Söhne der Liebe - Ghazi Rabihavi - E-Book

Söhne der Liebe E-Book

Ghazi Rabihavi

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Beschreibung

Mit "Söhne der Liebe" zeichnet Ghazi Rabihavi ein umfassendes und repräsentatives Bild von Iran in den Jahren kurz vor und unmittelbar nach der Revolution von 1979. Der Roman beleuchtet damit einen Wendepunkt in der Geschichte Irans, greift jedoch ebenso universelle Fragen auf, die bis heute nichts an Relevanz eingebüßt haben. Durch die Protagonisten Nadji und Djamil lernt die Leserschaft verschiedene marginalisierte Bevölkerungsgruppen kennen und wird so während des Lesens konstant mit Problemen der sozialen und nationalen Zugehörigkeit konfrontiert.

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Inhaltsverzeichnis
Söhne der Liebe
Für Karl Hoff
Impressum
Ich bin verflucht

Ghazi Rabihavi

Söhne der Liebe

Roman

Aus dem Persischen übersetzt von 

Gorji Marzban und Thomas Geldner

Für Karl Hoff

Impressum

Originalausgabe: Pessaran-e Eshgh, Gardun Verlag, Berlin

Das Titelbild wurde mit freundlicher Genehmigung der niederländischen Fotografin Maan Limburg in Bezug auf die Black Lives Matter Bewegung verwendet.

CIP - Titelaufnahme in die Deutsche Nationalbibliothek

©  2022 by Sujet Verlag

Söhne der Liebe

Ghazi Rabihavi

Übersetzt aus dem Persischen von Gorji Marzban & Thomas Geldner

ISBN:978-3-96202-628-8

Lektorat: Amir Shaheen

Umschlaggestaltung: Kai Kullen

Layout: Sujet Verlag

Druckvorstufe: Sujet Verlag, Bremen

Printed in Europe

1. Auflage Herbst 2022

www.sujet-verlag.de

Ich bin verflucht

Ich bin verflucht. Das ist auch der Grund, warum ich begonnen habe, diese Geschichte zu schreiben. Damit will ich diesen Fluch ein für alle Mal aufheben und dich darum bitten, mich freizusprechen. Indem ich schreibe, erwecke ich dich zu neuem Leben und kann dich um Vergebung bitten. Denn als wir uns das letzte Mal gesehen haben, kamen wir nicht mehr dazu. Hörst du? Ich schrieb, dass ich keine Gelegenheit hatte, dich um Vergebung zu bitten. Und jetzt schreibe ich, wie schade es ist, dass ich dich nicht in die Gegenwart und die Freiheit zurückholen kann. Darum muss ich nun selbst in die Vergangenheit reisen und zu dir in diesen finsteren Käfig zurückkehren. Ich muss davon berichten, was uns und unserer Liebe widerfahren ist.

Damals erfuhr mein Vater, was er niemals hätte wissen dürfen. Habe ich davon bereits erzählt? Das Spiel hatten wir schon mehrmals gespielt, mit meinen Schwestern und Nichten im Haus von Naneh Reyhan, denn bei ihr durften wir Kinder tun und lassen, was wir wollten. Meine Schwester Behiyeh, die alle Behi nannten, und ich saßen dabei jeweils auf einem Hocker und wurden von den anderen Mädchen mit Schminke, die sie von ihren Müttern geklaut hatten, bemalt. Behi war größer und kantiger als ich, daher wurde sie zum Bräutigam gemacht, mit einem Schnurrbart aus Puppenhaar. Ich dagegen war etwas kleiner und zierlich, also wurde ich nach allen Regeln der Kunst wie eine Braut geschminkt; mit rosa Lippen, auf meinen Wangen reichlich Rouge, die Augen mit Kajalstift schwarz hervorgehoben, dazu blauer und grüner Lidschatten, die Stirn bunt bemalt und mein Kopf mit einem Schleier aus weißer Spitze bedeckt.

Aber eines Tages wurden wir völlig unerwartet von Hamed, der schon von Kindesbeinen an hinter Behi her gewesen war, erwischt. Er verpetzte uns bei meinem Vater Hadji, der auch gleich zur Stelle war und uns einen bedrohlichen und verachtenden Blick zuwarf. Zunächst sagte er nichts, doch noch am selben Abend band er Behi und mich mitten im Hof an einen Jasminbaum und verprügelte uns mit einem nassen Rohrstock, sodass unsere zarten Beine vor Schmerz brannten.

Damals war ich noch nicht an Schmerz gewöhnt. Aber heute hat sich der Schmerz in allen Fasern meines Daseins eingenistet. Deswegen sollte dieses Buch wohl eher Söhne des Schmerzes heißen. Söhne der Liebe ist wahrscheinlich nicht der beste Titel für eine Geschichte, die vor Schmerz und Gewalt nur so strotzt. Vielleicht nenne ich sie am Ende auch Söhne des Todes. Ja, das ist der Titel, den ich auf den Buchumschlag schreiben werde, sobald ich damit fertig bin. Unter anderem auch deshalb, weil du, der Held dieser Geschichte, schon tot bist. Ich habe zwar nicht gesehen oder gehört, wie du gestorben bist, aber ich weiß, du bist tot. Und ich bin für deinen Tod verantwortlich, ich habe dich umgebracht. Ich bin der Mörder jenes Menschen, den ich mehr als alles andere auf der Welt geliebt habe. Was wiederum bedeutet, dass ich verflucht bin.

Ich habe in jungen Jahren meinen Geliebten getötet, und er wurde dadurch für immer ein Teil meines Lebens. Und er erinnert mich unaufhörlich daran, dass ich ihn in den Tod getrieben habe, voller Liebe und mit einem Lächeln auf seinen Lippen. Mit demselben Lächeln, mit dem du mich damals auf dem Hochzeitsfest die ganze Zeit angestarrt hattest. Ich sehe dich in den Tiefen des Spiegels, vor dem ich gerade sitze und verzweifelt versuche, mit mehreren Lagen Puder die Narben in meinem Gesicht zu kaschieren. Oder auch auf der Bühne, wenn ich tanze und mich im Kreis drehe. Dann kann es passieren, dass ganz plötzlich ein Lichtstrahl den Raum aufhellt und ich mitten im Publikum deine Gestalt erkenne, die mich mit genau diesem Lächeln anblickt.

Aber bevor ich von dir erzähle, muss ich mich vorstellen. Denn ich bin es gewesen, der diesen gefährlichen Weg gewählt und dich damit in den Tod geschickt hat. Doch war das wirklich meine Schuld?

Ich bin das Kind einer toten Mutter. Einer Mutter, die ich nie kennengelernt habe und die in meiner Kindheit trotzdem die wichtigste Person für mich war. Obschon sie doch die ganze Zeit tot war. Nur riechen konnte ich sie, denn es lagen bloß ein paar Minuten zwischen meiner Geburt und ihrem Tod. Meine Augen konnten noch nicht richtig sehen und meine ganze Welt bestand lediglich aus der dünnen Linie ihrer blassen Haut. So als wäre meine Mutter die Erdanziehungskraft und mein Kopf eine schwere Masse, die im Weltraum verloren ist und unweigerlich auf diesen Körper fallen muss. Dann tauchte hinter dem Fenster ein Schwarm Sperlinge auf und begann zu krächzen. Ja, so erzählte es mir Naneh Reyhan. Vielleicht sangen die Sperlinge ein Lied, aber in ihren Ohren war es nur ein Krächzen. Währenddessen lag ich auf dem warmen Leib meiner Mutter und auf ihren weichen Brüsten. Um mich herum war nur Lärm und Geruch, und mein größtes Vergnügen bestand darin, meinen Körper an ihrem zu reiben.

Jahre später erst erfuhr ich etwas Schreckliches: Es war an einem Donnerstagabend und Naneh Reyhan verteilte zu Ehren der Verstorbenen Kheyrat an Nachbarn und Vorbeigehende. Ich ging vorneweg und trug das Fladenbrot mit Schafskäse und Datteln in einem Korb, der von meinen Schultern baumelte. Naneh Reyhan dachte wohl, ich hätte vor, ihr zu helfen. Aber in Wahrheit war ich nur deswegen mit von der Partie, weil ich selbst ein Savab, eine gute Tat, die von Allah anerkannt und belohnt wird, vollbringen wollte. Naneh Reyhan ging dicht hinter mir, weil sie nicht gut sah. Nach einer Weile kamen wir an Bibi Gohar vorbei, die unter einer Palme saß und mit Korbflechten beschäftigt war. Sie verdiente sich damit ihren Lebensunterhalt. Sie lachte und sagte: „Gott segne eure Toten, ich war am Verhungern.“

„Dann bete vor allem für Sara“, erwiderte Naneh Reyhan.

