Somebody to Love – Northern-Hearts-Reihe, Band 1 (Dein SPIEGEL-Bestseller) - Rebekka Weiler - E-Book

Somebody to Love – Northern-Hearts-Reihe, Band 1 (Dein SPIEGEL-Bestseller) E-Book

Rebekka  Weiler

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Beschreibung

Emil, Hendrick und Lene sind Drillinge. Ihr ganzes Leben lang waren sie unzertrennlich. Doch dann starb Hendrick unterwartet. Freya hat nur einen Wunsch: die Nacht ungeschehen zu machen, in der ihre erste große Liebe Hendrik sein Leben verlor. Denn die Umstände seines Todes kann sie bis heute nicht glauben. Nur Hendriks Drillingsbruder Emil versteht, warum Freya mit dem Unglück nicht abschließen kann. Gemeinsam versuchen sie, Antworten auf all ihre Fragen zu finden – und fühlen sich dabei nicht nur in ihrer Trauer verbunden. Doch darf Freya Gefühle für den Bruder ihres verstorbenen Freundes haben? Und Emil für sie? Berührend. Dramatisch. Bittersüß. Band 1 der intensiven New-Adult-Dilogie von Dein SPIEGEL-Bestsellerautorin Rebekka Weiler. Weitere Bücher der Autorin bei Ravensburger: The Moment I Lost You, Lost-Moments-Reihe, Band 1 The Moment You Found Me, Lost-Moments-Reihe, Band 2

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Seitenzahl: 635

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2024 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag © 2024 Ravensburger Verlag Text © 2024, Rebekka Weiler Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de) Lektorat: Tamara Reisinger (www.tamara-reisinger.de) Cover- und Umschlaggestaltung: Andrea Janas unter Verwendung von Motiven von: Shutterstock (Dariia Baranova) Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-51222-5

ravensburger.com

Für Ronja und Svenja Ihr seid für immer meine beiden liebsten Räubertöchter!♥♥

Playlist

When You’re Gone – Shawn Mendes

Oslo – Picture This

Bad Life – Sigrid & Bring Me The Horizon

Live For Better Days – Ignite

Give Me The Reason – James Bay

Can I Be Him – James Arthur

Ruin – Moncrieff

Kiss Me – Dermot Kennedy

Me Because Of You – The Faim

On The Wire – Deaf Havana

Don’t Break The Heart – Tom Grennan

Something To Someone – Dermot Kennedy

Someone You Loved – Lewis Capaldi

Slå hjerte, slå – Chris Holsten

I Wanna Be Your Slave – Måneskin

Okay – X Ambassadors

Blossom – Dermot Kennedy

How Do I Say Goodbye – Dean Lewis

Love In Slow Motion – Ed Sheeran

Forget Me – Lewis Capaldi

Innocence And Sadness – Dermot Kennedy

Maybe – Matthew Nolan

The Loneliest – Måneskin

Anti-Hero – Taylor Swift

You’re On Your Own, Kid – Taylor Swift

I Lived – One Republic

Bad Omens – 5 Seconds Of Summer

21 – Gracie Abrams

About You – The 1975

Fragile – Delta Goodrem

Brutaler Einbruch radikaler Aktivisten in Drammener Massentierfarm

Sohn eines Lokalpolitikers stirbt bei tätlichem Angriff auf Wachmann

20. August – Gegen ein Uhr nachts überwanden vermummte Radikale den Sicherheitszaun und verschafften sich Zutritt auf das Gelände der Sandvik-Farm für Schweinezucht in Drammen. Als der diensthabende Wachmann, der 38-jährige Familienvater Sören Andersen, die Aktivisten aufhalten wollte, wurde er brutal attackiert. Bei dem Angreifer handelte es sich um den Filmstudenten Hendrik Berg (21), der laut Aussage Andersens mit einem Bolzenschneider auf ihn losging. In Notwehr schoss Andersen auf Berg, Sohn von Jørgen Berg, Bürgermeister von Drammen. Nach Angaben der Rettungskräfte konnte bei ihrem Eintreffen nur noch der Tod des Studenten festgestellt werden. Die übrigen vermeintlichen Tierschützer konnten unerkannt flüchten. Hinweise, die zu den Tätern führen, können der zuständigen Polizeidienststelle in Drammen gemeldet werden. Die Bitte des Drammener Tagesblatt um ein Statement von Bürgermeister Jørgen Berg zu dem Vorfall blieb unbeantwortet. Doch spätestens bei der nächsten Ratssitzung im Oktober wird erwartet, dass er sich öffentlich von den kriminellen Machenschaften seines Sohnes distanziert.

8 Monate und 17 Tage später

1

Freya

Wenn das Leben um dich herum pulsiert, sollte es leicht sein, nicht an den Tod zu denken. Das Gefühl der Ohnmacht zu ignorieren und ein Lächeln aufzusetzen. Aber wenn dir jemand so sehr fehlt, dass es dir die Luft zum Atmen nimmt, dann gelingt dir nichts davon. Denn die Gedanken an ihn sind allgegenwärtig.

Vor allem an einem Tag wie diesem.

»Du musst auspusten.« Merrit sieht mich erwartungsvoll an und schiebt den Kuchen näher zu mir.

Vierundzwanzig Kerzen sind in die Sahne gesteckt. Von einer tropft das Wachs bereits an den Seiten herunter. Kleine blaue Punkte, wie die Tränen, die ich seit Stunden nicht zulasse. Weil ich heute Geburtstag habe und weiß, dass die Menschen um mich herum nicht sehen wollen, wie ich weine. Diesen Anblick müssen sie seit fast neun Monaten viel zu oft ertragen. Und auch jetzt spüre ich das bekannte Brennen in meinen Augenwinkeln. Hendrik fehlt mir. Das tut er immer, aber ganz besonders heute. Er sollte hier sein. Sollte meinen Geburtstag mit mir feiern, mir seine Kamera vors Gesicht halten und mindestens die Hälfte meines Kuchens essen. Stattdessen sitze ich allein mit meinen beiden besten Freundinnen in meiner Wohnung und starre in die kleinen Kerzenflammen. Ich bin dankbar, dass sie hier sind. Dass sie mir Kuchen gebracht und sich extra den Nachmittag freigehalten haben, um ihn mit mir zu verbringen. Ich versuche, ihren Besuch zu genießen. Mich ablenken zu lassen und mit ihnen auf mein neues Lebensjahr anzustoßen. Aber es gelingt mir nicht. Meinen letzten Geburtstag habe ich noch mit Hendrik gefeiert. Dieser hier ist der erste ohne ihn. Und es fällt mir unglaublich schwer, die beiden Tage nicht miteinander zu vergleichen. Weil ich es hasse, dass er nicht mehr da ist, und weil sich seither alles falsch anfühlt.

Einen kurzen Moment schluckt mich das Schwarz in meinen Gedanken, nur um mich im nächsten Augenblick wieder auszuspucken. Zurück ins Hier und Jetzt. Zurück in eine Welt ohne Hendrik. Zurück zu vierundzwanzig bunten Kerzen, meinen Freundinnen und den immer noch eingepackten Geschenken.

»Freya?« Sarisha mustert mich besorgt. Ihre langen, dunklen Haare umrahmen perfekt ihr Gesicht mit den großen, braunen Augen.

»Ja.« Ich setze mich aufrechter hin, zwinge mich zu einem Lächeln und puste. Eine Flamme nach der anderen erlischt und mit ihnen ein bisschen der Hoffnungslosigkeit, die ich in den letzten Monaten viel zu oft gefühlt habe.

»Wünsch dir was.« Sanft stößt sie mit dem Oberarm gegen meinen. Doch es gibt nichts mehr, was ich mir noch wünschen könnte. Wünschen will. Hendrik kommt nicht mehr zurück, egal, wie sehr ich das möchte. Also bleibt nur loslassen. Und das ist etwas, was ich nicht kann.

Schweigend sehe ich dabei zu, wie Sarisha den Sahnekuchen anschneidet. Merrit verteilt Teller und Tassen. Alles wirkt so normal wie an all den anderen Geburtstagen, die wir im Laufe der Jahre zusammen gefeiert haben. Aber heute ist das ein Umstand, der mich wütend macht. Ich will nicht hier sitzen und Kuchen essen, wenn der Tag ganz anders hätte ablaufen sollen. Mir ist klar, dass meine Freundinnen es gut meinen. Sie wollen dafür sorgen, dass ich nicht ständig an Hendrik denke. Das Schöne im Leben zulassen. Spaß haben. Weil sie nicht verstehen, dass Trauer so nicht funktioniert. Meine jedenfalls nicht. Natürlich weiß ich, dass Hendrik meine Wut und meine Lethargie furchtbar fände. Er war das pure Gegenteil davon. Laut und lustig und immer bestens gelaunt. Aber ich kann nicht so tun, als wäre alles in Ordnung. Jedenfalls nicht länger als ein paar Minuten.

Wieder bemühe ich mich um ein Lächeln und nehme den Teller, den Merrit mir reicht.

