Sokrates auf dem Rennrad - Guillaume Martin - E-Book

Sokrates auf dem Rennrad E-Book

Guillaume Martin

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Beschreibung

Guillaume Martin gehört zu den besten Radrennfahrern der Welt. Und er ist Philosoph. Eine Kombination, die viele Menschen verblüfft. Um mit dem Vorurteil aufzuräumen, dass Spitzensportler nichts im Kopf hätten (und auch nicht sonderlich viel Intelligenz benötigen), hat der französische Radprofi ein Buch geschrieben, das seine beiden großen Passionen vereint. In »Sokrates auf dem Rennrad« schickt Guillaume Martin die bedeutendsten Denker der Geschichte in das größte Radrennen der Welt: die Tour de France. Gekonnt und mit viel Humor verwebt er eigenes Erleben, das einen Blick hinter die Kulissen des realen Radsportzirkus gewährt, mit dem fiktiven Kampf von Aristoteles, Nietzsche und Gefährten um Windschatten, Reifenbreiten und Etappensiege. Da ist Sartre, der als Teamchef der Franzosen seine Fahrer ermutigt, sich nicht im Peloton zu verstecken. Da ist Marx, der sich um die ungerechte Verteilung der Prämien sorgt. Da ist Kant, der schlucken muss, als er erfährt, dass das Rennen nicht in seinem geliebten Königsberg stattfindet… Guillaume Martin ist mit seinem Erstling ein gleichermaßen kluges wie unterhaltsames Buch gelungen, das tiefgründige Gedanken und spannende Sporterzählung verknüpft und so ein großes Publikum anspricht: Wer sich vor allem für Sport und reflektierte Einblicke ins Profimetier interessiert, lernt nebenbei fast unmerklich die Grundzüge bedeutender Ideen und Theorien kennen. Philosophisch bewanderte Leser hingegen freuen sich über die wiedererkennbaren Züge der Gelehrten im Rennsattel. Und am Ende ist allen klar: Körperliche Höchstleistungen müssen keineswegs im Widerspruch zu intellektuellen Ambitionen stehen. Denn auch und gerade im (Radrenn-)Sport gilt der Leitsatz, den einst Henri Bergson formulierte, der französische Philosoph und Literaturnobelpreisträger: »Man muss wie ein denkender Mensch handeln und wie ein handelnder Mensch denken.« • »Ein Geniestreich.« (NZZ, Sebastian Bräuer) • »Leichtfüßig und erfrischend. Das Buch schlechthin, um mit Kant, Spinoza, Nietzsche, Platon und Pascal über die schönen Straßen Frankreichs zu radeln.« (L'Espadon) • »Eine großartige Erzählung.« (Libération) • »Eines der originellsten Radsportbücher, die es gibt, und noch dazu eines, das von einem aktiven Rennfahrer geschrieben wurde.« (The Inner Ring) • »Ein überaus unterhaltsames Buch mit dem nötigen Tempo und Humor.« (Het is koers)

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Seitenzahl: 250

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Guillaume Martin

SOKRATES AUF DEM RENNRAD

Eine Tour de France der Philosophen

Aus dem Französischen von Christoph Sanders

Die Originalausgabe dieses Buches erschien unter dem Titel

»Socrate à velo. Le Tour de France des philosophes. Nouvelle édition«

bei Bernard Grasset, Paris.

© 2020 Éditions Grasset & Fasquelle

Guillaume Martin:

Sokrates auf dem Rennrad – Eine Tour de France der Philosophen

Aus dem Französischen von Christoph Sanders

© der deutschsprachigen Übersetzung: Covadonga Verlag, 2021

Covadonga Verlag, Spindelstr. 58, D-33604 Bielefeld

ISBN (Print): 978-3-95726-053-6

ISBN (E-Book): 978-3-95726-057-4

Coverillustration: © André Sanchez / Porträtfoto des Autors: © JF PAGA

E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund, www.readbox.net

1. Auflage, 2021

Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Covadonga ist der Verlag für Radsportliteratur.

Besuchen Sie uns im Internet: www.covadonga.de

INHALT

I. Auf dem Weg zur Tour

II. Das Rennen

Nachwort

Danksagung

I

AUF DEM WEG ZUR TOUR

EINE UNERWARTETE NACHRICHT

Unsere Geschichte beginnt am 10. Dezember während einer Zusammenkunft der griechischen Radsport-Nationalmannschaft in Olympia, ungefähr zwei Monate vor Saisonbeginn. Die ersten Rennen sind noch fern; trotzdem haben alle Fahrer schon ein erhebliches Pensum hinter sich, haben unermüdlich Stunden im Sattel gesammelt und daran gearbeitet, eine starke Truppe zusammenzuschweißen, die in der Lage ist, sich mit der kollektiven Kraft der größten Mannschaften im Peloton zu messen. Denn diesmal erwartet die Hellenen ein wahrer Berg: Erstmals in ihrer Geschichte gehen sie im nächsten Sommer bei der Tour de France an den Start.

Nie hätten sich diese Athleten träumen lassen, eines Tages am größten Radrennen der Welt teilzunehmen. Üblicherweise finden sie sich in Rennen der zweiten Kategorie wieder, bestreiten in Asien oder Osteuropa Wettkämpfe, denen die Medien wenig Aufmerksamkeit schenken. Die Tour verfolgen sie nur aus der Ferne, in Zeitungen oder auf ihren Tablets. Sie ist ein ferner Stern, ein unerreichbares Reservat der großen Rennfahrer, der Champions.

