Söhne und Liebhaber - D. H. (David Herbert) Lawrence - E-Book

Söhne und Liebhaber E-Book

D. H. (David Herbert) Lawrence

4,9

Beschreibung

Söhne und Liebhaber“ gilt als bester und bedeutendster Roman des kühnen englischen Literaten D.H. Lawrence – die hochangesehene Modern Library platzierte das Werk auf ihrer Liste der hundert wichtigsten englischsprachigen Romane auf Rang 9. In einem Brief an seinen Lektor Edward Garnett umschrieb Lawrence selbst sein 1913 erschienenes und bald als Skandalroman verschrienes Werk: „Es beruht auf dieser Idee: Eine gewandte, charakterstarke Frau geht in die Unterschicht, findet in ihrem Leben aber keine Erfüllung. Einst verband sie eine Leidenschaft mit ihrem Mann, daher sind die Kinder aus Leidenschaft geboren und besitzen haufenweise Vitalität. Doch als ihre Söhne heranwachsen, erwählt sie sie als Geliebte – erst den älteren, dann den zweiten. Diese Söhne werden von der wechselseitigen Liebe zu ihrer Mutter ins Leben hinaus gezwungen – wieder und wieder. Doch als sie das Mannesalter erreichen, vermögen sie nicht zu lieben, weil ihre Mutter die stärkste Macht in ihrem Leben ist und sie festhält. – Das Ganze ist ein bisschen wie Goethe mit seiner Mutter und Frau von Stein und Christiana … Das ist eine große Tragödie, und ich sage Ihnen, ich habe ein richtig tolles Buch geschrieben.“ Die Literaturgeschichte hat dieses frühe und hellsichtige (19.11.1912) Eigenlob des Autors eindrucksvoll bestätigt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 819

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (18 Bewertungen)
16
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Coverfoto: Stockfoto / kvasilev

D.H. Lawrence:

»Söhne und Liebhaber«Titel der 1913 erschienenen Originalausgabe: »Sons and Lovers«

Aus dem Englischen von Georg Goyert

Mit einem Nachwort von Adolf Schulte aus dem »Jahrbuch für Orts- und Heimatkunde in der Grafschaft Mark«, (heute: »Märkisches Jahrbuch für Geschichte«) Jg. 88, 1990, S. 85-96ISBN 978-3-944561-31-8

Dieses Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© Alle Rechte an der Übertragung ins Deutsche bei dem Erben des Nachlasses von Georg Goyert© für das Nachwort: Verein für Orts- und Heimatkunde in der Grafschaft Mark© Deutsche E-Book-Ausgabe © 2014 red.sign media, Stuttgart

Erster Teil

Erstes Kapitel

Die junge Ehe der Morelse

Die Bottoms lösten den Hell Row ab; dieser bestand aus einer Gruppe strohgedeckter, niedriger Hütten am Bachufer auf Greenhill Lane. Hier wohnten die Bergleute, die in den kleinen, zwei Felder weit entfernten Gruben arbeiteten. Der Bach eilte unter den Erlen dahin; er war kaum durch diese kleinen Gruben verunreinigt, deren Kohle Esel zutage förderten, die müde, aber unverdrossen einen Göpel im Kreise zogen. Die ganze Landschaft war mit solchen Gruben übersät, von denen einige schon zur Zeit Karls II. in Betrieb genommen worden waren; und die wenigen Bergleute und Esel, die sich wie Ameisen in die Erde wühlten, warfen seltsame Erdhügel auf, sodass zwischen den Kornfeldern und Wiesen kleine, schwarze Flecken entstanden. Die Hütten dieser Bergleute, die hier und da in größeren Gruppen oder zu zweien standen, bildeten mit den paar Gehöften und den über das Kirchspiel verstreuten Häusern der Strumpfwirker das Dorf Bestwood.

Vor etwa sechzig Jahren wurde plötzlich alles anders. Die kleinen Gruben mussten den großen Bergwerken der Geldleute weichen. Man hatte die Kohlen- und Eisenfelder in Nottinghamshire und Derbyshire entdeckt. Carston, Waite & Co. erschienen. Unter gewaltiger Aufregung eröffnete Lord Palmerston feierlich das erste Bergwerk in Spinney Park, am Rande des Sherwood Forest. Um diese Zeit brannte der bekannte Hell Row, der mit zunehmendem Alter immer übler beleumundet war, nieder, und viel Schmutz wurde weggeräumt.

Carston, Waite & Co. stellten fest, dass sie richtig spekuliert hatten; bald wurden in den Bachtälern, von Selby und Nuttal abwärts, neue Schächte abgeteuft, und nach kurzer Zeit waren sechs Gruben in Betrieb. Bei Nuttal, hoch oben auf dem Sandstein zwischen den Wäldern, begann die Eisenbahn; sie fuhr an der verfallenen Kartäuserpriorei und dem Robin Hood‘s Well vorbei nach Spinney Park, dann weiter nach Minton, einem großen Bergwerk, das zwischen zwei Kornfeldern lag; von Minton ging sie durch die Felder im Tal nach Bunker‘s Hill, wo sie abzweigte und nördlich nach Beggarlee und Selby weiterführte, von wo aus man nach Crich und den Derbyshire-Hügeln hinübersieht. Wie durch einen feinkettigen Reifen verband die Eisenbahn die sechs Bergwerke, die wie schwarze Kuppen aus der Landschaft ragten. Als Unterkunft für die vielen Bergleute bauten Carston, Waite & Co. auf dem Bestwooder Hügelhang große viereckige Häuserblöcke, die sogenannten Squares, und unten im Bachtal, wo der ,Hell Row‘ gestanden hatte, die Bottoms.

Sechs Häuserblöcke mit je zwölf Häusern bildeten diese Bottoms; sie standen in zwei Reihen mit je drei Blöcken und erinnerten in ihrer Anordnung an die Punkte auf einem Sechser-Dominostein. Diese doppelte Häuserreihe lag am Fuße des ziemlich schroffen Bestwooder Abhangs; von den Häusern oder wenigstens von ihren Bodenfenstern aus hatte man einen Blick auf das langsam nach Selby ansteigende Tal.

Die Häuser waren gut gebaut und ganz ansehnlich. Ein Weg führte um sie herum; in den schattigen Vorgärten des untersten Blocks blühten Aurikeln und Steinbrech, während in den sonnigen des oberen Blocks Studentenblumen und Lichtnelken leuchteten. Die Fenster der Vorderseite, die kleine Vorbauten schmückten, waren sauber; hier standen niedrige Ligusterhecken, und die Bodenräume hatten nette Fenster. Aber so war nur die Vorderseite; so war nur der Blick auf die unbewohnten guten Stuben aller Bergmannsfrauen. Der eigentliche Wohnraum, die Küche, lag an der Hinterseite des Hauses; von ihr aus sah man auf den großen, von den Häusern der einzelnen Blocks gebildeten Hofraum, auf verwahrloste Hintergärten und die Abfallgruben. Zwischen den Häuserreihen, den langen Reihen der Abfallgruben hindurch ging der Weg, auf dem die Kinder spielten, die Frauen schwatzten und die Männer rauchten. So waren denn die wirklichen Lebensbedingungen in den Bottoms, die so gut gebaut waren und so nett aussahen, ganz unzulänglich, weil die Menschen in der Küche lebten und die Küchen auf diesen widerlichen Weg mit den Abfallgruben hinausgingen.

Mrs. Morel hatte bisher in Bestwood gewohnt. Sie war über den Umzug in die Bottoms, die nun schon zwölf Jahre standen und nicht grade mehr neu waren, nicht besonders erfreut. Aber es war doch wohl das Beste, was sie tun konnte. Sie bekam außerdem ein Eckhaus in einem der oberen Blocks und hatte auf diese Weise nur einen Nachbarn und dazu noch einen besonderen Streifen Garten. Weil sie ein Eckhaus bewohnte, genoss sie bei den Frauen, die in den Zwischenhäusern wohnten, ein gewisses Ansehen, denn ihre wöchentliche Miete betrug fünf und einen halben Schilling anstatt fünf Schilling. Aber dieser ,Standesunterschied‘ war für Mrs. Morel nur ein kleiner Trost.

Sie war einunddreißig Jahre alt und seit acht Jahren verheiratet. Sie war klein und zart; ihre Haltung aber verriet Entschlossenheit; vor der ersten Berührung mit den Frauen der Bottoms hatte sie ein wenig Angst. Im Juli zog sie ein, im September erwartete sie ihr drittes Kind. Ihr Mann war Bergmann. Seit drei Wochen war sie in ihrer neuen Wohnung, als die Kirmes oder der Jahrmarkt begann. Sie wusste, dass Morel an diesem Tage nicht zur Arbeit ging. Am Montag, dem Kirmestag, verließ er frühmorgens das Haus. Die beiden Kinder waren in großer Aufregung. Gleich nach dem Frühstück lief der siebenjährige William auf den Kirmesplatz, ohne die fünfjährige Annie mitzunehmen, die den ganzen Morgen flennte, weil sie auch auf die Kirmes wollte. Mrs. Morel tat ihre Arbeit. Sie kannte ihre Nachbarn kaum und wusste nicht, wem sie das kleine Mädchen hätte anvertrauen können. Deshalb versprach sie, nach dem Essen mit ihr auf die Kirmes zu gehen.

