Sohn der Sieben - Justin Travis Call - E-Book

Sohn der Sieben E-Book

Justin Travis Call

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Beschreibung

Er ist der Phönix – wenn die Welt brennt, wird er leben!

Die Geschichte eines Helden ist aus der Fantasy nicht wegzudenken: Ein Junge, durch tragische Umstände verwaist, wird von einem weisen alten Mann aufgezogen, um das große Übel, das die Welt bedroht, zu besiegen. Aber was ist, wenn der junge Held und das große Übel ein und dasselbe wären? Was, wenn der Junge selbst die Inkarnation des bösen Gottes ist? Würde er die Welt retten? Oder sie zerstören?
Annev ist dieser Junge. Obwohl er selbst Magie nutzt, lässt er sich in einem Kriegerkloster dazu ausbilden, Magiewirker zu bekämpfen. Als er sich dann auch noch in die hübsche Tochter des Klostervorstehers verliebt, eskaliert sein innerer Konflikt …

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Buch

Die Geschichte eines Helden ist aus der Fantasy nicht wegzudenken: Ein Junge, durch tragische Umstände verwaist, wird von einem weisen alten Mann aufgezogen, um das große Übel, das die Welt bedroht, zu besiegen. Aber was ist, wenn der junge Held und das große Übel ein und dasselbe wären? Was, wenn der Junge selbst die Inkarnation des bösen Gottes ist? Würde er die Welt retten? Oder sie zerstören? Annev ist dieser Junge. Obwohl er selbst Magie nutzt, lässt er sich dazu ausbilden, Magiewirker zu bekämpfen. Als er sich dann auch noch in die hübsche Tochter des Rektors der Akadmie verliebt, eskaliert sein innerer Konflikt …

Autor

Justin Travis Call studierte Fantasyliteratur und erlangte einen Master in Literatur und Creative Writing der Harvard University. Währenddessen war er außerdem an der Erfindung mehrerer Brettspiele beteiligt. Heute lebt Justin Travis Call mit seiner Frau, zwei Söhnen und einer Deutschen Dogge in Idaho.

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JUSTIN TRAVIS CALL

SOHN

DER

SIEBEN

ROMAN

Deutsch von Hans Link

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Master of Sorrows (The Silent Gods 1)« bei Gollancz, London. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2019 by Justin Travis Call Published in agreement with the author c/o Baror International, Inc., Armonk, New York, USA Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Penhaligon in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Redaktion: Alexander Groß Umschlaggestaltung und -illustration: Isabelle Hirtz, Inkcraft unter Verwendung mehrerer Bilder von Shutterstock.com (Peter Larimer; gdvcom) Karte/Illustrationen: © Andreas Hancock HK · Herstellung: sam Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-18972-3V002 www.penhaligon.de

Sich selbst abhandengekommen, soll er jene leiten, die so tun, als seien sie abhandengekommen.

Sich selbst unbekannt, sollen die Blinden ihn aufspüren und ihn beim Namen nennen.

Für die Ehre, ihm den Namen gegeben zu haben, soll die Verkünderin Gnade erflehen, und Gnade soll ihr zuteilwerden.

Und dies sind die Worte ihrer Prophezeiung:

Nachfahre der Götter, doch von Menschen gezeugt.

Sieben trachten, ihn zu führen. Sieben graut es vor seiner Hand.

Gebunden von den Alterslosen, durchkreuzt der Älteste seinen Weg.

Der verkrüppelte König leitet ihn. Die Welt fürchtet seinen Zorn.

Sohn der sieben Väter. Kind von keinem.

Meister der Sorgen. Der Fleischgewordene.

Klingensinger. Elster. Phönix. König.

Blutherr. Ringschlange. Ende aller Dinge.

Wehe denen, die ihn erwecken, denn groß wird ihre Vernichtung sein.

Wehe denen, die ihm folgen, denn groß wird ihr Opfer sein.

Wehe denen, die gegen ihn kämpfen, denn durch seine Hand werden sie gebrochen.

Und wenn die Schweigenden Götter erwachen, dann weint, Kinder, denn das Ende ist nah.

»Sohn der sieben Väter«, Auszug aus dem Buch Terra

Prolog

Die Schreie der Frau wurden leiser und vom Weinen eines Neugeborenen abgelöst. Auf diesen Moment hatte Sodar gewartet. Er strich sich das blaue Gewand glatt und trat kurz nach dem Ältesten Tosan in das beigefarbene Zelt.

Sodar blinzelte, um seine Augen an das schwache Licht zu gewöhnen. Zu dieser Stunde waren keine Kerzen notwendig, aber die Zeltbahnen ließen auch nicht allzu viel Licht durch.

In einer Ecke des Geburtszeltes sprach der Älteste mit seiner Frau, Lana – einer der beiden Weisfrauen, die bei Aegens Niederkunft geholfen hatten. Es hatte den Anschein, als habe sie den hageren Mann aus irgendeinem Grund aufgehalten, ehe er sich der eben Mutter Gewordenen und ihrem Baby nähern konnte, und der Priester war dankbar, dass ihm das einen Moment allein mit Mutter und Kind gewährte. Er trat in die Mitte des Zeltes und sah eine ältere Weisfrau das glitschige Baby halten, eine Decke achtlos um dessen Leib gelegt. Er musste seinen Drang unterdrücken, sogleich zu dem Säugling hinüberzueilen. Stattdessen zügelte er seine Freude darüber, dass Tuors Geschlecht fortgesetzt worden war, und trat mit einer äußeren Ruhe an die Mutter heran, die seine innere Aufregung Lügen strafte.

Es war eine schwere Geburt gewesen. Aegen lag noch immer auf der Gebärmatte, ihr bleiches Gesicht von schweißdurchtränkten Löckchen umrahmt. Sodar wollte die erschöpfte Frau nicht wecken. Aber irgendetwas an ihr brachte sein Inneres in Aufruhr.

Sie atmet nicht, begriff er.

Sofort kniete sich der Priester neben sie. Er rüttelte an ihren Schultern, flüsterte ihren Namen zuerst und schrie ihn dann. Einen Moment später spürte er Lana hinter sich, die ihm ihre feuchten roten Hände auf den Unterarm legte.

»Sie ist tot, Bruder Sodar.«

Sodar zuckte vor der Berührung der Weisfrau zurück. Er rieb sich die Stelle, an der sie ihn mit ihren blutigen Fingern angefasst hatte, und spürte, wie das Blut feucht an seiner runzligen Haut klebte.

»War es das Kind?« Die Worte kamen nur mühsam hervor, als er seinen Blick nun dem Baby zuwandte.

Tosan hatte den Säugling der zweiten Weisfrau abgenommen – einer knochendürren Alten namens Kelga – und hielt das Neugeborene in den Händen, aber statt es sich an die Brust zu drücken, hielt er es auf Armeslänge von sich weg und starrte voller Abscheu auf das Bündel.

»Ältester Tosan?«

Der hagere Älteste schaute nicht auf. »Das Kind«, sagte Tosan. »Sodar, er ist ein Sohn des Keos.«

»Er ist was?«

Tosan hielt dem blau gewandeten Priester den Säugling hin. »Das Kind«, wiederholte er und hob die Decke an, »ist ein Sohn des Keos.«

Sodars Herz hämmerte vor Entsetzen. Die durchdringenden blauen Augen des Kindes erweckten seine Aufmerksamkeit – ein Segenszeichen des Gottes Odar –, aber er sah nichts, was es rechtfertigen würde, das Kind einen Sohn des Keos zu nennen. Ein Büschel hellblonden Haares bedeckte den Kopf des Säuglings, und er wirkte insgesamt wenig auffällig. Sodar legte die Stirn in Falten und wollte gerade Tosans Urteil infrage stellen, als sich das Baby bewegte und die Hände hob.

Nein. Seine Hand. Eine Hand.

»Bei den Göttern«, fluchte Sodar.

Tosan deckte den Säugling wieder zu. »Aegen hat das Kind ausgetragen. Sie war das Gefäß des Keos, und die Gefäße des Keos müssen zerbrochen werden.«

Lana nickte zur Bestätigung der Worte ihres Mannes, und die Aufmerksamkeit des Priesters wanderte zu den blutigen Händen der Weisfrau und dann zu der toten Frau – und jetzt sah er es: Ein dunkelroter Fleck sammelte sich auf der Gebärmatte unter ihrem Schädel.

Sie haben sie umgebracht, durchzuckte es Sodar. Sie haben Aegen umgebracht, und ich war nicht zur Stelle, um es zu verhindern.