Bibi Gohar sagte: „Ha wallah, du hast es auf den Punkt gebracht.“ Sie lächelte mich an und sagte weiter: „Maschallah, was für einen zuckersüßen Sohn sie doch hinterlassen hat. Gott hat schöne Menschen besonders gern.“ Mit einem Stückchen Brot in der Hand und geschlossenen Augen murmelte sie ein Gebet für die Verstorbenen. Als sie damit fertig war, blickte sie vorsichtig um sich und sagte: „Verflucht sollen jene sein, die diese gute Frau umgebracht haben.“

Das war das erste Mal, dass ich davon hörte. Später erzählte mir Naneh Reyhan leise flüsternd, was geschehen war. Und so erfuhr ich, dass Bibi Gohar von zwei Menschen gesprochen hatte, nämlich von Zobeydeh Khanum, der ersten Ehefrau meines Vaters, und von Bibi Salim, meiner Großmutter väterlicherseits. Beide Frauen hatten mir jedoch erzählt, dass meine Mutter an Tuberkulose erkrankt und dermaßen abgemagert war, dass ihr Körper meine Geburt nicht überstehen konnte. Und dass sie nur deswegen ein paar Minuten nach meiner Geburt gestorben und alle Bemühungen zu ihrer Rettung erfolglos geblieben seien.

„Was für eine glückliche und stets heitere Frau sie doch war“, sagte Naneh Reyhan.

Naneh Reyhan war unsere Nachbarin und mit der Familie meines Vaters entfernt verwandt. Sie bewohnte ein kleines Häuschen gleich hinter unserem Haus, das wesentlich größer war. In unserer Familie sah es niemand gern, wenn ich mich bei ihr aufhielt. Alle sagten, sie ticke nicht richtig und erzähle nur wirres Zeug. Aber ich mochte sie sehr gerne und unterhielt mich oft mit ihr. Und als ich älter wurde, brachte ich aus der Stadt Medizin für ihre kranken Augen mit, die ich ihr an manchen Abenden auch einträufelte. Ich vertraute ihr und ließ sie auch an meinen Geheimnissen teilhaben. Naneh Reyhan hatte Angst, dass man mich ermorden würde wie meine Mutter. Und zwar auf Befehl von Bibi Salim. Dafür interessierte ich mich jedoch nicht. Stattdessen wollte ich nur ihre Geschichten über meine Mutter hören.

„Immer glücklich? Wie war sie wirklich?“

„Sie erzählte viel und lachte gerne. Und sie liebte es, das Tamburin zu schlagen und dazu zu tanzen“, antwortete Naneh Reyhan.

„Sie wollte tanzen?“

„Nur für sich selbst und um anderen eine Freude zu machen.“

„Und wo tanzte sie?“

„Nur hier, in meinem Haus. Sie hatte einen Kassettenrecorder. Darauf spielte sie heitere Musik und tanzte dazu. Sie erzählte, dass die Kassetten ihrem Vater gehört hätten, einem berühmten Musiker.“

Der Recorder und alle Kassetten waren verschwunden, ich habe sie niemals gesehen. Lediglich die Geige, die meine Mutter als Erinnerung an ihren Vater behalten hatte, ist mir untergekommen. Nachdem sie krank geworden war, bat sie Hadji, die Geige aufzubewahren und mir zu geben, sobald ich erwachsen wäre. Mein Vater liebte meine Mutter und gab daher auf das Instrument gut acht.

„Ja, er war richtig verknallt in sie. Wenn Sara auf etwas Lust hatte, las ihr Hadji jeden Wunsch von den Augen ab. Einmal, mitten im Winter, hatte sie Lust auf frische Kirschen und Hadji schickte seine Arbeiter in die Stadt, die auch wirklich welche fanden und ihr brachten. Er liebte sie so sehr, und diese Liebe brachte ihr schließlich den Tod.“

Einmal im Jahr ging mein Vater auf eine Pilgerreise nach Maschhad, im Nordosten des Iran. Dort lernte er während eines Sommers meine Mutter kennen und die beiden vereinbarten im Hof des Mausoleums von Imam Reza, eine Sigheh  einzugehen. Für meinen Vater war das nichts Neues, denn er schloss jeden Sommer mit irgendwelchen Frauen eine Ehe auf Zeit. Aber diesmal war alles anders: Mein Vater verliebte sich Hals über Kopf. Vor dem Mausoleum hielt ein sogenannter Seyyed, ein Erleuchteter und direkter Nachkomme des Propheten, die Hand meiner Mutter in der einen und die Hand meines Vaters in der anderen Hand. Aufmerksam lauschte er in die Stille – man konnte das Brautpaar atmen hören. Dann sagte er zu meinem Vater: „Diese Frau trägt sieben Söhne in ihrem Schoss. Und wenn du dir Söhne wünschst, wird sie dir jedes Jahr einen gebären.“ Dieser Satz veranlasste meinen Vater, sogleich eine Dauerehe mit meiner Mutter zu schließen und sie als dritte Frau mit nach Hause zu bringen – wo er doch schon zwei andere Frauen hatte. Wahrscheinlich wurden ihr auch besondere Begünstigungen gewährt, nur damit sie mich zur Welt bringen konnte. Aber ihr Leben war zu kurz, um noch weitere Söhne, wie es der Seyyed vorausgesagt hatte, zu gebären. Und auch ich wäre gleich nach der Geburt gestorben, wenn Naneh Reyhan nicht im Zimmer gewesen wäre und einen Eulenschrei  ausgestoßen hätte – diesen wortlosen Singsang, den Frauen in unserem Land bei Freude oder Trauer erklingen lassen. Naneh Reyhan schrie aus Leibeskräften, damit Hadji, der im Hof nervös auf- und abging, sogleich die gute Nachricht vernehmen konnte. Während des Gehens murmelte Hadji ungeduldig die Frage, was ich wohl wäre, ein Mädchen oder ein Junge? Ja, was war ich wirklich? Werde ich das gefragt oder frage ich mich das selbst? Keine Ahnung, aber ich sehe meinen Vater in diesen Momenten vor mir, wie er mit offenem Mund und fragendem Blick ausstößt: „Was ist es denn jetzt?“

Diesem Mann, den wir alle Hadji nannten, wurden von seinen beiden anderen Frauen jeweils sieben Töchter geschenkt. Er hatte es satt, von so vielen Mädchen umgeben zu sein, und mit Naneh Reyhans Eulenschrei wurde dieses Schicksal nun ein für alle Mal beendet. Denn ich war ein Junge und ich lebte. Andererseits hatte es Naneh Reyhan geschafft, Bibi Salim und Zobeydeh Khanum nervös zu machen und damit deren Mordpläne zu vereiteln, noch bevor sie die Gelegenheit bekamen, mir mit einer Nadel die Schläfen zu durchbohren. Allerdings wusste Naneh Reyhan nicht, dass die beiden auch geplant hatten, meine Mutter zu vergiften. War das alles nur eine Erfindung von Naneh Reyhans Fantasie oder war es Wirklichkeit?

Jahre später erzählte sie: „An jenem Tag hatte ich solche Angst um dein Leben, dass ich dich selbst gebadet habe.“ Und dann habe sie mich auf den sterbenden, aber noch warmen Körper meiner Mutter, der langsam kälter wurde, gelegt. Diese Kälte drang in mich ein und sollte für immer in mir bleiben.

Nein, mein Leben war nicht nur kalt, das sollte ich nicht schreiben. Jahre später brachte mir eine Jugendliebe wohltuende Wärme, mit guten und schlechten Erfahrungen, die ich niemals vergessen werde. Und obwohl diese verbotene Beziehung zunächst sehr gefährlich war, fühlte ich mich später, als wir uns an das Leben in der Stadt gewöhnt hatten, glücklich und leicht wie ein Vogel, der sein Ziel erreicht hat. Befreit aus dem Käfig jenes Dorfes, in dem ich geboren und aufgewachsen bin. – Obwohl, manchmal frage ich mich, war das damals nicht auch der schönste Käfig der Welt und würde ich trotz meiner jetzigen Freiheit nicht doch gerne wieder dorthin zurückfliegen? Trotz aller Einschränkungen und Schwierigkeiten, die mir mein Vater bereitet hatte? Immerhin schickte er mich in die Stadt, wo ich in der Schule schreiben lernen sollte. Zwar war es schwer, zwischen der Stadt und dem Dorf zu pendeln, aber dafür kann ich heute unsere Geschichte niederschreiben. Ich schreibe über meine frühen Jahre und die eines anderen jungen Mannes, der heute noch leben würde, wenn wir uns nicht auf jenem Hochzeitsfest begegnet wären. Hätte mein Vater gewusst, dass ich eines Tages über all diese Dinge schreiben würde, er hätte mich niemals zur Schule gehen lassen. Denn eigentlich hatte er mich in diese Schule geschickt, damit ich eines Tages ein bedeutender Mann werden würde. Auch wusste er selbst sehr gut, dass es vergebens gewesen wäre, dieselbe Mühe für die Mädchen aufzuwenden. Denn diese würde er am Ende doch nur mit einem Mann verheiraten, damit sie von ihm gevögelt würden. Das waren seine Worte, wenn es um die Zukunft seiner Töchter ging. Ich aber war ein Junge, und damit anders. Ich sollte ein gelehrter Mann werden und meinem Vater später zu Diensten sein. Für ihn waren fehlerfreies Schreiben und Lesen bereits die höchste Bildung. Denn im ganzen Dorf und in der näheren Umgebung konnte niemand lesen und schreiben. Hadji musste also auf mich aufpassen, damit er seine Ziele erreichen konnte. Besonders achtete er darauf, dass ich nicht den Weg meines Großvaters mütterlicherseits einschlagen und Musiker werden würde. Die alte Geige behielt er trotzdem. In den Händen meines Großvaters hatte das Instrument magisch geklungen, das erzählte Naneh Reyhan. Nun verstaubte es mit einem Haufen anderer Sachen in meinem Zimmer.