»Ich bin gespannt, was ihr zu dem Kuchen sagt.« Sarishas Augen leuchten, während sie darauf wartet, dass wir unsere Stücke essen. »Ich habe das Rezept ein bisschen abgewandelt und die Zitrone durch Limetten ersetzt.«

»Es schmeckt bestimmt großartig«, entgegnet Merrit. »Wie alles, was du backst. Was meinst du, wieso wir mit dir befreundet sind?« Sie taucht die Gabel in die Sahne und schiebt sich einen großen Bissen in den Mund. »O Gott.« Im nächsten Moment verdreht sie vor Genuss die Augen. »Genau deswegen.« Sie grinst. »Das ist unglaublich, Risha. Solltet ihr unbedingt ins Sortiment aufnehmen.« Merrit deutet mit der Gabel zwischen unserer Freundin und ihrem Teller hin und her. »Was ist da noch drin?«

Obwohl ich keinen Hunger habe, will ich meine Freundinnen nicht enttäuschen und probiere doch ein kleines Stückchen. Und ich muss zugeben, dass Merrit recht hat. Der Kuchen schmeckt großartig. Nicht zu süß, dafür aber frisch und fruchtig, nach Limette und Melone. Sarisha schafft es immer wieder, das Exotische mit dem typisch Norwegischen zu verbinden. Sie sollte diesen Kuchen wirklich im Café ihrer Eltern anbieten.

Mechanisch esse ich noch ein Stück und höre meinen Mädels dabei zu, wie sie lachen und scherzen. Anfangs war es die Hölle, Menschen zu sehen, deren Welt nicht wie meine eigene vollkommen aus den Angeln gehoben ist. Die einfach weitermachen, als wäre nichts gewesen. Es hat Monate gedauert, bis ich verstanden habe, dass dem genau so war. Für die allermeisten Menschen in Drammen ist nichts passiert. Weil nicht ihr Freund gestorben ist. Sondern meiner. Die Einzigen, die verstehen, wie es mir geht, sind Hendriks Eltern und seine Geschwister. Sie haben ihren Sohn und ihren Drillingsbruder verloren. Und zu keinem von ihnen habe ich mehr Kontakt.

»Fee, hörst du uns zu?« Sarisha schnippt sogar mit den Fingern vor meinem Gesicht, um mich aus meinen Gedanken zu reißen. Das passiert mir inzwischen oft. Ich verliere mich so sehr in Erinnerungen, in der Vergangenheit, dass ich Gespräche um mich herum vollkommen ausblende.

Die Wahrheit wäre gewesen, Nein zu sagen. Nein, ich höre euch nicht zu. Nicht, weil mich euer Gespräch nicht interessiert, sondern weil da ein Geist in meinem Kopf ist, der mich vollkommen vereinnahmt.

Bevor ich mir eine Antwort überlegen kann, werde ich von der Klingel meiner Wohnungstür gerettet. Sofort begegne ich zwei fragenden Gesichtern.

»Hast du noch jemanden eingeladen?«, fragt Merrit.

Sie wissen genau, dass dem nicht so ist. Ohne ein Wort zu sagen, schüttle ich den Kopf und stehe auf. Meine Wohnung ist nicht sonderlich groß, nach wenigen Schritten bin ich an der Tür und der Freisprechanlage.

»Ja?«

»Paketdienst Møller. Ich bräuchte eine Unterschrift.«

»Oh. Okay.« Ich öffne unten die Tür für ihn und ziehe die zu meiner Wohnung auf. Es sind nur zwei Stockwerke, und der Lieferant ist schnell.

»Hey«, begrüßt er mich. Er scheint nicht viel älter als ich selbst zu sein. Mit der rechten Hand hält er mir ein kleines Gerät entgegen, auf dem ich mit dem Finger unterschreiben soll. Dann übergibt er mir die Lieferung. Es ist ein Päckchen, nur ein paar Zentimeter dick, aber ziemlich schwer.

»Ciao«, verabschiedet er sich und springt immer zwei Stufen auf einmal nehmend nach unten.

»Tschüss«, murmle ich leise vor mich hin und starre auf das Päckchen in meiner Hand. Ich habe keine Ahnung, was es ist, habe nichts bestellt. Schon gar nicht bei … Ich drehe das Päckchen, damit ich den Absender lesen kann. Norli. Nein, ich erwarte definitiv nichts von einer Buchhandlung.

»Alles okay?« Merrit taucht neben mir auf und blickt in den leeren Flur. »Wer war das?«

»Ein Paketdienst.« Ich hebe das Päckchen ein bisschen höher. »Eine Überraschung von euch?«

»Nein. Von mir nicht. Von dir?« Merrit sieht zu Sarisha, doch auch sie schüttelt den Kopf. »Vielleicht jemand anders. Deine Familie? Zu Thore würde das passen.«

»Nein.« Mit meinen Eltern und meinem Bruder habe ich heute Morgen gefrühstückt, die Geschenke von ihnen liegen bei denen der Mädels.

»Dann pack es mal aus.« Merrit zieht mich zurück in die Wohnung und schließt die Tür. »Ich bin neugierig.« Nachdem sie sich wieder an den Tisch gesetzt hat, nippt sie an ihrem Kaffee und mustert mich aus großen hellblauen Augen.

Ganz langsam öffne ich die Verpackung und halte kurz darauf einen Bildband in den Händen. Wortlos starre ich auf das Titelblatt: Magische Schnitzereien und wo sie zu finden sind.

»Ist eine Nachricht dabei? Manchmal sind da doch so Karten oder …« Sarisha schnappt sich den leeren Karton und schüttelt ihn. Tatsächlich fällt ein kleiner weißer Zettel aus der Box. Aber ich brauche ihn nicht zu lesen, um zu wissen, von wem der Bildband kommt. Mit einem Mal ist mein Mund staubtrocken, Adrenalin schießt durch meinen Körper, und gleichzeitig habe ich das Gefühl, mich nicht mehr bewegen zu können. Mein Magen verkrampft sich, mir wird übel. Und dann greife ich doch nach dem Zettel, den Sarisha mir entgegenhält.

Happy Birthday, Fee.

Ich glaube, so früh habe ich noch nie zuvor ein Geburtstagsgeschenk in Auftrag gegeben. Bin gespannt, ob das klappt. Im Mai werden wir es wissen. Auf dich, Waldmädchen. Ich wünsche dir ganz viel Inspiration. Und wenn du eine Muse brauchst, dann weißt du ja, wo du mich findest.

♥ Hendrik

Es sind seine letzten Worte, die mich in die Knie zwingen.

Dann weißt du ja, wo du mich findest.

Die Sicht vor meinen Augen verschwimmt, als sich Tränen darin sammeln. Weil er keine Ahnung hatte, dass er damit nun den Friedhof meint. Mit den Händen umklammere ich die kleine Notiz und das Buch, während meine Freundinnen besorgt ihre Arme um mich legen. Fragen prasseln auf mich ein, doch ich kann ihnen nicht antworten. Nicht jetzt.

Kraftlos sinke ich ganz auf den Boden, spüre meinen Herzschlag, höre das Rauschen in meinen Ohren. Es ist Wochen her, dass ich wegen Hendrik so heftig reagiert habe. Dass mir die Luft zum Atmen fehlt und ich das Gefühl habe, mein Herz würde zerquetscht werden. Doch genau so fühle ich mich jetzt. Weil ich mich ganz genau an den Moment erinnere, in dem wir über diesen Bildband gesprochen haben. In dem ich ihm erzählt habe, dass er an meinem Geburtstag erscheinen wird. Und er hat gescherzt, dass er mir den dann wohl schenken müsste. Niemals … Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, dass er sein Wort hält. Aber eigentlich wundert es mich auch kein bisschen. Denn Hendrik war exakt so. Voller Überraschungen und vor allem voller Pläne.

Ich höre die Stimmen meiner Freundinnen, die sich über meinen Kopf hinweg unterhalten, auch wenn ich nicht wirklich verstehe, was sie sagen. Die Sorge schwingt in jeder Silbe mit. Ich weiß, dass es nicht leicht für sie ist, mich so zu sehen. Aber jetzt, mit Hendriks Geschenk in meinen Händen … Fuck. Ich kann die Tränen nicht zurückhalten. Sie laufen mir über die Wangen, wie kleine Bäche. All die Liebe, die keinen Platz mehr in mir hat, dringt an die Oberfläche. Und es tut weh. Es tut scheiße weh.

Ich lasse das Buch los und presse mir stattdessen die Handfläche auf die Brust. Spüre mein Herz, wie es in seinem steten Rhythmus schlägt. Es ist genau das, dieser gleichmäßige Takt, der mich wieder ruhiger werden lässt. Ich richte mich auf, blinzle, fahre mir mit der anderen Hand über die feuchten Augen. Merrit hat immer noch den Arm um mich gelegt und mustert mich nachdenklich.

»Es tut mir leid«, murmle ich. Meine Stimme klingt belegt. »Es ist …« Mein Blick fällt auf den Bildband vor meinen Knien. »Das ist von Hendrik und …« Gott, allein seinen Namen auszusprechen, verlangt mir alles ab. Neue Tränen brennen in meinen Augenwinkeln, die ich nur mühsam in Schach halten kann.

»Du musst dich nicht erklären.« Sarisha nimmt den Bildband und Hendriks Karte und legt beides vorsichtig auf den Tisch. »Es ist wirklich ein schönes Geschenk von ihm. Aber es kommt ziemlich unerwartet. Ich meine, damit hat niemand rechnen können.« Ihr sanftes Lächeln wirkt aufmunternd. Wie eine Bestätigung dafür, dass es okay ist, mich so zerrissen zu fühlen.