Um halb eins kam William nach Hause. Es war ein sehr lebendiger, hellhaariger, sommersprossiger Junge, der an einen Norweger oder Dänen erinnerte. „Ist das Essen fertig, Mutter?” rief er, als er mit der Mütze auf dem Kopf in die Küche stürmte. „Um halb zwei geht’s los, der Mann hat’s gesagt.”

„Wenn’s fertig ist, bekommst du dein Essen”, erwiderte seine Mutter.

„Ist’s denn noch nicht fertig?” rief er, und seine blauen Augen starrten sie empört an. „Dann geh’ ich einfach so.”

„Das lässt du schön bleiben. In fünf Minuten ist alles so weit. Es ist ja erst halb eins.”

„Aber es fängt doch gleich an”, brüllte der Junge fast.

„Und wenn schon, sterben tust du nicht daran”, sagte seine Mutter. „Es ist doch erst halb eins, hast also noch eine ganze Stunde.”

Schnell deckte der Junge den Tisch, und sofort setzten sich die drei hin. Es gab Mehlklöße mit Marmelade. Plötzlich fuhr der Junge von seinem Stuhl auf, stand regungslos da. In der Ferne hörte man das erste schwache Geschmetter eines Karussells und das Tuten eines Horns. Mit bebendem Gesicht sah er seine Mutter an. „Hab ich’s nicht gesagt!” rief er und lief an die Anrichte, auf der seine Mütze lag.

„Nimm den Kloß in die Hand – es ist ja erst fünf nach eins, du hast also nicht richtig gehört – und hier deine zwei Pence”, rief seine Mutter in einem Atemzug.

Bitter enttäuscht kam der Junge zurück, nahm die zwei Pence; dann ging er, ohne ein Wort zu sagen, fort.

„Ich will auch hin, ich will auch hin”, sagte Annie und fing an zu weinen.

„Ja, ja, du kommst ja auch hin, kleiner Schreihals”, sagte ihre Mutter. Und später am Nachmittag zog sie mit dem Kind an der hohen Hecke entlang den Hügel hinauf. Von den Wiesen wurde das Heu eingefahren, das Vieh wurde auf die gemähten Wiesen getrieben. Es war warm und friedlich.

Mrs. Morel liebte die Kirmes nicht. Zwei Karussells standen auf dem Platz, ein Dampfkarussell und eins, das von einem Pony gezogen wurde. Drei Orgeln ertönten, Pistolenschüsse krachten, laut schnarrte die Knarre des Kokosnussmannes; der Mann mit den Puppen, nach denen man mit dem Ball wirft, schrie, die Guckkastendame kreischte. Die Mutter traf ihren Jungen vor der Bude des Löwen Wallace; wie gebannt starrte er die Bilder dieses berühmten Löwen an, der einen Schwarzen getötet und zwei Weiße zu Krüppeln gemacht hatte. Sie ließ ihn stehen und ging mit Annie weiter, der sie eine Zuckerstange kaufen wollte. Plötzlich stand der Junge ganz aufgeregt vor ihr.

„Hast ja nichts davon gesagt, dass du auch kämst – hier ist was los – der Löwe hat drei Menschen umgebracht – meine zwei Pence hab ich schon ausgegeben – guck mal hier!” Er zog zwei Eierbecher mit rosa Moosrosen aus der Tasche. „Die hab ich aus der Bude, wo man Knickei in so Löcher rollen muss. Zweimal hab ich gerollt – kostet jedes Mal einen halben Penny, sind Moosrosen drauf, guck doch mal! Die wollte ich gerade haben.”

Sie wusste, dass er sie für sie wollte. „Hm”, sagte sie erfreut. „Die sind aber auch nett.”

„Trag du sie doch, sie könnten sonst noch kaputt gehen.” Er konnte sie vor Aufregung nicht lassen, jetzt als sie da war; er führte sie über die Kirmes, zeigte ihr alles. Vor dem Guckkasten erklärte sie ihm die Bilder, zu denen sie eine Geschichte erfand, und wie verzaubert hörte er zu. Die ganze Zeit über wich er nicht von ihrer Seite, plusterte sich ordentlich auf in seinem Jungenstolz auf sie. Denn keine andere Frau sah so damenhaft aus wie sie in ihrem kleinen, schwarzen Hut und dem Mantel. Sie lächelte, wenn sie Frauen begegnete, die sie kannte. Als sie müde war, sagte sie zu ihrem Sohn: „Kommst du jetzt mit oder willst du noch bleiben?”

„Gehst du denn schon?” rief er mit vorwurfsvollem Gesicht.

„Schon? Es ist vier vorbei.”

„Warum willst du denn schon fort?” jammerte er.

„Du kannst ja noch bleiben, wenn du willst”, sagte sie. Langsam ging sie mit ihrem Töchterchen fort, während ihr Junge ihr nachsah; es zerriss ihm das Herz, dass er sie gehen ließ, und doch konnte er die Kirmes nicht verlassen. Als sie über den freien Platz vor Moon and Stars ging, hörte sie lärmende Männerstimmen, roch das Bier; sie ging ein wenig schneller, denn sie dachte, ihr Mann säße auch in der Kneipe.

Gegen halb sieben kam ihr Junge müde, ziemlich blass und etwas bedrückt nach Hause. Er kam sich erbärmlich vor, wenn er das auch nicht wusste, weil er sie allein hatte nach Hause gehen lassen. Seit sie fort war, hatte ihm die Kirmes keine Freude mehr gemacht.

„War Papa schon hier?” fragte er.

„Nein”, antwortete seine Mutter.

„Er hilft im Moon and Stars. Ich hab ihn durch das schwarze Blech am Fenster mit den Löchern drin gesehen; er hatte die Ärmel hochgekrempelt.”

„So!” sagte seine Mutter kurz. „Er hat kein Geld. Da ist er schon zufrieden, wenn er sein Bier bekommt, aufs Geld kommt’s ihm dann nicht an.”

Als es dämmerte und Mrs. Morel beim Nähen nicht mehr sehen konnte, stand sie auf und ging an die Tür. Überall war Lärm erregter Menschen, überall die Ruhelosigkeit des Festtags, die schließlich auch sie ergriff. Sie ging in den Seitengarten. Frauen kamen von der Kirmes nach Hause, die Kinder drückten ein weißes Schaf mit grünen Beinen oder ein hölzernes Pferd fest an die Brust. Dann und wann schwankte ein schwer betrunkener Mann vorbei. Dann wieder kam ein guter Familienvater friedlich mit den Seinen daher. Aber meist waren die Frauen und Kinder allein. Die Mütter, die zu Hause geblieben waren, standen in der Dämmerung schwatzend an den Ecken der Straße, die Arme hatten sie unter ihrer weißen Schürze verschränkt.

Mrs. Morel war allein, aber hieran war sie gewöhnt. Ihr Junge und ihr Töchterchen schliefen oben, sie hatte das Gefühl, dass ihr Heim fest und sicher hinter ihr lag. Aber ihre Schwangerschaft machte sie elend. Die Welt kam ihr so öde vor, nichts würde sich mehr in ihr für sie ereignen – wenigstens so lange nicht, wie William noch klein war. Für sie gab es nur dieses öde Dulden – bis die Kinder erwachsen waren. Und die Kinder! Sie konnte sich dieses dritte gar nicht leisten. Sie wollte es auch nicht. Der Vater schenkte in einer Kneipe Bier aus und besoff sich dabei. Sie verachtete ihn und war doch an ihn gefesselt. Dieses kommende Kind war zuviel für sie. Wären William und Annie nicht gewesen, schon längst hätte sie diesen Kampf gegen Armut, Hässlichkeit und Gemeinheit aufgegeben.

Sie ging in den Vorgarten, war zu bedrückt, um auszugehen, konnte aber auch nicht im Haus bleiben. Die Hitze erstickte sie. Und wenn sie an die Zukunft dachte, hatte sie ein Gefühl, als wäre sie lebendig begraben.

Der Vorgarten war ein kleines Viereck, eine Ligusterhecke umgab ihn. Hier blieb sie stehen, versuchte, sich durch den Duft der Blumen und den schönen, versinkenden Abend zu beruhigen. Der kleinen Gartentür gegenüber lag der Zauntritt, über den man neben der hohen Hecke durch das brennende Glühen der gemähten Wiesen den Hügel hinaufging. Über ihr bebte und pulste der Himmel vor Licht. Schnell schwand das Glühen von den Wiesen; Erde und Hecken rauchten Dämmerung. Als es dunkel wurde, erschien oben auf dem Hügel ein rötliches Leuchten, und aus dem Leuchten tönte der abflauende Kirmeslärm.

Manchmal wankten Männer durch den dunklen Graben, den der Pfad neben der Hecke bildete. Ein junger Mann geriet am letzten steilen Stück des Hügels ins Laufen und sauste krachend gegen den Zauntritt. Mrs. Morel fuhr zusammen. Er raffte sich wieder auf, stieß fast leidenschaftlich wilde Flüche aus, als dächte er, der Zauntritt hätte ihm absichtlich weh getan.

Sie trat ins Haus und fragte sich, ob das alles immer so bleiben sollte. Aber sie erkannte langsam, dass das nicht der Fall sein würde. Ihre Mädchenzeit schien ihr in weiter Ferne versunken, und sie fragte sich, ob die, die jetzt bedrückt durch den Hintergarten der ,Bottoms’ ging, dieselbe wäre wie die, die vor zehn Jahren so flink über den Wellenbrecher in Sheerness lief.