Unser Dorf war weit entfernt von der nächsten Stadt und lag im Mündungsgebiet mehrerer großer Flüsse, darunter Euphrat und Tigris. Mein Vater gehörte zu den wohlhabenden Männern in der Gegend, denn er besaß große Ländereien, mehrere Palmen sowie ein paar Rinder und Schafe. Einmal pilgerte er nach Mekka und wurde damit zu einem Hadji. Dieser Titel war von großem Nutzen, denn damals wurde einem Hadji großer Respekt entgegengebracht und man musste ihm alle Ehren erweisen. Mein Vater wollte als frommer Regionalpolitiker wahrgenommen werden. Außerdem war er sicher, dass früher oder später das irakische Heer von der anderen Seite des Flusses kommen und diese Gegend von der Herrschaft des Schahs befreien würde. Dann ginge die Kontrolle über den Ort an die Einwohner über. In diesem Fall hoffte Hadji auf großen politischen Einfluss und träumte davon, zum Beispiel als Scheich eingesetzt zu werden. Deshalb wollte er auch, dass ich studierte, um dann als Sekretär seine rechte Hand zu sein. Er war bereit, für dieses Ziel alles zu geben, und er scheute weder Kosten noch Mühen für meinen Unterricht und für meinen Transport zur Schule. Also kam ich in die Schule. Es war Herbst und das ganze Land war in einen goldschimmernden Glanz getaucht. Zu dieser Zeit verbot mir Hadji auch, mit Mädchen zu spielen.

„Du bist jetzt ein Mann und gehst in eine Schule für Männer. Es schickt sich nicht, wenn du mit den Mädchen spielst oder wieder etwas machst, wofür du von Frauen und Mädchen ausgelacht wirst. Verstehst du, was ich dir sagen will?“

„Jawohl, ich habe verstanden, Hadji.“

Er hatte recht. Ich war herangewachsen und musste mich männlich verhalten, überall, zu Hause, in der Schule und in der Stadt. Im Winter brachte mich ein Chauffeur namens Abud mit seinem schwarzweißen Chevrolet in die Stadt. Ich saß auf dem Vordersitz neben ihm. Er stotterte stark und bevorzugte daher, während der Fahrt nicht zu sprechen. Nur manchmal schaute er mich an und fragte mit einem freundlichen Lächeln: „Sitzt du bequem?“

Ein paar Jahre später – ich war schon etwas älter – wollte ich mit dem Motorrad zur Schule gebracht werden. Besonders an heißen Sommertagen, wenn es nicht regnete. „Du kannst mit mir mitfahren“, bot Hamed an. Er war mein Cousin und gleichzeitig ein Arbeiter meines Vaters. Seit seiner frühesten Jugend liebte er das Motorradfahren und erledigte damit die Aufgaben, die ihm von Hadji aufgetragen wurden. Meine Schwester Behi war bereits als Kind mit ihm verheiratet worden, aber Hadji sagte, dass die beiden erst dann richtig Hochzeit feiern dürften, wenn Behi alt genug sei. Nichtsdestotrotz war Hamed die meiste Zeit bei uns zu Hause oder in der Nähe. Behi reifte allmählich heran und ließ mich an ihrer Entwicklung teilhaben. Sie zeigte mir auch die beiden Wölbungen auf ihrer Brust, die immer deutlicher wurden – auch wegen der zunehmend dunkler werdenden Brustwarzen.

„Wenn sie erstmal so groß wie zwei Granatäpfel sind, dann gehe ich zu Hameds Haus“, lachte sie und bedeckte ihre Brust vor meinen Blicken.

„Warum werden meine nicht auch größer?“

„Weil du ein Junge bist, du Dummerchen.“

Die Fahrt zur Schule dauerte rund zwanzig Minuten. Ich saß hinter Hamed auf dem Motorrad und schlang meine Arme um seine Taille. Manchmal wollte er schneller fahren und sagte dann, dass ich mich ganz besonders festhalten solle. Dann klammerte ich mich an ihn und er gab Gas. Ich mochte es, im Wind schnell zu fahren. Einmal nahm Hamed meine Hand, hielt sie fest und führte sie unter sein Hemd und zu seinem Bauch. Seine Haut war kalt, sehr kalt, und ich hatte Angst, weil er jetzt nur mit einer Hand das Motorrad lenkte. Aber was konnte ich tun? Also presste ich mein Gesicht an seinen Rücken und schloss die Augen. Erneut griff er nach meiner Hand und führte sie weiter nach unten. Er lenkte meine Finger an seinem Gürtel vorbei, bis sie die dichte Behaarung in seiner Unterwäsche erreichten. Angeekelt zog ich meine Hand zurück. Aber am nächsten Tag, und in den Tagen darauf, wiederholte sich das Ganze: Er drückte meine Finger immer tiefer zwischen seine Beine, sodass ich sein angeschwollenes und steifes Glied fühlen konnte.

„Magst du das?“ Nein, ich mochte es nicht.

„Du wirst dich daran gewöhnen.“

Ich konnte nicht verstehen, was er meinte und woran ich mich gewöhnen sollte. Und ich gewöhnte mich auch nicht daran, ich war wirklich nur neugierig. Vielleicht mochte ich es doch ein wenig? Nein.

Nein, ich konnte Hamed nicht leiden, das muss ich betonen. Gleichzeitig hatte ich Angst vor ihm. Wie auch immer, um nichts weniger fürchtete ich den allmächtigen Hadji und den Verlust des Vergnügens, mit dem Motorrad zur Schule gebracht zu werden. Daher hütete ich mich davor, Hadji zu sagen, dass ich nicht mehr von Hamed gefahren werden wollte. Wem sonst hätte ich mich aber anvertrauen können? Meine einzigen Vertrauten in dieser ganzen Truppe waren Naneh Reyhan und Behi. Nur mit ihnen konnte ich meine Geheimnisse teilen. Aber Naneh Reyhan konnte auch nicht mehr machen, als Flüche gegen diejenigen auszustoßen, die mir Leid zufügten, oder in Tränen auszubrechen und zu heulen wie ein Schlosshund. Ich konnte nicht sagen, ob sie mit ihren Tränen meinen Kummer beweinte oder ob sie in Wahrheit wegen eigener alter Geschichten jammerte. Jedenfalls riet sie mir, von jetzt an vorsichtiger zu sein und mich nicht mehr mit Hamed abzugeben. Das einzig Gute an diesem Gespräch war jedenfalls, dass sie mich in den Arm nahm und ganz fest an sich drückte. Mit geschlossenen Augen versank ich immer tiefer in ihren Armen und in einem Duft von Rosenwasser.

„Wenn du nur von hier fortgehen könntest, weit weg und an einen sicheren Ort.“ Ihre Finger strichen durch mein Haar.

„Wohin soll ich denn gehen, Naneh?“

„Ach was, ich nehme alles zurück. Hör nicht auf mich, ich rede nur mit mir selbst. Wo könntest du schon hingehen, ein Fremder mit einem so zarten Herz? Nein!“, sie biss in ihre Hände und spuckte aus. 

Ich hatte keine Lust mehr, mich Behi anzuvertrauen, denn je größer ihre Brüste wurden, umso stärker schlug ihr Herz für Hamed.

„Okay, was erzählt dir Hamed überhaupt?“, fragte sie einmal.

„Er sagt, dass er mir Orte zeigen möchte, die ich noch nie zuvor gesehen habe, weit weg, mit Sträuchern und Hainen voller Granatäpfel, dazu rote Kletterrosen, auf der anderen Seite des Flusses“, antwortete ich.

„Rote Kletterrosen?”

„Er weiß, dass ich sie gerne betrachte.”

„Wie nett von ihm. Was hast du geantwortet?”, lachte sie.

„Ich habe ihn daran erinnert, dass er dich bald heiraten wird. Was wäre, wenn du dahinterkommen würdest? Er sagte, sie wird es nicht erfahren. Und falls doch, dann würde es ihr gefallen.“

„Ja, da hat er recht.”