»Ja.« Ich nicke langsam, nehme mir die Hand von der Brust und ziehe mich an einem Stuhl nach oben. Merrits Umarmung löst sich, und sie richtet sich mit mir auf. »Es geht schon wieder. Ich muss nur …« Mit zwei Fingern deute ich zu meinem kleinen Balkon. »Ich brauche kurz frische Luft.«

Bevor sie protestieren oder anbieten können, mir Gesellschaft zu leisten, bin ich schon an ihnen vorbei und ziehe die schwere Balkontür auf. Für Anfang Mai ist es überraschend warm, und dennoch friere ich. Ich schlinge beide Arme um mich und blicke auf die Hausdächer meiner Nachbarn. Ein sanfter Wind weht durch meine Haare, wirbelt mir die losen Strähnen ins Gesicht. Doch die Gedanken an Hendrik bleiben. Sie sind wie festgeklebt, sind so intensiv, dass ich mich mit beiden Händen am Geländer festhalten muss. Ich war nicht oft mit ihm hier draußen, aber die wenigen Male, die wir hier standen … Ich vermisse ihn. Vermisse seine Nähe, seine Wärme, seine Arme, die er um mich geschlungen hat, während er sein Kinn auf meine Schulter legte. Und ich vermisse seinen Duft, der mich umhüllt hat. Sandelholz und Wald. Als ich ihm das einmal gesagt habe, hat er gelacht und gemeint, dass doch ich das Waldmädchen sei. Weil ich diejenige von uns bin, die in einem Sägewerk arbeitet und in ihrer Freizeit Holzskulpturen schnitzt. Kleine Figuren, wie die von Michel aus Lönneberga.

Nur in gut.

Seine Stimme ist immer noch unsagbar klar in meinem Kopf. Und gleichzeitig fürchte ich mich davor, wenn es nicht mehr so sein wird. Wenn ich irgendwann nicht mehr weiß, mich nicht mehr daran erinnern kann, wie er sich angehört hat. Wie sein Lachen klang. Wie weich seine Haare waren, wenn ich mit den Fingern durch sie hindurchgefahren bin.

Der Kloß in meinem Hals wird dicker, wie immer, wenn ich mich zu tief den Gedanken und Gefühlen an Hendrik hingebe. Aber es gibt Momente, da kann ich nicht anders. Ich will ihn nicht vergessen. Und auch wenn es wehtut, auch wenn die Verzweiflung mich an manchen Tagen heftiger überfällt als an anderen … Ich würde nichts davon ändern. Er ist jeden Schmerz wert.

Tief hole ich Luft. Vier Sekunden lang einatmen, sieben die Luft anhalten, dann acht ausatmen. Es ist ein Trick, der bewirkt, dass ich ruhiger werde. Hendriks Geschenk hat mich vollkommen unvorbereitet getroffen, dabei ist es etwas, das ich mir gewünscht habe. Und er hat es nicht vergessen. Wieder wirbelt mir der Wind durch die Haare, als mir bewusst wird, was das bedeutet: Er wollte, dass ich dieses Buch bekomme. Er hat dafür gesorgt, so viele Monate im Voraus … Dieses Wissen lässt mein Herz schwer und leicht zugleich werden.

Das leise Öffnen der Balkontür reißt mich aus meinen Gedanken, und ich drehe mich herum. In der nächsten Sekunde blicke ich in die besorgten Gesichter meiner Freundinnen. Sie haben Teller und Tassen dabei.

»Hey …« Merrit tritt als Erste zu mir. »Wir dachten, wenn du Luft brauchst … Also vielleicht könnten wir einfach mit dir zusammen hier draußen …« Sie wartet einen Moment, doch als ich nicht ablehne, kommt sie ganz auf den Balkon.

»Hier.« Sarisha, die ihr gefolgt ist, reicht mir meinen Teller mit dem Kuchenstück und meine Tasse. Wahrscheinlich ist der Kaffee mittlerweile kalt, aber das macht nichts. Plötzlich bin ich unheimlich froh, nicht allein gewesen zu sein, als das Päckchen ankam.

Mein Balkon ist viel zu klein für einen Tisch für drei Leute, aber das hat uns noch nie gestört. Merrit breitet die karierte Decke auf den Fliesen aus, die sie sich von meinem Sofa geschnappt hat. Sobald wir uns hingesetzt haben, lehne ich mich gegen das Geländer, was nicht sonderlich bequem ist, aber der Druck in meinem Rücken gibt mir immerhin das Gefühl zu leben. Und das ist etwas, das ich brauche, weil es nach Hendriks Tod viel zu viele Tage gab, an denen ich gar nichts mehr empfunden habe.

Die Fensterscheibe reflektiert die Sonnenstrahlen und blendet mich. Ich blinzle und rücke ein paar Zentimeter zur Seite, bis ich mit den Beinen fast gegen Sarishas stoße. Sie sieht immer noch besorgt aus, aber weil ich sie und Merrit nicht zurück in meine Wohnung geschickt habe, scheint sie sich etwas zu entspannen.

»Ein Kuchenpicknick.« Merrits Stimme durchbricht die eingekehrte Stille. »Das sollten wir öfter machen.«

»Aber nur, wenn Risha backt.« Die Worte sind schneller aus meinem Mund, als ich darüber nachdenken kann. Und sie sind der Startschuss für ein Gespräch, in dem die Mädels einen Ausflug mit Picknick am Drammensfjord für uns planen.

Ich höre nur mit halbem Herz zu. Die andere Hälfte ist immer noch bei Hendrik und seinem Geschenk. Und dort wird sie für den Rest des Tages auch bleiben. Ich kenne diese Phasen, in denen ich nur noch auf Autopilot funktioniere. Sie werden weniger, aber dieser Bildband … Wenn ich nachher allein bin, werde ich ihn mir in Ruhe ansehen. Werde ein Glas Wein dazu trinken, Musik anmachen und mich all den Gefühlen hingeben. Das ist mein Plan, doch als die Mädels sich schließlich von mir verabschieden, wird mir klar, dass ich meinen Abend nicht so verbringen will. Sondern dort, wo ich mit Hendrik am Glücklichsten war.

Es ist noch hell, als ich in meine Jacke schlüpfe, den Bildband, eine Flasche Wasser und eine Taschenlampe in meinen Rucksack stopfe und losziehe. Bis zu der kleinen Hütte ist es nicht weit, mit dem Fahrrad brauche ich keine fünfzehn Minuten. Dennoch herrscht hier draußen friedliche Stille. Es verirrt sich nur selten jemand in diesen Teil des Waldes, weil der Weg irgendwann steinig und uneben wird. Wahrscheinlich ist genau das mit ein Grund, wieso mein Großvater vor vielen Jahren das Waldstück so günstig erwerben konnte. Seither ist es in Familienbesitz, und Hendrik und ich haben dort, nicht weit weg vom Fjord, eine kleine Hütte gebaut.

Als ich am Waldrand ankomme, steige ich von meinem Fahrrad und schiebe es das letzte Stück. Die Sonne steht mittlerweile tief am Himmel, aber ich kenne den Weg in- und auswendig. Das Orange der Lichtstrahlen verzaubert den Wald in ein Märchenland. Ich brauche nicht viel Fantasie, um mir kleine, tanzende Feen, Elfen und Trolle vorzustellen. Es gibt viele Geschichten und Legenden über den Drammensfjord und die Wälder drumherum. Ich bin damit aufgewachsen, aber keine einzige davon würde mich heute Abend davon abhalten, in die kleine Hütte zu gehen, die vor mir im Dickicht auftaucht. Friedlich liegt sie da, sieht genauso aus wie bei meinem letzten Besuch. Die rote Farbe auf dem Holz blättert an manchen Stellen bereits ab, ist vom Wetter gezeichnet, aber ich werde sie dennoch erst frühestens nächstes Jahr abschleifen und neu streichen. Denn über der Eingangstür befindet sich das kleine Herz mit unseren Initialen, das Hendrik dort hingemalt hat, als wir mit unserem Bauwerk fertig waren.

Ich hole den Schlüssel aus meinem Rucksack, öffne das Schloss und betrete die Hütte. Es riecht muffig, weshalb ich das kleine Fenster in Richtung Fjord öffne und frische Luft hereinlasse. Viel befindet sich nicht in der Hütte. Ein Tisch mit zwei Stühlen, eine Kiste mit Kissen und Decken und über dem Türrahmen eine batteriebetriebene Lichterkette. Es ist gemütlich, und letzten Sommer habe ich nicht nur einmal mit Hendrik hier draußen übernachtet. Es war unser Reich. Der Ort, an dem wir einfach nur wir waren.

Manchmal kann ich nicht fassen, dass wir nur einen einzigen kurzen Sommer zusammen hatten. Es fühlt sich so viel länger an als diese zweihundertfünf Tage. Von Ende Januar bis zu diesem einen Abend im August, an dem er gestorben ist.