»Bring dieses Ding weg«, sagte Tosan und reichte den Säugling an Lana weiter. »Du weißt, was zu tun ist.«

Die Weisfrau verneigte sich, und ihre braunen Zöpfe schwangen über ihren Rücken. »Die wilden Tiere des Keos sollen die Söhne des Keos verschlingen.«

»Stell sicher, dass er auch wirklich tot ist. Die wilden Tiere werden nicht vor Einbruch der Nacht zum Fressen herauskommen.«

»Ältester Tosan«, ergriff Kelga das Wort und trat einen Schritt auf den Angesprochenen zu. »Lana möchte vielleicht lieber in die Akademie und zu Eurer neugeborenen Tochter zurückkehren. Ich könnte den Säugling für sie in den Wald bringen.«

Tosan strich sich über seinen dünnen schwarzen Ziegenbart. »Lana?«

»Die Weismädchen können sich an meiner Stelle um Myjun kümmern, solange ich fort bin«, sagte Lana, wischte sich ihre blutverschmierten Hände an der Schaffelldecke des Säuglings ab und tauchte die Decke dann in die Blutlache. »Aber es wäre schön, etwas Gesellschaft zu haben.«

Tosan nickte. »Der Dichtwald ist noch nie ein sicherer Ort gewesen. Du wärst gut beraten, wenn du eine Begleitung hättest, mit der du dir die Nachtwache teilen kannst.« Er warf einen Blick auf das blutige Bündel in Lanas Armen, dann wischte er sich sorgfältig die Handflächen an seinem grauschwarzen Umhang ab. »Auch der Vater ist ein Gefäß des Keos. Warte, bis er gefesselt ist, und bring den Säugling dann in den Wald.«

Tuor, dachte Sodar. Er wusste, dass der Schmied jetzt bestimmt draußen wartete, um sein Kind zu sehen. Ich kann ihn nicht im Stich lassen … aber ich kann nicht ihn und auch das Neugeborene retten.

»Ich bitte um Entschuldigung, dass ich Euch hergebeten habe, Sodar«, wandte sich Tosan an den Priester und hob die Zelttür an. »Heute wird es für Euch kein Kind zum Segnen geben.« Er hatte das Zelt schon halb verlassen, als er innehielt. »Ich denke jedoch, Ihr solltet bleiben. Es wäre gut für die Dorfbewohner zu sehen, wie ihr Priester ein Gefäß des Keos zerbrecht.«

Sodar senkte den Blick und zwang sich, sowohl seine Zunge als auch sein Temperament zu zügeln. »Vergebt mir, Ältester Tosan, aber ich muss ablehnen. Meine Kräfte sind nicht mehr die, die sie einst waren.«

Der Älteste schnaubte und verließ das Zelt. Sodars Antwort überraschte ihn offensichtlich nicht. Kelga machte sich daran, die Decken einzusammeln, die sich auf Aegens Gebärmatte türmten. Kurz darauf hörte Sodar Tosan etwas rufen, das das Getuschel der versammelten Menschenmenge übertönte. Das Zelt wackelte, während sich schnelle Hände daranmachten, es abzubauen. Licht flutete herein, als das Zelt um Sodar und die beiden Weisfrauen herum zusammensackte. Einige Bauern begannen, die einzelnen Zeltwände voneinander zu trennen, und plötzlich lag Aegen für alle Augen sichtbar vor der Menge.

»Aegen?«

Weniger als einen Steinwurf entfernt riss Tuor entsetzt die Augen auf.

»Aegen!« Tuor eilte an die Seite seiner toten Frau, nahm sie in die Arme und drückte ihren schlaffen Leib an seine Brust. »Aegen, Aegen …«, wiederholte er, einen Talisman gegen die blutige Wahrheit in seinen Armen.

Hinter dem Schmied trat Tosan an den Ältesten Winsor heran, den Ältesten der Ältesten, sowie an ein halbes Dutzend Meister der Akademie. Die Meisteravatare hatten ihre traditionellen blutroten Kittel an, während Winsor das rot-schwarze, mit den entsprechenden Rangabzeichen versehene Gewand eines Rektors trug.

»Fesselt das Gefäß des Keos«, befahl Winsor. »Fesselt und zerbrecht es. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich die Verderbnis seiner Gefäße ausdehnt.«

Tuor schaute von Aegens blutüberströmtem Leichnam auf und suchte nach dem Kind, das seine Frau während der vergangenen neun Monate in ihrem Schoß getragen hatte. Er entdeckte die Schaffelldecke in Lanas Armen, gerade als Sodar vor ihn hintrat, sodass er den Säugling nicht sehen konnte.

Ihre Blicke trafen sich, und in diesen Sekunden versuchte der Priester, all das zu übermitteln, was er nicht auszusprechen wagte.

Ich werde ihn beschützen. Ich verspreche es. Ich werde ihn beschützen.

Tuor war bloß noch ein einziges Bündel aus Kummer und Zorn, aber dann schien es, als verstünde er. Nachdem der stämmige Mann nur Momente zuvor noch alle Muskeln angespannt hatte, bereit, um seinen Sohn zu kämpfen, übergab er ihn jetzt in Sodars Obhut. Etwas geschah zwischen den beiden Männern – es war ein stummes Lebewohl, dessen Tiefe nur ein trauernder Vater empfinden konnte.

Und dann hatten sich auch schon die Meisteravatare auf ihn gestürzt. Tuor hielt sie sich lange genug vom Leib, dass er die tote Aegen sanft auf den Boden legen konnte, dann wich er zurück und stieß die ersten Männer weg, die ihn packen wollten. Sodar und die beiden Weisfrauen blieben hinter der Meute zurück, als sich nun auch die übrigen Meisteravatare ins Getümmel stürzten, Tuors Arme und Beine festhielten und ihn mit straffen Seilen fesselten. Selbst gefesselt und machtlos, wie er war, zappelte der Schmied immer noch mit Händen und Füßen und wand sich gekrümmt über den Boden, bis er seine leblose Frau erreicht hatte. Er bedeckte sie mit seinem breiten Körper, um sie vor dem zu schützen, was nun kommen sollte.

Es stand nicht in Sodars Macht, seinem Freund zu Hilfe zu eilen. Aber Tuor hatte sich geopfert, um seinen Sohn zu retten, und Sodar hatte geschworen, ihn zu beschützen, daher hielt er den Blick unverwandt auf das Bündel in Lanas Armen gerichtet und blieb den beiden Weisfrauen dicht auf den Fersen. Sie hatten bereits den Rand des Dorfplatzes erreicht, als er Winsors greise Stimme hörte, die sich vergebens bemühte, sich über das Gebrüll der Menge zu erheben. Einen Moment später ertönte stattdessen Tosans dröhnender Bariton.

»Ein Sohn des Keos ist unter uns geboren worden«, rief Tosan. »Unsere Pflicht ist klar! Die wilden Tiere des Keos sollen die Söhne des Keos verschlingen. Aber wir haben die Bürde – nein das Vorrecht –, das Gefäß des Keos zu zerbrechen!«

Einige Dorfbewohner quittierten diese Worte mit Jubel, und es fiel Sodar schwer, nicht stehen zu bleiben und nachzusehen, wer da gejubelt hatte. Er wusste, welcher Anblick sich ihm bieten würde, wenn er jetzt zurückblickte, denn er hatte es schon früher miterlebt: Die Dorfbewohner sammelten in diesem Moment Steine, und dann würde allzu bald das Zerbrechen des Gefäßes beginnen.

Sodar zwang sich, sich abzuwenden. Während er gezögert hatte, hatten Lana und Kelga den Platz verlassen. Als die beiden in östlicher Richtung das Dorf durchquerten, folgte ihnen Sodar in unauffälligem Abstand. Er überquerte die Straße und hörte Tuors Schreie, die das Gebrüll der Menge nur weiter anstachelten. »Reinigt uns vom Schmutz!«, gellte eine Stimme. »Gezücht des Keos!«, rief ein anderer, alles begleitet von einem fauchenden Sprechgesang: »Zerbrecht-ihre-Knochen!«

Sodar zwang sich weiterzugehen und versuchte, keine Einzelstimmen aus der tobenden Meute herauszuhören. Mit wachsender Entfernung vermischten sich die Schreie zu einem misstönenden mörderischen Lärm, und dann erklang vor ihm ein neues, anderes Heulen. Dieses war hoch, anhaltend und durchdringend – die Laute eines hungrigen Säuglings, voller Angst und allein.

Aber das würde nicht mehr lange so bleiben. Denn Sodar war auf dem Weg zu ihm.

Lana lag still am Rand der Waldlichtung, und ihr Atem hob und senkte sich stetig – sie tat, als würde sie schlafen. Zu ihrer Rechten sah sie, wie sich Kelgas gebeugte Umrisse vom Sternenhimmel abhoben. Die knochendürre alte Weisfrau ging auf und ab, ihre Aufmerksamkeit auf den Säugling gerichtet, den sie in der Nähe eines Gestrüpps aus Schlehdornbüschen abgelegt hatten, doch da war eine ängstliche Nervosität in Kelgas Bewegungen, die Lana beunruhigte.

Zuerst hatte sie gedacht, dass das alte Mütterchen ihr einfach hatte helfen wollen. Das wäre auch nur zu verständlich gewesen, schließlich hatte Lana erst vor einem Monat eine Tochter geboren, und es war ungewöhnlich für Weisfrauen, schon so bald darauf wieder der Hebammentätigkeit nachzugehen. Aber es war ja auch nicht so, als hätte Lana am letzten Erntezug teilgenommen – das wäre selbst für ihren robusten Körper zu viel gewesen. Den Tod eines Sohnes des Keos zu überwachen war dagegen kaum anstrengend. Lana brauchte nur wach zu bleiben, bis die wilden Tiere des Dichtwaldes kamen, angelockt von den Schreien des Kindes und dem Blut auf der Decke des Säuglings.

