The Moment You Found Me - Lost-Moments-Reihe, Band 2 - Rebekka Weiler - E-Book

The Moment You Found Me - Lost-Moments-Reihe, Band 2 E-Book

Rebekka  Weiler

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Beschreibung

Show me your true colors. Aria braucht nur ein paar Kreidestriche, um blanken Asphalt in ein Kunstwerk zu verwandeln. Trotz ihrer Leidenschaft fürs Zeichnen ist sie froh, wenn der Regen ihre Bilder wieder verschwinden lässt. Umso überrumpelter ist sie, als der ambitionierte Fotograf Jack sie für sein Street-Art-Projekt gewinnen möchte. Nach und nach schleicht Jack sich in ihr Herz, bis er ein altes Foto in Arias Elternhaus findet und ihr gemeinsames Glück plötzlich so vergänglich scheint wie ihre Bilder im Regen. Intensiv. Mutig. Leidenschaftlich. Band 2 der gefühlvollen New-Adult-Reihe von Rebekka Weiler. Die Bücher der Lost-Moments-Reihe: Band 1: The Moment I Lost You Band 2: The Moment You Found Me

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Seitenzahl: 584

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Originalausgabe

 

Als Ravensburger E-Book erschienen 2023

 

Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg

 

© 2023, Ravensburger Verlag GmbH

 

Text © 2022, Rebekka Weiler

 

Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München

www.erzaehlperspektive.de

 

Cover- und Umschlaggestaltung

unter Verwendung von Motiven von Dmitr1ch, Crazy Lady, LivDeco,

Ichpochmak, janniwet (alle von Shutterstock)

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN 978-3-473-51149-5

 

ravensburger.com

 

Für

Opa Gustl, Oma Maria, Oma Hilda und Opa Fritz

Die Wurzeln meiner Familie

Playlist

Down – Jack Curley

Josie – The Glorious Sons

Polaroid – Imagine Dragons

Little Bit Of Love – Tom Grennan

The Wire – Patrick Droney

Afterglow – Ed Sheeran

Lost – Blake Rose

Longest Night – Howie Day

Wrecked – Imagine Dragons

Róisín – Pa Sheehy

Things Are Different – Picture This

My Life – Imagine Dragons

Shivers – Ed Sheeran

Through The Fields – Pa Sheehy

Better Days – Dermot Kennedy

The Years Never Waited – Pa Sheehy

Do You Ever Think Of Me – Westlife

Easy On Me – Adele

Konstantine – Something Corporate

Lightning – Mads Langer

Crash – Clara Mae

All Too Well (10 Min) – Taylor Swift

Moments – Florian Christl

Shut Up & Kiss Me – Reese Mastin

Anyone For You (Tiger Lily) – George Ezra

Blurry Eyes – Michael Patrick Kelly

Keep Climbing – Delta Goodrem

1

Aria

»Und? Zeig her.« Wesley ist genauso aufgeregt wie ich, als er nach dem Handy in meiner Hand greift, um auf den Bildschirm sehen zu können. Wortlos lasse ich es mir abnehmen und versuche, meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen. Es sind nur zwei kleine Worte, die mir gerade den Boden unter den Füßen weggerissen haben.

»Nicht bestanden? Ernsthaft?« In Wesleys Stimme liegt pure Ungläubigkeit. Er gibt mir das Handy zurück und sieht mich aus großen dunklen Augen mitfühlend an. »Wie kann das sein? Wir haben uns den Arsch aufgerissen für diese Prüfung und …«

Ich will das nicht hören. Ich weiß, dass er es nur gut meint. Dass er die Schuld für mein Versagen bei jemand anderem suchen will. Doch er wird niemanden finden, denn ich allein bin verantwortlich für dieses Klausurergebnis. Ich und mein blödes Gehirn, das einfach nicht richtig funktioniert. Nicht einmal mit seiner Hilfe.

»Lass gut sein«, murmle ich und stehe auf. »Ich muss los.«

»Du musst … Was? Aber, Aria …« Er schüttelt heftig den Kopf. »Nein, bleib hier. Lass uns drüber reden.«

»Wozu?« Mir ist schon lange klar, dass ich eine Versagerin bin. Wird Zeit, dass auch Wes das versteht. Er ist mein Tutor und mittlerweile ein guter Freund, aber es ist egal, wie viel wir lernen und wie oft er mir Zusammenhänge erklärt, es wird nie genug sein. Wenn ich Glück habe, bestehe ich meine Prüfungen mit Ach und Krach. Knapp am F vorbei. Aber nicht selten leuchtet mir nicht nur ein Wort in der Uni-App entgegen, sondern zwei.

Nicht bestanden.

Ohne ihn noch einmal anzusehen, reiße ich meine Jacke vom Haken. Wes folgt mir und bleibt neben der Tür stehen. Seine Stimme klingt leise und besorgt, als er mich erneut anspricht. »Aria …«

»Keine Sorge. Du bekommst dein Geld fürs Lernen trotzdem.« Ich will mich an ihm vorbeischieben, doch er stellt sich mir in den Weg. Und mit einem Mal sieht er verdammt verärgert aus.

»Du weißt ganz genau, dass es mir nicht darum geht.« Suchend rast sein Blick über mein Gesicht, und ich habe Mühe, dem standzuhalten. Die schwarzen, verwuschelten Locken fallen ihm tief in die Stirn, auf seiner dunkelbraunen Haut glänzt der Schweiß, sein T-Shirt liegt irgendwo auf dem Boden. Es ist nicht zu übersehen, was wir noch vor einer halben Stunde getan haben, ehe ich so blöd gewesen bin, die App zu öffnen. »Komm schon, Aria. Dir geht es offensichtlich nicht gut. Du solltest jetzt nicht allein sein. Bleib einfach da. Wir bestellen was zu essen oder … Lass uns irgendetwas tun, was dir Spaß macht und dich ablenkt.«

Kurz bin ich versucht, sein Angebot anzunehmen. Ihn zurück in sein Bett zu schieben, die Klamotten erneut auszuziehen und zu vergessen, dass ich auch den Kurs für Prozessmanagement im nächsten Semester wiederholen muss. Aber das wäre nicht fair. Ich mag Wes. Er ist nicht nur mein Tutor, er ist auch ein Mensch, der mir viel bedeutet.

»Sei mir nicht böse.« Ich lege ihm eine Hand auf die Brust und spüre sofort, wie schnell sein Herz schlägt. »Aber ich brauche frische Luft.« Das – und meine Kreiden. Denn in solchen Momenten, wenn all meine Mühen sich wieder einmal als nutzlos erwiesen haben, hilft nur noch eins.

Wes lässt mich gehen. Er macht kein Geheimnis daraus, dass es ihm nicht gefällt, doch nachdem ich versprochen habe, ihn heute Abend anzurufen, tritt er zur Seite.

Fünf Minuten später erreiche ich meine Wohnung und schließe die Tür zu dem kleinen Reich auf, das ich mir mit Thao und Isobel teile. Sofort stolpere ich über ein Paar der unzähligen Laufschuhe, die Izzy besitzt. Ein leises Fluchen entfährt mir, doch ich schaffe es, das Gleichgewicht zu halten.

In der WG ist alles still, die beiden sind nicht da. Ich schnappe mir meinen Koffer mit den Pastellfarben, eine Packung Kekse und eine Flasche Wasser, dann eile ich die Treppenstufen schon wieder nach unten. Der Weg ist nicht lang. Ich muss nur drei Blocks laufen, bis ich die großen Bäume am Rand des Druid Hill Parks bereits erkennen kann. Augenblicklich werde ich ruhiger, obwohl ich innerlich nach wie vor zum Zerbersten angespannt bin. Ich verstehe einfach nicht, wieso mein Gehirn nicht in der Lage ist, sich zu konzentrieren und die simpelsten Sätze richtig zu formulieren. Ich kenne die Regeln. Wenn Wes mich fragt, wie ich mir die Schreibweise eines bestimmten Wortes herleiten kann, antworte ich ihm wie aus der Pistole geschossen. Aber sitze ich dann in der Prüfung … Meine Konzentration hält nie lange genug an.