„Was geht mich das an?” sagte sie zu sich selbst. „Was geht mich das alles an? Selbst das Kind, das ich bekommen werde! Ich habe nicht das Gefühl, dass mich das was angeht.” Manchmal packt einen das Leben, reißt den Leib mit, gestaltet unser Dasein und ist doch nicht wirklich, sondern gibt uns das Gefühl, das alles ginge uns im Grunde gar nichts an.

„Ich warte”, sagte Mrs. Morel zu sich selbst. „Ich warte, aber das, worauf ich warte, kommt nie.”

Dann räumte sie die Küche auf, zündete die Lampe an, schürte das Feuer, suchte die Wäsche für den nächsten Tag zusammen und weichte sie ein. Dann setzte sie sich an ihre Näharbeit. Lange Stunden flitzte ihre Nadel regelmäßig durch den Stoff. Manchmal seufzte sie, bewegte sich, um sich so etwas Erleichterung zu verschaffen. Und die ganze Zeit überlegte sie, wie sie das, was sie hatte, am besten zum Vorteil der Kinder verwendete. Um halb zwölf kam ihr Mann nach Hause. Seine Wangen waren sehr rot und leuchteten über dem schwarzen Schnurrbart. Sein Kopf nickte leicht. Er war sehr zufrieden.

„Haste auf mich gewartet, Schatz? Hab dem Anton geholfen, und was meinste, was der mir gegeben hat? ‚ne lumpige Halfcrown, keinen Penny mehr.”

„Er denkt sicher, dass du das Fehlende in Bier bekommen hast”, antwortete sie kurz.

„Das hab ich nicht, das hab ich nicht. Kannste glauben, hab heut nur ein bisschen gekriegt, wenn ich überhaupt was gekriegt habe.”

Seine Stimme wurde zärtlich. „Hier, hab dir auch ein paar Pfefferkuchen mitgebracht und eine Kokosnuss für die Kinder.” Er legte die Pfefferkuchen und die haarige Kokosnuss auf den Tisch. „Na, hast’ auch wohl noch nie im Leben für was danke gesagt, was?”

Sie gab nach, nahm die Kokosnuss in die Hand und schüttelte sie, um zu sehen, ob sie auch Milch enthielt.

„Is ‚ne gute, kannste dein Leben drauf wetten. Hab sie von Bill Hodgkisson gekriegt. Bill, hab ich gesagt, drei Nüsse brauchste doch nich, was? Geb mir doch eine ab für meinen kleinen Jungen und das Mädel. Aber sicher, Walter, Junge, hat er gesagt, nimm dir man, welche du willst. Na, und da hab ich eine genommen, und danke schön hab ich gesagt. Ich wollte sie nicht vor seinen Augen schütteln; er hat gesagt, probier mal, ob sie auch gut ist, Walter. Und siehste, da wusste ich‘s. Is‘n netter Kerl, der Bill Hodgkisson, ‚n netter Kerl.”

„Wenn ein Mann betrunken ist, gibt er alles ab, und du bist genauso betrunken wie er”, sagte Mrs. Morel.

„Was, du kleines Aas, wer is betrunken, das möchte ich doch mal wissen”, erwiderte Morel. Er war außerordentlich zufrieden, weil er heute im Moon and Stars beim Bedienen geholfen hatte. Er schwatzte weiter.

Mrs. Morel war sehr müde und hatte sein Geschwätz satt; sie ging schnell zu Bett, während er das Feuer mit Asche zudeckte.

Mrs. Morel stammte aus einer guten alten Bürgerfamilie, strammen Unabhängigen, die mit Colonel Hutchinson gekämpft hatten und strenge Kongregationalisten geblieben waren. Als so viele Spitzenmacher in Nottingham bankrott machten, hatte ihr Großvater in seinem Spitzengeschäft auch alles Geld verloren. Ihr Vater, George Coppard, war Mechaniker, es war ein großer, hübscher, hochmütiger Mann, war stolz auf seine helle Haut und seine blauen Augen, aber noch stolzer auf seine Unbescholtenheit. Körperlich glich Gertrud ihrer zarten Mutter, den stolzen, unnachgiebigen Charakter aber hatte sie von den Coppards.

George Coppard litt sehr unter seiner Armut. Er wurde Werkmeister auf der Werft in Sheerness. Gertrud, die jetzige Mrs. Morel, war seine zweite Tochter. Sie mochte ihre Mutter gern, liebte sie über alles. Aber sie hatte die hellen, herausfordernden, blauen Augen und die breite Stirn der Coppards. Sie erinnerte sich, wie sehr sie ihres Vaters anmaßendes Benehmen der sanften, lustigen, gutmütigen Mutter gegenüber hasste. Sie erinnerte sich, wie sie von allen Männern verzogen und umschmeichelt wurde, wenn sie auf die Werft kam, denn sie war ein zartes, recht verwegenes Kind. Sie erinnerte sich der alten, verschrobenen Lehrerin, deren Helferin sie gewesen war, der sie so gern in ihrer Privatschule geholfen hatte. Immer noch besaß sie die Bibel, die John Field ihr geschenkt hatte. Als sie vierzehn Jahre alt war, war sie nach dem Gottesdienst immer mit John Field nach Hause gegangen. Er war der Sohn eines wohlhabenden Krämers, hatte in London das Gymnasium besucht und sollte Kaufmann werden. Ganz deutlich erinnerte sie sich an einen Sonntagnachmittag im September, an dem sie in der Weinlaube an der Hinterseite ihres väterlichen Hauses gesessen hatten. Die Sonne fiel durch die Spalten zwischen den Weinblättern und formte auf ihm und ihr schöne Figuren, die an die an einem Spitzenschal erinnerten. Einige Blätter waren hellgelb, sahen aus wie gelbe, flache Blumen.

„Rühr dich nicht!” hatte er gesagt. „Dein Haar ist jetzt, ich weiß nicht, wie ich‘s nennen soll. Es leuchtet wie Kupfer und Gold, ist so rot wie geglühtes Kupfer, und wo die Sonne es trifft, hat es goldene Fäden. Und dabei sagt man, es wäre braun. Deine Mutter sagt, es wäre mausfarben.”

Sie war dem leuchtenden Blick seiner Augen begegnet, aber ihr klares Gesicht verriet kaum das leichte Jubeln, das in ihr klang.

„Du sagst doch immer, du hättest keine Lust zum Kaufmann”, fuhr sie fort.

„Habe ich auch nicht; ein grässlicher Beruf”, sagte er erregt.

„Möchtest du nicht Pfarrer werden?”, flehte sie halb.

„Gern. Sehr gern, wenn ich nur wüsste, dass ich ein berühmter Prediger würde.”

„Warum tust du es denn nicht – warum nur nicht?” Ihre Stimme klang herausfordernd. „Wäre ich ein Mann, nichts würde mich abhalten.”

Stolz hob sie den Kopf. Er hatte fast Angst vor ihr.

„Vater lässt nicht mit sich reden; er will mich nun mal ins Geschäft stecken, und dann tut er‘s auch.”

„Wenn du nur ein Mann wärest!” hatte sie gerufen.

„Mann sein ist nicht alles”, hatte er erwidert und dabei in irrer Hilflosigkeit die Stirn gerunzelt.

Während sie jetzt in den Bottoms ihrer Arbeit nachging und einigermaßen wusste, was Mann sein heißt, erkannte sie, dass Mann sein wirklich nicht alles bedeutet.

Als sie zwanzig Jahre alt war, hatte sie aus Gesundheitsrücksichten Sheerness verlassen. Ihr Vater war in seine Heimat nach Nottingham gezogen. John Fields Vater hatte alles verloren; der Sohn war in Norwood Lehrer geworden. Erst zwei Jahre später hörte sie von ihm, als sie sich eingehend nach ihm erkundigte. Er hatte seine Wirtin, eine vermögende Witwe, geheiratet.

Und immer noch verwahrte Mrs. Morel John Fields Bibel. Sie hielt ihn jetzt nicht mehr für … Sie erkannte jetzt ziemlich genau, was oder was er nicht hätte werden können. Sie verwahrte seine Bibel, und um ihrer selbst willen hielt sie sein Andenken in ihrem Herzen hoch. Fünfunddreißig Jahre lang, bis an ihr Lebensende, sprach sie nicht von ihm.

Als sie dreiundzwanzig Jahre alt war, traf sie bei einer Weihnachtsfeier einen jungen Mann aus dem Erewash Valley. Morel war damals siebenundzwanzig Jahre alt. Er war gut gewachsen, hielt sich gut und war ein flotter Kerl. Er hatte lockiges, schwarzes, glänzendes Haar und einen kräftigen, schwarzen Bart, der nie rasiert worden war. Seine Backen waren rötlich, und sein roter, feuchter Mund war deshalb so besonders auffallend, weil er so oft und so herzlich lachte. Sein Lachen war, was so selten ist, voll und klingend. Wie verzaubert hatte Gertrud Coppard ihn beobachtet. Er wirkte so farbig und lebendig, seine Sprache war oft so ungekünstelt komisch, grotesk, jedem gegenüber traf er gleich den richtigen Ton, war zu jedem freundlich. Ihr Vater war sehr witzig, aber sein Spott tat weh. Der Witz dieses Mannes war ganz anders: er war weich, nicht aus dem Verstand geboren, war warm, wurzelte in einer Art Freude.