Doch in diesem Jahr haben die Veranstalter der Tour ihre Auswahlkriterien geändert. Um dem Rennen mehr internationale Reichweite zu verleihen und sich von finanziellen Interessen unabhängig zu machen, wurde beschlossen, statt Markenrennställen wieder Nationalmannschaften starten zu lassen. Der griechische Verband ergriff die Gelegenheit beim Schopf und bewarb sich umgehend für eine Einladung zur Teilnahme.

Und zur Überraschung aller, insbesondere auch der Griechen selbst, wurde der Antrag angenommen.

Man muss sagen, das eingereichte Bewerbungsschreiben war schon eine kleine Meisterleistung. Man erinnerte daran, dass Griechenland die Wiege des modernen Sports sei. Vor allem wurde das Potenzial des Landes für die Entwicklung des Radsports unterstrichen: abwechslungsreiche Strecken, ideale Wetterbedingungen, großartige Landschaften… Man versprach eine ehrgeizige, hochmotivierte Nationalmannschaft.

Die Veranstalter beeindruckte vor allem der Stil, mit dem die Argumente der Bewerbung vorgebracht wurden. Nicht nur war der Satzbau makellos, die Argumente folgten einander in so vollendeter Logik, dass es nach Durchsicht der Unterlagen nur einen zwingenden Schluss geben konnte: die Einladung der griechischen Mannschaft.

Am erstaunlichsten aber wirkte die Beteuerung der Sportler, sie hätten das Dokument selbst zu Papier gebracht! Das bewies über ihre Motivation hinaus eine offenbar außergewöhnliche Intelligenz. Wie sonst hätten Athleten die Zeit und den gedanklichen Abstand finden können, ein derartiges Bewerbungsschreiben zu verfassen? Alles in allem sehr beeindruckend. Zudem verstand sich der größte Teil der Mannschaft nicht nur als Radsportler, sondern auch als Philosophen. Diese Griechen waren einfach Originale. Sie hatten es verdient, an Bekanntheit zu gewinnen.

Sobald die Einladung Griechenlands offiziell wurde und man von dieser Mannschaft mit den ungewöhnlichen Mitgliedern erfuhr, zögerten die Medien nicht, dem kleinen Team ganz besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Anrufe und Interviewanfragen zuhauf prasselten auf die Griechen ein. Jeder wollte seine Reportage. Um die Dinge zu vereinfachen und sich nicht zu verzetteln, beschloss man, anlässlich des Trainingslagers zu Saisonbeginn eine gemeinsame Pressekonferenz zu geben.

Und so fanden sich also Journalisten aller Länder und Medien Anfang Dezember in Olympia ein.

Das für 17 Uhr angesetzte Treffen beginnt gleich. Der Konferenzraum des Hotels »Domäne der Götter« ist für den Anlass hergerichtet worden: Ein Tisch und drei noch leere Stühle stehen auf einer kleinen Empore bereit, dem mit Journalisten gefüllten Saal zugewandt. Einige neugierige Touristen haben sich ebenfalls unter die Medienvertreter gemischt. An der Wand hängen zwei azurblaue Trikots in den griechischen Nationalfarben neben Plakaten mit der Streckenführung der nächsten Tour.

Zur vereinbarten Zeit betreten die drei Symbolfiguren des griechischen Radsports den Raum. An ihrer Spitze Sokrates mit seiner hohen Stirn und dem schelmischen Blick – beides Zeichen seiner Erfahrung. Als mehrfacher Sieger der Karpaten-Rundfahrt und der Tour du Péloponnèse ist Sokrates der unbestrittene Kapitän seiner Mannschaft. Er wird von seinem treuen Sekundanten begleitet, dem muskulösen Platon, einem ehemaligen Ringer, der zum Radsport gewechselt ist und für Sokrates eine wertvolle Hilfe darstellt, wenn es darum geht, in der Ebene »Wind zu fressen«. Als Letzter stellt Aristoteles sich vor, ein junger, ehrgeiziger Mann, der sich jetzt schon durch großes taktisches Gespür auszeichnet. Einen Namen machte er sich im vergangenen Jahr bei der Mazedonien-Rundfahrt, wo er die Gelegenheit nutzte, dass die beiden Topfavoriten sich belauerten, um eine prestigeträchtige Etappe zu gewinnen.

Sokrates ist von der Aussicht, sich einen ganzen Nachmittag von fragenden Journalisten löchern zu lassen, nicht gerade begeistert. Er hat heute schon fünf Stunden auf dem Rad gesessen, für morgen sind sogar sechs Stunden im Sattel vorgesehen. Lieber wäre er jetzt bei der Massage, als sich dem Frage- und Antwortspiel hinzugeben. Eine Wahl hat er aber nicht: Wenn man an der Tour teilnimmt, ist Medienpräsenz Teil des Jobs. Außerdem ist dieser winterliche Pressetermin nichts im Vergleich zu dem, was die griechischen Fahrer im Sommer erwarten wird.

Warum zum Teufel sind hier nur so viele Journalisten?