Energisch straffe ich die Schultern. Es hat keinen Zweck, weiter darüber nachzudenken. Wes kann mir noch so oft sagen, dass ich nichts dafür kann oder dass er niemanden kennt, der sich so sehr anstrengt wie ich. Fakt ist und bleibt, dass ich es einfach nicht schaffe, gute Noten abzuliefern, obwohl ich es sollte.

Ich lege meinen Farbkoffer gerade auf der kleinen hölzernen Bank neben der Stelle ab, wo ich immer zeichne, als ich eine vertraute Stimme höre. »Ariana.«

Ich wirble herum. Es gibt nur eine Person in ganz Baltimore, die mich bei meinem vollen Vornamen nennt. »Oh, hi, Ted«, begrüße ich ihn und schiebe mir ein paar Haarsträhnen hinters Ohr. »Ich hab dich gar nicht gesehen.«

»Kein Wunder.« Er lacht und lässt sich neben meinen Kreiden auf der Bank nieder. Wie immer trägt er dieselben Klamotten: eine Stoffhose, die an den Enden etwas zerschlissen ist, und ein altes Shirt, das er fein säuberlich in den Bund gesteckt hat. Über seinem Arm hängt eine braune Jacke, die schon bessere Zeiten gesehen hat, und seine Haare wirken noch ein bisschen grauer als sonst. »Du sahst aus, als wärst du vollkommen in deinen Gedanken versunken gewesen. Wie eine Frau auf einer Mission.«

Ich nehme an, so kann man das Chaos in meinem Kopf auch bezeichnen. Sein Blick ruht auf mir, während ich weitere Farben auspacke und überlege, was ich heute zeichnen will. Es ist schon kurz nach vier, ich habe nur noch ein paar Stunden, bis die Sonne untergeht. Dann muss ich fertig sein und das Foto für Instagram gemacht haben, ehe der angekündigte Regen in der Nacht mein Bild hoffentlich wieder verschwinden lässt.

Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Ted mich immer noch beobachtet. Manchmal sieht er mir stundenlang beim Malen zu. Was bei jedem anderen Menschen gruselig wäre, ist bei Ted … einfach anders. Er wertet nicht. Ich kenne ihn schon seit zwei Jahren, als ich für mein Studium nach Baltimore gezogen bin. Der Park ist sein Zuhause, und obwohl es mir am Anfang seltsam erschien, mit einem Obdachlosen über meine kleinen Kunstwerke – Teds Worte, nicht meine – zu sprechen, gehört beides nun irgendwie zusammen. Ich zeichne und unterhalte mich nebenbei mit ihm. Nicht immer, hin und wieder schweigen wir auch. Aber im Laufe der Monate ist es zur Gewohnheit geworden, dass Ted da ist, wenn ich jedes Mal dieselbe Stelle im Druid Hill Park verschönere.

»Wie geht’s dir?«, frage ich, um von mir abzulenken. Ich war seit ein paar Tagen nicht mehr hier, Prüfungsphase der Sommerkurse, und auch wenn ich immer noch wütend auf mich selbst bin, interessiert es mich wirklich, wie es Ted ergangen ist. »Was macht die Jobsuche?« Es hat eine ganze Weile gedauert, bis er mir erzählt hat, wie er auf der Straße gelandet ist. Mit Mitte vierzig hatte er sich selbstständig gemacht. Doch obwohl er rund um die Uhr gearbeitet hatte, waren die ersten Jahre hart gewesen und er konnte sich keine Krankenversicherung leisten. Genau das wurde ihm zum Verhängnis. Als er mit knapp fünfzig krank wurde, seinen Job aufgeben musste und die Arztrechnungen nicht mehr bezahlen konnte, hatte er kein Geld mehr für die Miete. Das ist nun fast zehn Jahre her.

»Ach.« Er winkt ab und lacht. »Wer würde mich alten Knacker denn noch einstellen?«

»Du bist sechzig, keine hundert«, halte ich dagegen und runzle die Stirn. Damit ist er jünger als meine Eltern. Und es macht mich wütend, dass ihm niemand eine Chance gibt.

»Alter Knacker, sag ich doch.« Sein Lachen verwandelt sich in ein verschmitztes Grinsen, und ich komme nicht umhin, ihn dafür zu bewundern. Seine Lage ist scheiße, anders kann man es nicht ausdrücken, und trotzdem hat er sich irgendwie damit arrangiert. Er macht sich keine Illusionen oder falsche Hoffnungen. Aber anstatt verbittert oder wütend auf die Welt zu sein, ist er notgedrungen zu einem Überlebenskünstler geworden. »Ohne Wohnung kein Job. Ohne Job keine Wohnung. Du weißt doch, wie das in unserem wunderbaren Land läuft.«

Falsch, schießt es mir durch den Kopf. In unserem Land läuft so vieles falsch.

»Also …«, fährt er fort, als könnte ihm nichts die Stimmung verderben. »Was malst du heute?«

Ein leises Seufzen entweicht mir, gleichzeitig schüttle ich den Kopf und muss schon wieder lächeln. Ted schafft es mit Leichtigkeit, mich auf andere Gedanken zu bringen – und mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Im Gegensatz zu seiner Situation ist eine versemmelte Prüfung kein Weltuntergang. Ich kann den Kurs wiederholen, mit Wes dafür lernen und brauche dadurch eben ein bisschen länger für mein Studium als der Durchschnitt. Und auch, wenn ich meinen Eltern nicht mehr als nötig auf der Tasche liegen will, weiß ich, dass sie mich niemals drängen würden, schneller zu studieren.

Unschlüssig blicke ich auf meine Kreiden. An Tagen wie diesem muss ich überlegen, worauf ich Lust habe, während ich an anderen schon beim Betreten des Parks ganz genau weiß, was ich zeichnen werde.

»Wie wäre es mal wieder mit diesem putzigen kleinen Eichhörnchen? Das hast du schon länger nicht mehr gemalt.« Ted hat zwar recht, doch heute ist mir nicht nach einer niedlichen Kinderzeichnung.

Ich schüttle den Kopf und angle nach meiner Tasche, in der sich das Wasser und die Kekse befinden. »Hier.« Ich halte ihm die Packung hin, die er wie immer erst ablehnt und dann doch annimmt, als ich darauf bestehe. Es ist wie ein Spiel, das er jedes Mal verliert, weil ich nicht nachgebe. Ich kann nicht viel für ihn tun, aber auf das bisschen, was in meiner Macht liegt, werde ich nicht verzichten.

»Sind das die mit Schokolade?« Er grinst breit und wirkt plötzlich um einiges jünger, als er eigentlich ist. Ich brauche nicht viel Fantasie, um mir vorzustellen, wie er früher, in meinem Alter, ausgesehen haben muss.

»Die mit Schokolade«, bestätige ich und ziehe meine faltbare Schaumstoffunterlage aus dem Koffer. Während Ted die Packung öffnet, knie ich mich mit etwas Abstand auf den geteerten Weg und betrachte die leere Fläche vor mir. Die Unebenheiten, die kleinen Steine, die ich mit der Hand beiseitestreife. Und dann weiß ich, was ich zeichnen werde.

