und Stadtbesichtigung, ein unterhaltsames Panorama deutscher Absurditäten und Phantasmagorien.

Zum Autor

Yvan Goll wurde 1891 im französischen Landesteil von Lothringen geboren und wuchs zweisprachig auf. In Straßburg und Freiburg studierte er Jura und wurde 1912 in München zum Doktor der Philosophie promoviert. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs floh der überzeugte Pazifist in die Schweiz, wo er seine spätere Frau Claire kennenlernte. Nach Kriegsende heiratete das Paar in Paris. Dort verkehrte Yvan Goll im Kreis der französischen Surrealisten und gehörte bald zur ersten Garde der europäischen Moderne, ehe er nach New York emigrieren musste. Der Weltbürger – laut Selbstauskunft mit «französischem Herzen, deutschem Geist, jüdischem Blut und amerikanischem Pass» – starb mit 58 Jahren an Leukämie.

YVAN GOLL

Sodom und Berlin

Roman

Aus dem Französischen übersetzt von Gerhard Meier

Mit einem Nachwort von Hanns Zischler

MANESSE VERLAG

Berlin, Stadt des Nordens und des Todes, die Fenster vereist wie die Augen Sterbender, die Steine rissig, der Boden aufklaffend wie der Schoß einer Gebärenden. Stadt des frostigen Wahnsinns, ausgebrochen in Finsternis und Kerkern und so ganz anders als die kochende Verrücktheit des goldenen Siziliens Zementkopf, Totenkopf aus Pappmaschee, auf einer blutsteifen Husarenuniform zuckend. Kopf eines schwindsüchtigen, bartlosen Rekruten, der sich auf sein Milchgesicht einen Attila-Schnurrbart geklebt hat. Die niedrige Stirn dreifach gezeichnet von der Egge des Hungers und gekrönt von einem Kranz aus Kartoffelblüten!

Ach, du sieche, eitrige Stadt: Die Angst deines Pöbels überzieht deine faltige Haut wie erkaltete Lava. Du Kinderfresserin mit schlackerndem Euter unter einem Papierhemd, geblendet von rätselhaftem Schlamm; welcher tausendjährigen Höhle bist du entstiegen, um dich auf den Gobelins Europas zu wälzen? Ach, jetzt erkenne ich dich: Du blonde Germania, deren lange Zöpfe ich in den unberührten Wäldern deines epischen Gesanges entflocht, du Urenkelin von Ossian und Schwiegertochter eines pensionierten Feldwebels, wie konntest du so rasch altern? Wie schnell doch die Elfen zu Hexen werden! Aber komm nur, erzähl mir die Geschichte deines Unglücks. Das ist nun mal das Schicksal eines jeden Gretchens.

Es sind so viele Doktor Faustus in dir: Länder, in denen epileptische Straßenbahnen auf dem Gefälle der Milchstraße entgleisen und die wahre blaue Blume in ihren Fruchtknoten Stickgase produziert. Land der Dichter und Ulanen! Land des göttlichen Hölderlin, der sich in seinem Wahn die Ader aufschnitt, um einen Rosenstock zu gießen, und des Massenmörders Haarmann, der seinen blonden Liebhabern an der zartesten Stelle des Halses das Blut aussaugte. Land der Antithesen und der schönsten Träume. Land der Unterengel und der Unteroffiziere, der Urin ausschwitzenden Kasernen und der glyziniengeschmückten Sanatorien. Treibhaus, in dem man heilige Frauen und Zauberwurz heranzüchtet. Fabrik, die den Stein der Weisen und tödliches Phosgen herstellt.

An einem klaren Ostermorgen fällt deine nach Leder und Schweiß stinkende schwere Artillerie über deinen Hain sanfter, glatthaariger Birken her, und ihr Befehlshaber Parzival hisst die kaiserliche Flagge!

Die Irrenanstalten stecken voller Kinder, die sich für Christus halten und auswendig Jacob Böhme zitieren. An der Eisenbahnböschung lassen rothaarige Mädchen ihre Mähne im Wind flattern, um die Armeen der Bolschwiken zu grüßen. Universitätsprofessoren mit umgeschnalltem Rucksack und den Werken Kants im Schulterriemen ziehen in die Berge, um zu träumen oder die Kritik der reinen Vernunft in Verse umzudichten.