Ich schalte die Lichterkette ein, dann ziehe ich einen Stuhl auf den Platz vor der Hütte. Die Bäume stehen hier recht dicht, und doch kann ich das Wasser des Fjords im Licht der untergehenden Sonne glitzern sehen. Hendrik hat an solchen Abenden oft gefilmt. Im Grunde hat er ständig irgendwelche Videos für sein Studium der Filmwissenschaften gedreht, während ich an meinen Holzfiguren geschnitzt habe. Kleine Trolle, die ich um die Hütte verteilt habe, weil sie einfach in diesen Wald gehören.

Bevor es zu dunkel wird, hole ich den Bildband aus meinem Rucksack und schlage ihn auf. Magische Schnitzereien. Es war der Titel, der mir damals zuerst auffiel. Behutsam schlage ich die erste Seite auf, fahre mit den Fingerspitzen die Konturen der abgebildeten Figur nach. Fast bilde ich mir ein, den Geruch von Holz riechen zu können. Wenn sich der Schaber tief in das Holz gräbt und Schicht für Schicht ablöst. Ich blättere weiter, betrachte jedes Kunstwerk, jedes Foto. Diese besondere Art, mit der mit Licht und Schatten und den Farben gespielt wird, ist einfach unglaublich. Ich lege den Kopf leicht schief, um den Namen des Fotografen am Rand lesen zu können. Jack Bradford. Wer auch immer dieser Jack ist, er hat Talent.

Unter jedem Foto befindet sich eine Bildunterschrift. Mal ist es nur der Titel, dann mehrere Sätze. Schließlich stoße ich auf eine Seite mit einer Schritt-für-Schritt-Anleitung. Meistens sehe ich mir Videos auf Youtube oder TikTok an, in denen verschiedene Holzbearbeitungstechniken gezeigt werden. Doch manchmal schmökere ich auch gern in Büchern, lese mir Dinge nur durch, ohne sie gezeigt zu kriegen. Denn dann spielt es keine Rolle, ob ich Fehler mache. Am Ende zählen nur die fertige Skulptur und das Gefühl, das ich beim Schnitzen habe.

Als es dunkler wird, verziehe ich mich in die Hütte. Die Lichterkette über der Tür erhellt den Raum, aber ich stelle trotzdem noch ein paar Kerzen auf den Tisch. Den Bildband verstaue ich wieder in meinem Rucksack. Ich weiß, dass ich nicht mehr allzu lange hierbleiben sollte. Selbst mit der Stirnlampe ist es irgendwann stockfinster im Wald. Ich habe keine Angst in den Wäldern rund um meine Heimatstadt, aber die Wege sind dennoch tückisch im Dunkeln. Mit Hendrik zusammen … Manchmal ist er einfach stehen geblieben, hat nach meiner Hand gegriffen und Tierlaute imitiert, bis ich vor Lachen geweint habe. Er war so lebendig, so präsent. Einfach da.

Ohne ihn wirkt die Hütte leer, obwohl sie das nicht ist. Alles ist voller Erinnerungen an eine bessere Zeit. Sommerabende, die das Gegenteil von lau und trotzdem wunderschön waren. Stundenlange Gespräche, die wir hier drin geführt haben. Und ein Streit, der damit geendet hat, dass wir unsere hitzigen Köpfe im eiskalten Fjordwasser abgekühlt haben. Alles schreit seinen Namen. So laut und so mächtig, dass ich irgendwann aufstehe und beginne, die Kerzen auszublasen. Eine nach der anderen. Um wirklich sicherzugehen, dass sich keine mehr entzünden kann, nehme ich zwei Finger in den Mund und kühle mit meiner Spucke den Kerzendocht ab. Eine Eigenart, die ich von Hendrik übernommen habe und die mir zugleich noch einmal bewusst macht, dass er nicht mehr da ist. Er ist seit Monaten weg, und er wird nicht wiederkommen, und das wird niemals okay sein.

Als ich mich umdrehe, bleibe ich mit der Schuhsohle an einer Holzdiele im Fußboden hängen. Ich stolpere, schaffe es aber, mich am Fußende des Bettes abzufangen. Mit den Händen umklammere ich das Holzgestell und blicke verwundert nach unten.

Hinter meinem linken Schuh ist ein Loch im Fußboden. Offenbar hat sich ein Dielenstück gelöst. Ich gehe in die Hocke, aber es ist zu dunkel, um etwas zu erkennen. Entschieden angle ich nach meinem Rucksack und hole die Taschenlampe heraus. Ein paar Sekunden später beleuchte ich die Stelle am Boden und ziehe die Diele etwas beiseite.

»Was zum …?« Ich lege die Lampe neben mich und greife in die Öffnung.

Hendrik, Lene, Emil

12 Jahre

Lene saß in der Pause in einer entlegenen Ecke des Schulhofs und las ein Buch, als ihre beste Freundin zu ihr gerannt kam.

»Komm schnell!«, rief sie, packte Lene am Arm und zog sie auf die Beine, sodass ihr das Buch fast aus der Hand fiel.

Überrascht stolperte sie ihrer Freundin hinterher. »Was ist los?«, fragte sie im Laufen und hatte Mühe, nicht über ihre eigenen Füße zu fallen.

»Hendrik und Emil prügeln sich. Mit Kalle und Leander, glaub ich. Sie haben Emils Skateboard kaputt gemacht.«

Mit einem Mal schlug Lenes Herz heftiger. Ihre Brüder taten was? Ruckartig riss sie sich von ihrer Freundin los und stürzte an ihr vorbei. Und dann sah sie es. Eine Menschentraube hatte sich gebildet, ihre Klassenkameraden grölten. Irgendjemand filmte, ein paar Mädchen sahen sich unsicher nach der Lehrerin um. Energisch bahnte Lene sich ihren Weg durch die Gruppe, stieß Mitschüler beiseite, rempelte diejenigen an, die ihr den Weg versperrten. Sie kannte nur noch ein Ziel. Und das lautete, ihren beiden Brüdern zu helfen. Ihr Blick fiel auf Hendrik, der bereits ein blaues Auge hatte und von Kalle im Schwitzkasten gehalten wurde. Dann auf Emil, der gerade gegen das Schienbein von Leander trat. Sein Pullover war an der Seite eingerissen.

Lene zögerte nicht. Wer sich mit einem von ihnen stritt, was auch immer der Grund dafür sein mochte, legte sich automatisch mit allen drei Kindern der Familie Berg an. Ihre Freundin wollte sie noch zurückhalten, warnte sie vor Kalle und Leander, die so viel stärker waren als Lene. Doch das war ihr egal. Niemand tat Hendrik und Emil ungestraft weh. Niemand! Schon gar nicht diese beiden Idioten.

»Halt das mal.« Sie drückte ihrer Freundin das Buch in die Hand. Dann machte Lene zwei große Schritte und griff nach Kalles Arm, um ihn von Hendrik wegzukriegen. Leider war der Typ ziemlich kräftig, Lene hatte keine Chance gegen ihn. Trotzdem gab sie nicht auf. Sie zog und zerrte, bis Hendrik sich aus Kalles Griff wenden und ihn zu Boden stoßen konnte. Seine Nase blutete.

»Spinnst du, Len?« Hendrik drehte sich in ihre Richtung, funkelte sie an, während Kalle sich wieder auf die Beine kämpfte. Sorge und Wut vermischten sich in seinem Blick. »Verschwinde, bevor du dir was tust.«

»Ich pass schon auf mich auf«, entgegnete sie. Ganz im Gegensatz zu ihren Brüdern.

Wie zur Bestätigung stolperte Emil neben ihr, und Hendrik fing ihn auf, sodass er nicht auf dem Boden landete. Leander grinste, holte aus und wollte Emil in die Kniekehle treten. Wieder reagierte Lene blitzschnell. Über den Sinn ihres Eingreifens konnte sie auch später noch mit ihrem Bruder diskutieren. Sie stellte Leander ein Bein. Er verlor das Gleichgewicht und knallte auf den Schulhof. Sofort heulte er auf, und Kalle hielt erschrocken in seiner Bewegung inne. Emil griff nach Lenes Arm und zog sie zurück, Hendrik wischte sich die Nase ab.

»Legt euch nicht mit uns an!«, rief Lene Leander und Kalle zu. »Ihr werdet verlieren, kapiert?« Und zwar immer. Weil sie und ihre Brüder wie die drei Musketiere waren. Alle für einen und einer für alle.

2

Emil

Es ist mir ein Rätsel, wie jemand es für eine gute Idee halten konnte, die Wände des Nobel Peace Center Museums feuerwehrrot zu streichen. Auch nach über vierzig Schichten hier drin kann ich mich einfach nicht an diese aggressive Farbe gewöhnen. Aber die Kundschaft scheint es nicht zu stören. Sie kaufen in unserem Museumsshop alles, was man auch nur im weitesten Sinne mit dem Friedensnobelpreis in Verbindung bringen kann. Bücher, Schokolade, Taschen, Becher, T-Shirts, Postkarten, Kugelschreiber, Tassen, Flaschen. Ich habe zwar keine Ahnung, wieso sich jemand solche Dinge kaufen sollte, aber der Laden läuft. Zweimal pro Woche stehe ich hinter der Kasse, beantworte die Fragen der Touristen sowie der Einheimischen und versuche, mich nicht über die Wandfarbe aufzuregen.