Ich ziehe die weiße Kreide aus der Box und fange an zu skizzieren. Grobe Umrisse, nur ganz zart. Meine Finger fliegen über den Boden, und je mehr Zeit verstreicht, umso klarer wird die Figur, die ich mit wenigen Handgriffen erschaffe. Ich höre Ted neben mir die Kekse essen, immer wieder bleiben Spaziergänger stehen und sehen mir beim Malen zu. Solange sie mich nicht ansprechen, stört es mich nicht. Ich habe keine Ahnung, warum ich damals für Ted eine Ausnahme gemacht habe, doch irgendetwas an seinen Fragen, mit denen er mich in ein Gespräch verwickelt hat, hat mich berührt. Er wusste, wovon er sprach, und ich hatte das Gefühl, dass er ganz genau verstand, was mir diese Bilder bedeuten. Das Zeichnen ist mein Ding. Und dass er manchmal hier bei mir sitzt, ist unseres geworden.

Ich bin so vertieft in meine Malerei, dass ich nicht bemerke, wie die Zeit verfliegt. Ted ist schon lange fertig mit seinen Keksen. Er isst immer nur die Hälfte, die andere hebt er sich auf. Für schlechte Zeiten, wie er mir einmal augenzwinkernd erklärt hat. Meine Hände sind voller Kreide, genau wie meine Jeans und die Ärmel meines Hoodies, als ich schließlich innehalte und mich aufrichte. Kritisch mustere ich die kleine Badewanne, in der sich ein Schaf den Duschkopf ins Gesicht hält und gleichzeitig versucht, das viele Wasser auszuhalten. Ich lege den Kopf schief und verreibe hier und da noch ein bisschen Farbe, bis ich zufrieden bin.

Es ist Teds Stimme, die mich aus meiner Trance reißt. »Wäre bestimmt spannend, jetzt einen Kunstexperten hinzuzuziehen.«

»Warum?« Ich erhebe mich und strecke mich einmal. So lange in derselben Position zu sitzen, lässt meine Muskeln unangenehm schmerzen. »Es ist doch nur ein Schaf in einer Wanne. Wozu brauchst du dafür einen Experten?«

»Gut. Ich korrigiere mich. Wahrscheinlich brauchst du niemanden, der das Bild für dich interpretiert.« Er klopft mit der Hand neben sich auf die Bank. »Setz dich zu mir und erzähl mir, was passiert ist.«

»Nichts ist passiert.« Ich wende den Blick von ihm ab und gehe zurück in die Hocke. Mit der Badewanne bin ich noch nicht ganz zufrieden. Ich muss mir dringend neue Grautöne besorgen, damit ich die Kanten besser betonen kann. Das Schwarz, das ich stattdessen benutzt habe, ist zu stark dafür.

»Warum bist du denn in Baltimore? Sind nicht Semesterferien?«

Meine Antwort ist ein Schulterzucken. »Sommerkurse.« Die nur die Streber oder absoluten Nieten belegen. Dumme Schafe wie ich. Ich beiße mir auf die Unterlippe, mache ein paar Schritte von dem Bild weg und zücke mein Handy. Noch ist es hell genug. Wie immer achte ich darauf, nichts zu fotografieren, was verraten könnte, wo die Zeichnung entstanden ist oder wer sie angefertigt haben könnte. Ich poste nicht für Ruhm und Ehre oder weil ich berühmt werden will, sondern nur für mich. Weil es die perfekte Art ist, ein digitales Fotoalbum anzulegen. Eine Sammlung all der Bilder, die längst weggespült wurden. Mit etwas Glück regnet es schon heute Nacht, spätestens aber morgen früh. Dann wird nichts mehr an meinen Frust erinnern.

»Ich nenne es Mürrisches Schaf unterm Wasserfall.« Teds Worte lassen mich den Blick wieder heben.

»Ernsthaft?«

»Aber sicher.« Er deutet mit dem Daumen auf meine Zeichnung. »Schau es dir doch an. Ich würde ja Begossener Pudel vorschlagen, aber ich glaube, dann ist das Schaf beleidigt.«

»Du bist verrückt.« Ich grinse und streife mir die dreckigen Hände an meiner Hose ab.

»Ich weiß. Und ich hab es schon wieder geschafft.«

»Was geschafft?«

»Du lächelst.« Damit steht er auf und tippt sich an den nicht vorhandenen Hut. »Danke für die Kekse, Aria.«

»Gern.« Ich sehe Ted hinterher, wie er sich auf den Weg macht. Wo er hingeht, weiß ich nicht. Außerhalb des Parks habe ich ihn noch nie gesehen. Aber das spielt auch keine Rolle. Wann immer ich male, taucht er früher oder später auf und macht, dass die Zeit gefühlt viel schneller vergeht als ohne ihn. Mit der Wasserflasche in der Hand betrachte ich noch einmal mein Werk. Das Schaf ist mir gut gelungen. Vermutlich deshalb, weil ich es ohne nachzudenken gezeichnet habe. Und weil die neuen Kreiden toll sind. Sie sind dünner als meine alten, und ich bin mehr als froh, sie in diesem kleinen Künstlerladen in der North Avenue entdeckt zu haben.

Ich bin gerade dabei, all meine Sachen zusammenzusammeln, als ich ein leises Klicken hinter mir höre. Dann noch eins. Und noch eins. Hastig drehe ich mich um und blicke direkt in das Gesicht eines jungen Mannes, das zur Hälfte von einer Kamera bedeckt wird. Als er sie sinken lässt, kommen tief braune Augen zum Vorschein, die mich an die Farbe von frischem Kaffee erinnern.

»Hi …« Er strahlt über das ganze Gesicht. Als hätte er gerade herausgefunden, dass der Weihnachtsmann doch existiert und leibhaftig vor ihm steht. Doch ich bin definitiv nicht Santa Claus und mir sehr sicher, ihm noch nie zuvor begegnet zu sein. Keine Ahnung, was er von mir will. Er macht drei große Schritte auf mich zu und deutet auf mein Bild. »Das ist unglaublich. Wie schnell du das gemalt hast … Es sah kinderleicht aus.«

Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll, deswegen starre ich ihn einfach nur misstrauisch an.

»Darf ich?«

Ehe ich reagieren kann, hält er sich schon wieder seine Kamera vors Gesicht und knipst wild drauflos. Das Objektiv ist auf meine Zeichnung gerichtet, und ich höre ein Klick Klick Klick nach dem anderen. Und es ist genau dieses Geräusch, das wieder Leben in mich bringt. Leben und Panik.

»Hey! Hör auf damit!«, fahre ich ihn an und stelle mich vor ihn, um ihm die Sicht auf den Boden zu versperren. Ich funkle ihn an und verschränke die Arme vor der Brust. »Was soll das?«

»Sorry.« Er macht sofort einen Schritt zurück und hebt abwehrend die Hände. Die Kamera baumelt an einem Band um seinen Hals. »Ich wollte nicht … Vielleicht sollte ich mich erst … Also, hi, ich bin Jack.« Er streckt mir seine Hand entgegen, die ich allerdings nicht ergreife. Sein ganzer Auftritt ist mir suspekt. »Ich bin Fotograf, wie du unschwer erkennen kannst.« Sein Blick senkt sich kurz auf seine Brust, ehe er mich wieder aus diesen tiefbraunen Augen ansieht. »Ich arbeite an einem Projekt über Street Art in Baltimore und suche seit Wochen nach einer weiblichen Künstlerin.« Die Worte prasseln auf mich ein, und ich habe Mühe, ihnen zu folgen. Projekt. Street Art. Baltimore. Künstlerin.