O Land sämtlicher Gegensätze und sämtlicher Extreme, du warst die rechte Heimat für Dr. Odemar Müller, der durch sein Leben und seinen Namen zu deinem strahlenden Helden wurde.

Er stammte nicht von Odin ab, wie sein Vorname hätte vermuten lassen, sondern schlicht von einem thüringischen Oberförster, und gehörte der gesichtslosen Generation einer gesichtslosen Provinzstadt an, in der die Reden Wilhelms II. und die Gemälde Böcklins als die genialsten Äußerungsformen ihrer Zeit galten. Im Arbeitszimmer seines Vaters hatte Odemar das Heiligtum jedes guten Deutschen bewundern können: eine Bibliothek, in der sich in dreißig Bänden die ledergebundenen Klassiker aneinanderreihten wie Grenadiere im Paradeschritt; auf dem oberen Regal ein Bierseidel aus Steingut vom Münchner Kindl Bräu und eine Trophäe, die ein Onkel bei einem Radrennen gewonnen hatte; darüber an der Wand gekreuzt zwei Säbel, dazu Paukbrille, Mensurhandschuh und Mütze der Studentenverbindung Arminia, der der Förster angehört hatte, daneben zwei mit Girlanden und Troddeln geschmückte Porzellanpfeifen mit ein Meter langem Holm, und während auf dem einen Pfeifenkopf ein mit Kornblumen umrahmtes Bismarck-Porträt prangte, zierte das andere ein Glücksschwein mit Ringelschwanz.

Hier hatte Odemar sich an den Quellen der deutschen Kultur gelabt.

Hier hatte er mal das Singen der Nachtigallen Walthers von der Vogelweide gehört, mal das Schlagen der Trommeln von Gravelotte; hatte die sibyllinischen Rhythmen der Edda buchstabiert und mit frühzeitig klangvoller Stimme Klopstocks verschrobene Texte skandiert; und schließlich hatten Herder und Hegel ihn in der unbestreitbaren Überlegenheit des deutschen Geistes über jeglichen anderen Geist der Welt bestärkt.

Stolz auf seine Vergangenheit, ging dieser junge Deutsche forsch einer stolzen Zukunft entgegen.

Sport wurde 1913 in Europa noch kaum betrieben, eine vorzügliche Alternative dafür war der Militarismus. Nach dem Abitur paradierte Odemar als Gefreiter auf der Hauptstraße seines Städtchens ein Jahr lang in der apfelgrünen und himbeerroten Uniform der leichten Kavallerie. Dann ging er endlich nach Bonn.

Das war für jeden Studenten die Wunderstadt. Bonn am Rhein: ein pilsfarbener Rhein, in dem sich pausbäckige Nymphen tummelten. Herrliches Bonn: die kleine, doch zu Höherem berufene Universität, die die Prinzen sämtlicher Herrscherhäuser aufnahm, die Söhne aller Industriemagnaten, die angehenden Botschafter und Gouverneure, die Götter der Zukunft. Bonn, Sitz der prächtigen Studentenverbindungen Saxo-Borussia, Alemannia und Arminia.

Die Theater spielten nur für sie. Die Geschäfte lebten nur für sie. Und die Mütter gebaren nur für sie: Bonn war wohl die einzige deutsche Stadt, in der man sich über männliche Stammhalter ärgern durfte, denn traditionell wurde jedem an einen Studenten vermieteten möblierten Zimmer eine reine und sanfte «filia hospitalis» zugeteilt. Und zu der Zeit, als Odemar dort eintraf, wurde gemunkelt, es gebe in der Stadt bereits vier nicht eheliche Kronprinzen, für die man sich schon nach einem ruhigen Amt in der Gendarmerie oder der Postverwaltung umsah.

Die Studentenverbindungen waren sehr exklusiv, hinein kam man nur durch gute Beziehungen oder einen Erbanspruch. Odemar wurde problemlos in die Arminia aufgenommen, in der sein Vater seinerzeit ein erstklassiger Trinker gewesen war.