Zum Glück sind es nur noch wenige Minuten, bis Jonna und ich den Laden schließen und die Abrechnung machen können. Allmählich leert sich der Shop, und ich beginne, schon einmal hinter der Kasse aufzuräumen, während Jonna die Regale auffüllt, Bücher und Flaschen wieder ordentlich hinschiebt und T-Shirts und Pullover faltet. Wir sind ein eingespieltes Team, und ich weiß, dass wir nach Ladenschluss nicht allzu lange brauchen werden, um Klarschiff zu machen.

»Endlich!« Punkt siebzehn Uhr schließt Jonna die Tür ab und dreht sich zu mir um. Grinsend mustert sie mich. »Du hast die Wahl, ausgezeichneter Mainstream-Pop oder Indie-Rock?« Sie hält ihr Handy bereits in der Hand und wartet auf meine Entscheidung.

»Womit quälst du mich, wenn ich Mainstream-Pop nehme?«

Ihre Antwort besteht darin, mit dem Daumen über das Display zu streichen. Kurz darauf ertönen die ersten Takte von Olivia Rodrigo. Und ich bin nicht stolz darauf, dass ich das Lied erkenne. Jonna macht lauter und beginnt, durch den Laden zu tanzen. Sie ist ein ständig gut gelaunter Sonnenschein und damit an manchen Tagen genau das, was ich brauche. Die Schichten mit ihr machen definitiv am meisten Spaß.

Kopfschüttelnd beobachte ich aus den Augenwinkeln, wie sie mitsingt und tänzelt und dabei so viel positive Energie versprüht, dass es ansteckend ist. Unwillkürlich muss ich lächeln. Ich bereue es nicht, dass ich für Sven eingesprungen bin, obwohl ich am Wochenende eigentlich für die Prüfungen hätte lernen sollen. Bis gestern hat mein Lernplan auch ausgezeichnet funktioniert. Dann kamen Svens Anruf und fünfzehn Nachrichten von Jonna, in denen sie mich bat, sie nicht hängen zu lassen. Also habe ich den Sonntag nicht wie geplant mit der Nase zwischen meinen Büchern in Drammen, sondern mit Jonna in Oslo verbracht. Nicht unbedingt eine vernünftige Entscheidung, aber definitiv die spaßigere. Und spannender allemal als für Theorie der Vergleichenden Politikforschung zu lernen.

Solange Jonna tanzt und ich die Musik leise vor mich hin summe, mache ich die Abrechnung. Einige Touristen nutzen immer noch Bargeld, während ich mich nicht einmal mehr daran erinnern kann, wann ich das letzte Mal nicht mit Karte bezahlt habe.

»Ich finde, du solltest mitkommen.« Jonna tritt zu mir hinter die Kasse und holt neue Bleistifte aus der Schublade.

»Wohin?«

»Ins Scotsman. Fiona und ich wollen noch etwas trinken gehen.«

»Deine Freundin ist sicher begeistert, wenn ich euer Date crashe.«

»Du crashst gar nichts.« Sie hebt eine Augenbraue. »Außerdem habe ich dich eingeladen.« Jonna bleibt stehen und stößt mich sanft mit dem Ellenbogen in die Seite. »Komm schon. Sobald Semesterferien sind, bist du doch kaum mehr hier. Und Fiona freut sich bestimmt, dich mal wiederzusehen.«

Es ist nicht klug, Jonnas Bitte nachzugeben. Aber sie hat etwas an sich, das mich einfach nicht Nein sagen lässt. Deshalb gebe ich mich geschlagen, und zwanzig Minuten später verlasse ich zusammen mit ihr das Museum durch den Hintereingang. Mein Auto bleibt stehen. Wir laufen am Hafen und dem Rathaus vorbei, biegen dann nach links ab und schlendern schweigend durch die Stadt. Es ist ein warmer Tag, und obwohl langsam die abendliche Kühle Oslo in Beschlag nimmt, ist der Himmel dennoch wolkenlos und tiefabendblau. Und es riecht nach Salz. Der Wind trägt eine sanfte Brise vom Fjord in die Stadt.

Als wir das Scotsman erreichen, wartet Fiona bereits. Und sie wirkt nicht überrascht, mich zu sehen.

»Hi, Emil.« Sie zieht mich in ihre Arme, ehe sie Jonna zur Begrüßung küsst. »Schön, dich zu sehen. Wie geht’s dir?«

Und damit stellt sie mir die Frage, die ich seit beinahe neun Monaten am allermeisten hasse. Weil ich keine Antwort mehr darauf habe, seit mein Bruder tot ist. Gut zu sagen, wäre gelogen, genauso wie schlecht mittlerweile nicht mehr die Wahrheit ist. Es ist irgendetwas dazwischen. Etwas, wofür es keinen Ausdruck gibt.

Ich antworte ihr dennoch so, dass es den Moment für uns alle leichter macht. »Gut. Und selbst? Deine Haare sind rot.« Ich zupfe an einer Strähne und ziehe meine Hand zurück, als Fiona zu lachen beginnt.

»Sind sie. Und Jo hasst es, nicht wahr, Schatz?«

»Ich fand blond einfach besser.« Jonna zuckt mit den Schultern. »Aber wir wissen beide, dass du sie dir auch abrasieren könntest, und trotzdem wärst du für mich der schönste Mensch der Welt.«

»Okay, warte. Habt ihr etwa schon ohne mich angefangen zu trinken?« Fiona mustert erst Jonna, dann mich kritisch.

»Haben wir nicht«, entgegne ich und kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.

»Wieso ist sie dann so gefühlsduselig?«

»Weil ich dich mag?«, schlägt Jonna vor und hakt sich bei ihr unter. »Was ist? Gehen wir rein?« Mit diesen Worten öffnet sie die Tür und zieht Fiona mit sich mit.

Kopfschüttelnd folge ich den beiden ins Scotsman. Noch ist der Pub nicht allzu voll, aber wir sind für Sonntag tatsächlich ziemlich früh dran. Auch wenn ich mitgekommen bin, kann ich mir einen Kater morgen früh nicht leisten. Ganz abgesehen davon, dass ich dann mit dem Bus nach Drammen fahren müsste, und das gleicht einer halben Weltreise. Für die ich ebenfalls keine Zeit habe. Daher hole ich mir nur ein alkoholfreies Bier, während Jonna und Fiona das richtige Zeug bestellen, ehe wir uns einen Tisch suchen.

Im Hintergrund wird typisch schottische Musik gespielt. Heute dominieren die Fiddle sowie der Dudelsack. Automatisch fängt mein Fuß unter dem Tisch an zu wippen, und ich sehe, dass auch Fiona und Jonna im Takt der Musik die Schultern bewegen. Ein Stück von den beiden entfernt befindet sich ein großer Fernseher, der irgendein Vorbereitungstraining für die Bislett Games der IAAF Diamond League zeigt. Bald ist es wieder so weit, und der Leichtathletikwettbewerb in Oslo beginnt. Kurz beobachte ich das Geschehen auf dem Bildschirm, bevor mich die beiden in ein Gespräch verwickeln.

»Also, Emil, was sind deine Pläne für den Sommer? Außer in meiner entzückenden Gesellschaft das NPCM zu schmeißen.« Jonna lacht, und ich kann nicht anders als einzusteigen, obwohl meine Pläne für den Sommer tatsächlich eher traurig sind. Denn die Wahrheit ist, dass ich keine habe. Ich werde die nächsten Wochen zu Hause in Drammen bei meinen Eltern verbringen und Dad vermutlich bei seiner Kampagne unterstützen. Er will sich für die nächste Bürgermeisterwahl in Oslo aufstellen lassen und seine Kandidatur dafür bald offiziell machen. Was ich davon halten soll, weiß ich nicht. Eigentlich könnte Dad mit seinem Job als Bürgermeister von Drammen zufrieden sein. Aber offenbar reicht ihm das nicht. Er will mehr. Der nächste Schritt ist daher Oslo. Ich bin mir nur nicht sicher, ob ihm das gelingen wird.

»Nicht viel«, antworte ich Jonna und fahre mir mit der Hand durch die Haare. Noch weiß niemand von Dads Plänen, weshalb ich sie nicht erwähnen kann. Also erzähle ich ihr einfach von den anderen Dingen, die ich vorhabe. »Ich werde ganz viel schwimmen gehen und mit dem Kajak den Drammensfjord entlangpaddeln. Und vielleicht campe ich ein paar Tage.« Meine Vorhaben sind vage, aber nachdem ich nun so viel gelernt habe und ständig in der Bibliothek saß, brauche ich in den Ferien einfach etwas Natur. Und Wasser. Vor allem ganz viel Wasser. Nichts hilft besser, um den Kopf freizukriegen.

»Das klingt gut«, meint Jonna, und auch Fiona nickt zustimmend. »Wenn du bei einer kleinen Wanderung mal Gesellschaft willst, darfst du dich gern melden.«

»Klein!«, wirft Fiona schnell ein. »Die Betonung liegt dabei auf klein. Ich bin der untrainierteste Mensch der Welt.«

»Alles klar, verstanden.« Ich grinse und nippe an meinem Bier. »Nur eine Miniwanderung für dich.« Ich proste ihr zu, dann lasse ich mir von den beiden von ihren Plänen für den Sommer erzählen. Die tatsächlich auch nicht sonderlich abenteuerreich sind. Da die beiden im Gegensatz zu mir bereits fertig sind mit ihrem Studium und als Architektinnen bei einer großen Firma in Oslo arbeiten, haben sie nicht mehr ganz so viel Freizeit. Hinzu kommt, dass Jonna sich noch immer nicht von ihrem jahrelangen Nebenjob lösen kann, weshalb sie weiterhin mindestens einmal in der Woche im Museum hilft.