»Du suchst … Was?« Ich mustere ihn von oben bis unten. Er scheint ein paar Jahre älter zu sein als ich, trägt eine dunkle Jeans und ein blaues Hemd, dessen Ärmel er bis zu den Ellbogen nach oben gekrempelt hat. Um sein Handgelenk befindet sich ein schwarzes, dünnes Lederarmband, und seine Haare sehen so aus, als wäre er gerade erst aus dem Bett gefallen. Sie geben ihm einen verwegenen James-Dean-Look. Wer auch immer dieser Jack ist, er ist unglaublich attraktiv.

»Projektteilnehmer.« Er grinst und korrigiert sich sofort selbst. »Halt, nein. Eine Projektteilnehmerin.« Die letzten beiden Buchstaben betont er besonders. »Hast du Lust? Du wärst perfekt. Ich brauche nur Fotos von dir und deinen Kunstwerken und würde dir ein paar Fragen dazu stellen. Das ist auch schon alles und …«

Ich lasse ihn nicht weitersprechen. »Nein.« Entschieden schüttle ich den Kopf. Es kommt überhaupt nicht infrage, mich öffentlich zu meinen Bildern zu bekennen. Das tue ich auf meinem eigenen Instagram-Account nicht und ganz bestimmt auch nicht für das Projekt eines Fremden. Das hier ist mein sicherer Hafen, den ich nicht teilen möchte. Nicht teilen kann. »Auf keinen Fall.«

»Nein?« Das Strahlen verschwindet aus seinem Gesicht. »Aber … Warum nicht? Du bist gut!« Stirnrunzelnd schiebt er sich die Hände in die hinteren Hosentaschen. Plötzlich scheint er sich unwohl zu fühlen. »Wenn du willst, zeige ich dir Beispiele der bisherigen Teilnehmenden. Dann kannst du dir ein Bild von meiner Arbeit machen und …«

»Danke für das Angebot, aber ich habe kein Interesse.« Ruckartig wende ich den Blick von ihm ab und packe die restlichen Farben in meinen Koffer. Ich spüre deutlich, wie er mich dabei beobachtet, während ich meine Utensilien verstaue und das Schloss zuschnappen lasse. Das Sonnenlicht hat sich mittlerweile in ein warmes Abendrot verwandelt und lässt den Himmel strahlen, was bedeutet, dass es inzwischen später ist, als ich angenommen habe. Wesley wartet bestimmt schon auf meinen Anruf, während ich immer noch hier bin und mit einem Kerl diskutiere, den ich überhaupt nicht kenne. Und der nun Fotos von mir hat.

»Lösch die Bilder.«

»Was?«

»Die Bilder, die du schon gemacht hast.« Ich zeige auffordernd auf seine Kamera. »Ich möchte, dass du sie löschst.« Er ist ein Fremder, ich will keine Fotos von mir oder meinen Zeichnungen auf seiner Speicherkarte wissen.

»Ich soll sie löschen?« Er sieht mich ungläubig an. »Reicht es nicht, wenn ich dir verspreche, sie nicht zu verwenden? Was wirklich eine Schande wäre, dein Bild ist großartig, aber ich würde nie …«

Ich weiß, dass es unhöflich ist, ihn schon wieder zu unterbrechen, allerdings habe ich keine Zeit für unnötige Diskussionen. »Nein, das reicht nicht«, sage ich entschieden und schultere meine Tasche. Mein Griff um die Henkel verstärkt sich. Ich kann einfach nicht riskieren, dass er die Bilder doch für sein Projekt nutzt. Oder dass ich sogar auf einem davon zu sehen bin.

Für einen langen Moment sieht er mich regungslos an. Gerade als es unangenehm zu werden droht, seufzt er leise und schüttelt leicht den Kopf. »Okay. Wie du willst.«

Ich beobachte, wie seine Finger über das Kameradisplay rasen und er meiner Aufforderung nachkommt. Endlich.

»Erledigt.« Er mustert mich ein weiteres Mal eindringlich. »Falls du es dir doch noch anders überlegst, darf ich dir meine Nummer geben?«

»Ich werd’s mir nicht anders überlegen. Danke fürs Löschen.« Nachdem er mich einen Blick auf den kleinen Bildschirm hat werfen lassen und ich keine Bilder mit mir oder meiner Zeichnung darauf erkennen konnte, schnappe ich mir meinen Farbkoffer und will gehen. Doch Jacks nächste Worte lassen mich noch einmal innehalten.

»Du hast wirklich Talent. Bitte. Denk noch mal drüber nach.«

Eine Sekunde lang schließe ich die Augen. Du hast Talent. Fast hätte ich gelacht. In dieser Welt spielt es keine Rolle, ob man halbwegs passabel zeichnen kann. Alles, was zählt, sind Leistung und gute Noten.

Ohne ein Wort zu sagen, laufe ich davon.

2

Jack

Es gibt angenehmere Dinge, als von lautem Hämmern, gefolgt von dem Lärm einer elektrischen Säge, geweckt zu werden. Doch wenn das dreimal in der Woche passiert, gewöhnt man sich daran. Irgendwie.

Müde reibe ich mir über die Augen, ehe ich einen kurzen Blick auf den Wecker werfe. Heute ist Aram früh dran. Es ist gerade einmal halb sieben und er hat bereits die schweren Geschütze aufgefahren. Als müsse er meine Gedanken bestätigen, ertönt im nächsten Moment ein rhythmisches Hämmern aus der Wohnung unter mir. Mir ist längst klar, warum mein kleines Apartment so verdammt günstig zu haben war. Ich ziehe mir mein Kissen über die Ohren, aber es hilft nichts. Das Hämmern wird nur unbedeutend leiser, was nichts anderes heißt, als dass meine Nacht zu Ende ist. Seufzend richte ich mich auf und schiebe die Beine aus dem Bett. Durch das Fenster dringt warmes Sonnenlicht, der Regen hat sich offenbar verzogen. Und damit ist auch das Bild verschwunden, das die namenlose Künstlerin im Park gezeichnet hat. Ihre vehemente Weigerung, sich fotografieren zu lassen, wundert mich noch immer. Sehnen sich nicht alle Kreativen nach Ruhm und Anerkennung? Ich weiß, dass Aram sofort jede noch so kleine Möglichkeit ergreifen würde, die seinen selbst gebauten Holzmöbeln mehr Beachtung schenken würde. Doch die junge Frau im Park … sie ganz eindeutig nicht.

Kopfschüttelnd erhebe ich mich und schlurfe unter die Dusche. Das Wasser tut gut, trotzdem bin ich immer noch hundemüde, als ich zehn Minuten später meinen Kühlschrank öffne und nur gähnende Leere darin vorfinde. Was die logische Konsequenz ist, wenn man vergessen hat, einkaufen zu gehen. Der gestrige Abend in der Galerie war lang und anstrengend, aber ich brauche den Job, wenn ich nicht bald meine Eltern um Unterstützung bitten will. Und das will ich definitiv nicht. Aus Sterling wegzuziehen, war richtig. Genau deshalb werde ich es ohne ihre Hilfe schaffen.