Sie war ganz anders. Ihr Geist war seltsam rezeptiv, mit viel Freude und Vergnügen hörte sie gern anderen Leuten zu. Sie verstand es ausgezeichnet, andere zum Reden zu bringen. Sie liebte Gedankenaustausch und galt als klug. Am liebsten sprach sie mit einem gebildeten Mann über Religion, Philosophie oder Politik. Dieses Vergnügen hatte sie leider nicht oft. Deshalb veranlasste sie die Leute immer, ihr etwas über sich selbst zu erzählen, und daran hatte sie ihre große Freude.

Von Gestalt war sie ziemlich klein und zart; sie hatte eine breite Stirn, viele braune seidige Locken bedeckten den Kopf. Ihre blauen Augen waren ehrlich, forschend, geradeaus. Sie hatte die schönen Hände der Coppards. Ihre Kleidung war immer unauffällig. Sie trug dunkelblaue Seide und dazu eine besondere Silberkette aus silbernen Muscheln. Diese Kette und eine schwere Brosche aus geflochtenem Gold waren ihr einziger Schmuck. Sie war noch gänzlich unberührt, sehr religiös und herrlich aufrichtig.

Walter Morel hatte ihr gegenüber ein Gefühl, als verginge er. Sie war für den Bergmann jenes geheimnisvolle, zauberhafte Etwas, eine Dame. Wenn sie mit ihm sprach, geschah es mit der Aussprache des Südens, und ihr Englisch war so rein, dass er jedes Mal erbebte, wenn er es hörte. Sie beobachtete ihn. Er tanzte gut, als wäre Tanzen ihm eine natürliche Freude. Sein Großvater war französischer Refugié, der eine englische Kellnerin geheiratet hatte – wenn es überhaupt eine Ehe war. Gertrud Coppard beobachtete den jungen Bergmann beim Tanzen; leichtes zauberhaftes Jubeln klang aus seinen Bewegungen, und sein rötliches Gesicht, in das das schwarze Haar hing, schien ihr die Blüte seines Leibes; vor welcher Tänzerin er sich auch verbeugte, immer lächelte er. Sie fand ihn herrlich, denn noch nie war ihr ein solcher Mann begegnet. Für sie war der Vater der Typ aller Männer. Georg Coppard war ein hübscher, fast strenger Mann mit stolzer Haltung, der am liebsten theologische Abhandlungen las und nur einen Menschen hochschätzte, den Apostel Paulus; sein Regiment im Haus war hart, seine Vertraulichkeit voller Spott; sinnliche Freude war ihm unbekannt – ja, er war so ganz anders als der Bergmann. Gertrud selbst verachtete das Tanzen; sie spürte nicht die geringste Neigung zu dieser Kunst und hatte nicht einmal einen Roger de Coverley gelernt. Wie ihr Vater war sie Puritaner, anmaßend und unnachgiebig. Deshalb erschien ihr die dämmrige, goldene Weichheit der sinnlichen Lebensflamme dieses Mannes, die aus seinem Fleisch strömte wie die Flamme aus einer Kerze und sich nicht wie ihr Leben in der nutzlosen Weißglut von Geist und Gedanken verzehrte, etwas so Wundervolles, ihr so ganz Fremdes.

Er kam und verbeugte sich vor ihr. Da durchstrahlte sie eine Wärme, als hätte sie Wein getrunken. „Na, denn tanz‘ mal mit mir”, sagte er zärtlich. „Ist ganz leicht. Möchte dich zu gern mal tanzen sehn.”

Sie hatte ihm vorhin gesagt, dass sie nicht tanzen könnte. Sie freute sich, dass er trotzdem zu ihr kam, und lächelte. Ihr Lächeln war sehr schön. Es ergriff den Mann so sehr, dass er alles vergaß.

„Nein, ich möchte nicht tanzen”, sagte sie ganz weich. Ihre Worte klangen rein, klingend.

Ohne zu wissen, was er tat – gefühlsmäßig tat er oft das Richtige –, setzte er sich neben sie, neigte sich ihr voller Achtung zu.

„Aber versäumen Sie doch nicht Ihren Tanz”, tadeltesie ihn.

„Ne, den tanze ich nicht – aus dem mach ich mir nicht viel.”

„Und mich forderten Sie dazu auf.”

Da musste er laut lachen. „Das hatt‘ ich ganz vergessen. Du kommst mir ja schnell auf die Schliche.”

Jetzt lachte sie munter. „Sie sehen nicht so aus, als wenn das so leicht wäre”, sagte sie.

„Da haste vielleicht recht, solche Schliche, das ist so meine Art”, lachte er ziemlich laut.

„Und Sie sind Bergmann?” fragte sie überrascht.

„Ja, als ich zehn war, fuhr ich schon ein.”

Verwundert, bestürzt sah sie ihn an. „Als Sie zehn Jahre alt waren! Das war doch sicher nicht so einfach?” fragte sie.

„Da gewöhnt man sich schnell dran. Wie die Mäuse lebt man, und wenn‘s dunkel ist, dann flitzt man eben mal raus, zu sehen, was los ist.”

„Ich würde blind”, sagte sie und runzelte die Stirn.

„Wie so‘n Maulwurf”, lachte er. „Ja, es gibt tatsächlich welche, die laufen herum wie die Maulwürfe.” Er streckte das Gesicht vor wie ein blinder, schnüffelnder Maulwurf, der mit Hilfe seiner Nase und mit blinzelnden Augen seinen Weg sucht. „So machen die”, beteuerte er naiv. „So was haste noch nich gesehn, wie die das machen. Ich nehm’ dich mal mit runter, dann kannste sie dir mal begucken.”

Sie sah ihn erschrocken an. Ein bisher nicht gekanntes Leben tat sich plötzlich vor ihr auf. Sie sah das Leben der Bergleute, sah Hunderte von ihnen unter der Erde arbeiten und abends wieder hervorkommen. Er schien ihr auf einmal edel. Täglich setzte er heiter sein Leben aufs Spiel. Sie sah hin zu ihm, als flehe sie ihn an in reiner Demut.

„Willste nich’ mal?” fragte er zärtlich. „Vielleicht nicht, weilste so dreckig dabei wirst.”

Noch nie hatte sie jemand geduzt, wie er es tat.

Am nächsten Weihnachtsfest feierten sie Hochzeit, und ein Vierteljahr lang war sie vollkommen glücklich; ein halbes Jahr lang war sie sehr glücklich. Er hatte das Gelübde unterzeichnet und trug das blaue Bändchen der Abstinenzler; er war hierauf sehr stolz. Sie wohnten in seinem eigenen Haus, wie sie glaubte. Es war klein, aber behaglich, die Ausstattung bestand aus derben, guten Stücken, die zu ihrem ehrlichen Wesen passten. Um ihre Nachbarinnen kümmerte sie sich kaum, und Morels Mutter und Schwestern ließen es an Sticheleien über ihr damenhaftes Wesen nicht fehlen. Aber solange ihr Mann zu ihr hielt, brauchte sie keine andere Gesellschaft. Wenn sie des Kosens müde war, versuchte sie manchmal, ihm ernst ihr Herz zu öffnen. Voller Rücksicht, aber ohne jedes Verständnis hörte er zu. Das tötete ihre Bemühungen um tiefere Innigkeit, und blitzartig packte sie oft die Angst. Manchmal überfiel ihn abends eine Unruhe, und sie bemerkte, dass ihm ihre Gegenwart nicht genügte. Dann war sie froh, wenn er sich an allerlei kleine Arbeiten machte.

Er war ein sehr geschickter Mensch, alles konnte er selbst machen oder ausbessern.

„Das Schüreisen deiner Mutter ist so klein und zierlich, es gefällt mir gut.”

„Wirklich, Kleine? Na, ich hab‘s gemacht, da kann ich dir auch eins machen.”

„Sieh mal einer an! Aber es ist doch aus Stahl.”

„Ja, und was ist denn dabei! Sollst so eins haben, wenn auch nicht ganz genau so eins.”

Der Schmutz, das Hämmern und Lärmen machten ihr nichts aus. Er war beschäftigt und glücklich.

Als sie eines Tages, es war im siebten Monat ihrer Ehe, seinen Sonntagsrock ausbürstete, fühlte sie in der Brusttasche Papiere; neugierig zog sie sie hervor und las sie. Er trug den Hochzeitsrock nur sehr selten, und so war sie wegen dieser Papiere niemals neugierig gewesen. Es waren die unbezahlten Rechnungen über ihre Möbel.

„Sieh mal”, sagte sie abends, nachdem er sich gewaschen und gegessen hatte. „Ich fand dies in der Tasche deines Hochzeitsrocks. Sind denn die Rechnungen noch nicht bezahlt?”

„Nein. Ich bin noch nicht dazu gekommen.”

„Aber du sagtest mir doch, es wäre alles erledigt. Samstag fahre ich nach Nottingham und bezahle sie. Ich sitze nicht gern auf Stühlen, die mir nicht gehören, und esse nicht gerne von einem Tisch, der noch nicht bezahlt ist.”

Er antwortete nicht.

„Kann ich mal dein Sparbuch haben?”

„Aber sicher, wenn du meinst, dass es dadurch besser wird.”