Doch Kelga hatte hartnäckig darauf bestanden, beim Tod des Kindes dabei zu sein. Das überraschte Lana; nicht weil die ältere Weisfrau schwach und gebrechlich gewesen wäre – Lana hatte die alte Vettel Herausforderungen erdulden sehen, mit denen andere Weisfrauen nicht fertiggeworden wären –, sondern weil Kelga selbstsüchtig und einzelgängerisch war und sich durchweg nicht um andere kümmerte. Lana hatte sogar den Verdacht, dass Kelgas verdrießliche Art der Hauptgrund gewesen war, warum Weismeisterin Kiara sie aufgefordert hatte, dieses Mal nicht am Erntezug teilzunehmen.

Doch nun war Kelga hier und hatte sich erboten, zusammen mit Lana Wache zu halten. Ja sie hatte sogar darauf bestanden, die erste Wache selbst zu übernehmen. Anfänglich hatte Lana abgelehnt, aber Kelga hatte schließlich ihren Kopf durchgesetzt.

Statt zu schlafen, sah Lana zu, wie Kelga zunehmend rastlos wurde, während sich der Wald verdunkelte, und als sich die ältere Frau an einen Baumstamm lehnte, spürte Lana, wie das kalte Kribbeln des Grauens über ihren Rücken kroch. Mit Einbruch der Nacht hatte sich in Lana eine vernunftmäßig nicht zu erklärende Angst breitgemacht. Sie konnte nicht verstehen, woher diese Furcht kam, daher bekämpfte sie sie auf die einzige Art, mit der sie sich zu behelfen wusste: indem sie Kelga beobachtete und vorbereitet war. In ihrer einen Faust hielt sie eine Handvoll Pilzsporen, in der anderen ihr Erntemesser – dasselbe Stilett, das sie zuvor Aegen in den Schädel gerammt hatte.

Sie hörte das leise Rascheln vorsichtiger Füße, die auf die trockenen Ästchen und Blätter hinter ihr traten, und spannte die Muskeln an. Plötzlich wurde ihr klar, dass Kelga sich bewegt hatte.

»Warum stellt Ihr Euch schlafend?«

»Weil ich den Tod fürchte«, hauchte Lana.

»Es ist klug zu fürchten, was wir nicht verstehen«, erwiderte Kelga mit knarrender Stimme. »Aber der Tod kommt zu uns allen.«

»Bringt Ihr ihn jetzt mit Euch?«

Das Lachen der alten Frau war trocken und heiser, und Lanas Angst wuchs. Sie lockerte ihre Decke und bereitete sich auf den Angriff vor. Sie wusste, dass er kommen würde.

»Ihr hättet mich das Kind nehmen lassen sollen«, sagte Kelga.

Lana drehte sich unter ihrer Decke herum und dachte über Kelgas Worte nach, als es ihr plötzlich dämmerte. »Du bist eine Tochter des Keos. Eine Magd des Todes. Die Gerüchte, dass es eine Spaltung gibt … sie sind wahr.«

»Ich bin keine Magd«, erwiderte Kelga mit ruhiger Stimme. »Der Tod ist mein Schatten. Er folgt mir, wohin ich auch gehe … und er ist jetzt hier und ruft nach dem Kind.«

Das Weinen des Knaben war verstummt, und es schien, als habe ihn endlich der Schlaf überwältigt. Lana schaute zu dem Säugling im Hain hinüber.

»Und er ruft auch nach Euch.«

Kelga schlug zu. Der Dolch sauste so schnell und mit solcher Wucht herab, dass Lana kaum ausweichen konnte. Die Klinge bohrte sich tief in ihre Schulter und verfehlte nur knapp ihre Brust. Sie krümmte sich, riss sich vom Messer los und warf Kelga die Pilzsporen ins Gesicht.

Die alte Frau schrie und kratzte sich im Zurückfallen mit ihren knochigen Händen Wangen und Augen – aber die Sporen waren sehr wirksam, würgten sie, brachten sie zum Schweigen.

Lana rappelte sich mühsam hoch und stolperte in die Mitte der Lichtung. Sie wusste, dass die Sporen in Kelgas Kehle schnell wachsen und sich ausdehnen würden, bis sie Kelgas Luftröhre zerquetschten und das alte Weib erstickten, daher machte sich Lana das Mondlicht zunutze, um den Schaden zu begutachten, den ihr die alte Frau zugefügt hatte.

Die Wunde war tief. Schlimmer noch, Lana hatte den Muskel zerfetzt, als sie sich von Kelgas Messer losgerissen hatte. Wenn sie die Blutung nicht sofort stillte, würde sie den Rückweg nicht überleben. Lana riss einen Streifen von ihrer Decke ab, ein Ende zwischen den Zähnen, und machte sich daran, ihren verletzten Arm zu umwickeln.

»Eure Instinkte sind vorbildlich«, krächzte Kelga.

Lana drehte sich um und sah Kelga auf die mondbeschienene Lichtung taumeln. Erbrochenes hing an den Lippen der Weisfrau, doch sie atmete ohne Mühe. Offenbar hatte Lana schlecht gezielt. Statt die alte Frau zu ersticken, hatten die Sporen Kelgas Augen in Mitleidenschaft gezogen: Sie waren nun getrübt und von der gleichen Farbe wie Kelgas knochenbleiches Haar. Lana wich vor der wahnsinnig gewordenen Weisfrau zurück und bemerkte, dass Kelga ihr mehr mit den Ohren als mit den Augen folgte.

»Du bist eine blinde Verräterin, Kelga, und die Salbung, die du erhalten hast, damit du Chaenbalu finden kannst, ist nun zunichtegemacht worden. Du kannst nie wieder ins Dorf zurückkehren.«

Kelga lachte gackernd und erhob ihre entstellte Stimme. »Ich habe auch nie vorgehabt zurückzukehren. Ich habe mein ganzes Leben lang auf diesen Neugeborenen gewartet, und ich werde ihn für immer aus diesem hinterwäldlerischen Dorf fortbringen.« Sie kroch näher an Lana heran, ihr Messer immer noch angriffsbereit gezückt.

Lana wich zurück und eilte zu dem Kind am Rand des Hains. Was immer Kelga vorhatte, sie wollte den Säugling am Leben erhalten, und sie hatte nicht geleugnet, eine Tochter des Keos zu sein. Lanas beste Aussicht auf Erfolg bestand darin, das Kind auf der Stelle zu töten. Zielstrebig hastete sie auf es zu.

Wenn ich es töte, überlegte sie, sindihre Pläne durchkreuzt, und ich kann nach Chaenbalu zurückeilen. Es war der sicherste Weg. Lana verspürte keinerlei Verlangen, gegen die alte Frau zu kämpfen. Sie war jetzt blind, aber Lana konnte nur noch von einem Arm Gebrauch machen, und sie hatte keine Ahnung, welche Tricks die alte Vettel womöglich noch auf Lager hatte.

Kelga spürte Lanas Absichten und versuchte, sie einzuholen, aber Lana kam ihr zuvor. Fest und gezielt stach sie mit ihrem Stilett zu.

Die Klinge traf nur auf Luft und Erde. Das Baby war fort.

Lana drehte sich um und suchte nach ihm, aber von dem Neugeborenen war nirgends eine Spur zu entdecken.

Einen Moment später stürzte sich Kelga schreiend auf sie und hieb auf sie ein. Ihr gekrümmtes Messer beschrieb eine weit ausholende Bewegung, während Lana rasch zurückwich, um nicht von der Klinge getroffen zu werden. Im gleichen Moment traf Kelgas leere Hand Lanas Brust und schleuderte sie in das Schlehengestrüpp hinter ihr. Dutzende der spitzen schwarzen Nadeln durchstachen ihre Schenkel, ihren Rücken und ihre Arme, und die gekrümmten, zwei Zentimeter langen Dornen der Schlehen hielten sie fest. Lana kämpfte, um sich aus dem Gestrüpp zu befreien, doch weitere scharfe Stacheln gruben sich tief in ihr Fleisch. Sie schrie auf – ein Heulen aus Angst, Frustration und Schmerz, das zu einem spuckenden Husten wurde, als die Dornen ihre Brust immer stärker einschnürten.

Kelga kam auf sie zugehumpelt, eine Silhouette im Mondlicht, bis ihre ausgestreckte Hand den Schlehenstrauch berührte. Ihre milchigen Augen starrten zum Himmel empor, und sie senkte ihr Ohr in Richtung Lana. Kelga kicherte gackernd, dann beugte sie sich hinab, um sich den Säugling zu holen, der nicht mehr da war.

»Was hast du mit ihm gemacht?«, blaffte Kelga. Ihr Kopf drehte sich herum, als versuche sie, den Säugling mit einem sechsten Sinn ausfindig zu machen. »Wo ist das Gefäß?«, schrie sie.

Lana wollte lachen, doch es kam nur neues Husten heraus. Stattdessen spuckte sie die Frau an und schmeckte Blut. »Keos hat ihn sich geholt«, knurrte sie. »Ich hoffe, er holt dich ebenfalls.«

»Es gibt schlimmere Arten zu sterben als durch Blutverlust und Schlehendornen«, fauchte Kelga und streckte die Hand mit ihrem gekrümmten Messer aus, bis es Lanas Brust traf. »Wo ist das Kind?«, fragte sie scharf. Das Messer bohrte sich in Lanas Fleisch, bis sie einen blutigen Schrei ausstieß.

Ein massiver Stab wurde aus der Dunkelheit geschwungen, traf Kelga am Rücken und ließ die Weisfrau in die Knie gehen. Heulend wirbelte die alte Frau herum, dann riss sie den Arm hoch und zeigte mit knochigen Fingern auf ihren unsichtbaren Angreifer.