Mit Schwung lasse ich die Kühlschranktür wieder zufallen und mache mir einen Kaffee. Immerhin den habe ich noch da, auch wenn ich ihn heute schwarz trinken muss. Nach zwei Schlucken gestehe ich mir allerdings ein, dass er mit Milch deutlich genießbarer wäre, und schütte die Brühe in den Abfluss. Während ich mir mit einer Hand durch die nassen Haare fahre, schnappe ich mir mit der anderen mein Handy und rufe die Art-App auf, um nachzusehen, ob ich für neue Aufträge angefragt wurde. Auf dieser Plattform können verschiedenste Kunstschaffende sich und ihre Arbeit vorstellen und ihre Dienste anbieten. Ich bin als Fotograf gelistet, es gibt aber auch Angebote für Portraitzeichnungen oder solche, die sich eher auf einen comicartigen Stil spezialisiert haben. Wieder andere basteln und verkaufen jegliche Art von Grafiken oder erstellen kundenspezifische Webseiten. Seit meiner Ankunft in Baltimore benutze ich die App regelmäßig. Vor ein paar Tagen habe ich mein Profil auf Vordermann gebracht, und das hat in kürzester Zeit für mehr Anfragen gesorgt. Heute ist es jedoch nur eine junge Mutter, die wissen will, ob ich auch Neugeborenenshootings mache. Was so ziemlich das Einzige ist, wofür ich kein Händchen habe. Babys machen mir Angst, weil sie so klein und zerbrechlich sind. Mit einer freundlichen Nachricht sage ich ihr ab, schiebe das Handy in meine Hosentasche und greife nach meinen Schlüsseln. Ich muss zwar erst um neun in der Galerie sein, um die Reste der Eröffnungsfeier vom Vorabend zu beseitigen, aber ich glaube nicht, dass Kelly etwas dagegen hat, wenn ich früher anfange.

Mittlerweile ist das Hämmern verstummt, weshalb das Zufallen meiner Wohnungstür im ganzen Treppenhaus zu hören ist. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, mache ich mich auf den Weg nach unten und habe den Hausflur kaum erreicht, als Aram plötzlich seine Tür aufreißt. »Jack.« Er hält eine volle Kaffeetasse in den Händen und grinst mich fröhlich an. »So früh schon auf den Beinen?«

Mit hochgezogener Augenbraue mustere ich ihn. Ist das sein Ernst? »Unfreiwillig«, sage ich und unterdrücke ein Gähnen. »Die Nacht war kurz.«

»Besuch?« Er wackelt anzüglich mit den Augenbrauen, was so skurril aussieht, dass ich lachen muss.

»Leider nicht«, entgegne ich und schiele sehnsüchtig in seine Tasse. Ich muss mir wirklich dringend einen Becher Koffein besorgen. In XXL, wenn ich jetzt schon auf das hellbraune Zeug von Aram neidisch bin, das grundsätzlich mehr aus Mandelmilch als aus Kaffee besteht und nicht einmal eine Ameise wach machen würde.

»Hab ich dich geweckt?« Wie immer sieht er mich vollkommen unschuldig an. Und wie immer kann ich ihm nicht böse sein. Ja, ich bin nur seinetwegen schon auf den Beinen, aber ich habe auch nur seinetwegen diese Wohnung bekommen. Aram ist der Besitzer des Hauses und verlangt fast schon lächerlich wenig für mein kleines Apartment mit Balkon in Baltimores buntem Station-North-Künstlerviertel.

»Ich muss in die Galerie«, antworte ich also ausweichend. Es ist keine Lüge, aber es ist auch definitiv nicht der Grund, warum wir beide um diese Uhrzeit im Hausflur stehen.

Aram nickt wissend. »Die Arbeit, verstehe«, sagt er und nippt an seinem Kaffee.

In diesem Moment öffnet sich die Tür hinter ihm weiter und sein Freund tritt neben ihn. Trent trägt einen dunklen Anzug und hält einen schwarzen Koffer in der Hand. Ganz eindeutig ist er bereit für einen weiteren Arbeitstag in der Kanzlei. »Guten Morgen, Jack«, begrüßt er mich und deutet mit dem Kopf auf Aram. »Er war mal wieder zu laut, richtig?« Ein leises Seufzen folgt seinen Worten. »Ich hab dir schon so oft gesagt, dass deine Hämmerei vor acht nicht zu ertragen ist, Schatz.« Bevor Aram etwas erwidern kann, liegt Trents Blick schon wieder auf mir. »Warum kommst du am Wochenende nicht zum Essen vorbei? Samstag? Um neunzehn Uhr gibt es frischen Fisch und Gemüse nach einem Rezept meiner Mutter.«

Obwohl Aram und Trent mit ihren dreißig nur sechs Jahre älter sind als ich, komme ich mir in solchen Momenten wie ein absolutes Kind vor. Ich weiß noch nicht einmal, was ich heute frühstücken möchte, während die beiden bereits die ganze Woche vorgeplant haben. »Uhm …« Ein wenig überrumpelt sehe ich zwischen ihnen hin und her. »Okay? Warum nicht?«

»Großartig.« Trent schiebt sich an seinem Freund vorbei aus der Wohnung und gibt ihm im Gehen schnell einen Kuss auf die Wange. »Besorgst du den Wein? Ein Chardonnay würde gut passen.« In der nächsten Sekunde verschwindet er aus meinem Blickfeld, und ich bleibe mit Aram, einer Einladung zum Essen und dem stetig wachsenden Bedürfnis nach einer ganzen Wagenladung Koffein zurück.

»Du musst auch los, oder?« Gut gelaunt tritt er von einem Bein auf das andere. »Dann will ich dich nicht aufhalten.«

»Tust du nicht.« Ich unterdrücke ein erneutes Gähnen. »Aber ich sollte trotzdem langsam, ja.« Was ich brauche, sind Bewegung, Kaffee und ein Sandwich. Und zwar genau in dieser Reihenfolge.

Ich verabschiede mich von Aram und trete keine halbe Minute später hinaus in das angenehm warme Sonnenlicht. Der Weg zur Galerie ist nicht lang, und ich mag ihn. Die Straßen in Station North sind von bunter Street Art gesäumt. Überall befinden sich Graffitis an den Hauswänden und Zeichnungen auf dem Boden, und über Nacht kommen oft neue, wunderschöne Stücke dazu. Ich bin gespannt, was mich heute in der Graffiti Alley erwartet. Sie ist eine der beliebtesten Straßen in ganz Baltimore, und es vergeht kaum ein Tag, ohne dass ich Fotos der Kunstwerke schieße, die die Fassaden dort zieren.

Auch heute werde ich nicht enttäuscht. Irgendein Sprayer hat die Nacht genutzt. Ich ziehe mein Handy hervor, mache ein Bild und schicke es meiner besten Freundin Mia. Sie wohnt siebzig Meilen weit weg, in Sterling, und versteht, warum ich aus unserer Kleinstadt wegmusste. Im Gegensatz zu meiner Mom ist sie nicht beleidigt, weil ich hierhergezogen bin. Livia Bradford jedoch … Nein. Ich will nicht schon wieder darüber nachdenken, wie wenig sie und Dad meine Entscheidung akzeptieren. Aber die Aussicht, die nächsten sechzig Jahre in Sterling zu versauern, ohne auch nur die Chance zu haben, als Fotograf Fuß zu fassen, hat mir die Luft zum Atmen genommen. Und das nicht auf die gute Art. Seit vier Monaten bin ich nun in Baltimore, und ich liebe es hier. Die Stadt pulsiert, vibriert vor lauter Leben. An jeder Ecke begegnet einem die Kunst. Graffitis, Kreidezeichnungen, große Plakate mit Werbung für Vernissagen. Und mittendrin ich, mit dem unbändigen Wunsch, selbst irgendwann einmal in einem dieser Gebäude eine Ausstellung haben zu dürfen. Und nicht mehr auf die vielen kleinen Nebenjobs angewiesen zu sein, die die Art-App dann und wann für mich ausspuckt.