„Ich dachte…”, begann sie. Er hatte ihr erzählt, er hätte ein schönes Stück Geld gespart. Aber sie erkannte, dass alles Fragen zwecklos war. Voll Bitterkeit und Empörung saß sie regungslos da.

Am nächsten Tag ging sie zu seiner Mutter. „Hast du nicht die Einrichtung für Walter gekauft?” fragte sie.

„Gewiss”, erwiderte mürrisch die ältere Frau.

„Und wie viel hat er dir hierfür gegeben?”

Die alte Frau wurde ärgerlich. „Achtzig Pfund! Wenn du es wissen willst”, erwiderte sie.

„Achtzig Pfund! Aber zweiundvierzig Pfund sind noch nicht bezahlt.”

„Kann ich doch nichts dran ändern.”

„Aber wo ist das denn alles geblieben?”

„Wenn du mal nachsuchst, wirst du schon alle Rechnungen finden; dazu kommen noch zehn Pfund, die er mir schuldet, und sechs Pfund für die Hochzeitsfeier hier.”

„Sechs Pfund!” wiederholte Gertrud Morel. Es kam ihr ungeheuerlich vor, dass auf ihres Vaters Kosten im Haus von Walters Eltern noch sechs Pfund verfressen und versoffen worden waren, nachdem ihr Vater doch schon so viel für ihre Hochzeit bezahlt hatte.

„Und wieviel hat er in seinen Häusern?” fragte sie.

„Seine Häuser? Was für Häuser?”

Gertrud Morel erbleichte bis in die Lippen. Er hatte ihr gesagt, das Haus, in dem er wohnte, und das nächste gehörten ihm.

„Ich dachte, das Haus, in dem wir wohnen …”, begann sie.

„Diese beiden Häuser gehören mir”, sagte die Schwiegermutter. „Und auch nicht ganz. Ich kann grade die Hypothekenzinsen bezahlen.”

Bleich und stumm saß Gertrud da. Sie war jetzt ganz ihr Vater.

„Dann müssen wir dir ja Miete zahlen”, sagte sie kalt.

„Walter bezahlt mir Miete”, erwiderte ihre Mutter.

„Und wieviel?” fragte Gertrud.

„Sechseinhalb Schilling wöchentlich”, entgegnete ihre Mutter.

Soviel war das Haus gar nicht wert. Mit erhobenem Kopf und starrem Blick saß Gertrud da.

„Kannst froh sein”, sagte die alte Frau bissig, „dass du so‘n Mann hast, der dir die ganzen Geldgeschichten abnimmt, dass du nichts damit zu tun hast.”

Die junge Frau schwieg.

Ihrem Mann sagte sie nur sehr wenig, aber ihr Benehmen ihm gegenüber war nun anders geworden. Aus ihrer stolzen, ehrlichen Seele hatte sich etwas Felshartes auskristallisiert.

Als es Oktober wurde, dachte sie nur an Weihnachten. Vor zwei Jahren, zu Weihnachten, war sie ihm zum ersten Mal begegnet. Am vergangenen Weihnachtsfest hatte sie ihn geheiratet. Diese Weihnachten würde sie ihm ein Kind gebären.

„Tanzen Sie denn nicht?” fragte sie im Oktober ihre nächste Nachbarin, als die Rede davon war, in der Brick and Tile Inn in Bestwood einen Tanzkurs zu eröffnen.

„Nein – habe nie Lust dazu gehabt”, erwiderte Mrs. Morel.

„Sieh mal einer an! Spaßig, dass Sie da grade Ihren Mann geheiratet haben! Der ist ein ganz berühmter Tänzer, das wissen Sie doch.”

„Dass er so berühmt ist, wusste ich nicht”, lachte Mrs. Morel.

„Ganz bestimmt. Vor ungefähr fünf Jahren leitete er doch den Tanzkurs im Saal vom Miners‘ Arms-Club.”

„So?”

„Gewiss.” Die andere Frau wurde immer mutiger. „Und jeden Dienstag und Donnerstag und Samstag war es brechend voll, und wie man so hört, ging‘s da hoch her.”

So etwas bedeutete für Mrs. Morel Kummer und Bitternis, und beides wurde ihr nicht erspart. Die Frauen schenkten ihr nichts; denn sie war was Besseres als sie, wenn sie auch nichts dazu konnte.

Er fing jetzt an, ziemlich spät nach Hause zu kommen.

„Sie arbeiten jetzt doch sehr lange”, sagte sie zu ihrer Waschfrau.

„Nicht länger als sonst auch, soviel ich weiß. Aber sie kehren bei Ellens ein und reden, und dann kommt‘s so. Essen wird eiskalt – na, geschieht ihnen ganz recht.”

„Aber mein Mann trinkt nicht.”

Die Frau ließ das Wäschestück fallen, sah Mrs. Morel an, arbeitete dann weiter, ohne ein Wort zu sagen.

Gertrud Morel war sehr krank, als der Junge geboren wurde. Morel war gut zu ihr, golden war seine Güte. Aber so meilenweit von den Ihren entfernt fühlte sie sich sehr einsam. Auch mit ihm fühlte sie sich jetzt einsam, und seine Gegenwart ließ sie diese Einsamkeit noch stärker empfinden.

Der Junge war anfangs klein und zart, aber er entwickelte sich schnell. Er war ein schönes Kind, hatte dunkelgoldene Locken und dunkelblaue Augen, die allmählich hellgrau wurden. Seine Mutter liebte ihn leidenschaftlich. Er kam gerade, als die Bitterkeit ihrer Enttäuschung kaum noch zu ertragen, als ihr Glaube an das Leben erschüttert und ihre Seele traurig und einsam war. Für sie gab es nur das Kind, und der Vater wurde eifersüchtig.

Schließlich verachtete Mrs. Morel ihren Mann. Sie wandte sich ganz dem Kind zu, wandte sich vom Vater ab. Er hatte angefangen, sie zu vernachlässigen; das Neue seines eigenen Heims war vorbei, ,1hm fehlt jede innere Festigkeit‘, sagte sie sich bitter. Was er gerade im Augenblick empfand, war ihm alles. Ausharren kannte er nicht. Hinter all seinem Getue steckte nichts.

Und jetzt begann zwischen dem Mann und der Frau ein Kampf – ein furchtbarer Kampf, den nur der Tod des einen beenden konnte. Auf Eines nur zielte ihr Kampf: er sollte sich seiner Verantwortung bewusst werden, sollte seine Verpflichtungen erfüllen. Aber er war so ganz anders als sie. Seine Natur war rein sinnlich, und sie wollte ihn moralisch, religiös machen. Er sollte der Wirklichkeit ins Auge sehen. Und das konnte er nicht ertragen – es brachte ihn um den Verstand.

Während das Kind noch klein war, wurde der Vater so reizbar, dass man nie wusste, woran man war. Das Kind brauchte nur ein wenig Unruhe zu verursachen, gleich brauste der Mann auf. Dann fehlte nicht viel, und die harten Bergmannsfäuste hätten das Kind geschlagen. Und Mrs. Morel hasste ihren Mann, hasste ihn viele Tage; er aber ging aus dem Haus und trank; ihr war es ganz gleich, was er trieb. Aber wenn er nach Hause kam, ließ sie ihn ihren beißenden Spott fühlen.

Die Entfremdung zwischen ihnen brachte ihn dazu, sie wissentlich oder unwissentlich auch da zu beleidigen, wo er es sonst nicht getan hätte.

William war nun ein Jahr alt, und seine Mutter war stolz auf ihn, er war so niedlich. Es ging ihr nicht gut, aber ihre Schwestern sorgten für die Kleidung des Jungen. In dem kleinen, weißen Hütchen mit den krausen Straußenfedern auf dem buschigen Lockenkopf und in seinem weißen Mantel war er ihre ganze Freude.

Eines Sonntagmorgens lag Mrs. Morel noch im Bett und lauschte auf das Geplauder zwischen Vater und Sohn unten. Dann schlief sie wieder ein. Als sie hinunterkam, brannte auf dem Rost ein großes Feuer, im Zimmer war es heiß, der Frühstückstisch war unordentlich gedeckt; in seinem Lehnstuhl neben dem Kamin saß Morel, er war ziemlich verlegen; zwischen seinen Beinen stand kahl geschoren und mit seltsam rundem Kopf das Kind und sah sie verwundert an; auf einer Zeitung auf der Herdmatte lagen im rötlichen Schein des Feuers wie Blätter einer Dotterblume viele, viele sichelförmige Locken.

Mrs. Morel rührte sich nicht. Es war ihr erstes Kind. Sie erbleichte, konnte kein Wort sprechen.

„Was sagste dazu?” lachte Morel unbehaglich.

Sie ballte die Fäuste, hob sie und kam auf ihn zu. Morel wich zurück.

„Ich könnte dich umbringen”, sagte sie. Sie bebte vor Wut, hatte immer noch die Fäuste erhoben.

„Willst doch kein Mädchen aus ihm machen”, sagte Morel; Angst flackerte in seiner Stimme; er senkte den Kopf, wollte seine Augen vor ihrem Blick schützen. Das Lachen war ihm vergangen.

Die Mutter sah auf den kurz und stufig geschorenen Kopf ihres Kindes. Sie legte die Hände auf sein Haar, streichelte und liebkoste den Kopf. „Ach, mein Junge”, stammelte sie. Ihre Lippen bebten, ihr Gesicht verfiel; sie nahm das Kind auf, vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter und weinte qualvoll. Sie war eine von den Frauen, die nicht weinen können; denen Weinen wehtut, wie es auch Männern wehtut. Ihr Schluchzen klang, als würde etwas aus ihr herausgerissen.