»Bàsaich!«

Der Stab flammte silbern auf und verblasste dann zu einem dumpfen Schimmer in der Dunkelheit. Lana kniff blinzelnd die Augen zusammen, versuchte, ihren Retter zu erkennen, und erschrocken sah sie den Dorfpriester auf die mondbeschienene Lichtung treten.

»Sodar?« Sie traute kaum ihren Augen, erst recht nicht, als sie das Schaffellbündel in den Armen des alten Mannes sah. »Was … was tut Ihr da?«

Der Priester kam auf Kelga zu, sein Stab kampfbereit, und die blinde Frau wich über die dicht mit Klee bewachsene Lichtung zurück. Sobald Sodar nah genug war, um sie mit seinem Stab treffen zu können, warf Kelga ihr Messer nach dem Bauch des Priesters. Er schlug die Klinge mit einer Drehung seines Kampfstabs beiseite, dann ließ er das massive Eichenholz auf den Kopf der Frau niederkrachen. Kelga brach unter dem Hieb zusammen, und Sodar hob den Stab noch einmal, diesmal hoch über seinen Kopf, bereit, den Schädel der alten Frau zu zertrümmern. Aber sie bewegte sich nicht mehr. Sodar zögerte, dann ließ er die hölzerne Waffe sinken und wandte sich wieder Lana zu.

Lana hörte das verfluchte Baby in der Schaffelldecke krähen. »Schnell«, keuchte sie und schmeckte Blut. »Ihr müsst mir helfen, den Sohn des Keos zu vernichten und die Akademie zu warnen. Töchter des Keos sind in den Kreis der Weisen eingedrungen.«

Der Priester rührte sich nicht. Stattdessen starrte er Lana mit stechenden Augen stirnrunzelnd an. »Es steht Euch nicht zu, Forderungen zu stellen, Lana ban Tosan.« Er warf einen kurzen Blick auf die bewusstlose alte Frau. »Ihr habt gesagt, Kelga habe die Fähigkeit verloren, nach Chaenbalu zurückzukehren.« Lana nickte, dann hustete sie, und helles Blut benetzte ihre Lippen. »Aber sie könnte dennoch zurückkehren«, fuhr Sodar fort, »wenn sie einen Führer hätte.«

Ein heftiger Druck legte sich um Lanas Brust, und sie keuchte auf. »Wer würde denn ausgerechnet sie zurückbringen? Sie wollte … den Sohn des Keos retten.«

»Und genau deshalb lasse ich sie am Leben.« Der Priester richtete den Blick wieder auf Lana. »Aber Ihr hättet den Jungen genauso schnell getötet, wie Ihr Aegen getötet habt.« Sodar schüttelte den Kopf, und sein grauweißer Bart strich dabei fast zärtlich über das Gesicht des Neugeborenen. »Wenn Kelga nicht ins Dorf zurückkehren kann, stellt sie auch keine Bedrohung dar. Mit Odars Segen findet sie vielleicht sogar aus dem Dickicht des Dichtwaldes heraus, bevor die wilden Tiere sie verschlingen. Doch bei dir sieht es anders aus. Denn wenn ich dich am Leben lasse, würdest du uns beide verraten.«

Lana blinzelte. Ihre Sicht trübte sich zunehmend, und Blut sickerte ihr aus dem Mund.

»Ich hatte befürchtet, dich töten zu müssen«, fuhr Sodar fort, »aber es scheint, als hätte mir Kelga das abgenommen.«

Die kühlen grauen Augen des Priesters hielten Wacht, während die Welt um Lana herum kälter wurde, und sie begriff, dass sie hier sterben würde, ohne ihren Mann und ihre Tochter je wiederzusehen. Sie sackte zurück, und diesmal konnte nicht einmal das Stechen der Schlehendornen sie wieder wecken.

TEIL 1

Am einunddreißigsten Tag des Drittmondes, hundert Jahre nach dem Tod von Myahlai dem Täuscher, kamen die Götter und ihre Kinder zusammen, um den Tag zu feiern, da das Böse aus Luquatra vertrieben worden war. Und in den Tagen, die diesem hundertsten Jahrestag vorausgingen, sah Keos das Glück all ihrer Anhänger, und er schlug vor, dass er, Lumea und Odar sich ihren Anbetern beim Feiern anschließen sollten.

Doch Odar, der älteste und weiseste der Götter, war dagegen, weil er der Meinung war, dass es kein guter Gedanke sei, sich in die fröhliche Feier ihrer Kinder zu mischen. Stattdessen schlug Odar vor, dass sich die Götter am nächsten heiligen Festtag gegenseitig beschenken sollten – und so kam es zum ersten großen Regaleus.

Es war nun zwei Tage vor dem festgelegten Datum, als Keos sich tief in Gedanken versunken seinem älteren Bruder näherte. Odar, der das Ungemach seines Bruders spürte, fragte, was ihn quäle.

Und Keos antwortete: »Es handelt sich um das Geschenk für unsere Schwester. Was vermag man einer Göttin zu geben, die selbst der Sonne gebieten kann? Alle Dinge trachten danach, ihr Freude zu bereiten, und es mangelt ihr an nichts; das Glück unserer Schwester ist vollkommen.«

Und Odar antwortete: »Erfreut sich eine Mutter denn nicht an den Gaben ihrer Kinder? Dann lass uns Lumea schenken, was sie und ihre Anbeter mit Freuden miteinander teilen mögen.«

Und Keos erschienen diese Worte weise, und er fragte: »Hast du ein Geschenk für unsere Schwester?«

Und Odar erwiderte: »Nein, denn ich besitze weder die Begabung noch die Fertigkeit, um eines zu erschaffen. Aber vielleicht ist es vom Schicksal bestimmt gewesen, dass du am heutigen Tage zu mir gekommen bist, denn du bist begabt in allen Fertigkeiten, und ich hatte mir überlegt, Lumea und ihren Kindern eine aus Lehm gebrannte Flöte zu schenken, denn sie alle ergötzen sich an Gesang und Tanz.«

Und Keos war erfreut, diese Worte zu hören, denn er war in der Tat mit einem mächtigen Talent in allen Dingen gesegnet, die t’rasang betrafen; er verfügte über die Macht, Dinge zu formen, die aus Lehm und Stein geschaffen waren, aus Metall und Holz und aus Blut und Knochen. Und so geschah es, dass Keos und Odar übereinkamen, ein gemeinsames Geschenk für ihre Schwester Lumea zu schaffen.

Als nun aber Keos sich an seine Schmiede in Thoir Cuma setzte, wurde der Gott des t’rasang von Zweifel und Zögern geplagt, denn er betrachtete Lehm als niedere Substanz, nicht tauglich, um daraus die wunderschöne Flöte zu schaffen, die er für seine Schwester ins Auge gefasst hatte. Also schmiedete Keos die Flöte statt aus Lehm aus purem Gold, heraufbefördert aus den tiefsten Erzadern der Welt. Als er fertig war, zeigte Keos die Flöte Odar, und dieser sah die Veränderungen, die Keos vorgenommen hatte. Und Odar war nicht erzürnt und gab der goldenen Flöte seinen Segen.

Am Tag vor dem Fest kam Lumea zu Keos und fragte ihn, welches Geschenk sie denn ihrem Bruder machen könnten. Und Keos erinnerte sich an die Weisheit Odars und sagte: »Erfreut sich nicht ein Vater an den Gaben seiner Kinder? Dann lass uns Odar schenken, was er und seine Kinder mit Freuden miteinander teilen mögen.«

Und Lumea fragte: »Welches Geschenk würdest du unserem Bruder geben? Denn er ist über sein Alter hinaus weise, und seine Kinder sind allzeit gesegnet.«

Und Keos erwiderte: »Ich bin im Geheimen zu unseren Anbetern gegangen und habe ihre Werke betrachtet, ja selbst die Werke der Kinder Odars, und ich habe ein Geschenk erblickt, das unseres Bruders würdig wäre: einen Stab, der den Bejahrten zur Anerkennung ihrer Weisheit verliehen wird und den Königen, um ihre Macht und Herrschaft zu symbolisieren.«

»Ja«, pflichtete Lumea ihm bei. »Lass uns einen Stab für unseren älteren Bruder machen, denn ist ein Gott nicht ein König unter seinem Volke? Und ist er nicht weise über sein Alter hinaus? Und vielleicht werden sogar noch seine Kinder diesen Stab schwingen und ihn als ein Zeichen der Segnungen Odars und seiner Gunst ansehen.« Und so entschieden Keos und Lumea, den Stab des Odar zu schaffen.

Nun war es Lumeas Wunsch, dass der Stab aus Holz gefertigt werden sollte, denn sie fand große Freude an den Wäldern Luquatras, am Duft der Kirschblüten und an der kräftigen Eiche, und ihre Anhänger tanzten häufig auf den Waldwiesen. Aber als sich Keos zu seiner Schmiede begab, befielen ihn erneut Zweifel, und er fürchtete, dass, wenn der Stab aus Holz gefertigt würde, Odar ihn mit Lumeas goldener Flöte messen und eifersüchtig sein würde. Also schmiedete Keos Odars Stab statt aus Holz aus dem kostbarsten Silber, heraufbefördert aus den tiefsten Erzadern Luquatras. Als er fertig war, zeigte Keos Lumea den Stab, und Lumea sah die Veränderungen, die Keos vorgenommen hatte. Und Lumea war nicht erzürnt und gab dem silbernen Stab ihren Segen.