Der Abend mit ihnen ist nett, und trotzdem ist mir klar, dass ich mich allmählich auf den Heimweg machen sollte. Bis nach Drammen sind es etwas mehr als vierzig Kilometer, und die Aussicht, morgen früh bereits wieder hinter dem Schreibtisch sitzen und meine Nase in die Bücher stecken zu müssen, übt einen gewissen Druck aus. Natürlich hätte ich auch im Wohnheim schlafen und hier lernen können, aber zu Hause habe ich einfach mehr Ruhe. Mein Wohnheim ist an sich zwar toll, aber es ist oft einfach viel zu laut, weil immer irgendwo eine Party steigt. Was vor einer Prüfungsphase nicht so optimal ist.

Kurz nach zehn verabschiede ich mich von Jonna und Fiona. Ich laufe den Weg zurück in Richtung Museum, vorbei am roten Rathaus, wo sich immer noch einige Touristen tummeln und Bilder machen. Ich kann es ihnen nicht verübeln. Die Beleuchtung am Abend und in der Nacht lässt das Gebäude noch imposanter wirken.

Dads zukünftiger Arbeitsplatz, schießt es mir durch den Kopf. Zumindest, wenn es nach meinem Vater geht. Ich bin gespannt, ob er wirklich Chancen hat, die Wahl zu gewinnen. Ein Selbstläufer wird die Sache definitiv nicht. Nicht nach Hendriks Tod und den vielen bösen Artikeln, die über meine Familie geschrieben wurden. Seit dem 20. August letzten Jahres haben wir alle, und ganz besonders Dad, einen schweren Stand bei den Menschen weit über Drammen hinaus. Eigentlich ist es ein kleines Wunder, dass er nicht zurücktreten musste. Und das alles nur, weil Hendrik … Nein! Ich zwinge mich, nicht darüber nachzudenken. Mein Bruder ist tot, und das wird er bleiben, egal, wie oft ich mir das Hirn über diesen Abend zermartere.

Ich schließe das Auto auf, setze mich hinter das Steuer und will gerade den Motor starten, als mein Handy klingelt. Mein erster Gedanke gilt Jonna. Das macht sie manchmal, mich anzurufen, obwohl wir uns erst vor ein paar Minuten gesehen haben. In der festen Annahme, dass sie es ist, ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche. Und halte überrascht inne.

Freya-Fee leuchtet es mir auf dem Display entgegen. Nur ein paar Buchstaben, ein Name, doch er genügt, um meinen Puls in die Höhe schnellen zu lassen. Monatelang habe ich nichts mehr von ihr gehört. Genauer gesagt, seit Hendrik gestorben und meine Schwester ans andere Ende der Welt abgehauen ist. Seitdem haben auch Freya und ich keinen Kontakt mehr. Denn mit meinen Geschwistern verschwand damals auch sie aus meinem Leben. Die drei Menschen, die mir am wichtigsten waren und mit denen ich am allermeisten Zeit verbracht habe … alle weg. Nicht, weil Freya und ich das bewusst so entschieden hätten, aber … Ich wusste, dass ich sie an meinen Bruder erinnerte. Hendrik und ich sahen uns nicht ähnlicher, als normale Brüder das tun. Unsere Augenfarbe war dasselbe Blau, aber Hendrik war ein bisschen größer als ich und seine Haare etwas blonder als meine. Doch mein Anblick allein hat genügt, um Fee an ihn denken zu lassen. Und mir ging es genauso. Immer wenn ich sie sah, wurde das Vermissen stärker. Also sind unsere Treffen immer seltener geworden. Sieben Monate ist es nun her, dass wir das letzte Wort miteinander gewechselt haben. Dabei war Freya die erste seiner Freundinnen, die ich wirklich mochte. So sehr, dass ich damals auf dieser Party, auf der Hendrik, Lene und ich sie kennengelernt haben, selbst vorgehabt hatte, sie um ein Date zu bitten – doch mein Bruder war schneller gewesen. Sie nach seinem Tod nicht mehr zu sehen, war leichter gewesen. Zumindest in der Theorie.

»Fe… Freya?« Ich weiß nicht, wie ich sie nennen soll. Vielleicht steht mir Fee nach so langer Zeit nicht mehr zu. Aber eigentlich spielt das sowieso keine Rolle. Viel wichtiger ist, warum sie mich anruft, nachdem sie es so lange nicht getan hat.

»Emil.« Ihre Stimme klingt zittrig, als hätte sie geweint.

Augenblicklich zieht sich mein Magen zusammen. »Was ist passiert?«, frage ich und umklammere das Handy ein wenig fester.

»Ich muss … Ich muss mit dir reden. Können wir uns treffen?« Ihre Bitte klingt verdammt drängend.

»Ich bin noch in Oslo.« Und sie mit großer Wahrscheinlichkeit zu Hause in Drammen.

»Wann bist du zurück? Es ist wichtig.« Instinktiv glaube ich ihr. Denn wäre dem nicht so, hätte sie nicht angerufen, dessen bin ich mir sicher.

»In einer Stunde. Ich wollte gerade losfahren und …«

Sie unterbricht mich. »Okay. Kann ich vorbeikommen?«

»Du meinst … heute noch?«

»Ja. Bitte, Emil. Es ist wirklich wichtig.« Freya schafft es, in diese wenigen Worte eine Dringlichkeit zu legen, die mir unmittelbar klarmacht, wie ernst sie es meint.

»Okay, dann … Ich bin in einer Stunde daheim.«

»Alles klar. Ich warte auf dich. Bis später.« Ehe ich mich von ihr verabschieden kann, hat sie schon aufgelegt.

Irritiert lasse ich das Handy sinken und starre durch die Windschutzscheibe nach draußen. Was zum Teufel war das? Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, warum Freya mit mir sprechen will. So dringend, dass sie mich an ihrem Geburtstag anruft. Den halben Morgen habe ich überlegt, ob ich ihr gratulieren soll. Aber nachdem wir so lange keinen Kontakt gehabt haben … Ich habe keine Ahnung, ob sie heute überhaupt gefeiert hat. Oder wie es ihr generell geht. Ob sie sich gefreut hätte, von mir zu hören. Oder ob sie Feiertage einfach nur noch ignorieren will, so wie ich.

Gott. Mit einem Mal erschöpft, reibe ich mir kräftig über das Gesicht. Vor einem Jahr hätte ich nicht einmal darüber nachgedacht. Ich wäre bei ihr vorbeigefahren, und wir hätten alle zusammen gefeiert. Weil wir das früher oft getan haben. Sie war zwar Hendriks feste Freundin, aber auch mit Lene und mir hat sie sich prima verstanden. Wir waren ein Team, denn ihr war klar, dass es uns nur im Dreierpack gab. Drillingsbonus hat Freya es genannt, und manchmal kam sie auch dann bei uns vorbei, wenn sie wusste, dass Hendrik nicht da war. Meistens saßen wir dann im Garten und haben einfach nur geredet. Mal mit Lene, hin und wieder auch nur Freya und ich. Wir hatten einen Draht zueinander. Bis dieser mit dem Tod meines Bruders gekappt wurde. Zack, durchtrennt. Und plötzlich haben wir einander nicht mehr gesehen.

Warum also muss sie jetzt auf einmal so dringend mit mir sprechen?

Die Fahrt nach Hause zieht sich wie Kaugummi. Mit den Fingern trommle ich unruhig auf das Lenkrad. Nicht einmal die laute Musik, die ich angemacht habe, kann mich ablenken. Zum Glück ist die E 18 relativ leer, weshalb ich gut durchkomme. Als ich schließlich nach rechts in die Einfahrt meiner Eltern abbiege, sehe ich sie sofort. Die Scheinwerfer meines Wagens strahlen sie direkt an. Mit beiden Händen umklammert sie ihr Fahrrad, ihr Blick ist starr geradeaus gerichtet. Doch selbst durch die Windschutzscheibe und in der Dunkelheit kann ich erkennen, dass sie geweint hat.

Wieder zieht sich mein Magen zusammen. Sie so verloren zu sehen, macht etwas mit mir. Ich habe sie ewig nicht gesehen, und dennoch fühlt es sich an, als wäre keine Zeit vergangen. Der Impuls, sie in den Arm zu nehmen und alles Böse von ihr abzuhalten, ist direkt da. Ich verdränge ihn, so gut ich kann. Stattdessen schalte ich den Motor ab, ziehe den Schlüssel und atme einmal tief durch. Dann fasse ich nach dem Türgriff und steige aus. Der Kies unter meinen Schuhen knirscht laut.

»Hey …« Langsam gehe ich auf sie zu. Ihre langen, blonden Haare fallen ihr in sanften Wellen über die Schultern, ihre Augen wirken dunkel. Sie sieht aus wie damals – nur unendlich traurig. »Gehen wir rein?« Auch wenn es tagsüber mittlerweile angenehm warm ist, in den Nächten kühlt es immer noch viel zu schnell viel zu sehr ab, und Freya trägt nur eine dünne Jacke.

