SoM - Substraction of mine - Tabitha Lutra - E-Book

SoM - Substraction of mine E-Book

Tabitha Lutra

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Beschreibung

Nach dem Eintreten einer globalen Katastrophe vor einigen Monaten ist jegliche Ordnung zusammen mit der Zivilisation von der Erde getilgt worden. Dennoch haben einige Menschen überlegt. Auch Jos zählt zu diesen Überlebenden und bestreitet sein Leben in der Entzeit zusammen mit einer kleinen Gruppe von Freunden. Der bloße Alltag ist ein Kampf, und die Gefahren lauern nicht nur außerhalb des eigenen Körpers. Die Apokalypse hat sämtliche modernen Gesetze und Normen in Asche verwandelt und bringt innerhalb der Gruppe neben Kameradschaft und Zusammenhalt rasch ebenfalls die dunklen Seiten an die Oberfläche. Jos’ Ringen um inner Werte wird zunehmend zu einem Drahtseilakt. Wie wichtig ist Freundschaft in dieser Welt, wenn eine leise Stimme in deinem Kopf dich immer wieder fragt: “Wie weit wirst du gehen?”

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Ähnliche


Table of Contents

Title Page

Kapitel 1: Der Todesengel

Kapitel 2: Der Neuzugang

Kapitel 3: Das letzte Paradies

Kapitel 4: Das Feuer

Kapitel 5: Der Abschied

Kapitel 6: Der Rausch

Kapitel 7: Der Überfall

Kapitel 8: Die Wunden

Kapitel 9: Die Reise

Kapitel 10: Der Silberstreif

Kapitel 11: Das Fieber

Kapitel 12: Der Verrat

Kapitel 13: Die Metamorphose

Tabitha Lutra

SoM

Substraction of Mine

Leseempfehlung: Ab 18 Jahren, enthält explizite Darstellungen von Gewalt, Verstümmelung, Kannibalismus und weitere derartige Themen

1.Auflage

©2023 Tabitha Lutra, Traumschwingen Verlag

ISBN: 978-3-946127-83-3

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form, ohne schriftliche Genehmigung der Autorin und Illustratorin reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Text und Fotos: Tabitha Lutra

Cover: André Ferreira Caçoilo

Lektorat: Claudia und Sascha Schröder

Layout und Satz: Sascha Schröder

Alle im Buch handelnden Figuren basieren auf realen Personen.

Die betreffenden Personen haben sowohl zu diesem Sachverhalt als auch zu den Fotos ihr schriftliches Einverständnis gegeben.

Katharsis. Rache reinigt.

Aristoteles schrieb, dass die menschliche Seele von der Angst und dem Mitgefühl gereinigt wird, welche die Tragödie hervorruft.

Es ist ein erschreckender Gedanke, dass wir den innersten Wunsch der Seele durch die Tragödie der Rache erfüllen, nicht wahr?

Jo Nesbø

Kapitel 1: Der Todesengel

Abermals wurde ich losgeschickt, ausgesandt in das »wüste Land«. Anders konnte man unsere Welt jetzt nicht mehr bezeichnen. Alles lag in Trümmern da, war verweht, verbrannt oder verlassen. Es würde Jahrzehnte dauern, eine neue Zivilisation aufzubauen. Falls das überhaupt jemals einer Menschenseele gelingen könnte. Insgeheim zweifelte ich daran. Aber darüber galt es sich nun nicht den Kopf zu zerbrechen. Meine Mission war simpel. Sie lautete, nach einer Person zu suchen, die ich bisher nicht kannte - weder ihren Namen noch ihr Aussehen. Die verschwommene Silhouette einer menschlichen Gestalt wartete irgendwo da draußen auf meine Wenigkeit. Und niemand zog mit mir, denn eine Kreatur der Dunkelheit wandelt allein. Mit einem schmerzlichen Lächeln starrte ich auf meine Hände herunter, die nach der täglichen Pflege sauber und feucht schimmerten. Sie waren ein Sinnbild dessen, was ich als »trügerische Unschuld« bezeichnen würde. Auch mir sah man die schwarzen Schlieren nicht an, welche meine Seele Tag für Tag dunkler färbten. Doch in Wahrheit war ich nichts anderes als ein Todesengel, ein Heiliger der Hölle.

Ein Blick zum Himmel verriet mir, dass es bereits Mittag sein musste. Die fahle Sonnenscheibe drang kaum durch die allgegenwärtige Wolkenwand, welche sich seit jenem letzten Tag unerbittlich dort oben festgesetzt hatte. Das trübe Licht wirkte deprimierend und barg nur wenig Wärme in sich. Andererseits lag das vielleicht auch zu einem guten Teil an meiner Wahrnehmung. Vielleicht konnte ich schlichtweg keine Wärme mehr empfinden nach all dem, was uns Menschen widerfahren war.

Noch nicht einmal ein halbes Jahr war verstrichen, seitdem sich der jüngste Tag mit all seinem Schrecken über die Welt ausgebreitet hatte. Trotzdem wirkte mein früheres Leben geradezu Äonen weit vom Hier und Heute entfernt. Alles hatte sich verändert und in bloße Geschichten verwandelt. Sagen und Mythen, für die es nicht ein Quäntchen Nostalgie brauchte, um in einem überirdisch goldenen Licht zu erstrahlen. Im Vergleich zu meinem gegenwärtigen Fegefeuer leuchtete selbst der fadeste Alltag in einem seligen Glanz. Wäre mir das nur damals bewusst gewesen ... Aber mein Leben war mir geblieben und darüber sollte ich mich vermutlich glücklich schätzen. Genau so würde sie es formulieren und mir dabei ihren typischen, strengen Blick zuwerfen. Widerwillig musste ich lächeln. Sie konnte einen beinahe dazu zwingen, sich glücklich zu fühlen.

Meine langsamen, lustlosen Schritte führten mich wie von selbst über die Straßen des verlassenen Militärgeländes in Richtung des Nadelwaldes. Sie hallten an den teilweise eingestürzten, bereits stark verwitterten Mauern einer nahen Lagerhalle wider und verstärkten den Eindruck der allgemeinen Einsamkeit um mich herum. Das hier war jetzt unser zu Hause: ein altes Gelände, das bereits zwei zerbrochenen Nationen gehört hatte … nun genau genommen waren es mittlerweile sogar drei. Damals hatten meine Freunde und ich noch Witze darüber gerissen, dass dieser Landstrich am Ende der Welt und vielleicht auch am Ende der Zeit liegen müsse, so leer wie er war. Jetzt allerdings befand sich die Bevölkerungsdichte in dieser gottverlassenen Ecke auf einem weitaus höheren Niveau als im Rest unseres Landes. Zumindest vermuteten wir dies. Gottverlassen, konnte das überhaupt sein? Ich griff mir an den Hals und befühlte das mattschwarze Dreieck aus Metall, auf welchem der Erzengel Michael prangte. Es handelte sich um ein Geburtstagsgeschenk aus einem anderen Leben. Konnte Gott die Erde wirklich verlassen haben? Oder mich? Nun ja … bei dem, was ich in jüngster Vergangenheit so alles angestellt hatte, gab es zumindest mehrere gute Gründe dafür, meine sündhafte Seele zu verlassen. Aber wer wusste das schon so genau. Die Kirche als Institution und das Gro ihre Anhänger existierten längst nicht mehr.

Mit einem Seufzen schob ich die Gedanken beiseite und konzentrierte mich auf meine aktuelle Aufgabe. Es galt abermals, Neuzugänge für unser Hauptquartier aufzustöbern. Und das war in der letzten Zeit zusehends schwieriger geworden. Einige Wochen nach der entscheidenden Wende hatten noch viele Gruppen von Überlebenden die Gegend durchquert, auf der Suche nach Schutz, einer neuen Heimat oder dem Gefühl von Normalität. Dann wieder waren Trosse von Milizen oder wild gewordene Horden aufgetaucht, die eine Schneise der Zerstörung durch das ohnehin verwaiste Land gebrannt hatten. Die Stimmung von Anarchie hatte nicht wenigen Überlebenden den Verstand geraubt, denn jegliche gesellschaftliche Vorstellung von Moral war flächendeckend zerschlagen worden. Tabus existierten einfach nicht mehr. Des einen Freud war des anderen Leid. Ich lächelte gequält und schob mein frisch geschärftes Sax in der ledernen Scheide zurecht. Waffen hatten elektronische Tools abgelöst, der Kampf ums Überleben Arbeit und Hobbys. Doch ein bisschen hatten wir aus der früheren Zeit retten und in dieses Zeitalter mitnehmen können. Zum Beispiel thronte ein Funkgerät auf einem Tisch in unserem Unterschlupf, und hin und wieder stolperte mein Freund Kyhu zwischen den Frequenzen auf weitere verlorene Seelen. Wir versuchten, einander Mut zuzusprechen und eine Art von Menschlichkeit am Leben zu erhalten, unsere Art von Menschlichkeit.