Morel saß da, stützte die Ellbogen auf die Knie und verkrampfte die Hände, dass die Knöchel weiß wurden. Er stierte ins Feuer, war wie betäubt, hatte ein Gefühl, als könne er nicht mehr atmen.

Plötzlich löste sich bei ihr die Spannung, sie beruhigte das Kind und räumte den Frühstückstisch ab. Die Zeitung mit den Locken ließ sie auf der Herdmatte liegen. Schließlich hob ihr Mann sie auf und steckte sie ins Feuer. Ganz ruhig, mit geschlossenem Mund, ging sie ihrer Arbeit nach. Morel war bedrückt. Jämmerlich schlich er umher, und an diesem Tag schmeckte ihm kein Essen. Sie sprach höflich mit ihm, machte keine einzige Anspielung auf das, was er getan hatte. Aber er fühlte, dass etwas Endgültiges sich ereignet hatte.

Später sagte sie, sie wäre albern gewesen, einmal hätte dem Jungen doch das Haar geschnitten werden müssen. Schließlich brachte sie es über sich, ihrem Mann zu sagen, es wäre schon gut, dass er den Barbier gespielt hatte. Aber sie wusste, und Morel wusste es auch, dass diese Tat in ihrer Seele etwas Folgenschweres hatte entstehen lassen. Ihr ganzes Leben vergaß sie diese Szene nicht, nie wieder litt sie so unendlich.

Diese Tat aus männlicher Plumpheit versetzte ihrer Liebe zu Morel den ersten Stoß. Während sie bitter gegen ihn gekämpft hatte, hatte sie sich doch wund nach ihm gesehnt, als wäre er von ihr fort in die Irre gegangen. Jetzt kümmerte sie sich nicht mehr um seine Liebe: Er war ihr fremd geworden. Und so war ihr das Leben viel erträglicher.

Nichtsdestoweniger rang sie immer noch mit ihm. Immer noch hatte sie ihr hohes Sittlichkeitsgefühl, das Erbe von Generationen von Puritanern. Jetzt war es ein Frömmigkeitsgefühl, wie eine Schwärmerin war sie ihm gegenüber, weil sie ihn liebte oder geliebt hatte. Wenn er sündigte, quälte sie ihn. Wenn er trank und log, heute feige, dann schuftig war, schwang sie erbarmungslos die Geißel. Das aber war der Jammer: Sie war so ganz anders als er. Sie konnte mit dem Bisschen, das er sein konnte, nicht zufrieden sein, sie wollte ihn so groß, wie er hätte sein müssen. Und im Bemühen, ihn edler zu machen, als er von sich aus sein konnte, vernichtete sie ihn. Sie plackte, quälte, sehnte sich, verlor aber nichts von ihrem Wert. Sie hatte auch die Kinder.

Er trank ziemlich viel, wenn auch nicht mehr als viele andere Bergleute, und immer nur Bier, sodass seine Gesundheit zwar angegriffen, aber nicht zugrunde gerichtet wurde. Am Wochenende soff er am meisten. Jeden Freitag-, Samstag- und Sonntagabend saß er bis zum Schluss im Miners‘ Arms. Montags und dienstags musste er widerwillig schon gegen zehn Uhr fort. Mittwochs und donnerstags blieb er manchmal abends zu Hause oder ging nur eine Stunde aus. Aber nie versäumte er wegen seiner Trinkerei die Arbeit.

Obwohl er nach wie vor fleißig arbeitete, wurde sein Lohn doch geringer. Er war ein Schwätzer, konnte nie den Mund halten. Aufsicht war ihm verhasst, deshalb schimpfte er dauernd auf die Steiger. In Palmerston erzählte er: „Heute morgen kam der Aufseher runter in unsern Stollen, und da sagte er: Hör mal, Walter, so was gibt‘s hier aber nicht. Das ist doch keine Zimmerung! Und da sagte ich zu ihm: Was meinste, was ist denn los mit der Zimmerung? Die hält doch mein Lebtag nicht, sagt er. Eines schönen Tages stürzt der ganze Kram zusammen. Und da hab ich gesagt: Na, dann stell dich man da auf den Dreckklumpen und halts mit dem Kopf hoch. Da wurde er aber fuchtig, tobte und fluchte, und die andern Kumpels lachten.” Morel war ein guter Schauspieler. Er ahmte des Aufsehers fette, schnarrende Stimme und seine gesucht gute Ausdrucksweise nach.

„Ich kann das nicht dulden, Walter. Wer versteht mehr davon, du oder ich? Und da sag ich: Wie viel du davon verstehst, hab ich bis jetzt noch nicht rausgekriegt, Alfred. Weiter als von hier bis da reichste nicht damit.” Und zur Freude seiner Saufbrüder schwatzte Morel weiter. Manches von dem, was er sagte, war wahr. Der Steiger war kein gebildeter Mann. Er war zusammen mit Morel Schlepperjunge gewesen; sie konnten einander zwar nicht leiden, doch nahmen sie sich mehr oder weniger so, wie sie waren. Aber Alfred Charlesworth verzieh dem Hauer dieses Gerede im Wirtshaus nicht. Und so kam es denn, dass Morel, der ein tüchtiger Arbeiter war und zu Anfang seiner Ehe manchmal fünf Pfund wöchentlich verdiente, immer schlechtere Stollen zugewiesen erhielt, in denen die Kohle dünn lag, schwer zugänglich war und die Arbeit nur wenig abwarf.

Im Sommer wird in den Gruben weniger gearbeitet. An hellen, sonnigen Morgen strömen die Männer oft schon um zehn, elf oder zwölf wieder nach Hause. Keine leeren Hunde stehen dann am Schachteingang. Die Frauen, die auf dem Hügelhang wohnen, blicken, während sie die Herdmatten gegen den Zaun schlagen, hinüber und zählen die Wagen, die die Maschine das Tal hinaufzieht. Und wenn die Kinder um die Mittagszeit aus der Schule kommen und sehen, dass jenseits der Felder die Räder der Fördertürme still stehen, sagen sie: „Minton arbeitet nicht. Papa ist sicher auch zu Hause.”

Und wie ein Schatten liegt es über allen, über Frauen, Kindern und Männern, denn am Ende der Woche ist das Geld unweigerlich knapp. Morel gab seiner Frau wöchentlich dreißig Schilling, wovon sie alles bestreiten musste – Miete, Kleidung, Nahrung, Vereine, Versicherung, Arzt. Manchmal, wenn er besonders gut bei Kasse war, gab er ihr auch fünfunddreißig. Aber viel öfter gab er ihr nur fünfundzwanzig. Wenn der Bergmann im Winter in einem guten Stollen arbeitete, verdiente er fünfzig bis fünfundfünfzig Schilling wöchentlich. Dann war er glücklich. Freitagabend, Samstag und Sonntag gab er gehörig was aus, vertat so ungefähr einen Sovereign, hatte dabei aber kaum einen Extrapenny für seine Kinder übrig, kaufte ihnen kaum je ein Pfund Äpfel. Alles wurde vertrunken. In schlechten Zeiten war alles noch quälender; nur war er dann nicht so oft betrunken, sodass Mrs. Morel oft sagte: „Ich weiß doch nicht, ob ich nicht lieber weniger habe, denn ist er bei Kasse, gibt‘s keinen Augenblick Frieden.”

Verdiente er vierzig Schilling, behielt er zehn; von fünfunddreißig fünf; von zweiunddreißig vier, von achtundzwanzig drei; von vierundzwanzig zwei; von zwanzig eineinhalb; von achtzehn einen; von sechzehn einen halben, nie sparte er einen Penny, gab seiner Frau keine Möglichkeit zu sparen; sie musste sogar oft noch seine Schulden bezahlen, keine Wirtshausschulden – von denen erfuhren die Frauen nie etwas –, sondern Schulden, die er durch den Kauf eines Kanarienvogels oder eines vornehmen Spazierstocks gemacht hatte.

Während der Kirmes arbeitete Morel nur sehr wenig; Mrs. Morel war darauf bedacht, das Geld für ihre Niederkunft zusammenzusparen. Der Gedanke, dass er seinem Vergnügen nachging und Geld verprasste, während sie in großen Sorgen zu Hause saß, füllte sie mit Bitterkeit. Zwei Tage dauerte die Kirmes. Am Dienstagmorgen stand Morel früh auf. Er war gut gelaunt. In aller Frühe, es war noch nicht sechs Uhr, hörte sie ihn unten lustig vor sich hinpfeifen. Er pfiff gut, frisch und wohlklingend. Meist pfiff er Kirchenlieder. Er war ChorJunge gewesen und hatte damals eine herrliche Stimme gehabt, hatte sogar in der Kirche in Southwell Solo gesungen. Sein morgendliches Pfeifen verriet das immer noch.

Seine Frau lag im Bett, hörte, wie er hinten im Garten sägte und hämmerte und dazu pfiff. Wenn sie so wach im Bett lag, die Kinder noch schliefen und sie ihn im hellen, jungen Morgen glücklich arbeiten hörte, durchströmte sie jedes Mal ein Gefühl der Wärme und des Friedens.