DER RADRENNFAHRER UND SEINE RÜCKENNUMMER

»Der Mensch ist jeden Tag zu erfinden.«

SARTRE

Ohne es offen einzugestehen, halten die Leute Sportler meistens für leicht dümmliche Personen. Doch wenn Athleten ihr Land oder ihren Verein im Glanz des Sieges erstrahlen lassen oder wenn sie Menschen ins Schwärmen bringen, ist man bereit, ihnen ihre geistige Schwerfälligkeit zu verzeihen. Man witzelt über einen Fußballer, dem es nur mit Mühe gelingt, in einem Interview drei zusammenhängende Worte zu sagen; gleichzeitig aber verlangt man von einem Spieler nie, ein glänzender Redner zu sein, solange er geschickt mit seinen Füßen umgeht. Was zählt schon der Kopf, wenn man es in den Beinen hat? Letztlich hat es ganz den Anschein, als werde die Frage der Intelligenz eines Sportlers bewusst in Schweigen gehüllt.

Mich schockiert es nicht, dass man so tut, als sei es egal, was im Kopf eines Athleten vorgeht. Ich finde es sogar richtig und angemessen, denn was auch immer man behaupten mag – Sport ist in erster Linie Sache des Körpers.

Es schockiert mich dagegen, wenn man sich über einen intelligenten Sportler wundert. Dass man es unpassend findet, wenn ein Radrennfahrer im Radio »France Culture« hört. Oder dass man einen Sportler allein aufgrund eines Studiums bemerkenswert findet… Das alles empört mich, weil dem die Idee zugrunde liegt, ein Sportler könne gar nicht in der Lage sein, zu denken. Es zählt einfach nicht zu seinen Attributen. Können muss er hingegen: laufen, springen, werfen, in die Pedale treten… Als ob der Mensch des Stadions letztlich eine lebende Maschine wäre, die in ihrem Fach ein Experte ist, aber allen übrigen Bereichen der menschlichen Existenz gegenüber gleichgültig. So vergisst man im Grunde, dass der Sportler auch Mensch ist und sein Leben sich nicht auf eine Rückennummer beschränkt.

Wenn Menschen einen Radsportler, der zugleich Philosoph ist, bestaunen, bewundern und witzig finden, dann deshalb, weil ein Radsportler für sie nur in Radshorts vorstellbar ist. Genau wie man in einer Kneipe den Kellner nur in seiner Funktion und nicht als Person wahrnimmt, ist es fast undenkbar, dass ein Radrennfahrer etwas anderes als ein Körper auf dem Rad sein könnte. Schlimmer noch: Allein die Tatsache, dass ein Radsportler einer anderen Passion als seinem Sport nachgeht, wird ihm fast als Zeichen von Amateurhaftigkeit ausgelegt. Als schließe Hochleistungssport jede andere Beschäftigung aus.

Und doch geht das Leben irgendwie weiter, wenn man vom Rad absteigt. Wie jeder Berufszweig besteht der Radsport aus einer großen Bandbreite von Typen, und wie alle Menschen haben auch Radrennfahrer ihre Eigenheiten. So kenne ich unter ihnen begeisterte Kinogänger und wahre Experten für moderne Kunst… Andere arbeiten jeden Tag nach dem Training auf dem Bauernhof, nur aus Lust und Leidenschaft. Die einen lieben laute Autos, die anderen die Ruhe des Landlebens. Angler, Hipster, Rocker: Es braucht alle Typen, um ein Peloton zu bilden!

Sicher wirken auch soziale Komponenten hinein, und vermutlich gibt es in der großen Radsportfamilie tatsächlich mehr Bauernsöhne als Vorstandskinder. Ich will nicht verschweigen, dass es auch einige farblose Persönlichkeiten gibt. Und natürlich, wie überall, auch einige Vollidioten: Dummheit ist schließlich, wie jeder weiß, die bestverteilte Sache der Welt.

Selbst mit meiner geringen Erfahrung kann ich behaupten, dass es im Radsport eine unglaubliche Zahl von Persönlichkeiten und Lebensläufen gibt, die es verdienten, entdeckt zu werden. Das Problem ist, dass sich normalerweise niemand die Mühe macht, sich auf die Suche zu begeben. Lieber werden die ewig gleichen Geschichten ständig wiederholt…

Während meiner ersten Tour-de-France-Teilnahme im Jahr 2017 zeigten die Medien reges Interesse für meine eigene Geschichte. Wenige Tage vor dem Start in Düsseldorf veröffentlichte Pierre Carey, ein Journalist von Libération, den ich seit Amateurzeiten kenne und dem ich freundschaftlich verbunden bin, ein Porträt von mir: Guillaume Martin, Radprofi, besitzt einen Master in Philosophie und schreibt in seiner Freizeit Theaterstücke.

Der Artikel »Martin, ein Nietzsche mit Rennlenker« war sehr gut. Ich habe dem Porträt nichts hinzuzufügen. Ehrlich gesagt war ich vom philosophischen Wissen des Autors sehr beeindruckt und auch von der Treffsicherheit seiner Beschreibung.

Nun aber geschah Folgendes: Der Artikel wurde an einige Magazine weitergereicht, man interviewte mich für eine Morgensendung im Radio, andere Journalisten wollten mich sprechen, »um etwas über mich zu machen«, und so weiter… Kurzum, um die Figur des »intellektuellen Radsportlers« entstand ein kleiner medialer Auflauf.