Ich hielt an, lauschte. Einige Vögel sangen unverzagt melodiöse Reviergesänge in den grauen Bäumen links von mir. Die lebensfrohen, tirilierenden Laute rührten mich. Auch diese fröhlichen Gesellen hielten sich trotzig am Leben fest. Ihnen schien die Veränderung auf der Welt nicht einmal so viel auszumachen, wenn man es genau bedachte. Zumindest jetzt noch nicht. »Die machen einfach mit ihrem Tagesgeschäft weiter. Dabei sollten wir doch eigentlich die Krone der Schöpfung sein, oder etwa nicht?«, murmelte ich vor mich hin und schüttelte den Kopf. War die Erde nicht für uns Menschen geschaffen worden, mit allem Leben darauf - an Land, im Wasser und in der Luft? Zumindest hatte das in diesem einen Buch gestanden, dem alten Buch, das mir einmal so wichtig gewesen war.

Wie es wohl die Pflanzen auf Dauer mit dem Mangel an Licht aushielten? Konnte es zu einem allumfassenden Absterben der Flora kommen, wie damals, als das Zeitalter der Dinosaurier endete? Dann hätte auch unsere letzte Stunde geschlagen. Aber immer noch hofften wir darauf, dass die heftigen, unregelmäßigen Regenstürme das Land nicht nur mit Asche tränken, sondern auch den Himmel von seinem bleiernen Grau reinwaschen würden. Das war bisher nicht geschehen. Eine Glocke hing unerbittlich über uns und schloss mich und meine Freunde unter sich ein. Es war schlichtweg deprimierend. »Für ein Stückchen Blau würde ich echt vieles eintauschen. Ich würde…«, meine Gedanken stockten auf der Suche nach einem passenden Einsatz. Sicherlich hätte ich mein restliches Geld für einen blauen Himmel gegeben, auch wenn es hier keine große Bedeutung mehr besaß. Oder … meinen Nachtisch. Ich grinste unfroh. Das klang nach den Verhandlungsversuchen eines kleinen Kindes. Vielleicht sollten wir einfach eine neue Religion gründen und einen kulturellen Neuanfang wagen oder ein bisschen retro werden beim Anbeten, etwas mit Naturgöttern. Dann könnte ich ihnen meine Opfergaben brav und gewissenhaft darbringen. Wobei … ich erschauderte innerlich bei der Vorstellung, welche Opfergaben die anderen möglicherweise beschließen könnten. Nein, das war einfach zu heikel.

Die Gesichter jener Menschen, welche nun meine Familie darstellten, tauchten vor meinem inneren Auge auf und das letzte blieb. Es war das Gesicht einer jungen Frau mit haselnussbraunen Augen und einem sanften, nachdenklichen Lächeln. Ihr fehlte der Himmel auch, noch mehr allerdings die Sterne. Diese fernen weißen Lichter, denen unser Schicksal herzlich egal war. Was kümmerte es die Gasriesen im kalten Weltraum, wie die letzten Menschen ihr Leben bestritten? Für sie stellten wir weniger als Staubkörnchen dar. »Was für eine gute Fragestellung und keiner da, der damit arbeiten kann!«, stieß ich aus und fühlte mich leerer als zuvor. Das kam davon, wenn man sich nicht mehr durch digitale Medien von solchen Fragen ablenken konnte. Ich seufzte und fuhr mir durch meine dunkelbraunen Haare, welche an den Schläfen bereits einen silbernen Farbton ansetzten. Die Endzeit ließ einen altern. Oder man starb.

Die Asphaltstraße lag nun nicht mehr weit entfernt in nordwestlicher Richtung. Ich beschleunigte meinen Gang sofort, als der Wald zurückwich und einer farblosen Lichtung Platz machte. Automatisch nahm mein Körper eine geduckte Haltung an und die Schritte fielen gedämpfter und vorsichtiger aus. Es hatte sich nie als sonderlich klug erwiesen, außerhalb einer Deckung langsam oder auffällig zu sein - oder im schlimmsten Falle beides davon. Dies hatte ich rasch lernen müssen. Andererseits lag es wiederum in meiner Absicht, dass man auf mich aufmerksam wurde. Mir blieb, so gesehen, gar keine andere Wahl, wollte ich erfolgreich sein. Gut, wollen war das falsche Wort, müssen traf es besser. Ich musste erfolgreich sein, für sie. Die Nervosität niederringend, drückte ich meinen Rücken durch und ließ die Sohlen meiner Stiefel erneut vernehmlich über den trockenen, mit fleckigem Gras bewachsenen Boden schlurfen. Erfüllt von einer unechten Fröhlichkeit stimmte meine Kehle einige Momente später sogar ein leises Liedchen an. Nach den ersten Tönen erkannte ich die Melodie, welche mein Unterbewusstsein aus der Erinnerungsmusikbox für mich ausgesucht hatte. Widersinnigerweise handelte es sich um den Evergreen »Sweet Home Alabama«. Mein Mund wurde trocken und ich schluckte schwer, nur um anschließend hölzern weiter zu pfeifen. Wie schnell selbst ein so ungastlicher Ort zu einem neuen Zuhause werden konnte. Vor allem dann, wenn einem gar keine andere Wahl blieb.

Kurze Zeit später lag die abgefahrene Schicht rötlich verfärbten Asphalts unter meinen Füßen. Von hier aus erstreckte sich die Welt rechterhand wie linkerhand feindlich und farblos unter dem metallenen Grau des Himmels. Die Straße selbst beschrieb bald einige Kurven und verlor sich zu beiden Seiten im rostfarbenen Geäst unselig ineinander verkeilter, karg benadelter Lärchenstämme. Ich blickte nach oben und schätzte die Tageszeit erneut ab. Der Stand der Sonne hatte sich nur unwesentlich verändert. Wahrscheinlich war eine gute Stunde seit meinem Aufbruch vergangen. »Zeit, etwas zu trinken.«

Meine Hand fuhr an meine Hüfte herab und griff nach der bauchigen Rationsflasche. Diese wies einen steingrünen Farbton auf, war leicht abgeschrammt und stammte aus ehemaligen Militärbeständen – wie so vieles meiner derzeitigen Montur. Und dabei hatte ich die Armee nie sonderlich leiden können: zu viel Aggression, zu wenig Diplomatie. Gegen ihre Ausrüstung ließ sich jedoch nichts einwenden. Ich legte den Kopf in den Nacken und trank langsam. Das Wasser schmeckte ein wenig abgestanden, rann mir aber trotzdem angenehm die Kehle herab, kühlte und reinigte sie. Meine Lebensgeister regten sich ein wenig. Erfrischt wischte ich mir durchs Gesicht und dutzende Bartstoppeln kratzten dabei über meine gebräunte Haut. Eine Rasur würde bald wieder nötig sein. Ich stutzte und sah auf meinen blassen Schatten herunter, der meine nächsten Bewegungen erwartete. Es war beinahe amüsant. Sich zu rasieren, stellte in der Endzeit ein nicht zu unterschätzendes Vergnügen dar, wie auch insgesamt die Körperpflege. Vielleicht lag es daran, dass der Tag so viel mehr Stunden bereithielt, um sich mit derlei Aufgaben zu beschäftigen. Keine Termine drängten, niemand erwartete einen zu einer gewissen Uhrzeit auf der Arbeit. Im Allgemeinen nutzen wir kaum noch Uhren und es blieb bei ungefähren Tageszeiten wie vormittags, mittags oder nachts. Hinzu kam, dass solche Routinen mir ein Gefühl von Vertrautheit und Normalität einflößten, Rituale aus meinem alten Leben, von denen ich mich ausnahmsweise nicht hatte trennen müssen und es daher auch jetzt nicht einsah. Dieses Maß an spießiger Bürgerlichkeit gedachte ich mir, zu erhalten.