Der vorzügliche Korpsstudent musste über zweierlei bedeutende Tugenden verfügen: Er musste trinken können, und er musste sich schlagen können.

Vor allem das Trinken war eine diffizile Kunst. Es vollzog sich nach heiligen, von wackeren Generationen aus dunkelster Zeit überlieferten Riten. Das Trinken war ein Akt der Danksagung an die verehrten Stammesgötter. Bier war das Grundnahrungsmittel eines Heldenvolkes, weshalb die Söhne der großen Münchner Braumeister auch zum Adel gezählt wurden. Während des ersten Semesters wurden den jungen Studenten theoretische Saufkurse verordnet, bei denen der sogenannte Fuchsmajor der Verbindung ihnen beibrachte, welches Lied zu singen war, bevor sie den Humpen hoben, und wie sie dann gemeinsam zur Habachtstellung aufspringen mussten und auf einen Befehl aus Walhalla den Humpen dreimal auf dem Tisch reiben, die sakramentalen Worte sprechen und schließlich, vor versammelter Tischgesellschaft, den Blick fest auf die Augen des Fuchsmajors gerichtet, ohne Atem zu holen in weniger als dreißig Sekunden einen Liter dunkles, schweres, schäumendes, ja göttliches Bier hinunterzustürzen hatten.

Ergänzt wurde die Erziehung des Studenten durch Lektionen in Benimm und Haltung: wie man sich das Monokel ins Auge klemmt, wie man beim vorschriftsmäßigen Mittagsspaziergang den Stock hält und den Corpshund an der Leine hält, wie man junge Damen grüßt – die Mütze bei der Verbeugung in großer Geste bis zur Erde geführt, die Augen dabei gesenkt – und schließlich wie man sich im Theater verhält. Denn im Gegensatz zu den anderen Künsten wurde das Theater nicht verachtet. Vor allem Wagner sah man als beispielhafte Einführung in das Studium der deutschen Psychologie an, seine Fricka als Urbild der braven Mutter, seinen Wotan als Meister, der den Wert des Goldes kennt, und seine Walküren als Frauen, die einem den Hang zur Femme fatale austreiben konnten. Und an seiner zugleich sanften und mächtigen Musik konnte man sich laben wie am Met, dem sagenhaften Gebräu der heidnischen Götter.

In der Kunst, sich zu schlagen, wiederum vollbrachte Odemar Müller wahre Wunder: Bald war er einer der besten Fechter der Arminia. Man setzte große Hoffnungen in ihn, die er nicht enttäuschte. Es bot sich ihm nämlich die Chance auf ein spektakuläres Duell, das Bonn wochenlang in Atem hielt.

Als er eines Tages zum Frühschoppen auf der Terrasse des Wirtshauses saß, das seiner Verbindung als Hauptquartier diente, kam ein blonder junger Mann mit linkischen Gesten und arglosem Blick, dessen weiße goldbesticke Seidenmütze ihn als Saxo-Borussen auswies, plötzlich auf ihn zu und forderte ihn mit Kinderstimme heraus:

«Mein Herr, Sie haben mich fixiert!»

«Wie Sie meinen, mein Herr!», erwiderte Odemar.

«Sie haben mich beleidigt!», rief der andere, bei dem das Zittern der Stimme mehr Aufregung verriet als echten Zorn.

«Ich stehe Ihnen zur Verfügung, mein Herr!»

So die brüske Manier, der die Studenten sich in stiller Übereinkunft bedienten, um einander herauszufordern. Die verschiedenen Verbindungen verkehrten nicht miteinander und verachteten sich gegenseitig. Doch um Heldentum zu erlangen, brauchten sie Vorwände, um die Duelle auszutragen, die jeder Student absolvieren musste, um in der Verbindung aufzurücken.