Allerdings hatte Behi nicht verstanden, dass ich Hamed an mich hätte binden können und damit ihr Rivale geworden wäre, wenn ich nur gewollt hätte. Ich sagte: „Du verstehst nicht, was ich dir sagen will. Es macht überhaupt keinen Sinn, eigentlich muss ich mit ihm darüber sprechen.“ Damit wollte ich Hamed zu verstehen geben, dass er sich zwischen mir und Behi entscheiden musste. Aber an einem anderen Tag, als er unter irgendeinem Vorwand wieder sehr nahe an mich heranrückte, flüsterte ich ihm verspielt, aber drohend ins Ohr: „Wenn ich das jetzt alles Hadji erzählen würde? Soll ich?“

Er bekam Angst, zuckte jedoch mit den Schultern und tat, als ob es ihm egal wäre. Aber er ließ mich fortan in Ruhe. Trotzdem war er auch weiterhin öfter in unserer Gegend oder bei uns zu Hause, denn nach all den Jahren hatten Behis Brüste die Größe von Granatäpfeln erreicht und man konnte sie unter ihrem Kleid deutlich erkennen. Bald darauf heirateten sie und Behi zog zu Hamed ins Nachbardorf. Nichtsdestotrotz waren die beiden nach wie vor sehr oft bei uns. Weil ich jeglichen Körperkontakt mit Hamed vermeiden wollte, schüttelte ich ihm nicht mal mehr zur Begrüßung die Hand. Ich wollte dies um jeden Preis vermeiden, obwohl es Tradition war. Aber nicht nur bei Hamed, ich mied alle Männer. Es widerte mich an, wie sie sich gegenseitig umarmten und küssten. Zuerst schüttelten sie sich die Hände, dann drückten sie die Hand ihres Gegenübers, daraufhin klebten sie sich einen feuchten Kuss auf die eine Wange und dann auch noch einen auf die andere Gesichtshälfte. Zwei grobe Gesichter, die sich kaum ausstehen konnten oder sich sogar anwiderten. Was sie bei diesen Küssen empfanden oder was sie sich davon erhofften, wusste ich nicht. Mich ekelte es an, Hameds Hand zu schütteln, geschweige denn, ihn zu küssen oder zuzulassen, dass er mich küsste. Ständig wiederholte ich in meinem Kopf, dass ich ihn nicht leiden konnte, und ich versuchte, seinen groben Körper auf Abstand zu halten. Bis zu jenem Tag, als ich seine Nähe suchte, nur um Nadjis Leben zu retten. Wenn Behi mich an diesem Tag nicht gewarnt hätte, dann wäre Nadji vielleicht noch am selben Tag getötet worden.

Ich muss erzählen, wie Hamed, Nadji und ich an jenem frühen Morgen in den Fluss fielen. Wie immer war es Behi, die mir die wichtigsten Nachrichten überbrachte, so wie sie mir damals von dem Tänzer auf dem Hochzeitsfest erzählt hatte. Sie wusste, dass ich Tanzen liebte, und sie hatte das Bild einer Tänzerin an meiner Wand gesehen. Leider konnte ich diese Bilder nicht die ganze Zeit an der Wand lassen, denn Hadji hätte sie zerrissen, wären sie ihm unter die Augen gekommen. „Das Fest ist beim Bräutigam, ganz in der Nähe von Sabri“, sagte Behi. Sabri war unsere älteste Schwester. Sie hatte bereits geheiratet, bevor ich zur Welt kam. Ihre Kinder waren in unserem Alter und als wir klein waren, spielten sie oft mit Behi und mir.

„Bist du sicher, dass auf dem Fest morgen auch Musikanten und eine Tänzerin sein werden?“, fragte ich.

„Das habe ich mit meinen eigenen Ohren von der Schwester der Braut gehört“, sagte Behi. Und um meine Aufregung noch zu steigern, fuhr sie fort: „Sie sagen, die Tänzerin sei etwas ganz Besonderes.“

Behi wusste, dass es mir gefallen würde, die Tänze beim Hochzeitsfest anzusehen. Aber sie konnte natürlich nicht wissen, dass meine Anwesenheit bei diesem Ereignis mein Leben völlig verändern und mich auf einen ganz anderen Pfad bringen würde. Einen seltsamen Weg, über den ich schreiben werde.

„Dann muss ich Hadji dazu bringen, mir zu erlauben, zu dieser Hochzeit zu gehen“, sagte ich.

„Und ich muss mit Hamed verhandeln“, antwortete Behi.

Hamed hatte ein wenig Angst vor Behi, daher war es für sie nicht schwer, seine Erlaubnis zu erhalten. Das Verhandeln mit Hadji bereitete mir allerdings einiges Kopfzerbrechen. Er sagte, Hochzeitsfeste wären einfach nur Unterhaltungen für kleine Kinder und Frauen. Außerdem wäre es einem pubertierenden Jungen verboten, Tänzerinnen mit fast nackten Brüsten zu sehen.

„Pubertierend?“, fragte ich.

Sarkastische bewegte er seine Hand vor mir rauf und runter und sagte: „Bei Gott, du mit deiner Körpergröße und deiner Bildung, du weißt noch immer nicht, was pubertierend oder unreif bedeutet? Wie bedauerlich!”

Ich hatte ihn verstanden und wusste genau, was er meinte. Aber ich wollte mit ihm noch nicht darüber sprechen. Die Tänzerin zu sehen, war alles, woran ich denken konnte. Ich gab mich also nicht geschlagen und nach einiger Zeit erlaubte er mir tatsächlich, zu dieser Hochzeit zu gehen.

Als der Onkel des Bräutigams erfuhr, dass wir Hadjis Kinder waren, bemühte er sich um gute Plätze für uns. Behi saß bei den Frauen, ich bei den Männern. Kaum hatten wir uns auf den Stühlen niedergelassen, erschien auch schon ein Mann mit einem Tablett, worauf sich zwei Tassen Kaffee für Hamed und mich befanden. Hamed nahm eine der Tassen, ich die andere. Der Kaffee war für meinen Geschmack viel zu bitter.

Schließlich kamen die Musiker und begannen zu spielen und zu singen. Die Tänzerin erschien erst später. Sie hatte metallene Kastagnetten in ihren Händen, die sie gleichmäßig aneinanderschlug. Dazu bewegte sie ihren Körper im Rhythmus der Musik. Manchmal hielt sie kurz inne und schüttelte ihre Brüste, worauf der ekstatisch tönende Trommler hinter ihr etwas brüllte. Ich konnte aber beim besten Willen nicht verstehen, was, egal wie sehr ich mich auch bemühte. Dann wandte sich die Tänzerin dem Trommler zu, präsentierte ihm ihren Körper und lachte, worauf die Hände des Mannes noch aufgeregter über die Trommeln wirbelten. Die Wölbungen unter ihrem engen Kleid waren wie zwei verborgene Granatäpfel, die sie zur Schau stellte und damit die Aufmerksamkeit der männlichen Festgäste erregte. Die älteren Männer starrten auf das Beben dieser Granatäpfel, die sämtliche Blicke auf sich zogen. Unbeeindruckt davon war nur der junge Geiger, der auf einem Stuhl saß und lediglich Augen für sein Instrument hatte. Manchmal tanzte die Tänzerin ganz nahe an ihn heran und beugte sich vornüber, sodass ihre Brüste vor seinem Gesicht hin- und herschaukelten. Der Geiger zeigte sich davon unbeeindruckt und wich bloß ein Stück zurück, damit sein Geigenbogen nicht mit ihrem Busen in Berührung kam. Ihr Oberteil aus blauem Satin war knapp geschnitten und schulterfrei. Der Anblick ihrer Brüste beeindruckte mich kaum, aber ich war betört von den Kurven ihre Taille, die sich im gelben Licht der Lampions wie eine Schlange wanden. Ihr wallendes Gewand strahlte in tausenden Farben, mit Spitzen und Bändern, und mit jeder Bewegung schienen sich die Spitzen in tausende Schmetterlinge zu verwandeln, die alle zusammen im Kreis flatterten.

Der Trommler stimmte ein Lied an und sang von einer treulosen Liebhaberin: „Du hast gesehen, wie ich am Kai auf dich wartete, sieben Tage und sieben Nächte ohne Schlaf und ohne Essen, aber du bist an mir vorbeigegangen, ohne mich eines Blickes zu würdigen, meine Geliebte.“ Eine Frau stieß einen Eulenschrei aus. Die Tänzerin hielt inne und setzte zu einem atemberaubenden Sprung an. Sie konnte sehr hoch springen und mit den Fußspitzen ihre wohlgeformten Hüften berühren. Später erfuhr ich, dass man für dieses Kunststück sowohl Können als auch Ausdauer benötigt. Heute, da ich selbst Tänzer bin, weiß ich, wie schwer diese Art des Tanzens ist, und kann nachvollziehen, warum sie dabei so anmutig und glücklich wirkte. Das Schönste an ihr waren ihr Lachen und ihre schlanken Beine, die sich unter dem rosaroten Rock überall hinbewegten. Sie war barfuß und hatte rote Zehen- und Fingernägel. Sie tanzte innerhalb eines Kreises aus metallenen Stühlen, die im Innenhof des Anwesens aufgestellt waren. Manchmal trat sie auch aus dem Kreis heraus und näherte sich einem bestimmten Mann aus der Menge, den sie zuvor ausgewählt hatte. Dieser war jeweils gut angezogen und es war anzunehmen, dass er wohlhabend war oder zumindest an diesem Abend etwas Geld in der Tasche hatte. Zuerst stand die Tänzerin vor dem Mann, tanzte ein wenig und drehte ihm den Rücken zu. Dann beugte sie sich nach hinten, sodass ihre langen schwarzen Haare sein Gesicht berührten. Immer tiefer beugte sich die Tänzerin zu dem sitzenden Mann, bis sie letztendlich mit der Stirn seine Brust erreichte. Sie schüttelte ihre Brüste und beugt sich so tief hinab, dass der Mann ihren nackten Busen unter dem Dekolleté sehen konnte. Voller Verlangen hätte er sie gerne angefasst, aber wie ich erfuhr, war es den Männern verboten, den Körper einer Tänzerin zu berühren. Das beruhigte mich, denn ich hätte unter keinen Umständen gewollt, dass irgendein Mann meine Tänzerin auch nur irgendwo berührt hätte. Die Tänzerin verharrte mit nach hinten gebeugtem Oberkörper so lange vor dem Mann, bis er einen Geldschein aus seiner Tasche holte und in ihren Ausschnitt steckte. Sobald sie das Geld bekommen hatte, richtete sie sich langsam wieder auf, ohne jedoch mit ihren rhythmischen Bewegungen aufzuhören. Ihr Körper gehorchte voll und ganz der Musik, die vom Trommler und vom Geiger gespielt wurde. Nachdem sich die Tänzerin wieder ganz aufgerichtet und den Geldschein sicher in ihrem Dekolleté verstaut hatte, gab sie dem Mann einen langen Kuss auf die Wange und kehrte alsbald in den Kreis zurück, um nach einem weiteren Mann Ausschau zu halten. Welches Geheimnis bergen weibliche Brüste, dass sie Männer so sehr hypnotisieren können? Ich erinnere mich an die Zeit, als meinen Schwestern gesagt wurde: „Schließt die Knöpfe eurer Blusen, damit die Linie zwischen euren Brüsten verdeckt ist! Wie Schlampen seht ihr aus!“