Mein Blick wanderte die leere Straße entlang. In welche Richtung sollte ich dieses Mal gehen? Rechts lag mehrere Tagesreisen entfernt ein ehemaliges Dorf. Angeblich stand es leer, aber vielleicht hatten sich dort wieder Menschen angesiedelt? Ein ausgezehrter Wanderer hatte vor gut zweieinhalb Monaten von einem Camp gesprochen, welches er zu erreichen gedachte. Dieser Mann war linkerhand weitergezogen. Er hatte sich nicht davon überzeugen lassen, mit mir zu kommen. Vielleicht eine gute Entscheidung, vielleicht auch nicht. Noch während ich unschlüssig an meinem Gürtel herum nestelte und die Flasche verstaute, trug der auffrischende Wind das Geräusch von fremden Schritten an mein Ohr. Ich zuckte zusammen, atmete ruhig ein, hielt den Atem an und schloss die Augen einen Moment lang, um zu lauschen. Ja, mein Gehör hatte sich nicht geirrt. Und wer auch immer sich mir da näherte, es handelte sich um eine einzelne Person. Was für ein Glück! Erleichtert stieß ich die Luft aus.

Das Sax hing schwer an meiner Hüfte, so als würde es mich an seine Existenz erinnern. Stumm schüttelte ich den Kopf und strich beschwichtigend über dessen kalten Knauf. »Noch bist du nicht an der Reihe, alter Freund«, zügelte ich die Bereitschaft der Waffe. Wehrhaft oder nicht, nach einem Kampf mit randalierenden Gangs hätte mir in keinem Fall der Sinn gestanden. Zu Beginn der Endzeit wäre ich beinahe einer Gruppe von Wilden in die Hände gefallen, damals, als mich die erste Etappe meines Weges bis zur Wohnung von Kyhu geführt hatte. Dort erhoffte ich mir Hilfe. Unglücklicherweise war meinem Auto etwa fünfzehn Kilometer vor dem eigentlichen Ziel der Sprit ausgegangen. Sämtliche Tankstellen auf der Strecke bis dorthin waren geplündert oder in Brand gesetzt worden, sodass ein leerer Tank für mich eine unumstößliche Tatsache und damit ein unüberwindbares Problem darstellte. Nach einigen deftigen Flüchen, welche mein Bewusstsein seit dem jüngsten Tag erstaunlich rasch verinnerlicht hatte, belud ich mich mit einem Teil meines Besitzes und setzte den Rest des Weges zu Fuß fort. Doch dieses Hindernis sollte sich kurz darauf als glückliche Fügung herausstellen. Wäre ich weiterhin jene Straße entlanggefahren, so hätte mich sicherlich die Gruppe aus bizarr gekleideten Personen mit ihren Baseballschlägern, Stöcken und Vorschlaghämmern aufgemischt. So jedoch konnte ich aus dem Unterholz eines nahen Hains heraus relativ sicher beobachten, wie die Halunken grölend mein Auto ausschlachteten, um es anschließend unter grässlichem Triumphgeheule anzuzünden. So viel zu meinem fahrbaren Untersatz. Mit weichen Beinen und möglichst unauffällig war ich damals weiter geschlichen und hatte die Wohnung meines Freundes mitten in der Nacht erreicht. Die mächtige Woge der Erleichterung, welche mich durchflutet hatte, als er an der verbarrikadierten Haustür in seiner typisch stumpfen Art nach der Parole fragte, werde ich wohl niemals vergessen.

»Man ey, dein Ernst? WOLOLOLO! Verdammt noch mal!«, lautete meine wenig stilvolle Antwort, welche sich auf ein Game bezog, das er und ich einst zockten. Dabei hatte ich gelacht und Freudentränen waren meine staubverkrusteten Wangen heruntergelaufen. Endlich war ich wieder unter Freunden.

Zurück in der Gegenwart riss ich mich zusammen und spitzte achtsam die Ohren. Ein Einzelgänger lag genau in meinem Schema. Und was konnten mir seine Schritte verraten? Sie wirkten ungleichmäßig und schleppend. Bestimmt war der Fremdling verletzt. Sollte ich ihm vielleicht einfach entgegengehen und ihn ansprechen? Ich überlegte. Bestimmt würde es seltsam anmuten, hier abwartend in der Einöde zu stehen und einfach auszuharren. Möglicherweise sogar verdächtig. Die Schultern nach hinten ziehend und das stoppelige Kinn in die Höhe reckend, schlenderte ich den Geräuschen entgegen. Ein Kontrollgriff zur Flasche verriet mir, dass noch genug Wasser für einen Willkommenstrunk übrig war. Das traf sich gut. So etwas flößte den Neulingen immer Vertrauen ein. Meine Mundwinkel bemühten sich um ein herzliches und offenes Schmunzeln, auch wenn ich deutlich spürte, wie mein Puls sich beschleunigte. Lampenfieber. Nun galt es, meine Aufgabe zu erfüllen. Schon konnte ich in der Ferne eine gebeugte Gestalt ausmachen, die sich schwer auf einen klobigen Ast stützte. Es war einfach ideal.

Trotz der zerrissenen und mit zahlreichen Flecken verkrusteten Kleidung, dem langen fettigen Haar und einem vor Schmutz starrenden Gesicht erkannte ich rasch, dass es sich bei diesem Wanderer um eine junge Frau handelte. Schätzungsweise lag ihr 20ster Geburtstag noch nicht allzu weit zurück. Alt genug, um sich im Hier und Jetzt durchzuschlagen und dennoch gut 10 Jahre jünger als ich selbst und meine Gefährten. Einige Herzschläge lang spielte ich mit dem Gedanken, mich einfach davon zu machen. Es war durchaus möglich, daheim eine Lüge zu erzählen und mir lediglich einige spitze Kommentare aufgrund meines Misserfolgs anhören zu müssen. Ich biss mir auf die Unterlippe. Doch … was barg das für Konsequenzen? Vielleicht sollte ich … Mein Magen verkrampfte sich, als die Fremde mir eine Entscheidung abnahm. Obschon ich nicht direkt in der Mitte des Weges entlang gegangen war, hatte sie mich erblickt und winkte jetzt heftig mit ihrem provisorischen Krückstock. In einer fast komisch anmutenden Hektik humpelte das mitgenommene Geschöpf anschließend auf mich zu. Eine nicht minder dreckige Umhängetasche schlug ihr während jeden Schritts gegen die Hüfte. Der Anblick hatte etwas Albernes und Erbarmungswürdiges. Peinlich berührt blieb ich stehen und wartete ich einfach ab.

»Hey, bitte … bitte«, keuchte das Wesen. Die Stimme glich dem Krächzen einer Krähe, vielleicht war sie schon lange nicht mehr benutzt worden. »Bitte, geh nicht weg!«, rief das junge Ding und hustete.

Ich legte den Kopf schief und schüttelte ihn gegen meinen Willen erheitert. Was sollte das? Als würde ich mich so einfach in Luft auflösen oder gleich weglaufen. Andererseits, wie sollte ich wissen, was diese Frau bereits erlebt haben mochte? Meine Hände beschwichtigend erhoben, trat ich nun doch auf die Fremde zu. »Keine Sorge, das habe ich gar nicht vor. Hallo erstmal!«

Mein Gesicht lächelte jetzt, das spürte ich ganz deutlich. War mir diese Rolle schon derart in Fleisch und Blut übergegangen? Oder handelte es sich um jene Höflichkeit, welche ich früher tagtäglich an den Tag gelegt hatte, ganz der freundliche junge Mann, der ich einst gewesen war? Meine Arme streckten sich vor, stützten den Neuankömmling und mit der Linken umfasste ich den knorrigen Wanderstab an einer bereits abgewetzten, rindenlosen Stelle. Die umsichtige Geste schien die junge Frau zu rühren. Halb schluchzend, halb lachend hob sie ihren Kopf und blickte mich mit einer erstaunlichen Intensität an. War das Hoffnung? Ich wandte den Blick ab und konzentrierte mich auf ihren schmutzigen Scheitel. Tatsächlich war die Dame sogar noch etwas kleiner als ich, was mein Ego mit einiger Genugtuung zur Kenntnis nahm.