Gemäß dem Kodex wurde ein Ehrenrat bestimmt, der beschloss, dass der Arminier Odemar Müller die Ehre haben werde, sich mit dem Fürsten von Thurn und Taxis zu duellieren, der ihn provoziert habe. Im Korporationshaus der Saxo-Borussen schlug Odemar sich in einem vor Waffen und farbenreichen Uniformen nur so funkelnden Saal wie ein Tiger, doch während er es sich angelegen sein ließ, das Milchgesicht seines adeligen Gegners zu verschonen, spaltete jener ihm mit einem Hieb seines fürstlichen Säbels das Gesicht und verschaffte ihm damit jenen von der linken Schläfe über die Lippen hinweg bis kurz vor das Kinn reichenden Schmiss, der für immer von dieser Fehde zeugen und ihm erlauben sollte, sein Leben lang davon zu künden, jene ruhmreiche Verletzung habe er aus den fürstlichen Händen eines von Thurn und Taxis empfangen.

Indessen hatte die alte Lorelei, deren schöne blonde Zöpfe noch so fest waren wie eh und je, von ihrem Zauber nichts eingebüßt und sang auf ihrem legendären Felsen wie von Sinnen Heines leichte Verse. Die Bonner Studenten brachte das in Rage, behaupteten sie doch, nie hätte man dem grässlichen jüdischen Dichter erlauben dürfen, die deutsche Sprache zu benützen, um ihre heimischen Göttinnen zu duzen.

Odemar wiederum hatte trotz seiner spartanischen Tugenden eine tiefe Seele, wie man das in Deutschland nennt, und einen Hang zur Poesie. Die oft ungerechten Worte seiner Kommilitonen verletzten und betrübten ihn. Jene machten sich oft über ihn lustig, weil er ziemlich regelmäßig die Vorlesungen des Germanistischen Seminars besuchte. Er war an der Philosophischen Fakultät eingeschrieben, lernte Sanskrit, übersetzte die Gudrunsage und träumte davon, seine Doktorarbeit über die Nonne Roswitha von Gandersheim zu schreiben, die als erste deutsche Dramatikerin galt.

In der alten Aula, in der so viele junge Adler des Geistes erste Flugversuche unternahmen, saß Odemar neben einem jener armen Studenten, die man die «Wilden» nannte, weil sie keiner Verbindung angehörten, an keinem Fest teilnahmen und sich nur für das Studium interessierten. (Um ein rechtes Studentenleben zu führen, brauchte man nämlich einen wohlgefüllten Geldbeutel.) Jener Fremde hatte ein ausgezehrtes Asketengesicht, in dem zwei tiefe Falten längs der Nase von dem Ekel zeugten, den er vor der Welt empfand, und vielleicht auch von der Verzweiflung über totgeborene Illusionen. Seine großen, vom Schlafmangel geröteten Augen brannten wie Nachtlichter. Die langen Haare fielen ihm auf den Kragen und ließen Schuppen darauf herabschneien.

Eines Tages fing er mit Odemar ein Gespräch an. Er hieß Wilhelm Wander, war der Sohn einer armen Witwe und beschäftigte sich vor allem mit deutschen Mystikern. Nach der Vorlesung ließ er sich zu einer nicht enden wollenden Darlegung hinreißen und wich Odemar im Wandelgang der Universität zwei Stunden lang nicht von der Seite. In blumiger, exaltierter Sprache redete er von der Heiligkeit der Menschen, zitierte Franz von Assisi, Abraham de Santa Clara und kam schließlich auf Rilke zu sprechen, von dem er einen bewegenden Brief bekommen habe, als Antwort auf ein Briefgedicht, in dem er dem Dichter seine Seele zu Füßen gelegt habe. Dann stieg Wander auf eine Bank und trug laut ein Sonett Stefan Georges vor. Odemar bewunderte den seltsamen Studenten zwar, doch war es ihm peinlich, mit ihm zusammen aufzufallen. Am Abend warfen die Arminier ihm denn auch vor, Umgang mit zerlumpten Hungerleidern zu haben. Odemar forderte sie daraufhin auf, wenigstens einen einzigen Satz aus den Fioretti zu zitieren; doch keinem von ihnen war auch nur der Titel des Werkes geläufig. Aus plötzlichem Ekel heraus vergaß Odemar jegliche Disziplin und nannte einen Studenten, der schon «Bursche» war, einen Kretin. Als dieser ihm darauf, halb im Scherz, halb im Zorn, den Befehl gab, auf der Stelle zwei Liter Bier zu trinken – andernfalls würde er disziplinarisch bestraft –, empörte sich Odemar, stand auf und warf dem Burschen seinen Bierhumpen an den Kopf. Bevor die Tischgenossen sich von ihrer Verblüffung erholen konnten, stürmte Odemar schon aus dem Wirtshaus und stieß dabei eine Kellnerin* um, die an der ausladenden Brust ein Dutzend große Pils trug.