Dann kam der Tag, an dem sich die Götter gegenseitig ihre Geschenke überreichen wollten. Sie beschlossen, dass Lumea ihr Geschenk als Erste erhalten sollte, daher traten Keos und Odar vor und reichten ihr die goldene Flöte. Und als die Göttin das ausnehmend schöne Instrument sah und spürte, dass sowohl Keos als auch Odar ihre Macht hatten hineinfließen lassen, weinte sie Tränen des größten Glücks. Als Zeichen, dass sie ihr Geschenk annahm, hob Lumea die Flöte an die Lippen und spielte das lieblichste Lied, das die Welt je vernommen hatte, und eine lieblichere Melodie ist seither nicht wieder erklungen, mit Ausnahme einer einzigen. Sie spielte mit Freude, Leidenschaft und Leben und legte ihr Herz und ihre Seele in die Flöte, erfüllte sie mit lumen, bis sie erglühte und all jene, die ihre Musik hörten, von ihr in Bann gezogen wurden.

Als das Lied zu Ende war, trat Lumea zurück und dankte ihren Brüdern für das wunderbare Geschenk, das sie ihr und ihren Anhängern gemacht hatten.

Dann überreichten Lumea und Keos den Silberstab, und als Odar ihn sah, verstand er seine Bedeutung und wurde von Demut erfüllt. Er nahm das Artefakt in die Hände, spürte seine Macht und war erfreut. Er sagte: »So wie dieser Stab die Kraft von Keos und die Liebe von Lumea in sich trägt, so will ich meine eigene Tugend in ihn hineingeben.«

Mit diesen Worten hob Odar den Stab über den Kopf und beschwor die Macht von quaire, des Geistes von Luft, Wasser und Eis. Und als er fertig war, erglänzte der Silberstab in einem Ehrfurcht gebietenden Schimmer, der noch stärker war als der des puren Silbers, aus dem ihn Keos geschmiedet hatte.

Dann sagte Odar zu seinen Geschwistern: »So wie ihr mir diesen Stab geschenkt habt, so schenke ich ihn nun meinen Anhängern, auf dass sie sich seiner in Weisheit und Wahrheit bedienen mögen. Er soll ein Zeichen der Segnungen Odars und meiner Gunst sein.« Und Keos und Lumea waren erfreut.

Dann kam die Zeit für Keos, sein Geschenk zu empfangen. Mit großer Sorgfalt legte Odar seinen Stab nieder und nahm seinen Platz neben Lumea ein. Dann trat Lumea vor, öffnete den Mund und begann zu singen. Und es wurde gesagt, dass kein Ohr jemals so wundersame Dinge gehört habe, wie Lumea sie für Keos sang; und keine menschliche Zunge kann die Worte formen, die sie sang; noch kann ein Mensch das Glück erfassen, welches die Seelen jener erfüllte, die ihr Lied vernahmen.

Als Lumea nun aber mit dem Lied fertig war, trat sie zurück und schaute ihren Bruder an, flehentlich auf seinen Beifall bedacht. Doch da war nichts in Keos’ Zügen; da waren weder Freude noch Lachen, weder Leben noch Liebe. Stattdessen war er verwundert, und eine Traurigkeit erfüllte ihn, die sich zuerst in Ungläubigkeit verwandelte und dann in kalten Zorn. Und Keos hob das Gesicht, sah seine Geschwister an und fragte: »Ist das alles, was ihr für mich habt, meine Familie?«

Und Lumea antwortete: »Dies ist dein Geschenk.«

Und Keos war erzürnt und sagte: »Ich habe größte Anstrengungen unternommen, um euch Geschenke zu machen, mein Bruder und meine Schwester. Ich habe die tiefsten Adern der Welt nach ihren kostbarsten Erzen durchforscht und mächtig an meiner Schmiede gearbeitet, auf dass ihr euch an euren Geschenken erfreuen möget. Und eurerseits schenkt ihr mir nichts als ein Lied?«

Dann trat Odar vor und antwortete: »Nein, denn dies ist kein bloßes Lied, Bruder. Ich habe lange daran gearbeitet, seine Worte auszuwählen, die heilige Worte der Macht sind; und deine Schwester hat daran gearbeitet, dass seine Musik dem Herz Leben und dem Geist Licht bringen möge. Es ist unser Geschenk an dich, und sein Wert übersteigt den von bloßem Gold und Silber.«

Aber Keos war von Zorn erfüllt und wandte sich ab, entfremdete sich von seinen Geschwistern. Und von dieser Zeit an hieß es, dass das Schenken großes Unheil mit sich brächte.

»Das Erste Regaleus«, Auszug aus dem Buch Odar

Und Keos kehrte an seine Schmiede in Thoir Cuma zurück, wo seine Verbitterung ihn aufzehrte und er jeden Trost verweigerte. Sobald er dort angelangt war, stieg er hinab in das Herz von Luquatra und durchforschte seine Tiefen auf der Suche nach einem Metall, das kostbarer war als Gold. Und in den Tiefen der Berge, in den großen Abgründen unter der Erde, fand Keos ein Überbleibsel von aqlumera, dem Element, aus dem die Welt geschaffen wurde. Und es war sowohl Feuer als auch Eis, Flüssigkeit und Metall; und ihm entstammten die drei Älteren Götter, und aus ihm hatten sie Luquatra erschaffen.

Und Keos nahm das aqlumera, legte es auf seine Schmiede und schuf für sich selbst das Werkzeug, das er am meisten begehrte: einen Hammer. Denn sein Glück war am größten, wenn er Dinge des t’rasang erschuf. Und er nannte ihn die Hand des Keos, denn er ließ viel von seiner Macht in den Hammer fließen.

Und viele Jahrhunderte verstrichen seit dem ersten Regaleus, und die Bewohner von Luquatra wurden in großem Maße von den Göttern gesegnet. Und sie wurden im Stolz ihrer Herzen und in den Traditionen ihrer Kulturen erhoben, sowohl die Dariten wie die Ilumiten und ebenso die Terraner. Und Zwistigkeiten erhoben sich unter den Menschen, was Fragen von Lehre und Herrschaft betraf, und sie gaben sich Könige und errichteten untereinander Königreiche. Und so endete das Zeitalter der Götter, und es begann das Zeitalter der Könige.

Als nun Odar und Lumea die Veränderungen sahen, die über ihre Völker gebracht worden waren, gingen sie hinab zu ihren Anhängern, gaben ihnen Ratschläge und unterwiesen sie darin, friedfertig und demütig zu sein. Und je besser diese Menschen auf sie hörten, desto mehr wurden sie gesegnet. Und die Flöte der Lumea und der Stab des Odar wurden an viele der Ilumiten und Dariten weitergereicht. Und diese wurden Daltas genannt oder Kindgötter, denn sie machten von den Artefakten der Götter Gebrauch und waren gesegnet mit göttlicher Macht.

Aber die Terraner wurden während dieser Zeit von Keos nicht beraten oder unterwiesen, denn sein Zorn verzehrte ihn immer noch. Und seine Kinder wurden zu einem kriegerischen Volk, das zu Wildheit und Sinneslust neigte. Und statt Werkzeuge und Instrumente zu fertigen, begannen sie, Waffen und Rüstungen zu schmieden, und putzten sich mit allen möglichen feinen Gewändern und Schmuckstücken heraus. Und als Keos sich endlich von Thoir Cuma erhob und auf die Werke seines Volkes schaute, war er nicht erzürnt, sondern froh. Und er wurde ein launischer Gott, der dazu neigte, jene zu segnen, die Kraft und Schönheit besaßen, und seine Gunst jenen zu schenken, die gut kämpften und voller Leidenschaft waren.

Und es begab sich, dass viele Jahre verstrichen waren, wahrhaftig, es waren sogar sechshundert Jahre verstrichen seit dem ersten Regaleus. Und es waren siebenhundert Jahre seit dem Tag, da Myahlai, die Inkarnation der Entropé, aus Luquatra verbannt worden war.

»Der Sturz des Keos«, Auszug aus dem Buch Odar

Kapitel 1

»Annev! Wach auf.«

Annev rollte sich von der Stimme weg, doch ein heftiger Stoß in die Rippen ließ ihn vollends erwachen.

»Autsch!«

»Steh auf«, zischte Sodar und stupste Annev ein zweites Mal. »Du kommst sonst zu spät zum Unterricht.«

Annev fuhr hoch und warf den Berg von Decken von sich. »Ich bin wach! Ich bin auf!« Er sprang aus dem Bett und erschauderte, als seine Füße den eiskalten Boden berührten. Dann streckte er sich, erschauderte noch einmal und atmete den strengen Geruch von Schweiß ein, vermischt mit dem Duft nach Stroh, Erde und Zimt. Naserümpfend gähnte er.

Da die Fensterläden geschlossen waren, kam das einzige Licht von der flackernden Kerze gleich draußen vor seiner Schlafzimmertür. Sobald sich seine verschlafenen Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er den Priester vor sich stehen, den Stab in der Hand.