»Hallo«, antwortete sie und kam erst einmal zu Atem.

Ich wartete geduldig ab und bot ihr in einer einladenden Geste meine Trinkflasche an. Mit leicht zitternden Fingern griff die Fremde danach, schraubte ungelenk den Verschluss auf und schluckte gierig den Rest meiner Wasserration herunter. Reizend, aber durchaus verständlich. Ich erhaschte einen kurzen Blick auf ihre schmalen Handgelenke. Wie grazil diese wirkten. Die Finger der Fremden waren ebenfalls unter ihrem Schmutz sehr fein. Früher mochte sie vielleicht sogar diese langen und falschen Fingernägel getragen haben, denn die junge Frau vermittelte mir trotz ihres derangierten Zustandes den Eindruck eines Beachgirls. Unter ihrem Schmutz musste das erschöpfte Ding immer noch sehr hübsch sein. Ich spürte, wie sich mir die Nackenhaare aufstellten. Vielleicht sogar etwas zu hübsch für uns. Die Fremde reichte mir die Flasche zurück und ich zog eine Augenbraue hoch, verschloss sie sorgsam und steckte das leere Gefäß zurück in seine Halterung. Zum Glück hatte ich bereits zuvor meinen Durst gestillt. »Gern geschehen«, soufflierte ich meinem Gegenüber trocken.

Sich erst jetzt ihrer wenig höflichen Geste bewusst werdend, zuckte der Neuankömmling ein wenig zusammen, riss die von einem dichten Wimpernkranz umgebenen Augen auf und schaute mich um Verzeihung heischend an. »Oh, sorry. Ich hatte einfach einen solchen Durst«, druckste sie beschämt vor sich hin.

Diesmal war mein Lachen echt. »Schon gut, das verstehe ich«, lautete meine generöse Erwiderung und ich ließ sie endlich los. »Aber stellen wir uns doch erst einmal vor. Ich bin der Jos. Und mit wem habe ich die Ehre?«

Die junge Frau grinste, auch wenn ihre spröden Lippen sich dabei bestimmt nicht angenehm anfühlten. »Danke Jos. Ich heiße Sabrina, aber alle nennen mich Sabse.« Ihr Blick wurde wässrig und sie starrte ins Leere. »Zumindest … haben sie das früher immer getan«, ergänzte sie mit leiser Stimme.

Ich nickte stumm. Früher. Diese Art von Geschichten kannten wir alle. Wir, die überlebt hatten.Mich widerstrebend an meine Mission gemahnend, überbrückte ich die unangenehme Stille und begann mit einem leichten Smalltalk, ganz so, als hätten wir uns an einem Samstag in einer gut gefüllten Bar getroffen und nicht am lebensfeindlichen Ende der Welt. Sabse, besser Sabrina, diese Distanz wollte ich mir bewahren, zeigte sich trotz des erlittenen Elends erstaunlich offen. Sie sei schon mehrere Wochen unterwegs gewesen, ohne eine Menschenseele zu sehen.

»Als ich dich eben sah, so einen netten und süßen Typen, habe ich für einen Moment geglaubt, ich wäre auf einem Trip«, verriet die junge Frau mir mit einem leisen Kichern, welches damals wahrscheinlich so einigen Jungen den Kopf verdreht haben mochte.

Trotz des Stichs, welcher ihre Worte mir versetzt hatten, versuchte ich ein schiefes Grinsen. Nett und süß, solche Beschreibungen waren mir ebenso vertraut wie unliebsam. »Du hast Glück, Sab-Sabrina. Ich wohne zusammen mit einer Freundin und mehreren Freunden in einer alten Militärhalle. Wir haben Feuer, einen guten Haufen Vorräte und sogar einige Gesellschaftsspiele…« Rasch berichtete ich daher von meinem neuen zu Hause und den Personen, welche mittlerweile mit mir zusammen den anspruchsvoll gewordenen Alltag bestritten. Sichtlich fasziniert lauschte Sabrina meinen Worten. Entweder das oder ihre innere Höflichkeit zwang sie dazu. Schließlich hatte die Fremde mein ganzes Wasser getrunken. Mir sollte es gleich sein.

Als ich Sabrina schließlich dazu einlud, mich zu begleiten, willigte sie nach einigen phrasenhaften Floskeln und Ausflüchten erstaunlich rasch ein. Mir fiel der braunrote Fleck an ihrem linken Hosenbein auf, der die Hose von der Mitte des Oberschenkels aus bis fast zu ihrem Saum färbte. Der Stoff war zudem angerissen und schien feucht zu sein. Die junge Frau musste eine starke Verletzung haben, welche für ihr Humpeln verantwortlich war. Warum erwähnte sie diese nicht? Und bei welcher Gelegenheit hatte Sabrina sie sich zugezogen? Es sah mir sehr nach einem Schnitt aus, doch vorerst ging ich nicht darauf ein. »Soll ich dir vielleicht deine Tasche abnehmen? Sie scheint nicht gerade leicht zu sein«, erbot ich mich stattdessen.

»Vergiss es! Solche Spielchen spiele ich nicht mit. Sonst wäre ich jetzt nicht hier, Süßer!« Mit einer erstaunlichen Vehemenz lehnte Sabrina das Angebot ab und drückte die freie Hand schützend auf den Deckel des schon lange nicht mehr modischen Accessoires. Beruhigend trat ich einen Schritt zurück und ließ die Hände sinken. Bestimmt hatte das Verhalten der Fremden einen Grund, genauso wie meine Gastfreundschaft einen besaß.

Ich wandte mein Gesicht ab, um den bitteren Ausdruck zu verbergen, der in diesem Augenblick zweifelsohne darauf lag. Nein, es ging nicht um die reine Gastlichkeit. Aber wie sollte die Fremde wissen, was für ein Los sie in unserem Hauptquartier erwartete? Man würde sich um sie kümmern, so oder so. Sabrina schien von meinen düsteren Gedanken nichts zu bemerken. Nachdem ich ihr die Richtung gewiesen hatte, marschierte die junge Frau trotz ihrer Verletzung erstaunlich beschwingt neben mir her und stellte mir eine Frage nach der anderen über meine Erfahrungen und Erlebnisse mit der Endzeit.

»Und deine Freunde, wie heißen die?«, wollte sie wissen.

»Kyhu, Saint und Raco«, erwiderte ich wie aus der Pistole geschossen. Ja, mein Freundeskreis hatte sich enorm verkleinert.

Sabrina neben mir hielt inne und blinzelte.

»Heißen die wirklich so? Man, müssen die Eltern sie gehasst haben oder stammen deine Freunde nicht von hier?«

Ich lachte. »Nein, es sind Spitznamen. Meine Freundin liebt Spitznamen und wir haben alle einen von ihr erhalten.«

»Deine Freundin, ja?«, hakte die junge Frau neben mir nach und schaffte es sogar, mir während des Gehens leicht in die Seite zu stoßen.

Ich spürte, wie mein Gesicht von einer leichten Röte überzogen wurde, und wiegelte rasch ab. »Nein, es ist eine Freundin, Bea, und sie wird die gefallen. Bea ist mit Kyhu verheiratet und wir kannten uns schon während des Studiums.«

»Ihr habt studiert?«, vergewisserte Sabrina sich. »Da war ich auch bei… bevor. Naja, du weißt schon. Und was seid ihr von Beruf?«

Sie fragte nicht, was wir arbeiten würden und im Endeffekt hatten wir jetzt, nach der Apokalypse, auch keinen Beruf mehr, den wir hätten ausüben können. Ich seufzte.

»Ich war in meinem früheren Leben«, begann ich betont dramatisch, »ein Lehrer!«

Sabrina erwiderte darauf nichts. Vielleicht war ihre Schulzeit nicht sonderlich erbaulich verlaufen, womöglich fehlte ihr auch einfach die Kraft. Gemeinsam wanderten wir auf die alte Militärhalle und unsere Basis zu, der Neuzugang und ich. Meine Aufgabe war erfolgreich abgeschlossen. Im mittlerweile zügig schwindenden Tageslicht überquerten wir die karge Lichtung und schlugen den Weg zur Halle ein.