Er lief zu Wilhelm Wander, der in einer kleinen Mansarde im sechsten Stock wohnte, und flehte ihn an, sein Freund zu werden. Dann warf er seine rote Mütze zum Fenster hinaus und riss den Bierzipfel in den Farben der Verbindung von seiner Taschenuhr.

Der ruhige, selbstsichere Wilhelm Wander redete mit seiner sanften, eindringlichen Stimme auf ihn ein und gewann ihn für die Sache von Geist und Seele. Ganz und gar der Gotik verhaftet, berauschte er sich an seinem Schmerz und ließ in diesem profanen Jahrhundert ein tiefes mystisches Denken wieder aufleben. Wenn er von den göttlichen Dingen sprach, donnerte seine Stimme orgelgleich.

Odemar entdeckte dort eine neue Welt, die ihn vor Ekstase erschauern ließ. Hatte er germanische Größe bis dahin nur in den Erscheinungsformen kaiserlicher Macht gesehen, so wurde ihm urplötzlich deutlich, warum von einem Janusgesicht der Nation gesprochen wurde. Nachdem er sich an militärischer Mystik gütlich getan hatte, gierte er nunmehr nach göttlicher Mystik.

«Lasset uns Demut üben!», predigte Wander in prophetischem Ton. «Ich sehe bedeutende Ereignisse kommen. Die Menschheit kann so nicht weiterleben, so trivial und verweichlicht, ohne Ideal und Schmerz. Nur aus großem Elend heraus kann Glückseligkeit entstehen. Ihr füllt euren Bauch mit Bier, doch eines Tages werdet ihr einen Kelch voll eines ungleich bittereren Getränkes leeren müssen.»

Odemar spürte, dass Wander wahrhaftig litt, und er gewann ihn lieb wie einen älteren Bruder und bewunderte und fürchtete ihn zugleich. Wander hatte nämlich schreckliche Augen, die einen niederstreckten und dadurch erlösten. Bald wurden die beiden Freunde unzertrennlich. Nach den Vorlesungen wanderten sie gemeinsam an den blumenreichen Ufern des Rheins, dessen Wellen den Nibelungenschatz mit sich führten. In Vollmondnächten spazierten sie die mit rosafarben blühenden Kirsch- und Apfelbäumen bestandene Uferstraße entlang. Hundertäugige Schiffe glitten vorbei, mit erleuchteten Bullaugen, voll beladen mit Abenteuern. Unter silbrigen Weiden badeten splitternackte Undinen. Kobolde tanzten mit Kränzen aus Glühwürmchen im Haar. Wasserfrauen trauerten um dahingegangene Helden und sangen Strophen aus nie gehörten Tragödien. Plötzlich fuhr jenseits der Straße der Schnellzug aus Holland vorbei, trunken vor Geschwindigkeit, schroff in seiner Wirklichkeit, und überraschte die kleine Traumwelt und verscheuchte die bleichen göttlichen Schatten.

Die beiden jungen Männer schritten durch die Nacht, kamen durch schlaftrunkene Dörfer und grüßten scheue, gespenstische Gestalten mit zerfurchter Stirn, die einer Erzählung von Hoffmann oder Hauff hätten entwichen sein können. Manchmal kehrten sie in einem Wirtshaus ein, das unter seiner Linde noch nicht entschlummert war, und vor einem Schoppen rosigen Weins gaben sie sich ausschweifend dem Mystizismus und der Ekstase hin.