Um neun Uhr kam er mit aufgekrempelten Ärmeln und offener Weste von seiner Schreinerarbeit ins Haus. Die Kinder saßen mit nackten Füßen und Beinen auf dem Sofa und spielten; ihre Mutter erledigte den Abwasch. Mit seinem schwarzen, lockigen Haar und dem dicken, schwarzen Schnurrbart war er immer noch ein stattlicher Mann. Sein Gesicht war vielleicht etwas rot, auch fühlte man fast, wie ungleichmäßig er in seiner Stimmung war. Aber jetzt war er fröhlich. Er ging gleich an den Spülstein, an dem seine Frau aufwusch.

„Biste schon da!” sagte er lärmend. „Mach mal Platz, dass ich mich waschen kann.”

„Warte gefälligst, bis ich fertig bin”, sagte seine Frau.

„So, muss ich? Und wenn ich nun nicht will?”

Diese gutmütige Drohung erfreute Mrs. Morel. „Kannst dich ja an der Regentonne waschen.”

„Ja, da haste recht, freches Biest.”

Er blieb einen Augenblick stehen und beobachtete sie, ging dann und wartete, bis sie fertig war.

Wenn er wollte, konnte er immer noch wirklich gut aussehen. Meist ging er mit Halstuch aus. Jetzt aber machte er sich fein. Sein Prusten und Planschen beim Waschen verriet soviel Freude, er lief so munter an den Küchenspiegel, vor dem er sich, weil er für ihn zu niedrig hing, in fast hockender Stellung sorgfältig das nasse, schwarze Haar scheitelte, dass Mrs. Morel geradezu gereizt wurde. Er legte einen Klappkragen und eine Schleife um, zog den Sonntagsschniepel an. Er sah flott aus, und was sein Anzug nicht vermochte, besorgte sein sicheres Gefühl dafür, wie man am besten sein gutes Aussehen ausnutzt.

Um halb zehn holte Jerry Purdy seinen Freund ab. Jerry war Morels Busenfreund; Mrs. Morel mochte ihn nicht leiden. Er war ein großer, hagerer Mensch, hatte ein Fuchsgesicht, eines jener Gesichter, in dem scheinbar die Wimpern fehlen. Er ging mit steifer, unsicherer Würde, als säße sein Kopf auf einer hölzernen Feder. Er war kalt und verschlagen. Er war großmütig, wo es ihm Spaß machte, und mochte Morel, für den er mehr oder weniger bezahlte, anscheinend sehr gern.

Mrs. Morel hasste ihn. Sie hatte seine Frau, die an Schwindsucht gestorben war, noch gekannt. Dieser war schließlich ihr Mann so widerlich gewesen, dass sie Blut spuckte, wenn er ihr Zimmer betrat. Jerry schien das aber weiter gar nicht zu berühren. Seine älteste Tochter, ein fünfzehnjähriges Mädchen, führte jetzt seinen ärmlichen Haushalt und sorgte für die beiden jüngeren Kinder.

„Ein gemeiner, hartherziger Kerl”, sagte Mrs. Morel von ihm.

„Ich hab mein Lebtag noch nicht erlebt, dass Jerry gemein ist”, widersprach Morel. „Soviel ich weiß, gibt‘s auf der Welt keinen freigebigeren und ehrlicheren Kerl.”

„Freigebig dir gegenüber”, entgegnete Mrs. Morel. „Aber wenn es sich um seine armen Kinder handelt, kann er die Hand nicht aufkriegen.”

„Arme Kinder! Möchte doch mal wissen, warum das arme Kinder sind!”

Aber Mrs. Morel ließ sich ihre Meinung über Jerry nicht ausreden. Der Gegenstand ihrer Unterhaltung wurde in diesem Augenblick sichtbar, er reckte seinen dürren Hals über den Vorhang des Küchenfensters. Er begegnete Mrs. Morels Blick.

„Morgen, Frau. Ist Ihr Mann zu Hause?”

„Ja, er ist da”

Unaufgefordert kam Jerry herein und blieb in der Küchentür stehen. Niemand forderte ihn auf, Platz zu nehmen, und so blieb er stehen, wo er stand, indem er kühl die Rechte der Männer und Gatten in Anspruch nahm.

„Schönes Wetter”, sagte er zu Mrs. Morel.

„Ja.”

„Herrlich draußen heute morgen, herrlich zum Spazierengehen.”

„So, Sie wollen spazieren gehen?” fragte sie.

„Ja. Nach Nottingham”, erwiderte er.

„Hm!”

Fröhlich begrüßten sich die beiden Männer: Jerry war sehr selbstbewusst, Morel aber ziemlich zurückhaltend, er wollte in Gegenwart seiner Frau nicht gar zu fröhlicr erscheinen. Rasch und gut gelaunt schnürte er die Schuhe zu. Sie wollten zehn Meilen über Land, nach Nottingham.

Von den Bottoms aus stiegen sie den Hügel hinauf wanderten lustig in den Morgen. Im Moon and Stars tranken sie das erste Glas, dann ging‘s weiter ins Old Spot. Nachdem sie fünf durstige Meilen zurückgelegt hatten, kamen sie nach Bulwell, wo sie ein herrliches Glas Bitterbier erwartete. Dann hielten sie sich auf einer Wiese bei einigen Heumachern auf, deren Literflaschen noch voll waren, sodass Morel schläfrig war, als sie endlich die Stadt vor sich sahen. Sie stieg vor ihnen an und lag, von leichtem Rauch umhüllt, im mittäglichen Licht; fern im Süden krönten Türme, große Fabrikgebäude und Schornsteine den Gipfel des Hügels. Auf dem letzten Feld legte sich Morel unter eine Eiche und schlief über eine Stunde lang ganz fest. Als er aufstand und weitergehen wollte, fühlte er sich nicht ganz wohl.

In Meadows, bei Jerrys Schwester, aßen die beiden zu Mittag, dann zogen sie weiter in den Punch Bowl und gerieten hier in die Aufregung wegen eines Taubenwettflugs. Morel spielte nie Karten, er glaubte, eine geheime, böse Macht schlummere in ihnen – Teufelsbilder nannte er sie. Aber im Kegeln und Dominospiel war er Meister. Ein Mann aus Newark forderte ihn zum Wettkegeln heraus, er nahm an. Alle Gäste der alten, langen Kneipe nahmen Partei für oder gegen ihn, wetteten auf ihn oder seinen Gegner. Morel zog den Rock aus. Jerry hielt den Hut mit dem Geld. Die Männer an den Tischen passten scharf auf. Einige standen, hielten den Krug in der Hand. Morel wog sorgfältig die dicke, hölzerne Kugel, dann warf er sie. Er richtete ein wahres Gemetzel unter den Kegeln an und gewann eine halbe Krone, was ihn wieder zahlungsfähig machte.

Gegen sieben Uhr waren die beiden in bester Stimmung. Sie erreichten aber noch den Zug um 7 Uhr 30.

Nachmittags war es in den Bottoms unerträglich. Alle Einwohner, die zu Hause geblieben waren, standen vor der Tür. Die Frauen standen zu zweit oder zu dritt barhäuptig und in weißer Schürze im Gang zwischen den Häusern und schwatzten. Männer, die gerade nicht tranken, hockten da und plauderten. Es roch schal; die Schieferdächer glitzerten in der trockenen Hitze.

Mrs. Morel ging mit dem kleinen Mädchen an den Bach, der sich keine zweihundert Meter entfernt durch die Wiesen schlängelte. Plätschernd eilte das Wasser über Steine und zerbrochene Töpfe. Mutter und Kind lehnten sich gegen das Geländer der alten Schafbrücke und sahen hinüber zu der Schwemme am anderen Ende der Wiese. Mrs. Morel sah die nackten Jungen um das tiefe gelbe Wasser flitzen oder eine leuchtende Gestalt über die schwärzliche, stille Wiese sausen. Sie wusste, dass William an der Schwemme spielte, und immer war sie in größter Angst, er könnte ertrinken. Annie spielte neben der großen alten Hecke, las die Erlenfrüchte auf und sagte, es wären Johannisbeeren. Das Kind erforderte viel Aufsicht, und die Fliegen waren sehr lästig.

Um sieben Uhr wurden die Kinder zu Bett gebracht. Dann arbeitete sie noch ein wenig.

Als Walter Morel und Jerry wieder in Bestwood waren, fühlten sie sich einigermaßen erleichtert. Nun drohte keine Eisenbahnfahrt mehr, in aller Ruhe konnten sie den herrlichen Tag beschließen. Zufrieden wie Menschen, die eine große Reise hinter sich haben, gingen sie ins Nelson.

Am nächsten Tag musste wieder gearbeitet werden, und das trübte ein wenig die gute Stimmung der Gäste. Zudem hatten die meisten ihr Geld verprasst. Einige wankten schon missmutig nach Hause, um sich im Hinblick auf den kommenden Tag auszuschlafen. Mrs. Morel hörte sie grölen und ging ins Haus. Es wurde neun, dann zehn, und immer noch war ,das Paar‘ nicht da. Irgendwo sang auf einer Türschwelle ein Mann laut und schleppend: „Führe uns, du Himmelslicht!” Mrs. Morel war immer wieder empört, dass die Betrunkenen gerade dieses Lied sangen, wenn sie rührselig wurden.

„Als ob ,Genoveva‘ nicht auch genügte”, sagte sie.