Sie nickt, was mich ebenfalls nicken lässt. Ich laufe an ihr vorbei zur Haustür und sehe aus den Augenwinkeln, wie sie das Fahrrad an den abgesägten Baumstumpf lehnt, der, seit ich denken kann, im Vorgarten meiner Eltern steht.

»Willst du was trinken?«, frage ich, als sie an der Haustür zu mir aufschließt.

»Nein, danke.«

»Okay. Dann lass uns am besten gleich hochgehen.« Ich deute ihr mit einem Fingerzeig auf meine Lippen an, leise zu sein. Meine Eltern schlafen bereits, und ich habe keine Lust, dass sie aufwachen und Freya und ich ihnen Rede und Antwort stehen müssen. Vor allem, weil ich selbst noch nicht weiß, warum sie hier ist.

Im oberen Stockwerk gibt es genau vier Räume und ein kleines Bad. Das Büro meiner Eltern grenzt an Hendriks altes Schlafzimmer, während das von Lene links neben der Treppe liegt und meins rechts. Wie immer sind alle Türen nur angelehnt, weil niemand außer mir momentan hier oben schläft.

Ich gehe voraus, mache das Licht an und lasse Freya eintreten. Mein Zimmer ist ziemlich chaotisch, da ich heute Nacht nicht mehr mit Besuch gerechnet habe.

»Setz dich einfach irgendwohin«, sage ich und hebe ein paar Klamotten vom Boden auf.

Unschlüssig sieht Freya sich um, ehe sie auf meinem Schreibtischstuhl Platz nimmt. Hastig kicke ich ein paar leere Flaschen unter das Bett und stopfe die Klamotten in den Wäschekorb.

»Dein Chaos stört mich nicht, Emil.«

»Oh.« Ich halte inne und richte mich wieder auf. »Ja. Klar. Okay.« Wieder fahre ich mir durch die Haare, weil ich das oft tue. Besonders dann, wenn ich nervös bin. Dabei gibt es überhaupt keinen Grund dafür. Das hier ist Freya. Fee. Auch wenn sie schon ewig nicht mehr bei uns war, ist sie jemand, der mir vertraut ist.

»Alles Gute zum Geburtstag.« Ich weiß nicht, ob es okay ist, ihr zu gratulieren. Aber es nicht zu tun, ist es irgendwie noch weniger.

Erstaunt sieht sie mich an. »Du weißt es noch?«

»Natürlich.« Als ob ich ihren Geburtstag vergessen würde.

»Danke.« Freya flüstert fast.

»Gern.« Das ist alles. Mehr sage ich nicht dazu, genauso wenig wie sie. Ein Zeichen für mich, dass sie nicht weiter über ihren Tag sprechen will.

Langsam lasse ich mich auf mein Bett sinken und mustere sie eingehend. Ihr Gesicht ist blass, und sie scheint angespannt zu sein, umfasst den Rucksack auf ihrem Schoß fester als nötig. Mit einem Bein wippt sie unruhig hin und her. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie das früher auch schon gemacht hat.

Früher. Der Gedanke lässt mich innehalten. Dieses Früher ist gerade einmal ein paar Monate her. Als Hendrik noch gelebt hat und Lene noch zu Hause war. Als die Drillinge der Familie Berg, die drei Musketiere, noch vereint gewesen waren. Aber nun … Diese eine beschissene Nacht hat alles kaputt gemacht. Angefangen von meiner Familie bis hin zu Freyas Lebensfreude. Sie hat immer so gestrahlt, wenn Hendrik sie mitgebracht hat. Und ich war so neidisch auf sein Glück mit ihr.

Jetzt ist davon nichts mehr übrig. Und ich verstehe das. Ich verstehe es so gut, weil es mir an viel zu vielen Tagen seit letztem Sommer genauso geht. Glück zu empfinden, fühlt sich falsch an.

»Ich muss dir was zeigen.« Freyas Worte reißen mich aus meinen Gedanken. Es kommt Leben in sie, als sie den Rucksack öffnet und einen Laptop hervorholt. »Ich glaube, der hier gehört Hendrik.«

»Du glaubst?« Mein Blick wandert zwischen ihrem Gesicht und dem Laptop hin und her.

»Ich habe ihn vorhin gefunden, und ich kann ihn nicht entsperren, also dachte ich, ich komm her, weil du vielleicht eine Idee für das Passwort hast und …«

»Warte.« Ich unterbreche sie. »Fang von vorne an. Du hast das Ding gefunden?«

Sie nickt.

»Wo?«

»Im …« Sie stockt, und ich sehe, wie sie kurz Luft holt. Als müsste sie erst einmal Mut sammeln, um mir antworten zu können. »Im Wald. Hendrik und ich haben vor knapp einem Jahr eine kleine Hütte auf dem Grundstück meines Großvaters gebaut. Ich war vorhin dort, weil ich …« Dieses Mal stoppt sie sich selbst und schüttelt den Kopf. »Egal. Ich war dort und wollte gerade gehen, als ich irgendwie an einer der Holzdielen hängen geblieben bin. Und darunter war ein Loch, in dem der Laptop lag.«

»Okay?« Nachdenklich sehe ich sie an. »Und du bist dir sicher, dass das Teil Hendrik gehört? Was ist mit deiner Familie? Kann ihn nicht auch Thore dort versteckt haben?« Mein Bruder hat mir von dieser Holzhütte erzählt. Vielleicht hat also auch sie ihrem Bruder oder ihren Eltern gegenüber etwas erwähnt. Immerhin scheint zumindest ihr Großvater Bescheid zu wissen.

»Ja, ich bin mir sicher.« Ihre Antwort kommt prompt. »Es wissen nur Thore und mein Großvater davon, aber außer Hendrik und mir hat niemand einen Schlüssel. Er hat den Laptop dort versteckt. Ganz sicher.« Sie ist so überzeugt von ihren Worten, dass es mir schwerfällt, weiterhin an ihrer Annahme zu zweifeln. Dennoch …

»Wieso sollte mein Bruder einen Laptop in einer Waldhütte verstecken? Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Das versuche ich ja gerade herauszufinden. Aber ich kann das Passwort nicht knacken.« In der nächsten Sekunde steht sie auf und sieht sich nach einer Steckdose für das Ladekabel um. »Der Akku war leer, und ich konnte ihn in meiner Wohnung nicht genug laden, bevor ich hergekommen bin. Darf ich?«

»Ja.« Ich sehe ihr dabei zu, wie sie sich über meinen Schreibtisch lehnt. »Ist es okay, wenn ich den Stecker ziehe?« Nachdem sie sich versichert hat, dass es in Ordnung geht, schiebt sie den Stecker des Ladekabels in die Stromdose. Dann dreht sie sich wieder um und klappt den Laptop auf. Es dauert nicht lange, bis die Oberfläche erscheint, auf der die Eingabe eines Passworts verlangt wird.

»Ich habe schon alles Mögliche versucht, aber nichts davon war richtig.« Hilflos sieht sie mich an.

»Hältst du es echt für eine gute Idee, seine Sachen zu … na ja.« Ich verstumme. Einen kurzen Moment überlege ich, sie aufzuhalten. Wenn der Laptop wirklich Hendrik gehört und er ihn bewusst versteckt hat … Wir haben kein Recht, in seine Privatsphäre einzudringen und seine Daten zu durchwühlen, sollten wir das Passwort knacken. Es wäre falsch, aber … fragen können wir ihn auch nicht mehr. Und wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, verstehe ich Freyas Neugierde. Das hier ist ein Strohhalm. Eine Verbindung zu Hendrik. Vielleicht sogar eine Möglichkeit zu verstehen, warum er das alles getan hat. »Hätte er gewollt, dass wir finden, was dort drauf ist, gäbe es kein Passwort.«

Sie sieht mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Jeder schützt seinen Computer. Du doch bestimmt auch.«

Wortlos nicke ich. Natürlich tue ich das.

Bevor ich etwas sagen kann, fährt sie fort: »Aber Hendrik ist tot. Also kann er mir nicht mehr sagen, warum er dieses Teil in unserer Hütte versteckt hat.« Den Rest ihres Satzes höre ich, obwohl sie ihn nicht ausspricht: Und mir nichts davon erzählt hat. »Er ist tot, Emil«, wiederholt sie. Leiser dieses Mal. »Bist du gar nicht neugierig?«

Doch. Und wie ich das bin. Aber das hier … Vor zehn Minuten wusste ich noch nicht einmal von der Existenz dieses Laptops. Mir war nicht klar, dass Hendrik ein zweites Gerät hatte und es irgendwo versteckt hat. Und das tut weh, weil es anscheinend noch ein Geheimnis mehr ist, das mein Bruder vor mir hatte. Jetzt ist er nicht nur auf Massentierfarmen eingebrochen, sondern hat auch einen Zweitlaptop vor uns versteckt.

»Es tut mir leid.« Freya zieht das Ladekabel aus der Steckdose und steht auf. »Es war eine blöde Idee, herzukommen. Ich sollte dich nicht in eine Zwickmühle bringen, nur weil ich wissen muss …« Wieder unterbricht sie sich selbst. »Ich gehe. Entschuldige die Störung.« Sie ist fast schon an meiner Zimmertür, als ich es endlich schaffe, etwas zu tun.