Wie erwartet, ist die Galerie leer, als ich ankomme. Zum Glück hat Kelly mir vor ein paar Wochen einen Schlüssel gegeben. Ich husche hinein, und mein Blick rast über das ganze Chaos, das auf mich wartet. Es gibt einiges zu tun, aber es ist nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe. Eine Vielzahl der ausgestellten Portraits wurde bereits gestern Abend verkauft. Kelly hat sie mit einem kleinen Punkt auf den Schildchen daneben markiert. Bevor ich loslege, nehme ich mir einen Moment Zeit, um die Bilder zu betrachten. Die Ausstellung steht unter dem Motto Faces of Baltimore und zeigt eindrucksvoll, wie vielfältig, bunt, schön und ernst das Leben in dieser Stadt ist. Die Fotografin hat ein unglaubliches Gespür dafür, Emotionen einzufangen. Die Portraits sind schwarz-weiß, und trotzdem leuchten die Menschen auf ihnen. Das Fehlen von Farbe gibt den Aufnahmen mehr Tiefe, aber noch faszinierender finde ich die Tatsache, dass Marlina Thompson pro Person nur ein einziges Foto geschossen hat. Hier drin hängen lediglich erste Versuche, und ich glaube, genau das macht die Ausstellung so besonders. Es ist nichts gestellt, nichts geschönt. Sie hat einfach nur fremde Menschen auf der Straße angesprochen und gefragt, ob sie ein Foto von ihnen machen darf. Ein bisschen so wie ich mit der Künstlerin im Park. Wie von selbst wandern meine Gedanken zurück zu ihr. Wegen des Regens in der vergangenen Nacht ist ihre Zeichnung wohl schon nicht mehr da, und ich kann nicht verhindern, dass ich diesen Umstand bedauere. Ihr Bild war unglaublich. Was sie innerhalb kürzester Zeit mit Kreide auf den grauen Asphalt gezaubert hat, ist nicht einmal im Ansatz mit dem zu vergleichen, was ich früher mit meinen Freunden auf die Straße gekritzelt habe. Und ich wage zu behaupten, dass ich nicht schlecht war, auch wenn es mich irgendwann immer mehr hinter die Kamera gezogen hat.

Ich bemerke erst, dass ich immer noch gedankenversunken auf das Foto einer alten Frau mit unzähligen Bändern im Haar starre, als mein Handy in meiner Hosentasche vibriert. Ich ziehe es hervor und werfe einen Blick auf das Display. »Hey, Mia«, begrüße ich sie und mache zwei Schritte von dem Portrait weg.

»Jack Bradford! Ist das dein Ernst?« Sie klingt empört, aber ich bin mir nicht ganz sicher, wie echt das ist. Denn in ihren Worten schwingt auch verdammt viel gute Laune mit.

»Ist was genau mein Ernst?«, frage ich und lasse mich auf einer alten Kiste nieder.

»Das war jetzt das fünfte Foto ohne Text.«

»Okay?« Ich weiß immer noch nicht, worauf sie hinauswill.

»Mann, Jack. Ich bin es nicht gewohnt, dich wochenlang nicht zu sprechen. Wie geht es dir?«

»Mir geht’s gut.« Ihre Sorge lässt mich lächeln, und bevor ich mehr erzählen kann, plappert sie schon weiter.

»Du weißt, dass du mir sagen kannst, wenn es nicht so wäre. Es ist keine Schande, falls du …«

»Mia«, unterbreche ich sie. »Es geht mir wirklich gut. Ich muss nicht unter einer Brücke schlafen oder am Hungertuch nagen.« Noch kann ich zwar nicht von meinen Einnahmen als selbstständiger Fotograf leben, weshalb ich den Job bei Kelly brauche, aber ich bin weit von dem Horrorszenario weg, das Mia sich augenscheinlich in ihrem Kopf ausmalt. »Ehrlich gesagt, bin ich gerade sogar richtig gut beschäftigt.« Mit meiner Arbeit als Aushilfe in der Galerie, meinem eigenen Fotoprojekt, und nächste Woche stehen vier Shootings an, die mir die Miete für den nächsten Monat sichern werden.

»Wirklich? Du lügst mich nicht an?«

Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie ihre Frage nur als Scherz meint. Trotzdem versetzen mir ihre Worte einen kleinen Stich, denn es ist erst etwas mehr als ein Jahr her, dass ich sie in der Tat eine ganze Weile lang angelogen habe. Oder ihr schlicht nicht die Wahrheit gesagt habe, dass ich in sie verliebt bin. War. Die Sache ist vorbei. Mia ist glücklich vergeben, und mittlerweile kann ich sogar zugeben, dass Nathan ihr nicht nur guttut, sondern auch ein echt feiner Kerl ist. »Nein, Mia. Es geht mir wirklich gut. Du kannst gern jederzeit vorbeikommen und dich selbst davon überzeugen. Ich muss dich nur vorwarnen, mein Vermieter baut zwar fantastische Möbel, aber er tut das mit Vorliebe morgens um sechs und …«

»Schon gut, schon gut«, unterbricht sie mich und lacht so offen und ehrlich, wie sie es lange Zeit nicht konnte. »Message angekommen. Es geht dir gut, und ich muss mir keine Sorgen machen.«

»Richtig.« Ich grinse und kneife mir kurz in die Nasenwurzel. »Wie geht es dir? Und Nate und Sarah und Peter?« Ich habe die Fragen kaum gestellt, da überkommt mich auch schon das schlechte Gewissen. Eigentlich muss ich mich nicht wundern, dass Mia mich derart vorwurfsvoll begrüßt hat. Ich bin wirklich miserabel im Kontakthalten. Zum Glück nimmt sie es mir nicht übel und erzählt stattdessen, was ich verpasst habe. Was eine ganze Menge ist. Sie berichtet mir von ihrem Bruder, dessen kleine Tochter inzwischen ein Jahr alt ist und zu laufen beginnt. Von Sarah und Peter, die vor Kurzem zusammengezogen sind. Und von ihrem Freund Nathan, der mithilfe seines Therapeuten große Fortschritte bei der Aufarbeitung seiner Vergangenheit macht. Und während ich Mia lausche, erwische ich mich dabei, wie ich mich einfach nur für ihn freue. Und für sie. Vor allem für sie. Da ist kein Groll mehr, weil sie sich in ihn und nicht in mich verliebt hat. Nach all den Jahren, in denen sie so sehr unter dem Tod unseres gemeinsamen Freundes Brant gelitten hat, hat sie endlich etwas Glück verdient.

»Und dann habe ich Alice davon überzeugt, dass wir dringend ein paar Lichterketten im Laden brauchen. Was erstaunlich leicht war. Ich glaube, seit sie eine Mom ist, hat sie ihren Sinn für Romantik entdeckt.« Mia kichert, und ich merke überhaupt nicht, wie schnell die Zeit vergeht. Erst, als sie ankündigt, dass sie gleich den Blumenladen, in dem sie arbeitet, öffnen muss, realisiere ich, wie lange wir telefoniert haben. Fast eine halbe Stunde. Sie nimmt mir das Versprechen ab, das bald zu wiederholen, dann verabschiedet sie sich von mir, und ich mache mich ans Aufräumen. Ich sammle die benutzten Gläser und Schälchen mit übrig gebliebenen Nüssen von gestern Abend ein, werfe Servietten weg, fülle leere Sektflaschen in Kisten und zähle währenddessen, wie viele Fotografien noch zu haben sind. Fast die Hälfte ist bereits verkauft.

Ich bin gerade dabei, die Stehtische abzubauen, als Kelly die Galerie betritt. Sie trägt eine dunkle Sonnenbrille, und ihre blauen Haare stehen in alle Richtungen ab. Mit Ausnahme der Brille sieht sie also aus wie immer, nur vielleicht einen Tick älter als die achtunddreißig Jahre, die sie ist.

»Jackson«, begrüßt sie mich, und es ist egal, wie oft ich ihr sage, dass ich Jack heiße, sie besteht darauf, mich so zu nennen. Schließlich brauche jeder Künstler auch einen Künstlernamen. Meinen Einschub, dass ich Fotograf und noch lange kein Künstler sei, winkt sie jedes Mal mit einem demonstrativen »Ach, bitte, Jackson« ab. Irgendwann habe ich aufgehört, mit ihr zu diskutieren und mich ihrem Willen gebeugt.