Die Stühle waren für die Männer, junge und alte, die alle eine Kufiya trugen, genau wie mein Vater. Nur besuchte mein Vater keine Hochzeitsfeste. Er erlaubte nicht einmal, dass Musikanten auf den Hochzeiten seiner eigenen Töchter aufspielten. „Wir sind Moslems, wir folgen Gott in guten und in schlechten Zeiten“, pflegte er zu sagen. Daher wurde während der Hochzeiten der Mädchen auch drei Tage lang vom Dach unseres Hauses aus dem Koran rezitiert.

Die Tänzerin kam nun in meine Richtung. Schon als sie mich vorher aus der Ferne beobachtet hatte, spürte ich Angst in mir aufsteigen. Meine Augen spähten nach Hamed, als ob er mich von dieser Angst hätte befreien können. Er war jedoch nirgends zu sehen. Wahrscheinlich schlich er hinter Behi her. Die Tänzerin schaute mich an, kam dann auf mich zu. Und erregte dabei die Aufmerksamkeit aller Männer und wahrscheinlich auch aller Frauen. Die Frauen konnte ich jedoch nicht sehen, denn sie befanden sich hinter mir und den Stuhlreihen der Männer. Das alles war mir schrecklich peinlich, denn am Ende stand die Tänzerin ganz nahe vor mir, schüttelte, drehte und beugte ihren Körper. Ich hielt meinen Kopf gesenkt und konnte nur ihren Duft wahrnehmen. Strömte er aus ihrem Nabel, der sich jetzt unmittelbar vor meinem Gesicht befand? Erinnerte er mich an den Geruch meiner Schwestern nach der Hochzeitsnacht? Ich griff in meine Tasche und suchte nach einem Geldschein, den ich ihr hätte geben können, damit alles rasch vorüber wäre – obwohl mein Körper irgendwo tief drinnen durchaus das Verlangen verspürte, dass sie bleiben, sich schütteln und an mir reiben würde. Aber was würde Hadji sagen, würde er mich auf dieser Hochzeit sehen? Ich hatte den Geldschein in der Hand und wollte ihn ihr in die Hand geben, aber sie lehnte ab und deutete auf ihren Ausschnitt. Alles was ich wollte, war das Geld sofort loszuwerden und gleich darauf zu verschwinden. Die Tänzerin legte ihren Finger unter mein Kinn und drückte es sanft nach oben, nahe an ihre Brüste. Da durchströmte mich eine Freude, die ich bislang noch nicht gespürt hatte. Meine Nasenspitze wurde von ihrem Duft umfangen, und das Gewicht der beiden schweren Wölbungen an meinem Kopf und in meinem Gesicht war nicht auszuhalten. Meine Hand wanderte nach oben und steckte den Geldschein in die Linie zwischen diesen beiden Wölbungen. Als ich meinen Kopf zum zweiten Mal anhob, war die Tänzerin bereits fort und ich konnte nur noch die Musikanten hören.

Einige Leute standen auf dem Hausdach und schauten von oben in den Innenhof. Unter all diesen nach unten geneigten Häuptern gab es aber nur ein einziges Gesicht, das sofort meine Aufmerksamkeit erregte und den leeren Raum zwischen uns mit großen Augen und wunderbar dichtem Haar füllte. Ich hatte diesen jungen Mann, der für einen kurzen Augenblick aus der Menge hervortrat und gleich wieder verschwand, schon einmal gesehen. Wo hatte ich ihn nur gesehen? Da erinnerte ich mich. Es musste am Flussufer gewesen sein. Er hatte das hohe Gras mit seiner Sichel geschnitten und es dann in einer Ecke aufgestapelt. Ich hatte ihn auch gesehen, wie er auf dem frisch geschnittenen Gras in seinem Boot gelegen und mit dem Wind gesungen hatte. Ich war jedoch nie auf ihn zugegangen, um zu plaudern. Und seinen Namen kannte ich auch nicht. Bis heute Abend.

„Nadji “, sagte er.

Mir fiel auf, dass ich ihn lange anstarrte, ohne etwas zu sagen. Es dauerte einige Zeit, bis ich mich wieder gefangen hatte.

„Und mein Name ist Djamil “, sagte ich.

„Oh, dann wusste deine Mutter wohl schon, dass du einmal so gut aussehen wirst, wenn sie dich mit diesem Namen gerufen hat“, antwortete er.

Er lachte und ich senkte meinen Kopf.

„Mit wem bist du denn verwandt, dass du hier mit so viel Respekt behandelt wirst? Braut oder Bräutigam?“, fragte er.

„Wie sieht es denn bei dir aus?“, fragte ich.

„Warum würde ich ohne Abendessen auf dem Dach stehen, wenn ich mit jemand von diesem Fest verwandt wäre? Sie haben uns nicht mal ein Glas Fruchtsaft angeboten“, lachte er.

„Ich bin auch nur gekommen, um die Band zu sehen“, antwortete ich. „Wer ist deiner Meinung nach der Beste?“

„Die drei sollten zusammenspielen, dann würde es funktionieren. Aber jeder, der Geige spielen und etwas singen kann, wird auch so ein Programm zusammenstellen können, denke ich.“

„Mein Großvater hat auch Geige gespielt. Ich habe ihn aber nicht kennengelernt. Er starb jung, wie meine Mutter.“

„Dann gefällt dir der Geiger bestimmt am besten. Ja, natürlich.“

Ich sagte nichts. Er fragte: „Mir scheint, dass dir ein anderer besser gefallen hat. Das verrätst du mir aber wohl nicht?“

Ich hatte das Gefühl, im Boden zu versinken, und wusste, dass ich weglaufen musste. Und ich lief. Ich ließ mir vom Onkel des Bräutigams ein riesiges Glas Saft geben und brachte es Nadji. Begeistert trank er es in einem Zug leer. Ich erzählte, dass ich ihn schon mal am Flussufer gesehen hatte, als er dort Gras zusammenklaubte. Aber ich hatte bisher nicht gewagt, ihn anzusprechen, denn Hadji hatte mir verboten, mich mit fremden Kindern aus der Nachbarschaft abzugeben. Dann fuhr ich fort, dass ich Hadjis Gebot ab sofort ignorieren und zum Flussufer kommen würde, um mit ihm zu sprechen.

„Wann wird das sein?“, wollte Nadji wissen.

Dann kam Behi, die mich gesucht hatte, auch auf das Dach. Noch bevor sie mich sah, hatte ich Nadji den Rücken gekehrt und lief ihr entgegen. Zusammen gingen wir nach Hause. Vor uns marschierte Hamed mit einer Taschenlampe durch den dunklen Palmenhain. Dachte ich im Stillen an die Tänzerin oder an Nadji? Vor wem war ich davongelaufen und bei wem hatte ich Schutz gesucht? Ich redete mir ein, dass ich an die Tänzerin und an ihren wunderbaren Duft denken sollte.

„Wie schön sie getanzt hat“, sagte ich.

„Sehr“, antwortete Behi.

„Du musst schon eine Frau sein, um so zu tanzen. Wie kunstvoll sie getanzt hat. Magisch!“

„Der Typ hat besser getanzt als jede Frau. Du hast doch selbst gesehen, was er mit seiner Taille angestellt hat.“

Einer der schönsten Momente für einen Spaziergang am Fluss war der Sonnenuntergang. Ich spazierte über eine schlammige Ebene und blickte zum Flussufer, wo manchmal junge Männer und Frauen arbeiteten. Sie schnitten Schilf mit langen Sicheln, sammelten es und brachten es daraufhin zu sich nach Hause oder zu ihren Lehnsherren. An diesem Ort sah ich Nadji wieder. Er hatte sein Boot am sumpfigen Ufer des Flusses festgemacht und schnitt gerade Gras, das zum Teil höher gewachsen war als er selbst. Ich blieb stehen. Er hob seinen Kopf und als er mich bemerkte, hörte er auf zu arbeiten. Eine ganze Weile schauten wir uns nur an. Dann zog ich meine Schuhe aus, warf sie ins Trockene und sprang zu ihm ans Flussufer. Er schaute mich an und lachte. Dann erzählte er, dass er diese Arbeit bereits seit er denken könne mache. Das geschnittene Gras brachte er mit seinem Boot zu Leuten, die es als Futter für ihre Tiere benötigten. An diesem Tag blieb ich bei ihm und half ihm bei der Arbeit. Er hielt das hohe Gras mit einer Hand fest und schnitt es mit der Sichel ab. Die zarten Grashalme fielen zu Boden, ich sammelte sie auf und schnürte sie zu festen Bündeln zusammen.