Nur wenige Tage zuvor hatte ich von einer interessanten Studie gehört, die den Anteil originärer Inhalte in den Medien untersuchte. Das Ergebnis war ernüchternd: 64 Prozent der Online-Artikel erwiesen sich als reine Copy-and-Paste-Produkte. Praktisch alle Medien würden Inhalte anderer übernehmen, erklärten die Forscher. Sobald eine Information in einer renommierten Zeitung oder auf einer anerkannten Website auftaucht, wird sie überall weiterverbreitet. Ich war mittendrin.

PRESSEKONFERENZ IN OLYMPIA

Kaum haben sich die drei griechischen Fahrer gesetzt, beginnt die Pressekonferenz. Nachdem ein Journalist eher aus Höflichkeit nach dem Verlauf der Vorbereitungen gefragt hat, geht der Nächste gleich in medias res:

»Was bedeutet Ihnen die Vorstellung, an Ihrer ersten Tour de France teilzunehmen, dem Rennen, von dem alle Radsportler träumen?«

»Angesichts meines Alters und meiner Erfolge kommt das ziemlich unerwartet«, antwortet Sokrates nüchtern.

»Angesichts meines Alters ist das ziemlich vielversprechend«, versichert Aristoteles.

Platon dagegen, wie immer mit dem Sinn fürs rechte Maß, antwortet, dass die Tour für ihn gerade zur rechten Zeit komme, und ergänzt:

»Für viele Menschen verkörpert die Tour de France den gesamten Radsport. Das allgemeine Publikum weiß nicht, dass es viele andere Rennen im Kalender gibt! Sehen Sie, in meiner Freizeit leite ich ein Nachwuchszentrum für Radsportler, eine Art Akademie, die junge Talente aus Griechenland fördert und auch aus anderen Ländern, die keine große Beziehung zum Radsport haben. Oft fragen mich die Jugendlichen, ob ich schon an der Tour teilgenommen habe. Ich antworte ihnen: Ja, ich habe schon mehrfach an der Tour du Péloponnèse teilgenommen. Sie lachen dann nur und finden, das sei ja wohl nicht die Tour. Die Tour findet in Frankreich statt… Ich bin also sehr glücklich darüber, dem Nachwuchs bald mitteilen zu können, dass ich an der Tour teilgenommen habe. Der echten.«

»Ich erinnere mich noch an die Worte von Anaxagoras, einem meiner ersten Teamchefs«, ergänzt Sokrates, während die Journalisten noch Platons Anekdote niederschreiben. »Damit ich mich nach einem Sieg nicht auf meinen Lorbeeren ausruhte, pflegte Anaxagoras mir stets zu sagen: ›Ruhig Blut, Sokrates. Solange du nicht an der Tour de France teilgenommen hast, bist du kein echter Radrennfahrer.‹ Ende Juli werde ich nun sagen können, dass ich ein echter Radrennfahrer bin!«

Alle Journalisten haben ein Lächeln auf den Lippen. Diese Griechen gefallen ihnen. Sie unterscheiden sich vom üblichen Milieu. Das wird sicherlich Stoff für eine Menge schöner Artikel bieten.

Nach zwei, drei rasch abgehandelten Fragen, die die Ziele der griechischen Mannschaft bei ihrer ersten Tour-Teilnahme betreffen, geht ein junger, schneidiger Reporter endlich das Thema an, das hier alle interessiert:

»Wie ich gehört habe, sind Sie Philosophen. Natürlich weiß ich, dass wir in Griechenland sind, aber Sie müssen doch zugeben, dass Radsportler-Philosophen oder Philosophen-Radsportler doch ziemlich originell sind. Wie sollen wir Sie eigentlich nennen? ›Cyclosophen‹?«

Der Journalist wirkt sehr angetan von seiner kleinen Wortschöpfung. Damit kann er sich vor den Kollegen profilieren.

»Es stimmt, dass wir uns für Philosophie interessieren, wir denken darüber nach, wie die Dinge sich ordnen«, antwortet Sokrates kühl. »Aber in erster Linie sind wir Radsportler. Nennen Sie uns einfach Platon, Aristoteles, Sokrates, die Radrennfahrer, dagegen haben wir nichts.«

»Aber das ist doch zu bescheiden, Sie tun ja gerade so, als sei es nichts Besonderes, das Leben eines Spitzensportlers mit der Praxis der Philosophie zu verbinden. Das ist doch eine Leistung!«, protestiert der Reporter, den die Antwort kalt erwischt hat.

»Was das betrifft«, mischt sich ein weiterer Journalist ein, »wie finden Sie eigentlich Zeit zum Philosophieren? Denken Sie manchmal auf dem Rad?«

Sokrates wirkt leicht verärgert über die Wendung, die das Interview zu nehmen scheint. Ihm wird bewusst, dass er mit anderen Augen gesehen wird, seit sein Name auf der Startliste der Tour de France steht – mit einem Blick, in dem Faszination und Unverständnis sich mischen.

Ohne weiter Rücksicht auf die Umstehenden zu nehmen, die seine Antwort erwarten, beginnt Sokrates nachzudenken. Philosophie ist keine Beschäftigung, »für die man Zeit finden muss«, sagt er sich. Denken kann man nicht anordnen. Die Philosophie offenbart sich. Sie ist eine Lebensart, es geht eher um eine Form des Denkens als um den Inhalt des Gedachten. Und warum sollte eine Form des Denkens mit dem Leben eines Radprofis unvereinbar sein?