»Bist du schon lange da?«, fragt sie, legt ihre Tasche ab und schiebt sich die Brille nach oben in ihre Locken. Ihre Augenringe sind mindestens so groß wie meine eigenen. Auch ihre Nacht scheint kurz gewesen zu sein. Nachdem sie sich umgesehen hat, kommt ihr Blick auf mir zum Liegen. »Hast du überhaupt geschlafen?«

»Habe ich.« Ich nicke und mache mich an den nächsten Tisch. »Was ist mit dir?«

»Geht so. Ich brauch erst mal Kaffee.« Sie schleicht an mir vorbei und macht sich im angrenzenden Hinterzimmer an der Maschine zu schaffen. Das Ding ist ihr Heiligtum, und ich fasse es nicht ohne Erlaubnis an. Den Fehler habe ich einmal gemacht und nie wieder. »Willst du auch einen?«, ruft sie mir zu.

»Gern«, gebe ich zurück und bringe zwei weitere Tische ins Lager. Mit Kellys Hilfe sollten wir im Nu fertig sein. Was gut ist, denn sie plant, die Galerie und damit die neue Ausstellung am frühen Nachmittag für die Allgemeinheit zu öffnen. Immer für knapp zwei Monate zeigt sie die Werke eines Kunstschaffenden. Gestern Abend fand bereits die dritte Eröffnungsfeier statt, seit ich für sie arbeite. Vor den Fotografien jetzt waren es Holzschnitzereien gewesen, die die griechischen Götter dargestellt hatten. Kleine Figuren, die durch geschickte Lichtinstallationen lebensgroße Schatten an die Wand geworfen und den Raum beinahe in den Olymp verwandelt hatten. Und davor hatten wir mit dem Mund gemalte Landschaftsaquarelle präsentiert, die unglaublich beeindruckend und im Handumdrehen ausverkauft gewesen waren.

Die Galerie ist nicht sonderlich groß, nur ein Raum mit einer Fensterfront, durchzogen von mehreren Säulen. Aber Kelly schafft es dennoch, alle Ausstellungen besonders zu machen. Für jeden Künstler überlegt sie sich individuelle Möglichkeiten, wie sie die einzelnen Werke thematisch passend in Szene setzen kann. Für sie arbeiten zu dürfen, ist eine Ehre, auch wenn ich meistens nur als ihr Handlanger fungiere. Es ist trotzdem schön, Kunstluft zu schnuppern und nicht nur Fotos von den ausgestellten Stücken zu schießen, sondern auch kleine Erinnerungsvideos darüber zu drehen. Kelly ist ein bisschen wie eine Mentorin für mich. Und gleichzeitig ist sie ein eigenes Kunstwerk. Ihre Arme sind von bunten Tattoos geziert, ihre Haare sind jede Woche anders gefärbt, und dennoch strahlt sie eine Autorität aus, die jeden Kritiker überzeugt. Kelly hat Ahnung von dem, was sie hier tut und sich längst einen Namen in der Szene gemacht. Ich bin gespannt, wie viele Besucher sich heute in die Galerie verirren werden.

Mit zwei Tassen Kaffee in der Hand kommt sie zurück und zwingt mich, eine Pause mit ihr zu machen. Ich verkneife mir den Kommentar, dass bisher nur ich gearbeitet habe, und setze mich mit ihr auf die alte Bank neben dem Eingang. Immer wieder sieht sie sich im Raum um. Ich kann es ihr nicht verübeln. Obwohl ich seit einer ganzen Weile hier bin, ist der Anblick der vielen Fotos immer noch beeindruckend.

»Das da ist mein Lieblingsbild«, sagt Kelly plötzlich und zeigt nach rechts auf das Portrait eines jungen Mädchens. Sie hat ein Piercing in jeder Augenbraue und ihre linke Wange wird von einer tätowierten Blumenranke geziert. Es ist fesselnd und irritierend zugleich. Ich kann Kellys Faszination definitiv nachvollziehen, auch wenn ich andere Bilder um einiges ausdrucksstärker finde. Trotzdem kann ich nicht leugnen, dass sie den absoluten Blick für das Schöne, Einzigartige in dieser Welt hat. Irgendwann möchte ich hier drin meine eigenen Fotografien ausstellen.

Ein paar Minuten sitzen wir schweigend nebeneinander. Dann ist Kellys Tasse leer, und sie klatscht sich mit einer Hand auf den Oberschenkel. »Okay, genug getrödelt. Los geht’s.«

Das ist der Startschuss. In den nächsten zwei Stunden bringen wir die gesamte Galerie auf Vordermann. Wir fegen, wir wischen, Kelly aktualisiert die Liste der verkauften Bilder. Und dann ist es früher Nachmittag, wir sind fertig, und sie schickt mich nach Hause. Nur, dass ich nicht nach Hause gehe, sondern aus einem Impuls heraus zurück in den Park. Die Chance, dass sie heute schon wieder da ist, ist vermutlich mehr als gering, aber ich habe Glück. Sie kniet auf dem Boden, vollkommen in ihre neue Zeichnung vertieft, die sich nur ein kleines Stück neben der Stelle befindet, wo sie gestern die Badewanne mit dem Schaf gemalt hat. Ihre braunen Haare sind zu einem wilden Dutt zusammengefasst. Sie trägt ein hellblaues Top, darüber ein offenes Jeanshemd, dessen Ärmel sie nach hinten gekrempelt hat. Und überall auf dem Stoff befindet sich Kreidestaub.

Obwohl ich hinter ihr stehe, hat sie mich bemerkt. »Tut mir leid, Jack, die Antwort ist immer noch Nein.«

»Noch habe ich nicht gefragt.« Aber ich will, das wissen wir beide. Langsam trete ich näher, bis ich neben ihr stehe und mir ansehen kann, in was sie den grauen Asphalt heute verwandelt hat. Ein kunterbunter Heißluftballon gleitet über vereiste Bergspitzen hinweg, die so echt aussehen, dass ich das Gefühl habe, mich in den Appalachen zu befinden. »Das ist gut«, sage ich. Was eine glatte Lüge ist. Es ist herausragend, und ich möchte sie und ihre Kunst so unheimlich dringend fotografieren.

Ihre einzige Reaktion auf mein Lob ist ein kurzes Kopfnicken, ehe sie weitermacht, ganz so, als wäre ich gar nicht hier. Großartig. Sie ist genauso gesprächig wie gestern.

Ich mache ein paar Schritte zur Seite, sodass ich ihr Bild aus einem anderen Blickwinkel betrachten kann. Wortlos sehe ich ihr zu, wie sie zeichnet, mit dem Finger schattiert, weiterzeichnet. Sie scheint meine Anwesenheit vollkommen auszublenden. Heute ist sie allein. Von dem Obdachlosen, der sich gestern mit ihr unterhalten hat, ist nichts zu sehen. Ich weiß nicht, was mich an ihr so fasziniert. Es gibt viele Street-Art-Künstler und auch ein paar -Künstlerinnen in Baltimore, doch ihre Kreidezeichnungen … Sie stechen hervor. Weil sie nicht nur unglaublich gut, sondern vor allem auch vergänglich, nur für den Moment sind. Sie sind das Hier und Jetzt, bleiben nicht. Ein Regentropfen genügt, um das gesamte Werk zu verändern. Weitere Tropfen löschen das ganze Bild in wenigen Minuten aus. Und ich will es festhalten. So sehr.