»Komm schon!«, blaffte Sodar. Dann zögerte er, und seine Züge wurden weicher, als er Annev in seiner Unterwäsche betrachtete. »Du brauchst heute die Kapelle nicht zu fegen. So wie es aussieht, hast du ja kaum Zeit, dich zu waschen.«

Trotz der Kälte grinste Annev. »Ich habe genug Zeit«, sagte er, öffnete die Truhe neben seinem Bett und zog einen fleckigen beigefarbenen Kittel und ein entsprechendes Paar Kniehosen heraus. Der ungebleichte Stoff war einst beinahe weiß gewesen, aber jetzt wirkten seine Akademiegewänder eher braun.

»Wie du meinst«, erwiderte Sodar und bedeutete ihm, sich zu beeilen. »Wasser, Herd, Kessel. Wenn du fertig bist …«

»Ich weiß, ich weiß.« Annev zog seine Kniehose an. »Die Fallen überprüfen und die Kapelle fegen. Jeden Tag das Gleiche.«

»Fast jeden Tag«, korrigierte Sodar. Als Annev aufblickte, sah ihm Sodar in die Augen. »Heute ist die erste Regaleusnacht. Und morgen ist der Prüfungstag. Der letzte Prüfungstag.« Die Worte hingen in der Luft, schwer und bedeutungsschwanger.

Annev nickte, und sein Gesicht wurde ernst. »Ich habe es nicht vergessen.«

Sodar sah ihn an. »Gut. Dann beeil dich. Ich mache so lange die Wassersäcke für dich fertig. Wenn du dann Wasser holen gehst, fange ich zu zählen an, sobald du diesen Raum verlässt.« Der Priester ging.

Prüfungstag, dachte Annev und schnürte seine Kniehose. Die letzte Prüfung des Urteils. Während der nächsten drei Tage war Regaleus, das Fest, das den Beginn des Frühlings anzeigte, und das bedeutete, dass morgen für Annevs Klasse die letzte Gelegenheit war, die Prüfung abzulegen – die letzte Möglichkeit für sie alle, sich den Avatartitel zu verdienen.

Annev wog seine Aussichten ab, sich endlich seinen Titel zu sichern – und seufzte.

Die Akademie hielt für die Schüler am Ende eines jeden Monats eine Prüfung ab, deren Sieger sofort vom Akolythen des Glaubens zum Avatar des Urteils befördert wurde. Monat für Monat konnte das nur einem Schüler gelingen, und nachdem sie nun an vierzehn Prüfungen teilgenommen hatten, hatte sich weniger als die Hälfte von Annevs Klassenkameraden den begehrten Rang verdient. Es hätten mehr sein können, aber wer Avatar geworden war, war deshalb noch nicht von einer Teilnahme auch an der nächsten Prüfung des Urteils ausgeschlossen. Daher traten Jungen, die bereits gewonnen hatten, immer wieder gegen jene an, denen das bisher noch nicht geglückt war.

Es ist ungerecht, dachte Annev – nicht zum ersten Mal. Vor allem da mein Erntejahrgang der größte ist, den es je an der Akademie gegeben hat.

Annev gürtete seinen Kittel und zog seine weichen Lederstiefel an. Während er sie schnürte, dachte er an seine beiden Freunde – einen mageren Knaben namens Therin und einen pummeligen kleinen Jungen namens Titus –, von denen sich bisher ebenfalls keiner den Avatartitel verdient hatte. Der Gedanke an sie schmerzte Annev, denn er führte ihm vor Augen, dass er in der letzten Avatarprüfung auch gegen seine beiden Freunde antreten würde. Es schien zudem unwahrscheinlich, dass einer von Annevs Freunden gewinnen würde, denn keiner von ihnen tat sich im körperlichen Kampf besonders hervor. Therins Stärken waren vielmehr Heimlichkeit und Hinterlist, während Titus einfach nicht mithalten konnte. Titus, fast zwei Jahre jünger als Annevs übrige Klassenkameraden, war erst durch einen späteren Erntezug an die Akademie gekommen und dann aufgrund seiner Begabungen in den weniger körper- und kampfbetonten Wissensbereichen, wie sie die Ältesten lehrten, also in Geschichte, Haushalten, Landwirtschaft und Arithmetik, in Annevs Klasse versetzt worden. Aber dieses Überspringen der Klassen war an eine Bedingung geknüpft gewesen: Konnte Titus die Prüfung zum Avatar des Urteils nicht mit seinen älteren Klassenkameraden zusammen bestehen, bekäme er überhaupt keinen Abschluss.

Kein Schüler war je der Akademie verwiesen worden, doch jenen, die die Prüfung des Urteils nicht bestanden, blieb es verwehrt, jemals Meisteravatare zu werden. Stattdessen wurden sie Kastellane, und für Annev gab es keine größere Strafe: Kastellane konnten sich niemals für den höchsten Rang eines Ältesten der Akademie qualifizieren, sie durften die Akolythen nicht unterrichten, sie durften nicht heiraten, und sie waren im Grunde nichts als Diener der Meister und der Ältesten; ihren Launen ausgeliefert, mussten sie sklavisch alle Aufgaben erledigen, die der Meister der Arbeit als für sie passend erachtete.

Doch das war noch nicht einmal das Schlimmste. Das nämlich bestand darin, dass Avatare, sobald sie Meister geworden waren, auf Einsätze zur Beschaffung von Artefakten ausgesandt wurden, während die Kastellane Chaenbalu niemals verlassen durften. Sie verbrachten ihr ganzes Leben als Gefangene des Dorfes.

Besonderes Mitleid hatte Annev immer mit Markov, einem Kastellan, der den größten Teil seiner Tage damit verbrachte, Meister Narach dabei zu helfen, die Artefakte im Gewölbe der Verdammnis zu katalogisieren. Einige Jahre zuvor hatte in Chaenbalu eine Seuche gewütet, der viele Menschen zum Opfer gefallen waren, darunter ein großer Teil der älteren Schüler, Weisfrauen und Meisteravatare der Akademie. Markov war einer der wenigen Glücklichen gewesen, die zwar krank geworden waren, aber überlebt hatten. Bedauerlicherweise war er zu krank gewesen, um an den meisten Prüfungen seiner Ernte teilzunehmen, und als er endlich wieder ganz gesund war, war seine Chance dahin gewesen.

Annev zog ein Paar schwarzer Handschuhe hervor, starrte sie an und bemerkte, dass der linke abgenutzter war als der rechte. Er zuckte die Achseln, warf den zweiten Handschuh in seine Truhe zurück und zog den abgetragenen Handschuh bis an den Ellbogen hinauf. Er trug nicht immer nur einen einzelnen Handschuh, aber doch oft genug, dass es die Meister und die Ältesten inzwischen als eine persönliche Eigenart hinnahmen.

Bekleidet und bereit ging Annev in die Küche, wo Sodar ihm zwei dicke lederne Wassersäcke zuwarf. Annev fing sie reflexartig auf.

»Eins«, begann der Priester. »Zwei …« Noch bevor Sodar bei drei angelangt war, war Annev auch schon durch die Küchentür verschwunden und rannte an den Bankreihen der Kapelle vorbei, um dann die Tür nach draußen aufzureißen. Er stolperte in der fast völligen Dunkelheit, richtete sich gerade rechtzeitig wieder auf, um nicht hinzufallen und sich das Knie aufzuschlagen, und flitzte in den frühen Morgen hinaus.

Annevs Arbeitsablauf war jeden Tag der gleiche: zum Brunnen in der Mitte des Dorfes laufen und dann mit so viel Wasser zurückrennen, wie er tragen konnte. Unterdessen saß Sodar in aller Gemütsruhe in der Küche und zählte die Sekunden bis zu Annevs Rückkehr. Das Ganze war als Ergänzung zu Annevs Akademieausbildung gedacht, aber während des ersten Jahres hatte Annev kaum mehr darin gesehen als eine zermürbende Pflicht. Er hatte sich so lange darüber beklagt, dass Sodar schließlich ein Spiel daraus gemacht hatte.

»Bring genug Wasser mit, um den Krug dort zu füllen«, hatte Sodar gesagt und auf einen großen Tontopf in der Ecke der Küche gedeutet. »Du muss ihn gefüllt haben, bevor ich bis fünfzehnhundert gezählt habe.«

»Und was bekomme ich, wenn ich das mache?«, hatte ein frecher achtjähriger Annev gefragt.

»Du darfst es trinken.«

Annev hatte die Stirn in Falten gelegt. »Das kann ich jetzt auch tun.«

»Nicht mehr, nein.« Und Sodar hatte abgewartet, bis Annev seine Worte verarbeitet hatte.

»Du willst mir nicht erlauben, unser Wasser zu trinken?«, hatte Annev ungläubig ausgerufen. »Das Wasser, das ich dir bringe? Das Wasser, das ich tragen muss?«

Sodar hatte gelächelt. »Langsam kapierst du es.«

Und es war auch kein Scherz gewesen. Am Tag nachdem Sodar sein kleines Spiel vorgeschlagen hatte, hatte sich Annev auf dem Rückweg zur Kapelle absichtlich Zeit gelassen. Damals hatte er das Wasser noch in Eimern getragen und gedacht, wenn er nur schön langsam ginge, würde er weniger Wasser verschütten und kein zweites Mal gehen müssen. Darin hatte er recht gehabt – er hatte den Wasserkrug bis an den Rand füllen können –, aber da hatte Sodar schon bis zweitausend gezählt. Als Annev dann Anstalten machte, sich eine Kelle Wasser zu schöpfen, war Sodars Stab auf seine Hand gekracht und hatte die Kelle quer durch den Raum geschleudert.