»Soso, ein Lehrer also. Aber du musst in Ordnung gewesen sein, denke ich. Du hast so liebe und sanfte braune Augen, Schätzchen«, bemerkte die junge Frau nach einiger Zeit mit einem gewinnenden Lächeln im schmutzigen Gesicht. Sie wollte sich anscheinend mit ihrem Retter anfreunden. Ich erwiderte das Lächeln und nickte stumm. So etwas hatte man mir schon häufiger gesagt.

 

42 Tage vor der Apokalypse

26 Augenpaare blickten mich mit dem matten Glanz desinteressierter Gemüter an und ich riss mich innerlich zusammen. Die Noten standen fest, es ging in raschen Schritten auf die Sommerferien zu und natürlich hatte keiner der Jugendlichen mehr Lust auf Schule. Aber wir hatten nun einmal die letzte Stunde am heutigen Tag zusammen und alle Bitten und Forderungen nach Draußenunterricht, Film gucken oder allgemeinen Ausfall hatte ich bereits erfolgreich abgeschmettert. Außerdem lagen die Kopien sauber geordnet vor mir auf dem Tisch. Es wäre schade um das schöne Papier.

»Was ist Moral?«, fragte ich herausfordernd in die Runde und lehnte mich auf dem Lehrerstuhl zurück.

»Es ist auf jeden Fall total unmoralisch von Ihnen, jetzt hier noch mit uns Unterricht zu machen, finde ich!«, ertönte eine Stimme aus den hinteren Reihen. Ein beifälliges Gemurmel erklang.

»Ich lasse euch Bildung zuteil werden, damit sich eure Chancen im Leben verbessern. Ist das nicht höchst moralisch?«, lautete mein Konter und die Stimmen stöhnten genervt.

»Ohne Moral ist man, wenn man ehrenlos ist«, versuchte es ein weiterer Schüler, allerdings, ohne sich zu melden. Ich ließ es der Klasse dieses Mal durchgehen und wertete das nicht Einhalten der Gesprächsregeln als offene Diskussionsrunde.

Ehrenlos. Dieser Begriff war gerade hoch im Kurs an der Schule und wirklich niemand wollte ehrenlos sein.

Ich ließ der Klasse Zeit, um sich gegenseitig darüber auszutauschen, und unterband, so gut es eben in einer 8. Klasse ging, die Beleidigungen und andere unpassende Bemerkungen über die Ehre von Klassenkameraden. Die Gruppe wurde lebendig, immerhin das.

»Moral ist also das Gegenteil davon, ehrenlos zu sein«, fasste ich die Wortmeldungen zusammen und erntete Zustimmung. Ein kleines blondes Mädchen mit Brille in der ersten Reihe meldete sich. Ich erlaubte ihm, zu sprechen.

»Meine Oma hat immer gesagt: Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem and’ren zu’«, sagte es mit piepsiger Stimme.

Einige Mitschüler pfiffen, aber ich räusperte mich und sorgte erneut für Ruhe. Immer diese Randkommentare von den billigen Plätzen.

»Da hat deine Oma ein moralisches Prinzip schon treffend zusammengefasst. Wir gehen damit in Richtung von Immanuel Kant«, lobte ich die Kleine, erhob mich und schrieb das Wort Deontologie an die Tafel. Der Kreidestaub kitzelte mir dabei in der Nase und ich sah, dass die grüne Fläche nicht ordentlich gewischt worden war. Wann sollten noch einmal die Smartboards geliefert werden?

Schwungvoll drehte ich mich um. »Ich habe euch kurze, wirklich kurze Informationstexte zu einigen wichtigen Denkern im Bereich der Moral zusammengestellt, Leute. Eure Aufgabe ist es, erst einmal alles zu lesen und wichtige Punkte zu unterstreichen.«

Die Klasse reagierte wenig begeistert, sah aber, dass die Texte von Kant, Aristoteles, Habermas und einigen Weiteren wirklich übersichtlich gehalten waren. Beinahe alle machten sich an die Arbeit. Einige Minuten lang war es still und ich hing meinen eigenen Gedanken nach. Ein Blick aus dem Fenster zeigte mir den strahlend blauen Himmel. Vielleicht wäre ein Besuch im Schwimmbad genau das richtige - trotz der bestimmt ebenfalls anwesenden Schüler und Schülerinnen. Man machte einige Späße mit, gab niemandem Pommes aus und hatte irgendwann seine Ruhe. Oder eine Fahrradtour. Mir fehlte die Natur im Alltag… die Stimmen der Klasse rissen mich aus meinen Tagträumen.

»Wir sind fertig mit den Texten«, posaunte ein kleiner, besonders vorwitziger Junge heraus, der aber tatsächlich einiges konnte und fix im Lesen war.

Ich lächelte das typische Lehrerlächeln, welches für harte Gehirnarbeit stand.

»Jetzt«, sagte ich fröhlich, »sollt ihr zu den Denkern Stellung nehmen. Mit welcher deontologischen Richtung passt eure Sichtweise am besten überein? Ich erwarte als Hausaufgabe einen kurzen Text dazu, mindestens aber eine halbe Seite, die mir zeigt, auf wessen Seite ihr euch schlagt.« Die Zuhörerschaft stöhnte. Ich würde das Schwimmbad vielleicht eine halbe Stunde länger für mich allein haben - falls die Leutchen ihre Hausaufgaben erledigten. Ja, ein Kontrollbesuch im Schwimmbad wäre angemessen.

»Und wenn wir mit diesen Typen nicht einer Meinung sind?«, wollte der kleine Kerl von vorhin mit einem Anflug von Trotz wissen.

»Dann wird es umso interessanter!«, erwiderte ich. »Dann suchst du dir bitte einen eigenen Deontologen aus und erklärst, was dir an dessen Theorie so gefällt. Das kann zur Not auch jemand auf einem Raumschiff sein. Nur auf der halben Seite Text bestehe ich.«

»Aber wenn wir das alles nicht kennen?«, fragte ein anderes Mädchen zaghaft.

Ich lächelte ihr zu. »Keine Angst, zur Not gibt es ein Buch, in dem auch viel über Moral steht und das kennt fast jeder. Es ist mehrere tausend Jahre alt und hat auch ein paar Richtlinien über moralisches Verhalten, auf die du dich beziehen könntest.«

»Gott ist tot!«, rief jemand in den Raum und sorgte bei mir einen Moment lang für ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend.

»Da hast du Nietzsche sehr gut zitiert, Benno. Den darfst du dir natürlich auch sehr gerne als Gegenstand deiner Arbeit nehmen!« Der Junge verdrehte unglücklich die Augen. In diesem Moment ertönte die Schulglocke und erlöste uns alle von einem langen und stickigen Schultag.

Kapitel 2: Der Neuzugang

Schon auf der Zufahrt zur Halle wurde mir das Herz leichter. Ab hier würden uns wenigstens keine Marodeure mehr überraschen, denn die Zufahrt zum Militärkomplex wirkte ohne seine früheren Besucher bestenfalls noch wie ein befestigter Forstweg, der irgendwo im Nirgendwo endete. Beschritt man diesen Weg aber dennoch, stieß man auf mehrere verlassene Hallen, einige geteerte Plätze, auf denen sich das Unkraut seine Bahn brach, sowie herrenlos herumstehende, rostige Fahrzeuge aus längst vergangenen Kriegen. Wir selbst bewohnten den letzten Abschnitt eines langgezogenen Gebäudekomplexes und hatten unser Bestes versucht, um aus den russisch-kargen Bauten ein hinlänglich gemütliches Heim zu schaffen.

Als ich das erste Mal hierher gebracht worden war, hatte mich ein gewisser Grusel angesichts der grauen Bauten mit den schwarzen Fensterreihen beschlichen. Ich erinnerte mich daran, mit Kyhu am Halleneingang gestanden und um freundliche Worte der Anerkennung gerungen zu haben.

»Das ist wirklich beeindruckend hier, denke ich. Und hier schlaft ihr auch und verbringt eure Wochenenden… freiwillig?«

Mein Freund Kyhu hatte mir zugezwinkert und die Daumen in seinen Hosenbund eingehakt.