Als er Sokrates in seine Überlegungen vertieft sieht, ergreift Aristoteles das Wort:

»Selbstverständlich denken wir manchmal auch auf dem Rad! Das Denken braucht weder Zeit noch Ort. Denken durchströmt alles. Ich möchte sogar sagen: Das Rad hilft beim Denken. Flaubert sagte, ›man kann nur im Sitzen denken‹, wohingegen Nietzsche behauptet, ›nur Gedanken, die im Gehen kommen, sind etwas wert‹. So gesehen versöhnt das Rad Nietzsche mit Flaubert, denn hier werden beide Bedingungen erfüllt: Wenn wir Rad fahren, sind wir Sitzende, die sich bewegen! Wenn Sie also Philosoph werden wollen, fahren Sie Fahrrad!«

Die Journalisten sind von den zitierten Referenzen ein wenig verwirrt, merken sich aber immerhin die letzte Punchline, während Platon zur Gegenrede ansetzt:

»Ich teile deine Begeisterung nicht ganz, mein lieber Aristoteles. Zwar stimmt es, dass wir auf dem Rad ab und zu unseren Geist schweifen lassen und uns manche philosophische Eingebung zufliegt. Doch im Allgemeinen ist es schwer, sich im Training ausreichend zu konzentrieren, um eine lückenlose Kette logischer Argumente aufzubauen. Körperliche Anstrengung vernebelt zwangsläufig unsere intellektuelle Aktivität.«

»Mein lieber Platon, ich weiß wohl, dass für dich unser Körper ein Käfig, ja, nur ein ›Sarg‹ ist, der unseren Geist einsperrt«, echauffiert sich Aristoteles. »Ich weiß wohl, dass du Sinneseindrücke nur als einen schwachen Widerschein des Erfahrbaren siehst. Ich weiß auch, dass du dem Sport in deinem Leben nur einen bestimmten Platz zubilligst und den Radsport als Amateur betreibst. Es steht dir frei. Aber sei dir bewusst, dass es, solltest du nicht zur Tour wollen, eine ganze Reihe junger Sportler gibt, die nur davon träumen, dabei zu sein. Es ist noch nicht einmal lange her, da war ich noch im Sport-Leistungskurs meines Gymnasiums. Ich kann dir versichern, wir haben auf dem Rad philosophiert. Wir gefielen uns sogar darin, uns ›peripatetische Philosophen‹ zu nennen, Philosophen, die spazieren fahren. Unsere Gedanken bereicherten sich durch sportliche Praxis. Wenn wir an einem Konzept arbeiteten und nicht weiterkamen, drehten wir eine Runde mit dem Rad und bei unserer Rückkehr wurde alles klar und deutlich. Umgekehrt half uns das Studium, ein wenig Abstand zu unseren sportlichen Resultaten zu gewinnen. Es gibt noch viele Freunde am Gymnasium, die meine Philosophie teilen, eine Philosophie der Tat. Wenn du also glaubst, deine Teilnahme an der Tour könne deine brillante akademische Karriere behindern, kann ich Sokrates vielleicht ein paar Empfehlungen geben. Sie wären begeistert, ihn im kommenden Juli aus dem Wind halten zu dürfen…«

»Quatsch nicht daher, Aristoteles«, erwidert Platon, nun doch ein wenig um seinen Platz im Team besorgt. »Selbstverständlich komme ich als Sokrates’ Edelhelfer zur Tour. Ich liebe meinen Sport. Und ich liebe ihn genau deshalb, weil er mir erlaubt, besser nachdenken zu können, da die physische Erschöpfung des Trainings die niederen Triebe eines manchmal so hinderlichen Körpers zum Schweigen bringt. Mein Intellekt kann sich dann frei entfalten. Das ist doch verständlich, oder?«

Die unversehens in die Zuschauerrolle gedrängten Journalisten bestätigen höflich. Wirklich verstanden haben sie nichts, wenn sie nicht sogar völlig den Faden verloren haben, aber das ist nicht so wichtig, denn: Sie haben ihr Thema. Diese Fähigkeit zur Reflexion über ihren Sport, diese (manchmal eruptive) Kunst des Dialogs, diese meisterhaft von den Griechen beherrschte Weise, sich in kunstvoll gedrechselten Sätzen auszudrücken – das alles wird ganz sicher für einen ordentlichen Buzz sorgen. Eine gute Inszenierung ist alles.

Drei Journalisten stellen noch ein paar Fragen, die sie im Kopf hatten. Sie fragen nach Büchern, die die griechischen Rennfahrer mitbringen werden, um ihre Zeit während der leeren Stunden der Tour totzuschlagen, sie fragen nach dem Nutzen der Philosophie für Rennstrategien… Platon und Aristoteles antworten sich gegenseitig ignorierend. Sokrates bleibt stumm, als wäre er nicht mehr da. Übrigens scheinen ihn gerade alle vergessen zu haben.

Aristoteles und Platon sind das gewohnt. Sie wissen, dass Sokrates solche Absenzen haben kann, mitten in einer Erklärung unvermittelt aufhört und sich völlig ausklinkt… Er sagt dann, »sein Dämon« rufe ihn. Die Journalisten sind dagegen viel zu sehr mit dem Schlagabtausch von Aristoteles und Platon beschäftigt, um den dritten griechischen Fahrer zu vermissen.