„Der Sonnenuntergang ist die Zeit zum Ausruhen. Warum arbeiten die Grasschneider zu dieser Tageszeit? Wenn alle anderen von der Arbeit nach Hause gehen?“, fragte ich.

„Die beste Zeit zum Grasschneiden ist entweder in der Morgen- oder in der Abenddämmerung. Du solltest die Pflanzen nicht berühren oder ihnen weh tun, wenn die Sonne hoch am Himmel steht. Das mögen sie nicht“, antwortete er.

„Denkst du etwa, Gras hat Gefühle wie wir?“, fragte ich.

„Natürlich hat es welche. Es darf aber trotzdem geschnitten werden“, erklärte er, außer Atem von seiner Arbeit.

Ich war völlig versunken in die Betrachtung der frisch geschnittenen Grashalme, die ich in meinen Händen hielt, als ich seine Stimme wahrnahm. Ich sagte: „Sicher. Was sonst sollten wir dann den Kühen oder Schafen zum Fressen geben? Ihre Verdauungsorgane sind unseren ähnlich. Und selbst wenn es anders wäre, sie brauchen schließlich Nahrung so wie wir.“

Abwesend sah er mich an und setzte seine Arbeit fort. Entlang des Flussufers war überall weicher Schlamm. Ein Stück weiter bahnten sich schmale Gassen durch das grüne Gras, in denen ein paar Mädchen arbeiteten. Sie trugen bunte Kleider, schnitten Gras und kamen allmählich in unsere Nähe. Aber ich hatte nur Augen für Nadji und wollte angenehme Dinge von ihm hören.

„Schön, dass du deine Haare kurz geschnitten hast.“

Er nahm seinen Fuß von dem Bündel Gras, das er gerade zusammengebunden hatte, streckte seinen verspannten Rücken und sagte mit einem Lächeln: „Sagst du das nur, um mich reinzulegen wie mein Vater, oder meinst du es wirklich?“

„Was meint denn dein Vater?“

„Er sagt, Männer müssen ihre Haare kurz tragen. Dann entgegne ich, was ist, wenn ein Mann lange Haare möchte? Wen geht es was an? Aber er sagt immer, nein, das geht nicht. Er sagt, ein Mann, der lange Haare trägt, ist kein Mann. Und wenn er mich nicht davon überzeugen kann, sagt er, ganz ehrlich, lange Haare stehen dir überhaupt nicht.“

„Als ich dich auf dem Hochzeitsfest gesehen habe, trugst du deine Haare lang. Von deinem Gesicht konnte man nur deine großen Augen sehen.“ Er nahm ein weiteres Grasbündel und trug es zu seinem Boot. „Warte, ich helfe dir“, sagte ich.

„Du bist es nicht gewöhnt, im Schlamm zu laufen. Pass auf, dass du nicht hinfällst.“ Er hatte recht. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen und blickte ängstlich nach vorne. Meine wackeligen Schritte im Schlamm verrieten, dass ich tatsächlich nicht daran gewöhnt war. Aber das wollte ich von niemandem hören – und insbesondere nicht von Nadji.

„Du machst dich wohl lustig über mich?“

„Lustig? Nein. Wieso? Wie meinst du das?“, fragte er.

„Weißt du, manche Jugendliche in unserem Alter sagen, ein richtiger Mann klettert schnell auf eine Palme und wirft die reifen Datteln hinunter. Dann fragen sie mich, kannst du eigentlich auch auf Palmen klettern und reife Datteln ernten? Sie fragen mich auf eine Weise, die ernst klingt, aber eigentlich sarkastisch gemeint ist. Das heißt, warum kann ich keine so einfache Arbeit erledigen? Etwas, wozu jeder Mann fähig sein sollte, nur ich nicht.“

„Vielleicht gibt es aber auch Dinge, die nur du kannst, und keiner von ihnen. Nicht wahr?“, meinte Nadji.

„Zum Beispiel?“, fragte ich.

„Ich weiß, dass du lesen und schreiben kannst. Du kannst Briefe lesen und schreiben. Du kannst Romane lesen oder Zeitungen, die in der Stadt gedruckt werden. Wer von ihnen kann das schon? Sag doch ehrlich.“

„Von denen, die ich kenne, keiner.“

„Dann war dein Vater sehr weise, denn er hat dich in die Schule geschickt. Du musst ihm sehr dankbar sein. Ein toller Vater.“

„Ich bin ihm ja auch sehr dankbar. Ja, das bin ich wirklich.“

„Er erlaubt dir nicht mal, schwere Arbeit zu verrichten. Weißt du eigentlich, wie wichtig das ist?“

„Bei uns ist Grasschneiden eine Tätigkeit für die Arbeiter.“

„Ich weiß.“

„Das weißt du?“

„Ja, das habe ich von Seyyed gehört. Er ist einer der Arbeiter deines Vaters und ein guter Mensch. Ein paar Mal habe ich gesehen, wie er mit anderen Arbeitern zusammengesessen ist und Zigaretten geraucht hat. Er erzählte von seinem Herrn, lauter gute Dinge. Er sagte, dein Vater ist ein netter Mensch und er behandelt seine Arbeiter gut. Dein Vater wünscht sich, dass du eines Tages ein wichtiger Beamter wirst.“

Nadji war im Boot und ich stand noch immer bis zu den Knöcheln im Schlamm. Liebevoll schaute er mir in die Augen. „Es steht dir gut, ein bedeutender Mann zu sein, ein gebildeter und wichtiger Mensch.“ Wir schwiegen beide für eine Weile. Dann sagte er: „Gut, jetzt bin ich hier fertig und muss gehen. Jemand wartet auf das Gras, um seine Tiere zu füttern. Was machst du?“

„Ich muss auch nach Hause. Wahrscheinlich suchen sie schon nach mir. Aber ehrlich…“

Er blickte mich an und wartete darauf, dass ich den Satz beendete. Aber das tat ich nicht. Noch immer hielt Nadji die lange Stange in den Händen, die zum Bewegen des Bootes verwendet wird.

„Was denn? Du lässt einen warten und sprichst nicht zu Ende. Sag doch.“

Ich lachte. „Nein. Ich möchte einfach nur mit dir im Boot sitzen und eine Runde drehen. Nicht weit, nur hier in der Nähe.“

„Worauf wartest du noch. Spring rein.“

„Aber was ist mit meinen Füßen, sie werden dein Boot schmutzig machen.“

„Schlamm ist nicht schmutzig. Es ist nur nasse Erde. Deine Füße sind nicht schmutziger als meine. Los, verlieren wir keine Zeit, die Sonne geht bald unter.“

Für mich war es ganz neu, eine solch liebevolle Stimme wie seine zu hören. Bis dahin hatte ich noch keinen gleichaltrigen Jungen kennengelernt, der eine derart männliche, würdevolle und freundliche Stimme hatte. Sein vertrauter Blick wirkte, als ob er mich schon seit Jahren kannte. Ich lächelte, bückte mich und zog das Boot in meine Richtung. Dieses jedoch kippte plötzlich – gemeinsam mit seinem einzigen Insassen, der sich weiter an der Stange festhielt. Beinahe wäre das Boot gekentert. Schnell zog ich meine Hände zurück und hielt sie vor meine Augen, um nicht mitansehen zu müssen, wie Nadji ins Wasser fiel. Dann öffnete ich zwei Finger und guckte hindurch. Nadji konnte die lange Stange schnell und geschickt im Schlamm platzieren und damit – und mit viel Kraft – verhindern, dass das Boot kenterte. Es kam zur Ruhe und ich nahm meine Hände vom Gesicht.

Nadji stand im Boot und lachte. Ich entschuldigte mich.

„Früher konnte ich auch nicht in das Boot springen. Das ist mir ein paar Mal passiert. Geht es dir gut? Hast du Angst bekommen?“ Und er setzte fort: „Gib mir deine Hand und komm ins Boot.“

Ich legte meine Hand in seine. Was war das für ein Gefühl? In seinem Körper wurde ein Feuer entfacht und eine Flamme bahnte sich ihren Weg über seine Hand in meinen Arm und von dort weiter durch sämtliche Adern bis in mein Herz.

„Dann halte dich fest, wir fahren los.“ Ich setzte mich auf die Holzplanken und hielt mich an beiden Seiten fest.