»Autsch!«, hatte Annev geschrien und sich seine geschundene Hand gerieben. »Bei Odars Eiern! Was habe ich denn getan?«

»Hüte deine Zunge!«, hatte ihn Sodar getadelt und nach der Kelle gegriffen. »Und du weißt ganz genau, was du getan hast. Regeln sind Regeln. Kein Wasser aus dem Krug.« Und damit hatte sich die Sache. Kein Wasser zum Trinken oder um sich Gesicht und Hände zu waschen. An jenem Morgen hatte er das Haus besonders früh verlassen – durstig und stinkend –, sodass er vor dem Unterricht noch am Dorfbrunnen haltmachen und einige Hände voll Wasser schöpfen konnte.

Seither hat er sich kaum einmal mehr verspätet.

Während Annev durch das schwache Licht der beginnenden Dämmerung auf den Brunnen zuspurtete, schlang er sich die breite Lederschlinge um den Hals und legte sich die leeren Wassersäcke auf den Rücken.

Diese Säcke waren sein Einfall gewesen, und er war auf diese Idee besonders stolz. Nachdem er monatelang Blasen an den Händen gehabt und außerdem einige Male gestolpert war und das Wasser aus den Eimern verschüttet hatte, hatte sich Annev an den Dorfgerber Elias gewandt und gefragt, ob er denn einen wasserdichten Sack für ihn anfertigen könne. Am Ende der Woche hatte Annev zwei dieser Säcke gehabt und das Wasser nach Hause gebracht, bevor Sodar bis fünfzehnhundert hatte zählen können.

»Gut gemacht«, hatte Sodar schließlich gesagt, nachdem Annev das Wasser zwei Wochen lang beizeiten zurückgebracht hatte. »Schauen wir mal, ob du den Krug füllen kannst, bevor ich bei dreizehnhundert bin.«

Und so ging es weiter. Jahr um Jahr. Jedes Mal wenn Annev eine Methode fand, seine Zeit zu verbessern, setzte Sodar die Grenze herunter, bis zu der er zählte. Als Annev schneller darin wurde, das Wasser aus dem Brunnen hochzuziehen, sank die Zahl auf zwölfhundert. Als sich seine Ausdauer verbesserte, wurde sie erneut niedriger, und als es Annev gelang, im Rennen so über den Boden zu gleiten, dass die Wassersäcke nicht mehr gegeneinanderstießen, senkte Sodar die Zahl auf tausend herab.

Annev begann mit seiner eigenen Zählung, sobald er den Brunnen erreicht hatte. Nachdem er sich beide Säcke über die Brust gehängt hatte, trat er gegen den Riegel, durch den die Handkurbel festgehalten wurde, und lauschte dann, wie der Eimer in die nassen Tiefen hinabpolterte. Sobald es unten aufspritzte, schlug er auf die Kurbel und begann sie zu winden.

»Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Sechs. Sieben.« Nach neunzehnmaligem kräftigem Kurbeln tauchte der Eimer aus der Dunkelheit auf. Annev ließ den Arretierriegel wieder fallen, griff über den Brunnenrand und tauchte das eine Ende seiner Schlinge in den Eimer. Sobald der erste Sack voll war, schnürte er ihn fest zu und trat wieder gegen den Riegel, sodass der Eimer erneut in die Dunkelheit hinabsauste. Er drehte die Kurbel gerade zum achten Mal, als etwas auf der anderen Seite des Dorfplatzes seine Aufmerksamkeit erregte. Annev blickte auf und sah im gleichen Moment ein gelbes Kleid und eine weiße Schürze in Greusiks Schusterwerkstatt verschwinden. Sein wildes Kurbeln verlangsamte sich.

Betrachtet mich da jemand?, fragte er sich. Es konnte nicht Greusiks Frau gewesen sein – sie war nicht der Typ, um einem Jungen nachzustellen, und sie besaß nichts Leuchtenderes als das rotbraune Kleid, das sie für ihre Besuche in der Kapelle anzog –, aber es hätte womöglich Myjun sein können.

Die Tochter des Rektors hatte vor über einem Monat ein gelbes Kleid getragen, als sie Annev in die Gasse hinter der Bäckerei gewinkt hatte. Myjun hatte ihn an die Wand gelehnt, und während sein Herz wie verrückt hämmerte, hatte sie ein Stückchen Kreide aus ihrer Schürze gezogen und seine Hand gegen die roten Ziegelsteine gedrückt. Mit von ihm abgewandtem Blick hatte sie sorgfältig die Umrisse seiner Hand an die Mauer gezeichnet. Als sie damit fertig war, war sie ganz rot geworden, und er hatte ihr die Kreide abgenommen und nun ihre Hand so an die Wand gelegt, dass die Umrisse ihrer beiden Hände einander berührten, und dann hatte er langsam ihre Finger auf dem Ziegelstein nachgezeichnet. Dabei hatte er sich ihren Duft, die Rundung ihres Kinns und das Gefühl ihrer warmen Haut an seiner tief eingeprägt. Eine Woche später hatte der Regen die Kreide von der Mauer der Bäckerei gewaschen, aber Annevs Blick blieb immer noch an der Stelle der Ziegelsteine hängen, wo die weißen Linien gewesen waren.

Annev schreckte zusammen, als der Eimer gegen den Brunnenrand schlug und Wasser herausschwappte. Er ließ den Riegel wieder fallen, befüllte seinen zweiten Wassersack und schaute dann abermals zur Tür des Schusters hinüber, in der Hoffnung, es noch einmal gelb aufblitzen zu sehen.

Nichts.

Er wirbelte auf dem Absatz herum und raste zurück zur Kapelle.

Der Rückweg ging viel langsamer vonstatten, aber Annev hatte herausgefunden, dass die Wahrscheinlichkeit zu stolpern sank, wenn er beim Laufen seine Schritte zählte. Es waren genau eintausend und elf Schritte zurück zur Kapelle am Waldrand, und Annev verbrachte jeden einzelnen dieser Schritte damit, an Myjun und an den Freundschaftsring zu denken, den er ihr eines Tages schenken zu können hoffte. Mit einem Lächeln im Gesicht stürmte er durch die Vordertüren und überblickte eine Kapelle, die zwar groß genug war, um Chaenbalus regelmäßige Gottesdienstbesucher zu beherbergen, aber immer noch kleiner als das staubige Kirchenschiff der Akademie. Während er seine Wassersäcke weiter fest umklammert hielt, eilte er durch den Mittelgang, sprang auf das Altarpodest und stürmte durch die Tür dahinter, die direkt in die Priesterwohnung führte.

»Neunhundertdreiundsechzig … Neunhundertvierundsechzig …«

»Ich bin da!«, keuchte Annev, als er in die Küche platzte, und schlang sich die Wassersäcke vom Hals. Sodar zeigte auf den leeren Tonkrug in der Ecke des Raums und zählte weiter. Annev stöhnte, während er zugleich zum Krug weitereilte und ihn mit dem Inhalt seiner Säcke zu füllen begann.

»Neunhunderteinundsiebzig«, beendete Sodar sein Zählen, als Annev die leeren Wassersäcke vor sich hinwarf und erschöpft zu Boden sank. »Du wirst langsamer, Annev. Letzte Woche bin ich nie auch nur bis achthundert gekommen.«

Annev merkte, dass er trotz seines Keuchens lächelte. »Ja.« Er lachte. »Ich bin aufgehalten worden.«

»Was hast du denn gemacht, das dich aufgehalten hat?«

»Mir schien, als hätte ich Myjun beim Schuster gesehen.«

»Mmmh.« Sodar zupfte an seinem Bart. »Das wäre wohl eine Erklärung.« Er nahm die hölzerne Kelle vom Kaminsims und löffelte Wasser in den Kessel, der über der lodernden Herdstelle hing. »War sie es wirklich?«

»Keine Ahnung. Ich glaube schon. Sie hat sich hinter Greusiks Tür geduckt, gerade als ich die Wassersäcke befüllt habe.«

Sodar schüttelte den Kopf. »Und was würde wohl dein Rektor sagen, wenn er dich dabei ertappen würde, wie du seiner Tochter nachschmachtest? Hm? Es ist schon schlimm genug, dass sich eure Wege in der Akademie kreuzen. Wenn du anfängst, ihr auch noch außerhalb des Zuständigkeitsbereichs ihres Vaters nachzulaufen, und das ohne sein Wissen …«

Annev ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Tosan kann mich mal«, erklärte er.

»Annev!« Sodar fuhr herum und verschüttete dabei etwas von dem Wasser. »Tosan ist der Älteste der Ältesten und das Oberhaupt der Akademie. Zeig ein wenig Respekt.«

»Meinetwegen«, erwiderte Annev. »Ältester Tosan kann mich mal …« Er sah dem Priester in die Augen und bemerkte, dass sie kalt wie Eis waren. Er schluckte. »Entschuldigung, Sodar. Ich mache mir nur … ich mache mir Sorgen wegen der Prüfung morgen.«

Sodar wandte sich wieder seinem Kessel zu. Im gleichen Moment glaubte Annev, ein unterdrücktes Lachen von ihm zu hören.