Doch gerade als die Pressekonferenz an ihr Ende kommt und alle beginnen, ihre Sachen einzupacken, hüstelt Sokrates leise und stellt mit verschmitztem Ausdruck eine Frage in die Runde: »Glauben Sie, wir können bei dieser Tour mit den besten Fahrern der Welt konkurrieren?«

Die zunächst überraschten Journalisten begnügen sich mit einem vielsagenden Lächeln. Das Problem liegt woanders, es ist ja schließlich schon erstaunlich genug, dass diese griechische Mannschaft überhaupt aus dem Nichts am größten Radrennen der Welt teilnimmt! Auch die beiden anderen hellenischen Fahrer scheinen von Sokrates’ Einwurf ein wenig erstaunt. Doch dieser wiederholt, die fragenden Blicke seiner Mannschaftskameraden ignorierend, ruhig lächelnd seine Frage:

»Liebe Freunde, glauben Sie, wir sind in der Lage, bei der Tour mit den weltbesten Fahrern zu konkurrieren?«

Als Philosoph beantwortet Sokrates ungern Fragen. Das ist er nicht gewohnt. Viel lieber stellt er welche.

Und als Radsportler lässt Sokrates sich ungern auf seine Doppelexistenz als Radsportler-Philosoph festlegen. Er will nach seinen sportlichen Leistungen beurteilt werden.

Mit Perspektive auf die Tour hat er beschlossen, seine Trainingsumfänge zu verdoppeln, damit er im Juli mit den stärksten Fahrern des Pelotons, den Kapitänen der großen Mannschaften, auf Augenhöhe ist…

WARUM ICH DIESES BUCH SCHREIBE

»Spiele, damit du ernst sein kannst.«

ARISTOTELES

Ich beklage mich nicht. Diese kleine Woge der Aufmerksamkeit während meiner ersten Tour, der kleine mediale Buzz um meine Person, hat mir genutzt. Mein Bekanntheitsgrad ist gestiegen. Vermutlich habe ich diese Figur des Radsportler-Philosophen auch etwas überzeichnet. Ich fand durchaus Gefallen daran, a fortiori, wenn ich dabei einige der bekannten »Edelfedern« traf, deren Ruhm aus den vielen Geschichten bestand, die sie erlebt hatten.

Das ganze Spiel hat mich amüsiert, aber auch schnell gelangweilt. Mir wurde klar, dass manche Journalisten diesen ersten Artikel aus Libération einfach nur wiederholen wollten (oder sollten). Immer wieder bekam ich die ungefähr gleichen Fragen gestellt, dieselben, über die ich mich zuvor schon mit Pierre Carey unterhalten hatte: »Woran denkst du auf dem Rad?«; »Wie hilft dir die Philosophie in deinem Beruf als Radsportler?«; »Welche Bücher hast du zur Tour mitgebracht?«; »Hast du nach den Etappen Zeit zu lesen?«; und so weiter…

Ich verstehe, wenn man vom Alltag eines Radprofis und seinen Erlebnissen fasziniert ist. Das Problem war nur, dass die meisten Antworten schon im ursprünglichen Artikel geschrieben standen, auf den sich dann die folgenden Journalisten im Interview sogar ausdrücklich bezogen. Dachten sie, ich würde ihnen nun andere Antworten geben? Von den drei Büchern, die ich mitgebracht hatte, könnte ich das eine oder andere bevorzugen, je nach meiner Laune oder dem Journalisten, der mich gerade besuchte. Aber alles in allem machte ich, manchmal wortwörtlich, dieselben Aussagen.

Oft beschreibt man den Radsportler auf seinem Rad als Maschine, aber in Wirklichkeit trifft diese Beschreibung eher auf den Radsportler zu, der sich vor Kameras oder Mikrofonen wiederfindet. Angesichts des Fließbandjournalismus ist es so gut wie unmöglich, nicht in gewisse Automatismen zu verfallen: Diese Frage erzeugt jene Antwort, ganz nach dem persönlichen Algorithmus, den man im Zuge all der Interviews allmählich entwickelt hat. Früher kam es vor, dass ich mich über Schauspieler lustig machte, die bei PR-Tourneen zur Vorstellung ihres neuen Films endlos die immer gleichen Anekdoten abspulten. Heute verstehe ich sie besser. Der Medienzirkus erzwingt auf Dauer das Oberflächliche, das Künstliche, das Unpersönliche.

Wie schon erwähnt, habe ich von all der Medienaufmerksamkeit während der Tour zugleich profitiert. Insbesondere konnte ich über den L’Équipe-Redakteur Philippe Brunel, dessen Bücher ebenfalls dort erscheinen, den Kontakt zum Verlag Grasset herstellen. Gleich am Tag nach der Ankunft auf den Champs-Élysées hatte ich in Paris einen Termin im historischen Sitz des Verlages, bei dem man mir anbot, ein Buch zu schreiben. Inhalt und Form wären mir absolut freigestellt. Ich habe recht schnell eingewilligt. Denn genau darin sah ich eine Möglichkeit, der mechanistischen, algorithmischen Logik der Interviews zu entkommen, um mich ein wenig deutlicher und differenzierter auszudrücken.

Wozu dieses Buch? Vor allem, um einmal die Art und Weise infrage zu stellen, in der das Publikum Sportler wahrnimmt, Radsportler vor allem. Eine Wahrnehmung, die mir oft überzogen und einseitig erscheint.