„Bereit?“

„Bereit.“

Stehend setzte Nadji das Boot in Bewegung. Er drückte die Stange in den Schlamm und schob das Boot so vorwärts. Das wiederholte er mehrmals, um voranzukommen. Vor uns, wo der Himmel auf das Wasser traf, versank die Sonne wie ein riesiger gelber Ball hinter dem Horizont. Ich wünschte, das Boot würde so lange durch das Wasser treiben, bis die Sonne vollständig verschwunden wäre. Ich dachte an dieses tägliche Naturwunder und an das riesige Flussdelta, das sich morgens durch die Flut mit Wasser füllt und am Abend wieder entleert.

„Gut. Jetzt müssen wir aber zurückfahren.“

„Wohin müssen wir?“

„Dort, wo wir vorher waren, wo du eingestiegen bist. Es liegt auf meinem Weg, außerdem ist dein Zuhause auch in dieser Richtung. Und deine Schuhe sind auch dort.“

„Aha, die habe ich ganz vergessen.“

„Dann halte dich fest, wir müssen wenden.“

Er änderte die Richtung und wir fuhren zurück. Auf dem Rückweg sahen wir auch die Mädchen wieder. Sie hatten keine Boote und waren zu Fuß auf dem Weg nach Hause, mit Grasbündeln, die sie auf dem Kopf trugen. Man konnte ihre Gesichter unter dem Gras nicht erkennen. Selbst die Wölbungen ihrer Brüste blieben darunter verborgen. Nadji führte das Boot zu den Betontreppen am Flussufer.

„Erinnerst du dich, wo du deine Schuhe gelassen hast?“

„Dort drüben, unter dem Sidarbaum.“

„Nun musst du dir aber deine Füße waschen, bevor du die Schuhe anziehen kannst.“

„Ich gehe barfuß nach Hause und wasche sie dort in aller Ruhe.“

„Und wenn dich dein Vater fragt, wo du gewesen bist? Was dann?“

„Dann sage ich ihm einfach, ich war hier mit dir.“

„Das solltest du besser nicht sagen. Es ist nicht immer richtig, die Wahrheit zu sagen!“

Später verstand ich, dass ich mich auf ihn und seine Klugheit verlassen musste. Nadji hatte meiner Meinung nach mehr Lebenserfahrung und war schlauer als ich.

„Wenn du meinst…“

Er unterbrach mich: „Ich meine, komm aus dem Boot und stell dich auf den Betonblock dort drüben, auf den größeren.“ Vorsichtig und mit seiner Hilfe stieg ich aus dem Boot und stellte mich an die Stelle, die er genannt hatte.

„Jetzt gieße ich Wasser auf deine Füße, sodass du sie vom Schlamm reinigen kannst.“ Er nahm eine Plastikkanne aus dem Boot und füllte sie mit Wasser aus dem Fluss. Dann schüttete er das Wasser über meine Füße. Meine Hosen hatte ich bis zu den Knien hochgezogen.

„Du brauchst dich nicht zu bücken. Ich werde deine Füße waschen und sie von dem Schlamm befreien.“

Ich wollte Nein sagen. Ich wollte sagen: „Ich kann meine Füße selbst waschen“. Aber er hatte sich schon gebückt und damit begonnen, meine Füße zu säubern. Die Bewegungen seiner Hände auf meiner nackten Haut bereiteten mir unendlichen Genuss, den ich mir dann doch nicht entgehen lassen wollte.

„War die junge Frau auf der Hochzeit deine Verlobte?“, fragte Nadji. Warum fragte er mich das? Wollte er mich auf den Arm nehmen oder mir etwas Wichtiges entlocken?

„Das war meine Schwester Behi, die Ehefrau von Hamed.“

„Aha. Hamed ist also dein Schwager.“

„Zuerst war er einfach mein Cousin. Dann wurde er ein Arbeiter meines Vaters und jetzt ist er auch noch der Ehemann meiner Schwester. Mein Vater mag ihn sehr und sagt immer, wir sollen von Hamed lernen, denn er wisse, wie man aus Nichts Geld machen könne. Du kennst Hamed also auch. Woher denn?“

Ein Paar große Augen beobachtete uns durch die Grashalme. Nadji hatte das Reinigen meiner Füße fast beendet. Ganz in der Nähe, vom hohen Gras verdeckt, stand ein Mädchen, das uns die ganze Zeit angestarrt hatte.

„Was macht ihr zwei da miteinander?“, fragte sie. Aber ohne eine Antwort abzuwarten, lachte sie wissend und ging mit einem Bündel Gras auf dem Kopf davon. Ihr Lachen war noch lange zu hören.

„Wer zum Teufel war denn das?“, fragte ich.

„Sadreh.“

„Heißt sie so?“

„Mhmmm.“

„Eine meiner Tanten heißt auch so und sie glaubt, sie hätte einen schönen Namen!“

„Aber dieses Mädchen ist genauso schön wie ihr Name.“

„Warum hat sie uns dann ausgelacht?“

„Naja, ihre Seele ist nicht so schön wie ihr Aussehen.“

„Ihre Seele?“

Nadji holte eine Plastiktüte aus dem Boot. Darin befand sich eine trockene rotweiße Kufiya. „Damit kannst du dir die Füße abtrocknen, bevor du deine Schuhe wieder anziehst.“

„Nein. Du brauchst sie dringender. Zum Arbeiten, du bist viel öfter im Wasser als ich.“

„Du solltest die Stufen vorsichtig hochsteigen, sonst werden deine Füße wieder dreckig.“

Er behandelte mich wie einen Jungen aus der Stadt, der noch nie zuvor auf dem Land gewesen war. Aber, um ehrlich zu sein, ich mochte seine Art mit mir zu sprechen, denn sie war aufrichtig und so unglaublich freundlich.

„Du musst sehr vorsichtig sein. Einige dieser Stufen sind wackelig, und wenn du nicht richtig drauftrittst, dann kannst du böse stürzen und dich verletzen. Pass also gut auf.”

„Wann sehen wir uns wieder?“, fragte ich und machte mich bereit zu gehen.

„Wenn du dieses Tuch zurückbringst“, lachte er.

„Meinst du damit, dass ich es solange behalten darf?“

„Ja“, sagte er lächelnd und schaute mir in die Augen. „Möchtest du mich denn wirklich wiedersehen?“

„Ja, bitte“, bekräftigte ich.

„Bitte?“

„Nur wegen der Kufiya.“ Langsam wurde es mir peinlich.

„Weißt du, wo sich der älteste Maulbeerbaum in dieser Gegend befindet?“ Er legte seine Hand auf meine Schulter.

„Ja, in der Nähe vom Stachelritter-Fluss.“

„Ja, richtig. Genau dort.“

Stachelritter ist der Name eines großen Fisches, der ausschließlich im Meer lebt und mit dem Fluss gar nichts zu tun hat. Er ist lang, dünn und misst manchmal so viel wie ein Mensch. Der Fisch hat große schwarze Augen, so schön wie die Augen eines Mädchens. Deshalb nannten ihn die Fischer Stachelritter. Wahr oder falsch, es wurde jedenfalls erzählt, dass ein Fischer vor vielen Jahren, niemand erinnerte sich wann genau, in dem Fluss einen riesigen Stachelritter gefangen hatte. Seither wird diese Gegend Stachelritter-Fluss genannt.

„Okay, was gibt es denn dort?“, fragte ich.

„Morgen werde ich noch nicht da sein, aber übermorgen werde ich bei Sonnenaufgang dort Gras schneiden. Ein Teil des Grases, das an diesem Ufer wächst, gehört mir, und ich denke, es wird demnächst lang genug sein, um geschnitten zu werden.“ Dann wurde er still. Ich schaute ihn an und wartete. Nach einiger Zeit fuhr er fort: „Um diese Zeit wird niemand dort sein, der uns sehen könnte.“

„Aber ich muss mir eine gute Ausrede einfallen lassen, wenn ich das Haus schon so früh am Morgen verlasse.“

„Ausrede?“

„Was soll ich nur sagen, wenn mich Hadji fragt, wo ich denn um diese Zeit hingehe? Soll ich sagen, dass ich Maulbeeren pflücken gehe?“

„So früh am Morgen?“ Er begann zu lachen.

„Was wäre, wenn ich erzähle, ich hätte von einem heiligen Mann geträumt, der mir sagte, wenn du am Freitag früh am Morgen zum Maulbeerbaum gehst, dann wirst du im Leben nur Glück finden.“ 

Nadji lachte noch schallender: „Das ist eine gute Ausrede, besser geht es nicht. Sag es genauso.“

Daraufhin sahen wir einander in die Augen und lachten. Schon lange hatte ich nicht mehr so gelacht, mit niemandem.

„Irgendetwas sagt mir, wir sollten vorsichtig sein.“

„Ja, du musst aufpassen, dass du keinen Ärger bekommst. Unbedingt.“

„Und du auch.“

Er wurde still. Seine Blicke schweiften besorgt umher, während er versuchte, seine Angst vor mir zu verbergen.