»Ich weiß, Bea bezeichnet das hier alles als Männerkindergarten, aber wir haben unsere Ruhe. Keiner nervt, keiner geht uns auf den Sack. Wir können hier mit dem Team an den Events teilnehmen und einfach spielen.«

Krieg spielen, um genau zu sein, denn nichts anderes waren die Airsoft-Events, auch wenn sich die einzelnen Spieler als weniger militant entpuppten, als ich anfangs befürchtet hatte. Es waren keine Partisanen und Beas Begriff hatte wahrscheinlich gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt gelegen. Jetzt aber dankte ich welcher gnädigen Macht auch immer für den Umstand, hier ein neues Heim und eine kleine Gemeinschaft gefunden zu haben.

Lumpi, der treue Jeep des ehemaligen Airsoftteams, stand etwas abseits der Hallentore. Er zählte nicht zu den rostenden Fahrzeugen, weil mein Freund Saint immer wieder fleißig an dem Gefährt herum schraubte. Es diente uns als Transportfahrzeug für weitere Strecken und sollte unseren Allerwertesten retten, falls wir doch einmal das Weite suchen mussten. Jetzt war der blonde junge Mann allerdings nicht zu sehen und auch von Kyhu fehlte jede Spur. Vielleicht waren die beiden Freunde in den umliegenden Wald gegangen, um die verstreut auf dem Gelände aufgestellten Wildfallen abzugehen. Und Raco, das letzte männliche Mitglied der Gemeinschaft, würde meiner Einschätzung nach ohnehin nicht anwesend sein. Bei ihm handelte es sich um einen schweigsamen, stark tätowierten Zeitgenossen, den ich auch nach mehreren Monaten des gemeinschaftlichen Lebens immer noch nicht recht einzuschätzen wusste. Er blieb gerne für sich und suchte nur ab und an unsere Gesellschaft, wenn ihm danach zumute war. Ich wandte mich an die Frau neben mir.

»Wundere dich nicht, wir haben hier keine festen Essenszeiten. Die Leute haben sich verstreut und jeder geht seiner Beschäftigung nach. Zu Anfang wirkt das alles vielleicht ein bisschen abweisend, aber immerhin haben wir ein Dach über dem Kopf.«

Und nicht nur das. Meine kleine Gruppe musste momentan auch keinen Hunger leiden, wie eine frisch gemauerte Kochstelle auf dem Vorhof deutlich verriet. Dort brannte in diesem Moment ein kleines, schwach rauchendes Feuer und es roch verlockend nach Birnen. Ich lächelte zufrieden, denn das, was da vor sich hin köchelte, ließ mir das Wasser im Munde zusammenlaufen.

»Hmm, es gibt heute Birnenklieben, eine alte, pommersche Süßspeise«, erklärte ich, ohne dass mein Gast gefragt hatte, und erklärte weiter. »Eigentlich kocht man Birnen mit Wasser auf und gibt dann löffelweise Pfannkuchenteig in die Suppe. Dieser gart durch und wird fest. Das alles kann man heiß oder auch kalt essen und es macht einen unheimlich satt.«

»Pfannkuchenteig? Ihr habt Eier und Milch? Jetzt noch?«, fragte Sabrina ungläubig und hatte über dieses kleine Endzeitwunder ihre Scheu vor dem fremden Ort anscheinend völlig verloren. Ich zuckte mit den Schultern, denn Kochen war nicht mein Metier. »Das eigentlich nicht, aber Bea schafft es irgendwie, mit alternativen Lebensmitteln etwas ähnliches zu Stande zu bringen. Am besten fragst du sie, wie ihr das gelingt.«

Im Stillen machte ich mir eine Gedankennotiz. Die Rückfrage der jungen Frau hatte mich überrascht. Sie schien ihre Umgebung aufmerksam zu mustern und mehr Verstand zu besitzen, als ihr Barbiegehabe vermuten ließ. Schnuppernd trat die Fremde noch näher an den bauchigen Topf heran.

»Das riecht echt lecker!«, staunte Sabrina und beugte sich vor. Beinahe hätte sie das metallene Kochgestell über dem Feuer umgestoßen, als plötzlich ihr verletztes Bein nachgab. Mit einem spitzen Schmerzenslaut sackte die Fremde zu Boden und ich sank neben ihr auf die Knie.

»Oha, das tut sicherlich weh. Du hast bestimmt Hunger, aber wollen wir uns dein Bein nicht vielleicht lieber zuerst anschauen?«, fragte ich in meiner gewohnt etwas untertreibenden Art, Dinge zu formulieren, wartete aber zunächst das zustimmende Nicken der Verletzten ab, bevor ich mich vorsichtig daran machte, ihr den Schuh und das schmutzige Sneakersöckchen vom rechten Fuß zu ziehen.

»Mit deiner Hose wird es schon etwas schwieriger«, murmelte ich und versuchte, das Hosenbein nach oben zu schieben, ohne Sabrina Schmerzen zuzufügen.

»Werde ich je wieder an den Olympischen Spielen teilnehmen können, Herr Doktor?«, witzelte Sabrina gepresst und schnitt vor Schmerzen eine Grimasse.

Ich hob den Kopf und sah, dass sie den ihren abgewandt hatte. Vielleicht war es besser auch so. Langsam bewegte sich der Stoff unter meinen Händen und gab mehr von der Verletzung frei. Der Anblick war schlichtweg grauenvoll. Sabrinas Bein entpuppte sich als geschundene, tief eingeschnittene Leinwand mit allerlei wütenden Farben darauf. Sie musste sich während des Marsches arg zusammengerissen haben und nun erging es mir und meiner aufsteigenden Übelkeit nicht anders. Wie konnte ich ihr helfen? Ein wenig hektisch stand ich auf, als hastige Schritte um die Ecke des Gebäudes kamen.

»Hey Jos, du kommst gerade rechtzeitig! Rühre bitte die Klieben um, bevor sie ansetzen. Ich habe den verflixten Zimt nicht gefunden und nach Kyhu gesucht. Wenn ich den erwische, der hat doch sicher«, die kurvige, ziemlich breitschultrige Gestalt unterbrach sich und blieb überrascht stehen. »Huch - wen hast du uns denn da mitgebracht?«, wollte sie wissen und ich atmete erleichtert aus. Hier kam meine Verstärkung. Die einzige Frau aus unserer Truppe trat mit ihrem üblichen Elan auf uns zu und stellte sich der Fremden schwungvoll vor. »Tagchen, ich bin Bea und du bist -« sie riss ihre haselnussbraunen Augen auf und strich sich den langen Pony aus der Stirn. » - ziemlich übel verwundet!«

Resolut schob mich meine jahrelange Freundin beiseite und verfrachtete den Neuankömmling auf einen alten Sessel an der Hallenwand. Dort kniete sich Bea vor Sabrina nieder und schaute sie an.

»Bevor ich gleich an dir herum fummele, bist du einigermaßen hart im Nehmen?«, fragte Bea ihren schlanken Gast direkt, wenn auch nicht unfreundlich. Ich verzog das Gesicht und wartete gespannt, wie Sabrinas Antwort darauf lauten würde.

»Süße, ich habe mir einmal auf einer Skifreizeit das Wadenbein gebrochen und abends trotzdem mit dem süßesten Typen der Truppe ge-... tanzt«, entgegnete die Verletzte von ihrer erhöhten Position im Sessel aus.