Auf dem Prüfstand steht die gesamte Inszenierung, mit der sich Sportereignisse in unserer Zeit umgeben und die ihnen manchmal den Anschein eines großen Jahrmarkts verleihen, mit uns Athleten, uns Radrennfahrern, als Hauptattraktion. Was natürlich auch seine guten Seiten hat – im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, ist nun mal gut fürs Ego –, aber auch seine schlechten: Die enorme Erregungswelle, die man um die Fahrer während der Tour de France erzeugt, der »großen Messe im Juli«, verleiht einem als Sportler manchmal den Anschein, lediglich Handelsware zu sein, die über eine Handvoll Merkmale bewertet wird.

Jiménez gelingt ein langer Ausreißversuch auf einer Bergetappe? Das ist ein Fahrer mit Courage, mit Panache. Ocaña stürzt auf einer Abfahrt unglücklich in einer Serpentine? Ein schlechter Abfahrer. Fignon trägt eine Brille? Der Intellektuelle des Pelotons. Poulidor wird häufig von Anquetil besiegt? Damit ist er »der ewige Zweite«. Bei der Tour de France, wie im Sport ganz allgemein, liebt man Kategorien, Etiketten und Verallgemeinerungen.

In gewisser Weise ist es normal, wenn Sportler derart karikiert werden. So geschieht es exponierten, öffentlichen Figuren nun mal. Völlig verdreht wird die Sache aber dann, wenn Sportler, manchmal unbewusst, beginnen, ihr Verhalten dem Etikett anzupassen, das man ihnen verpasst hat – eine teuflische Variante der sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Um seinen Ruf der Angriffslust zu behaupten, wird Jiménez immer wieder attackieren müssen. Fignon wird immer den Intellektuellen geben und Ocaña sich mangels Selbstvertrauen in jeder Abfahrt unbeholfen anstellen. Und »Poupou« wird es tatsächlich nie gelingen, einmal das Gelbe Trikot zu tragen. Die öffentliche Meinung sieht sich in ihren vereinfachenden, tendenziösen Zuschreibungen bestätigt.

Letztlich finden alle sich mit einer Maske auf dem Gesicht wieder, die die Wirklichkeit verdeckt, so dass man nie erfahren wird, wo sich hinter der Vortäuschung das Authentische verbirgt.

Um es klarzustellen: Ich akzeptiere das Spiel – den Radrennsport an sich, den Medienrummel drum herum, das Publikum als Teil der großen Party… – unter der Bedingung, dass allen die Regeln bekannt sind. Ich lasse mich gern wie ein Pfingstochse bestaunen, jedoch im Wissen um die Bedingungen. Verallgemeinerungen und Klischees mögen ein Körnchen Wahrheit enthalten: Deshalb lehne ich sie nicht komplett ab. Aber sie geben nur einen Bruchteil der Wahrheit wieder, und das sollte man zugeben.

Wenn es über jemanden heißt: »Er ist dies oder jenes«, sollte man eingestehen, dass es sich bei solchen Bezeichnungen nur um Floskeln handelt. Dieses »sein«, welches wir dem Betreffenden zuschreiben, ist nur eine sprachliche Vereinfachung. Denn anders als Dinge »ist« der Mensch nicht, er hat »zu sein«. Seine Identität ist immer unscharf, instabil, wechselhaft. Von einem »Sein« kann man ehrlicherweise erst nach dem Tod sprechen. Niemand wird als Radsportler oder Philosoph geboren, oder als Radsportler-Philosoph; man muss es werden.

Unter dieser Vorbedingung kann man gut mit wechselnden Identitäten spielen. Es wird möglich, den Radsportler-Philosophen zu spielen. Es wird möglich, mit den Etikettierungen, Vergegenständlichungen und Klischees zu spielen. Es wird schon etwas dabei herauskommen: eine Wahrheit, eine Fragestellung, ein erhellender Moment, ein Spaß…

Manche Leser werden auf diesen ersten Seiten Gedanken von Sartre oder Simone de Beauvoir wiedererkannt haben. Es wird im ganzen Buch immer wieder um philosophische Fragestellungen gehen. Aber das soll jene Leser, die sich in dieser manchmal obskuren Disziplin nicht auskennen, nicht abschrecken. Wer Sartre für einen Radrennfahrer hält, sollte sich nicht ausgeschlossen fühlen. Trotz des strengen Habitus, mit dem sich die Philosophie manchmal umgibt, ist sie auch eine Form des Spiels.

Genau wie dieses Buch.

KEIN SIEGER GLAUBT AN DEN ZUFALL

Donnerstag, 26. Januar, sieben Uhr dreißig. Die Tour de France beginnt in mehr als sechs Monaten. Der Radrennfahrer wacht auf und ist bereit, das letzte intensive Intervalltraining zu absolvieren, damit er am kommenden Sonntag beim ersten Saisonrennen, dem Großen Preis der zwei Kirchtürme, voll im Saft steht.

Beim Aufstehen kribbelt es ein wenig in den Beinen. Normal, denn gestern hat er hinter dem Motorroller alles für die Tempohärte gegeben. Aber er sollte nicht allzu sehr in sich hineinhorchen: Zunächst muss er trotz Müdigkeit diese letzte Einheit absolvieren und danach kann er es bis zum Saisonauftaktrennen ruhig angehen lassen, in der Hoffnung, dass es mit der Superkompensation wie vorgesehen klappt. Für die Saison ist ein guter Start wichtig. Eine Frage der Dynamik.