„Jetzt geh schon. Schauen wir, was übermorgen passiert. Mach dir keine Sorgen, falls du nicht kommen kannst. Wir werden uns bestimmt irgendwo wieder begegnen.“

„Warum kommst du nicht mit mir hinter diesen Steg, damit ich dir den Schal wieder zurückgeben kann, wenn ich meine Füße getrocknet habe. Vielleicht brauchst du ihn ja wieder.“

„Es genügt, dass uns dieses Mädchen beobachtet hat. Wir wissen nicht, was sie jetzt rumerzählen wird.“

„Hast du etwa Angst, dass uns noch mehr Leute gemeinsam sehen könnten?“

„Nein, Djamil, ich habe keine Angst. Wirklich nicht. Ich meine ja nur. Jetzt geh bitte, wir werden sehen, was noch alles kommt.“

Als ob er bereits wusste, was noch alles kommen würde. Und dass es nichts Gutes wäre. Ich aber musste die ganze Zeit an ihn denken. Er wollte den Schal nicht zurückhaben. Also legte ich ihn abends auf mein Kissen und schlief darauf. Beim Aufwachen dachte ich an ihn und auch beim Schlafengehen musste ich an ihn denken. Später erzählte er mir, dass es ihm genauso ergangen war. Aber war das echt oder nur vorgetäuscht? Das spielte keine Rolle. Dass er es sagte, war ausschlaggebend und reichte mir vollkommen. Es reichte mir, denn ich konnte plötzlich wieder lachen, richtig und laut lachen.

Ich traf Nadji mehrere Male. Wir nahmen das Boot und ruderten zur Mitte des Flusses, wo uns niemand sehen konnte. Er hatte dabei mehr Angst, gemeinsam gesehen zu werden, als ich.

„Du wirst sehen, was auch immer geschieht, niemand wird dir was zuleide tun, denn du bist Hadjis Sohn und du genießt einen guten Ruf. Aber ich? Ein Kind armer Grasschneider, mit dem man alles machen kann und das niemand beschützt.“

Ich mochte es nicht, wenn er sich auf diese Art und Weise erniedrigte. Ich fragte: „Was ist mit deinem Vater? Ich dachte, er liebt dich?“

„Er liebt mich, solange ich ihm Geld gebe“, seufzte er. „Oder glaubst du etwa, er mag mich, wenn ich kein Geld bringe? Oder dass er mich dann in seinem schäbigen Haus haben möchte?“

Damals dachte ich, er würde sich zu viele Sorgen machen. Aber später musste ich eingestehen, dass er recht gehabt hatte. Es war ein gefährliches Spiel, auf das wir uns eingelassen hatten.

Eines heißen Nachmittags wussten alle im Haus, dass mein Vater mit mir über eine wichtige Angelegenheit sprechen wollte. Und zwar auf dem Dach unseres Hauses! Hamed und Behi waren auch da. Behi bereitete alles vor, damit die Männer bequem sitzen konnten. Bevor sie Teppiche brachte und ausrollte, fegte sie das flache Dach und kühlte es mit Wasser. Auch an die umliegenden Wände spritzte sie Wasser, damit es innerhalb des Moskitonetzes etwas kühler war. Dort würden die Männer sitzen und reden, ihr Vater, ihr Ehemann und ich, ihr Bruder. Wir alle waren noch im Erdgeschoss, Hadji und Hamed im Empfangsraum. Hamed konnte Hadjis Kohlebecken für das Opium am besten vorbereiten. Normalerweise war das Seyyeds Aufgabe, denn Hamed war nicht jeden Tag bei uns. Seyyed war ein alter Mann, der sich um den Garten kümmerte und die Gemüsebeete mit Wasser versorgte. Er hatte die verschiedensten Sorten von Gemüse angebaut. Seine andere wichtige Aufgabe, die er zweimal täglich zu erledigen hatte, war das Vorbereiten von Hadjis Kohlebecken. Morgens nach dem Frühstück und abends vor dem Gebet. Dabei pflegte er selbst ein wenig zu rauchen, danach räumte er wieder auf. Wenn aber Hamed im Haus war, dann verrichtet Seyyed stets andere Arbeiten. Hamed war nämlich verantwortlich für das Opium, und zwar für alle Männer in der Nachbarschaft. Er allein wusste, wo man es bekommen konnte, und genau deswegen war Hadji auch auf ihn angewiesen. Hamed erzählte, dass er sich für die illegalen Opiumgeschäfte mit den Gendarmen arrangiert hatte. Seyyed würde niemals den Raum betreten, in dem sich Hadji und Hamed alleine befanden. Stattdessen kümmerte er sich lieber um die Blumen oder streifte durch den Garten. Wie an diesem Nachmittag, als Bibi Salim ihm über den Weg gelaufen war und er von ihr aufgefordert wurde, einen Teppich zu holen und in der Ecke auszurollen, damit sie darauf Platz nehmen und alles hören konnte.

Ich saß entspannt unter dem Jasminbaum und wartete. Hadjis jüngste Frau machte sich beim Brotback-Ofen zu schaffen, während eine meiner Schwestern die gackernden Hühner und die Enten mit Brotkrümel fütterte. Einer meiner Neffen, ein Junge von ungefähr fünf Jahren, stand völlig nackt und mit großem Bauch neben dem Ofen und schüttelte eine riesige Schachtel Streichhölzer. Anscheinend mochte er den Klang, denn er hörte gar nicht mehr auf damit. Bibi Salim sah aus wie ein schwarzes Bündel, das mit einer grünen Gebetskette auf dem Teppich saß. Manchmal schaute sie zu mir herüber, tat aber so, als ob sie von nichts wüsste. Dabei wussten alle, dass Bibi Salim über alles Bescheid wusste, was im Haus vor sich ging, egal ob wichtig oder belanglos. Seyyed reichte ihr eine Keramikschale mit Wasser, die sie in einem Zug leerte. Sie trank dermaßen gierig, dass das Wasser aus ihren Mundwinkeln und auf ihr Kleid tropfte. Seyyed ließ ein Handtuch in ihren Schoß fallen. In den Ästen des Jasminbaumes tummelten sich scharenweise weiße Schmetterlinge, die sich bei jedem Windstoß in die Lüfte erhoben. Aber anstatt richtig hoch zu fliegen, flatterten sie nach unten und landeten auf meinem Kopf und in meinem Gesicht. Behi kam vom Dach herunter und schaute zur Tür des Empfangsraumes, die noch immer geschlossen war.

„Was will denn Hadji mit dir besprechen, dass es unbedingt auf dem Dach stattfinden muss?“, fragte mich Behi.

Ich saß auf einem Hocker und hob meinen Kopf: „Ich weiß es nicht. Niemand hat mir irgendwas gesagt. Aber mir ist klar, dass du Bescheid weißt.“

Behi lächelte freundlich und kam so nahe an mich heran, dass ich ihren Geruch wahrnehmen konnte. Ihre Hand wanderte zu meinem Ohr und entfernte etwas von meinem Ohrläppchen.

„Sieht aus wie Ohrringe, die an deinem Ohr hängen.“ Es war eine Blume mit weißen Blütenblättern und Behi legte sie in meine Hand.

„Besser wäre, wenn es zwei wären“, sagte ich.

„Kann endlich einer von euch diesem Kind die Streichhölzer wegnehmen“, kreischte in diesem Moment Bibi Salim.

Das nackte Kind hatte rundherum haufenweise Streichhölzer verstreut. Behi rannte los, nahm dem Jungen die Schachtel weg und fing an, die Streichhölzer vom Boden aufzusammeln. Bibi Salim war zufrieden, hatte sie es doch geschafft, Behi von mir fortzuschaffen.

Nach dem Opium war es Zeit für die Shisha, die ebenfalls von Hamed vorbereitet wurde. Hadji und ich saßen nun auf dem Dach unter dem Moskitonetz.

„Wer ist jetzt dieser Nadji?“, fragte Hadji.

„Ein hart arbeitender Junge. Wo immer es möglich ist, schneidet er Gras für Leute, die Tiere halten. Damit verdient er seinen Lebensunterhalt, für sich und auch für seinen alten Vater, der nicht mehr arbeiten kann.“

„Gott sein Dank können wir uns das Gras für unsere Tiere liefern lassen.“

„Er schneidet ja auch kein Gras für uns.“

„Aber was macht er dann? Dich vor allen Leuten in Verruf bringen? Was werden sie sagen, wenn sie Hadjis wohlerzogenen Sohn zusammen mit einem nichtsnutzigen Jungen in einem kleinen Boot sehen?“

Jetzt kam auch Hamed mit der Shisha unter das Moskitonetz. Es sah aus, als ob er alles von unserem Gespräch gehört hätte. Hatte er?

„Ich wünschte, das wäre sein einziges Vergehen, Hadji. Aber er macht noch viel schlimmere Sachen, die ich gar nicht aussprechen möchte. Ich kann nur sagen, dass es nicht gut für Djamil ist, sich mit ihm zu treffen. Kein einziges Mal mehr.“

Ich wusste genau, was Hamed mit „schlimmeren Sachen“ meinte. Er hatte bereits am Tag davor versucht mir klarzumachen, was es mit Nadji und den Fischern auf sich hatte. Dabei war das Wort Prostitution gefallen, das er allerdings jetzt, in Hadjis Gegenwart, nicht nochmal verwendete.

„Wie lange triffst du dich schon mit ihm?“, fragte Hadji.

„Noch nicht lange“, antwortete ich.

„Sind es nicht schon fünf Wochen?“

„Vielleicht“, grinste Hamed und warf mir einen schmutzigen Blick zu.