»Ui, ein ganz Harter«, zitierte Bea einen Kinderfilm trocken und nickte. »Schön für dich, dann kann ich ja loslegen.«

Ruhig holte sie ihr allgegenwärtiges schwarzes Klappmesser aus der Zollstocktasche der schwarzen Zimmermannshose, welche meine Freundin am liebsten trug, hervor und öffnete es in einer fließenden, mühelosen Bewegung. Ängstlich zuckte der Neuling zusammen und zog die Beine zurück. Bea lächelte die mitgenommene Frau schief an, schüttelte beschwichtigend den Kopf und trennte lediglich die steifen Stoffreste von Sabrinas Hosenbein ab. Verkrustete, dunkelbraune Wundränder traten darunter zum Vorschein. Sie waren schlecht verheilt und klafften an einigen Stellen sogar auseinander. Es handelte sich tatsächlich um eine lange Schnittwunde. Ich hatte mich nicht geirrt. Aus ihr quollen milchiger Eiter und teilweise sogar frisches Blut hervor. Einigermaßen angewidert sah ich zu Boden. Wahrscheinlich hatte die Wunde nach Sabrinas Sturz erneut zu bluten angefangen. Was mich aus der Fassung brachte, musterte Bea eingehend und sachlich. Sie warf einen Blick auf ihre Hände, beschied sie anscheinend für sauber genug und tastete vorsichtig an der Wunde herum. Scharf sog Sabrina die Luft ein, biss sich jedoch auf die Zähne. Eine tapfere junge Frau! Der Druck förderte weiteres Wundsekret zu Tage. Bea schnalzte unzufrieden mit der Zunge und überlegte. Etwas schroff drehte sie sich anschließend zu mir um.

»Du kannst dich auch nützlich machen, anstatt hier einfach rumzustehen. Nimm bitte den Topf mit den Klieben vom Feuer. Wenn die verbrennen, haben wir alle nichts davon und besorge Wasser. Wir müssen es abkochen. Hole mir außerdem Kyhus Verbandstasche sowie eine Flasche von Saints Cirbada her. Der wird zwar maulen, aber was soll’s.«

Sie überlegte kurz, war aber anscheinend mit ihren Anweisungen zufrieden und wandte sich wieder ihrer Patientin zu. Einen Moment lang verspürte ich einen Ruck der Bewunderung im Magen.

»Sehr wohl, Ma’am!«, antwortete ich und unterdrückte den Drang zu salutieren.

Froh darüber, etwas zu tun zu haben, nahm ich unser Mittagessen vom Feuer und eilte davon. Mein Weg führte mich in die Halle hinein und durch den großen Vorraum, der uns aktuell als Hauptlagerraum diente. In ihm stapelte sich alles, was wir nebenbei hatten organisieren können: ein ungenutzter Kühlschrank, den Kyhu mit einer Solarzelle ausrüsten wollte, einige Koffer mit Kleidern in verschiedenen Größen, aber auch intakte Autoreifen, Kanister, Bauholz, alte Polster, Feuerholz und noch allerlei Krimskrams, der sich wenig malerisch zu Stapeln und Säulen auftürmte. Immer noch wartete vieles darauf, passend verbaut und eingerichtet zu werden. Nun, diese Arbeit würde mich wahrscheinlich in den nächsten Tagen erwarten. Ich schüttelte meine aufsteigende Unlust ab und ging durch die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Schnell passierte ich die kleine Küchenzeile und hetzte nach links zu den Schlafquartieren. Dort standen insgesamt fünf Feldbetten, eines für jeden aus unserer Truppe. Und an der Wand links davon reihten sich einige verschließbare Spinde für ganz besondere oder persönliche Vorräte auf. Die Einrichtung dieses Raumes hatte schon vor der Apokalypse so gestanden, denn sie gehörte dem ehemaligen Airsoftteam und seinen überlebenden Mitgliedern Kyhu, Saint und Raco. Während ich mich an dem Spind meines Freundes zu schaffen machte, drifteten meine Gedanken ab und wanderten zu den ersten Wochen der Endzeit zurück.

»Wollen wir wirklich eine so große Reise in Kauf nehmen?«, fragte ich und spürte, wie sich mir bei der Vorstellung der Magen zusammenzog. »Mir haben die Mistkerle gereicht, die aus meinem schönen Auto und dem Großteil meiner Sachen Hackfleisch gemacht haben! Es wäre Wahnsinn durch die Lande zu ziehen!«

Bea hatte schweigend am Küchentisch gesessen und die Hände um eine Tasse mit dampfendem Tee gelegt. Ihr Mann jedoch war im Raum auf und ab gewandert und hatte wild gestikuliert.

»Jos, wir haben nicht wirklich eine andere Wahl. Wenn wir hier bleiben würden, hätten wir zum Beispiel bald nicht mehr genug Holz, um durch den Winter zu kommen, zum Beispiel.« Er zupfte sich an seinem kurzen Bart und bemerkte die Dopplung in seiner Aussage wie so oft nicht.

»Anders herum haben wir aber Äcker und damit die Möglichkeit, übrig gebliebene Feldfrüchte als Nahrung zu sammeln«, wagte ich einzuwenden.

»Das werden sich andere aber auch denken und die Bauern hier auf den Dörfern verstehen keinen Spaß. Es wundert mich, dass wir noch keinen Ärger mit den letzten von denen hatten.« Kyhu schnappte sich ein Bier aus dem Kühlschrank, öffnete es mit einem Feuerzeug und verzog nach dem ersten Schluck das Gesicht. Es war natürlich nicht gekühlt.

Nun meldete sich Bea ebenfalls zu Wort. Beinahe verträumt blickte sie durch einen Spalt im Fenster hinaus. Ihr blieb lediglich ein Spalt, da wir Bretter von einer alten Kartoffelkiste von innen vor das Glas genagelt hatten.

»Ich denke, die meisten Menschen sind jetzt unsere Feinde. Alle, die uns verbunden waren, sind nicht mehr da.« Sie sah auf ihre Tasse hinunter und blinzelte heftig. Ich spürte Beas Schmerz und merkte, dass auch mir die Augen brannten. Die Wunden waren noch zu frisch, um daran zu denken. Der Schmerz würde uns verschlingen, wenn wir ihn denn zuließen.

»Richtig«, beeilte sich ihr Mann, die bedrückende Stille zu brechen. »Und ich will hier nicht auf dem Präsentierteller sitzen. So einfach ist das. Von der Halle weiß kaum einer. Wir haben Wohnraum, einen Brunnen, viel Wald und der Rest findet sich. Hier sind wir doch nur eingesperrt wie Ratten.«

All das war nicht von der Hand zu weisen gewesen und schließlich hatte ich eingewilligt. Was wäre mir ansonsten auch übrig geblieben? Ein Überleben allein ohne überhaupt eine andere Person? Nein, ich hatte meine Bedenken beiseitegeschoben und war mit meinen zwei Freunden auf die Reise gegangen. Sie waren mein letztes Ziel gewesen, weil ich ihnen eine gewisse Überlebensfähigkeit unterstellt hatte, und nun würde ich mich auf ihr Urteil verlassen müssen. Wie hätte mein Leben sich wohl ohne diesen Umstand entwickelt? Und hätte sich eine Alternative schonender auf mein Seelenheil ausgewirkt? Wer wusste das schon.

Entschlossen griff ich zurück im Hier und Jetzt nach einem olivgrünen Rucksack mit rotem Kreuz auf weißem Grund und klaubte auch die Flasche Alkohol aus Saints Spind. Kalt lag sie in meiner Hand und die schimmernde Flüssigkeit darin schwappte verlockend gegen die Flaschenwände. Spirituosen waren in der Endzeit zu einem universellen Handelsmittel geworden, wenn man denn jemanden fand, der handelte und sich neuen Besitz nicht durch pure Gewalt aneignete. Diese Flasche stammte allerdings noch aus den privaten Vorräten des jungen Kfz-Mechatronikers. Nun, meine Freundin würde ihn schon angemessen dafür entschädigen oder vielleicht Sabrina selbst, sollte sie ihre Verletzung überleben. Zügig ging ich zu den beiden Frauen zurück und trat in die Dämmerung hinaus. Sollte ich vielleicht noch eine Taschenlampe besorgen? Bea hatte Sabrina unterdessen mit einer Schale voller Birnenklieben und einer Trinkflasche versorgt. Ich stellte den Rucksack sowie den Cirbada vor den Zweien ab und eilte zu unserer Feuerstelle. Ich setzte einen anderen Topf auf und holte etwas Wasser aus unserem Kanister. Dann hieß es zu warten. Langsam trat ich an die beiden Frauen heran und lauschte ihrem Gespräch.

»… komme eigentlich aus Berlin, Neukölln«, sagte Sabrina in diesem Moment.

»Und wie war es da?«, fragte meine Freundin. Sie saß im Schneidersitz auf dem Boden und hatte sich interessiert vorgeneigt.