Annev lächelte. Was auch immer Sodar sagen mochte, Annev wusste, dass zwischen dem Priester und dem Rektor keine Liebe herrschte. Die Kluft zwischen der Priesterschaft und der Akademie ging zurück auf einen Bruch, der sich bereits vor Jahrzehnten ereignet hatte – lange bevor Sodar nach Chaenbalu gekommen war –, aber die Spannungen hatten sich dadurch verschärft, dass Annev bei dem Priester in die Lehre ging, und Sodar unternahm keinerlei Anstrengungen, für eine Art Ausgleich zu sorgen. Manchmal hatte Annev den Eindruck, dass er den Konflikt sogar eher noch anstachelte.

Als der Kessel voll war, reichte Sodar die Kelle an Annev weiter. Annev schöpfte sich sogleich Wasser aus dem Tonkrug und nahm mehrere lange Züge davon. In der Zwischenzeit stapfte Sodar durch die Küche und suchte Teeblätter und Zimtstangen zusammen. »Wenn du nach den Fallen siehst, dann stell sie nicht neu auf – und lös bitte alle aus, die noch nicht ausgelöst worden sind.« Er warf Teeblätter und Zimtstangen in den Kessel.

»Aber nicht die Vogelfallen«, sagte Annev und legte die Kelle auf den Kaminsims zurück.

»Doch, auch die Vogelfallen. ›An meinem heiligen Tag sollst du kein Tier verzehren, nicht Vieh, nicht Fisch noch Geflügel.‹«

»Aber wir haben heute nicht Siebttag«, wandte Annev ein.

»Nein, aber es ist die erste Nacht des Regaleus«, sagte Sodar und warf eine Handvoll gemahlener Zichorienwurzeln in den Kessel. »Außerdem wirst du mir, wenn sich der morgige Tag auch nur annähernd so gestaltet wie all die anderen Prüfungstage, morgen früh nicht von Nutzen sein. Da bist du dann so abgelenkt, dass du die Hälfte deiner Pflichten nicht richtig erledigst, sodass ich selbst ranmuss.« Er schüttelte den Kopf. »Wir wollen uns schon heute auf morgen vorbereiten, und deshalb sollst du alle Fallen auslösen.«

Der mahnende Hinweis auf die morgige Prüfung – und Sodars Anspielung auf sein früheres Versagen – löste bei Annev ein Stirnrunzeln aus und machte ihn mürrisch.

»Wenn es im Buch Odar heißt, dass wir an heiligen Tagen keine Tiere essen sollen, warum essen wir dann am Siebttag trotzdem Geflügel und Fisch?«

»Weil der Siebttag ein normaler heiliger Tag ist. Kein heiliger Festtag wie Regaleus.«

Die Falte zwischen Annevs Brauen vertiefte sich. »Aber sollten wir nicht trotzdem …«

»Annev, willst du dich jetzt wirklich mit mir über den Unterschied zwischen heiligen Tagen und Festtagen streiten?«, fragte Sodar. »Das Konzil von Neven nan Su’ul hat das im Dritten Zeitalter versucht. Es gibt ganze Bücher über das Thema, und das meiste davon ist Bockmist.«

Annev klappte die Kinnlade herunter, doch der Priester tat, als bemerke er es nicht. Ein Lächeln huschte über seine Züge, während er sich auf die Zubereitung seines Tees konzentrierte.

»Die Wahrheit ist«, fuhr Sodar fort, »dass auch ich durchaus mal ein wenig scheinheilig sein kann, aber im Gegensatz zu so manchen meiner Brüder versuche ich, das nicht zu verheimlichen.« Mit funkelnden Augen sah er wieder zu Annev. »Doch dir geht es jetzt gar nicht um heilige Tage oder das Buch Odar, nicht wahr? Es geht nicht einmal darum, ob du deine Pflichten erfüllst.«

Annev sah dem Priester in die Augen, biss die Zähne zusammen und wagte nicht zu antworten.

Sodar musterte ihn einen Moment lang. »Du wirst deine Sache gut machen, Annev. Was auch immer geschieht, ich bin stolz auf dich.«

Annev nickte knapp und lief rot an. »Sicher«, sagte er mit zugeschnürter Kehle. »Also werde ich alle Fallen auslösen. Sonst noch etwas?«

Sodar rührte die im Kessel treibenden Blätter um. »Du brauchst kein Brennholz mehr zu hacken. Wir haben genug für das ganze Wochenende, und es wäre mir lieber, wenn du heute früh dran wärst.«

»Ich habe hier immer noch jede Menge Zeit, bis ich zum Unterricht muss.«

»Nicht wenn du vorhast, dich umzuziehen und dir das Gesicht zu waschen. Es ist so schmutzig, dass es deinen Kittel fast schon wieder weiß erscheinen lässt.«

Annev zwang sich zu einem Lachen und rieb sich mit der Hand über die Wange. Dort war ohne Frage Schmutz, auch wenn er sich nicht sicher war, ob dieser Schmutz nun von seinen Fingerspitzen oder von seinem Gesicht stammte. »Also schön«, sagte er schließlich. »Ich werde mich beeilen, wieder nach Hause zu kommen.« Und er lief davon, bevor Sodar ihm noch irgendwelche weiteren Aufgaben zuweisen konnte.

Kapitel 2

Die Tür hinten in der Küche hatte einst direkt nach draußen geführt, aber als Annev älter geworden war, hatte Sodar dort einen behelfsmäßigen Anbau aus Holz errichtet, der, weit über die Hintertür hinausreichend, einen Raum umschloss, der groß genug war, dass Annev darin trainieren konnte. Der Holzschuppen beherbergte außerdem eine Vielzahl von Waffenattrappen, eine Übungspuppe, Brennholzstapel, einen unterirdischen Rübenkeller sowie einen kleinen Abort.

Als Annev den verdunkelten Raum betrat, schnappte er sich seine Jagdtasche und seine Jagdmesser von ihren Haken an der Wand, dann warf er einen Blick zum Abort in der hinteren Ecke des Schuppens. Mit einem Seufzen lief er hinüber zum Hockkasten und entfernte den mit Exkrementen gefüllten Topf, der darunter versteckt war. Das Gefäß weit von sich weggestreckt, verließ er den Schuppen und trabte die Viertelmeile bis zum Rand des Waldes, wo er den Topf in das Gehölz entleerte, das ihm eigens zu diesem Zweck diente. Nachdem das erledigt war, stellte er den Topf ab und stapfte in den Wald hinein, gespannt, welche Tiere ihm womöglich in seine Fallen gegangen waren.

Nachdem er ein Dutzend Schritte in den Dichtwald hineingegangen war, blieb Annev stehen, um den würzigen Duft der Lichtung einzuatmen, die er nun erreicht hatte, und den vertrauten Anblick der Bäume und die Geräusche des Waldes auf sich wirken zu lassen. Er betrachtete die hohen Nadelbäume mit ihren immergrünen Zweigen, die sich von den Eichen und Buchen abhoben, an denen immer noch die toten Blätter des Winters hingen. Die würden sie erst hergeben, wenn neue Knospen sprossen, um deren Platz einzunehmen. Er lief unter den Bäumen hindurch zu einem der Wildwechsel, die tief in den Wald hineinführten, und rannte den halb zugewachsenen Pfad entlang zu seinen ersten Fallen.

Binnen einer halben Stunde waren Annevs Bemühungen durch einen Fasan, zwei feiste Eichhörnchen und ein noch feisteres Kaninchen gekrönt. Er machte sich auf den Rückweg zum Dorf und war schon fast wieder in Sichtweite des Waldrandes, als er einen seltsamen tiefschwarzen Fleck bemerkte, der sich um eine Gruppe von Kiefern gelegt hatte. Annev starrte in die dunklen Schatten hinein und sah, wie sie sich bewegten, wo das Licht durch das Blätterdach des Waldes herabdrang.

Solche »Schattenteiche« waren im Dichtwald selten, aber Annev war tief im Waldinneren bereits auf einige andere gestoßen. Doch er hatte nie mit einem davon Berührung gehabt, und das hier war der erste, der ihm so nahe beim Dorf begegnete.

Seine Jagdtasche sicher über der Schulter, ging Annev zu einem nahen Schlehdornstrauch hinüber, bückte sich und hob einen Stein auf, der halb so groß war wie seine Handfläche. Er wog ihn in der Hand, schaute zu dem wallenden Fleck aus Dunkelheit hinüber und schleuderte sein Wurfgeschoss von sich.

Der Stein verschwand mit einem gedämpften Zischen im dichten Gras und in den nebelhaften Schatten. Annev starrte auf die Stelle, wo die Dunkelheit den Stein verschluckt hatte. Nach einigen Sekunden gab er ein Schnauben von sich. Er wusste nicht, was er eigentlich erwartet hatte, aber er hatte auf etwas Aufregenderes gehofft und nicht darauf, dass schlicht gar nichts passierte. Schlimmer noch, die Fremdartigkeit des Schattenteichs lockte ihn noch immer.

Den Blick nach wie vor auf den in unruhiger Bewegung befindlichen Schattenteich gerichtet, bückte sich Annev, um einen zweiten Stein aufzuheben, und plötzlich durchzuckte ein greller Schmerz seine Hand. Mit einem Fluch ließ er den Schlehenzweig los, in den er versehentlich gegriffen hatte, und spannte die Finger seiner verletzten rechten Hand an. Er sah, wie sich zwei rote Punkte auf der Haut bildeten. Um ein Haar hätte er sich das Blut an seinem Kittel abgewischt, konnte sich jedoch gerade noch rechtzeitig stoppen, bevor er das beige Leinen noch stärker verschmutzte.