Nachdem er sich wegen der Schwindelanfälle vorsichtig aus dem Bett erhoben hat (Radsportler neigen zu geringem Blutdruck), wiegt der Athlet sich (61,2 Kilo, drahtig wie nie), dann untersucht er seine Beine (die Vene tritt schön hervor, ein gutes Zeichen); wie immer öffnet er die Fensterläden, um die Wetteraussichten zu prüfen. Shit! Wind, Regen: ein fürchterlicher Sturm. Panisch öffnet er die Wetter-App auf dem Smartphone: Unwetter den ganzen Tag. Das war nicht die gestrige Vorhersage. Sehr zuverlässig…

Fahren oder nicht? Das ist hier die Frage. Sicher wäre es klüger, nicht zu fahren. Bei diesen Windböen ist ein Sturz schnell passiert. Und man sollte auch nicht die Gefahr provozieren, gleich zu Saisonbeginn krank zu werden. Wer derart abgemagert ist, fängt bei Nässe schnell an zu frieren. Eine Erkältung folgt dann auf dem Fuße…

Wie dem auch sei – im Trainingsplan war für dieses Datum ein »intensives Intervalltraining« eingetragen, und unser Radsportler ist stolz darauf, sich immer an seinen Trainingsplan zu halten. Er sagt sich, dass sein Wille seine größte Qualität ist, und dass er, während seine Gegner noch schlafen oder im Warmen auf dem Sofa liegen, trotzdem draußen in Sturm und Kälte trainiert. Das Leiden von heute ist der Erfolg von morgen, sagt er sich!

Ein heftiger Windstoß lässt die Mauern erbeben. Vielleicht ist es am Ende doch klüger, drinnen zu trainieren… Jedenfalls zunächst, vielleicht klart es ja später auf.

Noch vor dem Frühstück improvisiert unser Radsportler auf nüchternen Magen eine kleine lockere Aufwärmrunde von vierzig Minuten auf dem Rollentrainer.

Das Prinzip des Rollentrainers ist einfach. Das Rad ist in eine Maschine eingespannt, bei der eine Walze gegen das Hinterrad drückt, so dass eine Ausfahrt auf Asphalt simuliert wird. Vorteil: Man kann im Warmen bleiben und im Keller trainieren. Nachteil: Mit Aussicht auf ein Garagentor Rad zu fahren, kann schnell langweilig werden… Sehr langweilig sogar.

Um der Frustration entgegenzuwirken, gibt es mehrere Möglichkeiten:

a) Gleichzeitig einen Film sehen, oder besser noch eine Serie, bei der eine Folge genauso lang ist wie die Trainingseinheit, in diesem Fall vierzig Minuten. Problem: Um alles gut sehen zu können, verliert man schon annähernd vierzig Minuten mit der Ausrichtung des Bildschirms… Und wenn der Bildschirm endlich perfekt justiert ist, merkt man, dass das Geräusch der Rolle eh alles übertönt.

Radrennfahrer bevorzugen darum die zweite Lösung:

b) Musik über Ohrstöpsel hören, die den Lärm der Rolle abhalten und mit dem guten alten MP3-Player verbunden sind, den man vorher mit seiner Lieblingsplaylist für das Rollentraining gefüttert hat.

Leider hat unser Radsportler keinen eigenen MP3-Player und schnappt sich darum kurzerhand den seiner kleinen Schwester. Er richtet alles ein und während er so dahinkurbelt, wirft er einen Blick auf die gespeicherten Titel. Welche Enttäuschung, als er bemerkt, dass der Musikgeschmack seiner kleinen Schwester sich nicht mit seinem eigenen deckt. Kate Perry, Matt Pokora, Justin Bieber, Kendji… Das ist doch nicht zu fassen. Der Tag hat schon schlecht genug begonnen. Der Radsportler zieht es vor, sich zu langweilen und still zu leiden.

Und überhaupt, dieser Radsportler ist kein Radsportler wie die anderen – er ist ein Velosoph! Und darum bevorzugt er die letzte Option:

c) Den Radiosender France Culture einschalten! Munter und vergnügt geht er die Sender auf seinem MP3-Player durch: NRJ, nein; Fun Radio, nein; Nostalgie, warum nicht… aber nein. Ah, hier ist France Culture. Es funktioniert! Die Acht-Uhr-Nachrichten gehen gerade zu Ende. Zeit für den politischen Kommentar von Frédéric Says. Heute geht es um den neuen Energieversorgungsplan der Regierung. Folgendes ehrgeizige Projekt wird besprochen: die Selbstversorgung der Bürger mit Strom fördern, zum Beispiel, indem pro Haushalt ein Rollentrainer pro neuem Bildschirm installiert wird. So werden gleich zwei Ziele erreicht, eine neue, kostenlose Energiequelle und eine Maßnahme gegen das Übergewicht. Unser Radsportler fühlt sich angesprochen und denkt an all die Energieverschwendung, während er in die Pedale tritt…

Dann sind die Gäste der »Matins de France Culture« an der Reihe. Der Verkehrsminister wird zu einem Gesetzesentwurf befragt, laut dem auf Strecken unter fünfzehn Kilometern nur emissionsfreie Fahrzeuge genutzt werden dürfen, damit »sanfte« Beförderungsmittel Priorität bekommen – insbesondere das Fahrrad. Der »kleinen Königin«, wie man das Rad in Frankreich gern nennt, wird an diesem Morgen eindeutig die Ehre erwiesen.