In der Küche duftete es nach gekochten Kräutern und Hopfen. Auf dem Herd brodelte ein großer, schwarzer Kessel. Mrs. Morel nahm ein großes, rotes, irdenes Gefäß, schüttete viel weißen Zucker hinein und goss dann unter ziemlichem Kraftaufwand die Flüssigkeit zu.

In diesem Augenblick trat Morel ein. Im Nelson war er noch sehr lustig gewesen, auf dem Heimweg aber bekam er schlechte Laune. Er hatte die Reizbarkeit und den leichten Schmerz immer noch nicht ganz überwunden, die er beim Erwachen aus dem Schlaf, zu dem er sich erhitzt auf die Erde gelegt hatte, in sich fühlte. Dazu quälte ihn sein schlechtes Gewissen, als er sich dem Haus näherte. Er wusste gar nicht, dass er ärgerlich war. Als aber das Gartentor seinen Versuchen, es zu öffnen, widerstand, trat er so heftig dagegen, dass die Fallklinke zerbrach. Er kam gerade ins Zimmer, als Mrs. Morel den Kräuteraufguss aus dem Kessel goss. Leicht torkelnd taumelte er gegen den Tisch. Die kochend heiße Flüssigkeit schwappte über. Mrs. Morel fuhr zurück.

„Lieber Gott”, rief sie, „wie kann man nur so betrunken nach Hause kommen!”

„Wie nach Hause kommen?” knurrte er; der Hut saß ihm im Gesicht.

Plötzlich packte sie die blinde Wut. „Bist du etwa nicht betrunken?” brach sie los.

Sie hatte den Kessel abgesetzt und rührte den Zucker in das Bier. Er ließ beide Hände schwer auf den Tisch fallen und stieß ihr das Gesicht entgegen.

„Bist du etwa nicht betrunken”, wiederholte er. „Auf so was kann nur so‘n gemeines Biest kommen wie du.”

Wieder stieß er ihr sein Gesicht entgegen.

„Zum Saufen ist immer Geld da, für alles andere natürlich nicht.”

„Keine zwei Schilling hab ich heute ausgegeben”, sagte er.

„Von nichts bist du doch nicht so voll”, erwiderte sie. „Und”, rief sie in wilder Wut, „wenn du dich von deinem geliebten Jerry hast freihalten lassen, na, der sollte doch lieber für seine Kinder sorgen, die haben‘s doch nötig.”

„Das ist gelogen! Gelogen ist das! Halt‘s Maul, Weib!”

Da brach eine wilde Auseinandersetzung los. Alles vergaßen die beiden, nur nicht den gegenseitigen Hass, nur nicht ihren Kampf. Sie war so wild und wütend wie er. So ging es weiter, bis er sie Lügnerin schimpfte.

„Nein”, schrie sie und fuhr auf, konnte kaum noch atmen. „Sag das nicht – du bist der gemeinste Lügner, den je die Sonne beschien.” Halb erstickt, keuchend stieß sie diese Worte hervor.

„Der Lügner bist du”, bellte er und schlug dabei mit der Faust auf den Tisch. „Du bist der Lügner, du bist das!”

Da straffte sie sich und ballte die Fäuste. „Du verdreckst das ganze Haus”, schrie sie.

„Dann mach, dass du rauskommst, es gehört mir. Raus!” brüllte er. „Ich verdiene das Geld und nicht du. Mir gehört das Haus und nicht dir. Mach, dass du rauskommst, raus!”

„Wie gern”, schrie sie auf; im Gefühl ihrer Ohnmacht schossen ihr die Tränen aus den Augen. „Wären die Kinder nicht, schon längst wäre ich nicht mehr hier. Wie oft habe ich es schon bedauert, dass ich nicht schon vor Jahren ging, als ich nur das eine hatte.” Ihre Tränen waren versiegt, wieder packte sie die Wut.

„Meinst du etwa, ich bliebe deinetwegen hier, bliebe deinetwegen nur eine Minute hier?”

„Geh doch!” schrie er außer sich. „Geh doch!”

„Nein!” Sie wandte ihm das Gesicht zu. „Nein”, schrie sie laut. „So einfach ist das denn doch nicht. Das könnte dir so passen. Ich habe die Kinder, für die ich sorgen muss. Mein Wort drauf”, lachte sie, „das wäre so das Richtige, wenn ich sie dir überließe.”

„Raus!” grölte er und hob die Faust. Er hatte Angst vor ihr.

„Von Herzen gern! Lieber Gott, lachen würde ich, lachen, wenn ich nur endlich von dir weg könnte”, erwiderte sie.

Da kam er auf sie zu; das rote Gesicht mit den blutunterlaufenen Augen streckte er vor, er packte sie bei den Armen. Sie bekam Angst, schrie, versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. Langsam kam er zu sich; keuchend drängte er sie roh zur äußeren Tür, warf sie hinaus, schob krachend den Riegel vor. Dann ging er wieder in die Küche, fiel in den Sessel und ließ den hochroten Kopf zwischen die Knie hängen. Vor Erschöpfung und Trunkenheit versank er langsam in Bewusstlosigkeit.

Der Mond stand hoch und herrlich in der Augustnacht. Mrs. Morel, deren Erregung noch nicht nachgelassen hatte, erschauderte, als ihr zum Bewusstsein kam, dass sie hier draußen in dem hellen, weißen Licht stand, das so kalt auf sie fiel und ihrer entflammten Seele wehtat. Einige Augenblicke stand sie reglos da, starrte hilflos auf die funkelnden, großen Rhabarberblätter neben der Tür. Dann atmete sie auf. Sie ging über den Gartenweg, zitterte an allen Gliedern, während das Kind in ihr sich bewegte und stieß. Eine Zeitlang hatte sie jede Herrschaft über das Bewusstsein verloren; ganz unbewusst ließ sie den letzten Auftritt an sich vorüberziehen, dann noch einmal, und jedes Mal brannten ihr gewisse Sätze, gewisse Augenblicke wie Feuermale in der Seele; und jedes Mal, wenn sie sich die vergangene Stunde vergegenwärtigte, brannte das Mal immer wieder an derselben Stelle, bis es eingebrannt und der Schmerz ausgebrannt war; schließlich kam sie wieder zu sich.

Eine halbe Stunde mochte sie in dieser dem Wahnsinn nahen Verfassung gewesen sein. Endlich begriff sie die Gegenwart der Nacht. Ängstlich sah sie sich um. Sie war jetzt im Seitengarten, wo sie den Weg neben den Johannisbeersträuchern an der langen Mauer entlang auf und ab ging. Der Garten war nur schmal, eine dichte Dornenhecke trennte ihn von dem Weg, der quer zwischen den Häuserblocks herführte.

Sie eilte aus dem Seitengarten in den Vorgarten, stand hier gleichsam in einem tiefen, tiefen Abgrund aus weißem Licht; ihr gegenüber stand hoch am Himmel der Mond, sein Licht strahlte von den Hügeln drüben, füllte fast blendend das Tal, in dem die Bottoms kauerten. Ihre Erregung löste sich nur langsam; immer noch ging ihr Atem schwer, immer noch weinte sie, immer wieder murmelte sie vor sich hin: ,Der Lump! Der Lump!‘ Sie fühlte, dass etwas um sie war. Mühsam nur rang sie sich dazu durch, zu erkennen, was ihr ins Bewusstsein drang. Leicht schwankten im Mondlicht die großen, weißen Lilien, fast greifbar füllte ihr Duft die Luft. In leichter Furcht atmete Mrs. Morel tief ein. Sie berührte die großen, blassen Kelchblätter der Blumen und erschauerte. Sie schienen im Mondlicht zu wachsen. Sie legte die Hand in einen weißen Kelch: Kaum war im Mondlicht das Gold an ihren Fingern sichtbar. Dann beugte sie sich, blickte in den Kelch mit dem gelben Blütenstaub, er sah schwärzlich aus. Sie sog tief den Duft der Blumen ein, er machte sie fast schwindelig.

Mrs. Morel lehnte sich gegen das Gartentor, sah in die Ferne, vergaß sich kurze Zeit. Sie wusste nicht, was sie dachte. Wohl war ein leichtes Schwächegefühl da und das Leben des Kindes in ihr, aber sie selbst verging wie Duft in die schimmernde, fahle Luft. Und nach einiger Zeit verging mit ihr auch das Kind in dem Schmelztiegel des Mondlichts, und mit den Hügeln, den Lilien und Häusern ruhte sie wie in einer Ohnmacht.

Als sie wieder zu sich kam, sehnte sie sich nach Schlaf. Müde blickte sie um sich; die Phloxstauden sahen aus wie mit Leinentüchern behangene Büsche; über ihnen flatterte eine Motte hin und her, dann durch den Garten. Während sie ihr mit dem Blick folgte, wurde sie munterer. Sie atmete den starken, strengen Duft des Phloxes ein und fühlte sich neu gestärkt. Sie ging über den Gartenweg, blieb bei dem weißen Rosenbusch stehen. Er duftete süß und einfach. Leicht fuhr sie mit der Hand über die weißen Rosen. Ihr frischer Duft und die kühlen, weichen Blätter ließen sie an Morgenfrühe und Sonnenschein denken. Rosen mochte sie gern. Aber sie war jetzt so müde, wollte schlafen. In dem geheimnisvollen Draußen fühlte sie sich so einsam.