»Sagen wir mal so, die Apokalypse hat es nicht wirklich besser gemacht, aber es war schon vorher nicht eben easy«, entgegnete Sabrina und warf ihr strähniges Haar zurück. Ich grinste. Ja, das konnte ich mir sogar vorstellen. Bea zog die Schultern hoch.

»Ich habe Städte noch nie gemocht«, erklärte meine Freundin und warf einen Blick zum Feuer hinüber. Sie stand auf und legte etwas Holz nach und kam zu uns zurück.

»Gibt es etwas, das dir besonders fehlt?«, wollte ich von Sabrina wissen.

Die blonde Frau überlegte. »Sorry Schätzchen, aber ist das nicht eine dumme Frage? Man, so ziemlich alles. Wir leben wie die bekloppten Höhlenmenschen und zwar alle, weltweit. Alles fehlt mir. Party zu machen, zu verreisen, Cocktails und selbst diese verdammten Omas mit ihrem Wechselgeld an den Kassen im Supermarkt fehlen mir. Du kannst aber echt strange Fragen stellen!«

Ich schwieg ein bisschen und ging meinerseits zum Feuer. Das war deutlich gewesen. Endlich zeigten sich Blasen im Topf. Ich stellte den Topf vor die beiden Damen und Bea konnte mit der eigentlichen Wundversorgung beginnen. Sorgsam wusch sie den Schmutz ab und erlaubte dem Neuankömmling sogar, einen großen Schluck aus der Cirbadaflasche zu trinken, bevor sie sich daran machte, den Eiter unter sanftem Druck aus einigen geschwollenen Stellen am Beim zu drücken.

»Wir können deinen Schnitt jetzt nicht nähen, denn dazu ist er zu entzündet. Aber ich habe eine entzündungshemmende Salbe, die geben wir dir immer wieder auf eine Wundauflage und machen einen schönen leichten Verband. Das wird schon!«, erklärte meine Freundin ihrer Patientin und richtete sich einigermaßen zufrieden auf. »Und jetzt«, erklärte sie trocken, »kümmern wir uns um den Rest von dir.«

Die fremde Frau blickte irritiert zu ihrem deutlich stämmiger gebauten Gegenüber hoch und strich sich die strähnigen Haare aus dem Gesicht. Fest klammerte Sabrina ihre Tasche an sich. »Wie meinst du das?«

Bea lächelte vielsagend, stand auf, trat zu unserer Freiluftwaschstelle hinüber und kehrte kurz darauf mit einem gräulichen Klumpen zurück, der einigermaßen nach Pfefferminze roch – unsere selbst gemachte Seife. »Du bist ein wenig … verschwitzt, meine Liebe. Willst du dich nicht vielleicht etwas erfrischen?« Und wie Sabrina dies wollte!

Noch an diesem Abend lernte der Neuankömmling zwei weitere Mitglieder unserer Truppe kennen. Im Dunklen kehrten Saint und Kyhu zur Halle zurück. Die beiden großen Kerle begrüßten Sabrina mit einem erfreuten Hallo und präsentierten ihr und uns mit großer Geste ihre Ausbeute des heutigen Tages. Ganz genau ein Hase hatte sich dieses Mal in den ausgelegten Wildfallen verfangen. Im Stillen bezweifelte ich, dass deren Nutzen in Relation zum Aufwand stand, sie immer wieder abzulaufen und neue Wildwechsel zum Aufstellen der Fallen zu finden. Andererseits brauchten wir die Nahrung und würden nun eine weitere Person verpflegen. Da sollte ich wohl nicht so streng sein. Doch das großartige Gebaren meiner beiden Kumpane wegen eines mageren Meister Lampe störte mich mit der Zeit doch ein wenig.

»Wollen wir es nicht doch lieber mal mit der aktiven Jagd versuchen? Dann könnten wir auch größere Tiere erlegen«, begann ich vorsichtig und dachte dabei an meinen Bogen und die Pfeile. Bisher hatte ich damit zwar noch nicht auf Tiere geschossen, aber immerhin war es eine aktivere Handlung, als auf Schlingfallen und Ähnliches zu vertrauen.

»Da musst du Raco fragen«, entgegnete Saint, der sich einen Hocker neben den Sessel gestellt hatte, auf welchem Sabrina nun wieder saß. »Weißt du, er ist hier für das kranke Survivalzeug zuständig«, erklärte er den nun wieder erfrischt aussehenden Dame im verschwörerischen Tonfall.

»Survival ist für uns alle gerade das zentrale Thema, Saint«, erinnerte Kyhu seinen Kumpan sanft aber deutlich. Es schien ihm nicht zu gefallen, dass vor einer Fremden über Mitglieder unserer kleinen Gruppe gelästert wurde und ich rechnete ihm seine Geisteshaltung hoch an.

Bea hatte sich unterdessen zurückgezogen, um das tote Tier abzubalgen und es für das Essen mit irgendwelchen Kräutern zu füllen. Ihre Birnenklieben würden sich auch noch bis zum Nachtisch oder zum nächsten Tag halten. Nur eine gute halbe Stunde später saßen wir zu viert an einem heimelig prasselnden Feuer, welches das Kaninchen für uns briet. Dazu gab es gekochten Reis und der Abend gestaltete sich insgesamt sehr angenehm. Wir alle erzählten ein wenig von uns, um das Eis zu brechen.

»Dass wir beide Lehrer waren, weißt du ja schon«, führte ich das Gespräch an und lachte auf, als Sabrina eine Grimasse schnitt.

Saint meldete sich wie in der Schule. »Ich war bei einem enorm guten Autohersteller in den richtig großen Hallen tätig«, rief er selbstzufrieden aus.

»Und ich habe mich um Wasser und Abwasser gekümmert«, ergänzte Kyhu in einem weitaus sachlicheren Tonfall.

Die beiden hatten sich im Gegensatz zu Bea und mir stets vor Schreibaufgaben oder Bürotätigkeiten gedrückt und zumindest in diesem Bereich durch die Apokalypse etwas an Lebensqualität dazu gewonnen. Saint blickte Sabrina wohlwollend an.

»Und was hast du gemacht? Warst du Model oder so etwas?«

Innerlich stöhnte ich auf. Der blonde Hüne übertrieb es bereits am ersten Tag, aber unser Gast schien sich auch über abgedroschene Sätze zu freuen.

»Ich habe Sport studiert und wollte dann eigentlich um die Welt reisen. Ich dachte daran, Aerobic-Kurse auf Kreuzfahrtschiffen anzubieten oder Yoga«, erklärte Sabrina mit leuchtenden Augen. Ihr Blick trübte sich allerdings, als ihr die aktuelle Lage wieder bewusst wurde.

»Na wenigstens müssen wir uns jetzt keine Sorgen mehr über die Rentenkassen machen. Kopf hoch, Leute!«

Beas trockener Kommentar löste die Situation auf und alle lachten, wenn auch nicht fröhlich. Wir lebten, hatten ein Heim etwas zu essen und andere Personen, um sich mit ihnen zu unterhalten. Das war viel wert. Und so ging die Unterhaltung während des Essens mal in diese und mal in jene Richtung. Die Zeit nach dem jüngsten Tag ließen wir geflissentlich aus. Sie beinhaltete bloß Stoff für Albträume. Spät in der Nacht stellte Saint ein weiteres Reservefeldbett neben seinem eigenen für den Neuzugang auf und zufrieden legten sich alle schlafen.

Nach einigen fiebrigen Tagen, in denen Sabrina mit der Entzündung zu kämpfen hatte, berappelte sich die junge Frau wieder und kam schließlich zwei Wochen später ganz auf die Beine. Vielleicht war der Sportlerin ihre Ausdauer dabei behilflich. Jetzt, langsam genesend und frisch gewaschen – Hygiene war Bea sehr wichtig und dank der alten Saugbrunnen auf dem Gelände mangelte es uns auch nicht an frischem Wasser – sah die blonde, schlanke Frau sogar sehr hübsch aus. Nach anfänglicher Schüchternheit gegenüber dem mehr als zwei Meter großen Saint und dem nur unwesentlich kleineren, breitschultrigen Kyhu gab sich der Neuankömmling zunehmend selbstbewusster. Ja, mein erster Eindruck von ihr als offenherziges Beachgirl sollte sich bewahrheiten.