Als sie eines schönen Sommermorgens mit einem Stern im Knopfloch und Heu im Haar von einem ihrer romantischen nächtlichen Ausflüge zurückkehrten, fanden sie die Stadt in Aufruhr. Ein alter Mann schwenkte zitternd eine Zeitung und rief mit tränenerstickter Stimme: «Generalmobilmachung …»

* Im Original deutsch

An einem Novemberabend des Jahres 1918 stand Odemar Müller am Potsdamer Platz vor einer Litfaßsäule, oder vielmehr ging er um sie herum, als spielte er mit jemandem Verstecken oder suchte gierig nach einem Theaterprogramm. Dabei versuchte er ganz einfach den Kugeln auszuweichen, die ein Maschinengewehrkommando in Richtung Bahnhof sandte, wo sich Spartakisten verschanzt hatten.

Es war ein November der Sintflut und der Revolution. Ein stählerner Regen fegte herüber, gegen den die seidenen Regenschirme der hübschen Frauen nichts mehr nützten. Kugeln schlugen in die Rosen, die sie auf der linken Brust trugen, und wortlos legten die Schönen sich hin, wie auf Geheiß eines unsichtbaren Liebhabers.

Am Potsdamer Platz war es fast so gefährlich wie an vorderster Front in der Champagne. Ein öder Himmel lag über der Stadt wie ein Sargdeckel. Die weißblauen Matrosen aus Kiel brachten jedoch eine fröhliche Note in das tödliche Grau. Und die roten Soldaten mit den eckigen Bewegungen wie auf einem expressionistischen Gemälde schwenkten die Standarten einer jähen Dämmerung.

Die Stadt indes gab vor, die Revolution zu ignorieren. Seit zahllosen Tagen kam es an Straßenecken zu Auseinandersetzungen: stoßweises Knattern, Rufe verwundeter Männer. Die Menge floss links und rechts daran vorbei, wie durch Korridore hindurch, dann ging plötzlich wieder alles seinen gewohnten Gang, und die Straßenbahnen fuhren wieder langsam dahin wie Schnecken nach einem Regenschauer und bahnten sich zwischen zerbrochenen Gehstöcken oder steifen Leichen ihren Weg.

Odemar Müller kam von der Front zurück. Der Zug der Niederlage hatte ihn hier abgesetzt, nach langer, schmerzlicher Fahrt durch ein in Angst und Elend erstarrtes Land. Er war nach Berlin gekommen, zum fiebrigen Kopf des großen, kranken, ausgehungerten und mit Pusteln übersäten Leibes, der Deutschland damals war, nach vier Jahren Heldentum, vier Jahren Verzweiflung, in denen ein großes europäisches, am Gipfel der Zivilisation stehendes Volk elender gelebt hatte als eine Steinzeithorde, sich von Rüben ernährt hatte, mit Blattwerk gekleidet, ohne Möglichkeit, sich zu wärmen, ohne Kontakt zur Außenwelt.

Da kam die Revolution gerade recht! Vielleicht würde man aufatmen können, etwas klarer sehen? Ja, Klarheit um jeden Preis! Rot, endlich mal rot, nach all den grauen Jahren! Mitten auf der Straße richtig durchatmen, nachdem man sich so lange im Schlamm verkrochen hatte.

Zu Tausenden strömten entwaffnete Soldaten und Offiziere nach Berlin. Auf eine Parole hin – woher sie auch kommen mochte – die letzte Parole für lange Zeit – hatten sie sich die schwarz-weiß-rote Kokarde von der Mütze und die Schulterstücke vom Mantel gerissen. Ohne Rang, ohne Unterschied vollzogen die geschlagenen Helden ihre Rückkehr ins Vaterland. Kein Grund zu Traurigkeit. Über ihre brennendheißen Schläfen strich zart ein Wind aus dem Osten, der Wind der Freiheit.

Auf dem Potsdamer Platz war der Bleischauer – die letzte Ladung der Kriegswolken – endlich vorbei. Nach zwanzig Minuten konnte die Menge weiterziehen. Nun aber, als der Weg frei und der Mensch, im Krieg zum Automaten geworden, wieder Herr über seine Entscheidungen und seine Wünsche war und nach rechts oder links gehen konnte, wie es ihm gerade beliebte, wurde Odemar von der Angst gepackt.

Wohin sollte er gehen? Was tun? Wen umarmen?