»Warte!« Ich springe auf und lege meine Hand auf ihren Unterarm, um sie aufzuhalten. »Du musst nicht gehen. Ich bin nur …« Überrascht? Überfordert? »Ich habe nicht damit gerechnet.« Weder mit ihr noch mit diesem Laptop. »Wir probieren es gemeinsam, okay?« Behutsam nehme ich ihr den Laptop und das Kabel ab und setze mich damit auf den Boden vor das Fußende meines Bettes, wo sich eine weitere Steckdose für den Akku befindet.

Eine gefühlte Ewigkeit bleibt Freya regungslos an der Tür stehen, sieht mich nur an, während ich auf den Bildschirm starre und darauf warte, dass das Eingabefeld erscheint.

Irgendwann bemerke ich aus den Augenwinkeln, wie sie wieder näher kommt und sich schließlich neben mich setzt.

»Was hast du alles schon versucht?« Ich drehe den Kopf in ihre Richtung. Und ihr Anblick lässt ein Ziehen in meiner Brust entstehen. Auch wenn uns mindestens dreißig Zentimeter trennen, ist ihr Gesicht dem meinen so nah, dass ich die Trauer in ihren Augen nicht übersehen kann. Ihre sonst leuchtend blauen Augen wirken matt und müde. So, so müde.

»Meinen Namen, seinen Namen, deinen, den von Lene«, beginnt Freya aufzuzählen. »Mal mit unseren Geburtstagen hintendran, mal ohne. Nichts passt.«

»Alles klar.« Ich reiche ihr den Laptop. »Lass uns das aufschreiben.« Ich steige auf mein Bett und hole Stift und Papier vom Schreibtisch, bevor ich beginne, ihre Ideen zu notieren. »Hast du es auch schon mit Fee probiert?«, frage ich und schreibe ihren Spitznamen auf.

»Das ist zu kurz, oder?« Dennoch versucht sie es. Und erhält sogleich die Info, dass auch das falsch ist. »Es gibt Millionen Möglichkeiten. Vielleicht hat er auch irgendeine Kombination mit Drilling gemacht. Drilling123 oder so.« Ihre Finger ruhen auf der Tastatur, und trotzdem sehe ich, dass ihre Hände leicht zittern. »Oder vielleicht ist es etwas mit deinen Eltern. Irgendeine verrückte Zahlenkombi. Oder der Name seines Lieblingsregisseurs. Oder eins von Lenes Hühnern.«

Diese Idee lässt mich kurz lachen. »Hendrik hat die Viecher gehasst.«

»Und genau deshalb wäre es das perfekte Passwort.«

»Niemals, Fee. Das hat er niemals gemacht.« So gut kenne ich meinen Bruder. »Aber du kannst es gern ausprobieren, wenn du willst. Zu verlieren haben wir ja nichts.« Nicht mehr.

»Wie viel Versuche sind denn möglich, bis sich ein Computer komplett sperrt?«

»Kein Plan.« Meiner Antwort folgt ein Schulterzucken. »Ich studiere Politologie. Von diesem ganzen IT-Kram habe ich keinen Schimmer.«

»Dann sind wir ja schon zwei«, murmelt sie. »Kennst du jemanden, der uns helfen kann?«

»Nicht wirklich. Und wenn du mit dem Laptop nicht zur Polizei willst, dann …«

»Auf keinen Fall!« Ihr Blick schnellt zurück zu mir. »Damit sie ihn am Ende noch mehr als radikalen Irren darstellen, als sie das sowieso schon tun? Vergiss es.«

»Du glaubst der Polizei nicht.« Es ist keine Frage.

»Natürlich glaube ich der Polizei nicht.« Sie dreht sich so energisch zu mir, dass ihr der Laptop von den Beinen rutscht. »Hendrik war kein Extremist. Das solltest du doch am allerbesten wissen. Er war liebevoll und freundlich und lustig, und ja, er mochte Tiere. Außer Lenes Hühner. Aber er hätte niemals eine Massentierfarm gestürmt und um sich geschossen, wie manche Artikel das behaupten. Das ist absoluter Bullshit.«

»Warum hätte er sonst dort sein sollen?«, frage ich leise. Nicht, weil ich Freya provozieren möchte oder es anders sehe als sie. Doch ich zerbreche mir seit Monaten den Kopf, was mein Bruder auf diesem Gelände, auf dem er von einem Wachmann erschossen wurde, wollte. Und ich finde einfach keine Antwort. Weil es ist, wie sie sagt: Es passt nicht einmal ansatzweise in das Bild, das ich von meinem Bruder habe. Ja, er hat Tiere geliebt und schon mit zwölf aufgehört, sie zu essen. Aber so weit zu gehen und wirklich in eine Massentierfarm einzubrechen und auf einen Wachmann loszugehen … Das hätte ich ihm niemals zugetraut. Und ich kann es auch jetzt noch nicht glauben.

»Keine Ahnung.« Freyas Blick ist fest auf mich gerichtet. »Aber ich weiß, er war kein Verbrecher. Man kann ihm einiges vorwerfen. Manchmal war er ein Griesgram und verflucht ungeduldig. Und dieses ständige Heute finde ich das toll und morgen schon wieder etwas anderes hat mich wahnsinnig gemacht. Aber das bedeutet nicht, dass er ein schlechter Mensch war.« Sie redet so schnell, so aufgebracht, dass ich nicht anders kann.

Behutsam lege ich meine Hand auf ihre und stoppe sie. »Hey«, sage ich sanft. »Vor mir musst du deine Gefühle nicht rechtfertigen.«

»Okay.« Sie beruhigt sich wieder, nickt und senkt den Kopf. »Ich hasse es, dass er nicht mehr da ist«, flüstert sie dann. »Ich hasse es so sehr.«

»Wir knacken das Passwort«, versichere ich ihr, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll. Denn es gibt nichts, verdammt noch mal. Hendrik ist tot, und diesen Fakt hasse ich mindestens genauso sehr wie sie. Mit diesem beschissenen Überfall auf diese Massentierfarm hat er nicht nur sein eigenes Leben verloren. Nein, wir alle sind in dieser Nacht ein kleines Stück mit ihm gestorben. Und ich habe keine Ahnung, ob wir jemals wieder heil sein werden.

3

Emil

»Guten Morgen, Schatz.«

Es ist kurz nach sieben, als ich die Küche mit einem kleinen Korb frischer Eier betrete. Überraschenderweise sitzt meine Mum bereits am Tisch, auch wenn sie noch immer ihren Pyjama trägt, und blättert durch die Zeitung. Seit mein Bruder tot ist, arbeitet sie nicht mehr und ist meistens nicht vor neun hier unten anzutreffen.

»Morgen«, gebe ich zurück und schnappe mir ein Glas und den Krug mit Orangensaft, den sie schon aus dem Kühlschrank genommen hat.

»Hattest du heute Nacht Besuch?« Mum fackelt nicht lange. Und es wundert mich nicht einmal. Obwohl wir leise waren, hat sie uns anscheinend gehört. Was keine Überraschung ist. Seit Hendriks Tod schläft sie schlecht. Wenn sie es überhaupt tut. Oft liegt sie stundenlang wach, außer sie greift zu ihren Schlaftabletten.

Mir ist es lieber, wenn sie das nicht tut.

»Hm«, murmle ich und setze mich mit meinem Saft zu ihr an den Tisch. Kurz überlege ich, sie anzulügen. Einfach Nein zu sagen und ihr von irgendeiner Serie zu erzählen, die ich angeblich geschaut habe. Es wäre die einfachere Wahl. Die, die Mum weniger wehtun würde. Aber es wäre eben auch die unehrliche. Und ich will nicht unehrlich sein. Nicht ich auch noch. »Freya war da.«

Einige Sekunden lang starrt sie mich reglos da. »Du meinst … Hendriks Freya?«

Ich nicke. »Ja.«

»Warum?«

Das ist der Part, den ich ihr wirklich nicht erzählen kann. Aber etwas zu verschweigen, ist immerhin kein Lügen. Zumindest rede ich mir das ein, während ich Mum antworte: »Es ging ihr nicht gut.«

»Und deshalb kommt sie zu dir? Seit wann?« Ihre Frage klingt, als wäre das völlig absurd. Und irgendwie versetzt mir das einen Stich. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen ihre Trauer bei mir abladen. Sie tut oft genug dasselbe, wenn ihr Kummer sie überrollt. Und Freya und ich … Wir waren Freunde.

»Na ja. Lene ist ja nicht da«, entgegne ich und kann nicht verhindern, dass ich ein bisschen feindselig klinge. »Also bleibe nur ich.«

Meine Schwester hat es sich einfach gemacht. Ein paar Wochen nach Hendriks Tod hat sie verkündet, ihr Studium zu unterbrechen und auf Weltreise zu gehen. Und drei Tage später war sie weg. Hat nicht nur Mum, Dad und mich zurückgelassen, sondern auch ihre sieben Hühner, um die ich mich nun auch noch jeden Tag kümmern darf. Dabei hasse ich Eier. Gott, wenn ich nicht aufpasse, wächst der Groll auf Lene ins Unermessliche. Energisch schiebe ich die Gedanken an meine Schwester, die irgendwo am anderen Ende der Welt ist, beiseite und trinke einen großen Schluck Orangensaft.