»Du gibst nicht auf, oder?« Ihr Tonfall ist eine Mischung aus genervt und gelassen. Vielleicht schwingt darin auch ein bisschen Bewunderung mit, weil ich so hartnäckig bin. Ohne mich anzusehen, malt sie weiter, aber ich weiß, dass ich nun ihre Aufmerksamkeit habe.

Ich lasse mich ein kleines Stückchen von ihr entfernt ins Gras sinken und stütze mich mit den Händen hinter meinem Rücken ab. Dank der Sommerluft ist der Rasen bereits wieder trocken. Mein Blick ruht auf ihren Fingern, mit denen sie die Schattierungen der Berge hervorhebt. Vor, zurück, schnell, wirsch und gezielt zugleich. Es ist mitreißend und beeindruckend.

»Ich gebe oft auf«, antworte ich ihr, und mir entgeht nicht, wie sie kurz zusammenzuckt. »Aber immer nur dann, wenn mir etwas egal ist.« Und das hier ist es nicht.

Darauf erwidert sie nichts. Doch sie sagt mir auch nicht, dass ich gehen soll, und das werte ich als ein gutes Zeichen.

»Ich fotografiere Street Art für ein Projekt«, fahre ich fort. »Aber es geht mir nicht nur um die Kunst, sondern auch um den Menschen dahinter.«

Sie reagiert wieder nicht auf meine Worte, doch ich glaube, dass sie mir immer noch zuhört. Also rede ich weiter. »Jede Woche stelle ich einen anderen Straßenkünstler auf meinem Instagram-Account vor. Ich kann dich nicht bezahlen, aber ich habe eine ganz ordentliche Reichweite und … Bisher waren es mit einer Ausnahme tatsächlich nur Männer, die mitgemacht haben, deshalb …« Sie wäre absolut perfekt. Sie und ihre Zeichnungen, die viel zu bewegend sind, als dass sie einfach dem Regen überlassen werden sollten. »Ich brauche nicht deinen echten Namen dafür, falls du dir deshalb Sorgen machst. Ich kann dich einfach Hanna nennen. Oder Polly. Oder Pocahontas. Was immer du willst.« Wichtig ist nur, dass ich nicht bloß ihre Zeichnungen, sondern auch sie als Urheberin fotografieren darf. Kunst und Künstlerin im Doppelpack.

Mein Blick ruht abwartend auf ihr, aber sie sieht mich immer noch nicht an. Stattdessen lässt sie sich Zeit. Sortiert ihre Kreiden, streicht mit den Fingern über den Asphalt. Doch dann sieht sie auf, und noch bevor sie die Worte ausspricht, weiß ich, was sie sagen wird. »Es tut mir leid.« Sie schüttelt den Kopf und klopft sich etwas Kreidestaub von den Beinen. »Ich möchte nicht mitmachen.« Eine weitere Erklärung bekomme ich nicht.

Das ist dann wohl das Zeichen, dass sie genug von mir hat. Eine zweite Abfuhr, die eindeutiger nicht sein könnte. Ich sollte gehen und sie in Ruhe lassen, aber … Ich weiß nicht, was an ihren Bildern, an ihr, es ist, das mich an Ort und Stelle hält. Ich weiß nur, dass ich es ein letztes Mal versuchen muss. »Okay, Vorschlag.« Ich richte mich wieder auf und ziehe die Beine an. Mein Blick ist auf sie gerichtet. »Sieh dir die anderen Projektteilnehmenden und meine Fotos dazu an. Alle bisherigen Beiträge findest du auf Instagram. Mein Profilname lautet Jacks_JPEGs, mit Unterstrich dazwischen. Ist ganz leicht zu finden. Ich würde mich wirklich freuen, wenn du …«

Weiter komme ich nicht, das Klingeln meines Handys unterbricht mich. »Sorry«, murmle ich, ziehe das Ding hervor und starre auf den Bildschirm. Die Nummer, die mir angezeigt wird, hat mich ewig nicht angerufen. Und genau das ist der Grund, warum mein Herzschlag sich augenblicklich verdoppelt und ich den Atem anhalte.

3

Aria

In der einen Sekunde versucht er mich zu überreden, bei seinem Projekt mitzumachen. In der nächsten springt er auf und macht eilig ein paar Schritte von mir weg. Ich sehe ihm hinterher, beobachte, wie er den Anruf annimmt, sein Handy gegen das Ohr presst und zu reden beginnt. Und dann ist er auch schon aus meinem Blickfeld verschwunden, und ich starre immer noch in die Richtung, in die er so schnell gegangen ist.

»Ein Verehrer?« Teds Stimme lässt mich zusammenzucken. Ich wirble zu ihm herum und begegne seinem belustigten Grinsen.

»Nein.« Ich schüttle den Kopf und versuche, damit auch Jacks Worte loszuwerden. Doch es gelingt mir nicht. Obwohl ich ihm seine Bitte nun schon zweimal abgeschlagen habe, lässt er nicht locker. Oder vielmehr ließ, bis dieser Anruf ihn aufgescheucht hat. Ich sammle meine Kreiden zusammen und lasse mich auf dem Asphalt nieder. Die Arme auf die Knie gestützt, blicke ich zu Ted nach oben, der sich wie immer auf die Bank neben meine Zeichnung setzt.

»Sicher? Sieht doch ganz nett aus.«

»Hm.« Ich stopfe meine Farben zurück in den kleinen Koffer. »Ist mir gar nicht aufgefallen.«

Ich habe kaum zu Ende gesprochen, da lacht Ted auch schon schallend los. Es ist so laut, dass es mir fast schon unangenehm ist. »Ist dir nicht aufgefallen«, sagt er und grinst noch breiter als eben. »So, so, Ariana.«

Er weiß genau, dass ich lüge. Trotzdem versuche ich es weiter. Weil ich nicht darüber nachdenken will, wie gut Jack aussieht. Tut er nämlich. »Ich war beschäftigt. Die Bilder malen sich nicht von allein.«

Ted ignoriert mein Schulterzucken, ebenso wie ich meine Gedanken an Jack. »Zum Glück.« Er streckt die Beine aus und deutet auf meine Zeichnung. »Ich sehe dir gern zu.«

»Heute bist du zu spät.«

»Ich hatte Termine.« Er hebt eine Augenbraue, und nun bin ich diejenige, die grinst.

»Termine.« Ich kann es mir nicht verkneifen, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. »So, so.«

»Schon gut, ich bin ruhig.« Er macht eine Drehbewegung vor seinem Mund, als wolle er ein Schloss abschließen. »Was hast du mir heute Schönes in mein Wohnzimmer gemalt?«

Wie immer, wenn Ted nicht von Anfang an da ist, lässt er sich mein Bild in allen Einzelheiten erklären. Heute ist es ein Luftballon, der zum Zerbersten angespannt ist und eigentlich platzen will, aber es einfach nicht kann. Also versucht er, über all die Berge und Steine in seinem Weg hinwegzufliegen. »Ich nenne es Miss Balloon on Tour«, zieht Ted sein Fazit aus meiner kurzen Beschreibung. »Ich mag den Sonnenuntergang hinter den Bergen. Das Rot ist schön.«

»Danke.« Ich lasse mich neben ihn auf die Bank sinken und überkreuze meine ausgestreckten Füße. »Aber eigentlich ist es ein Sonnenaufgang.« Weil das den Beginn eines neuen Tages symbolisiert. Hoffnung. Und das ist etwas, was ich gerade dringend brauche. Der Fakt, dass ich durch die Prüfung gefallen bin, sitzt mir immer noch in den Knochen, auch wenn ich versucht habe, all meine Wut und Enttäuschung aus mir herauszumalen und gestern Abend noch lange mit Wesley darüber gesprochen habe. Aber offensichtlich hat es nicht funktioniert. Das Gefühl, versagt zu haben, will einfach nicht verschwinden, egal, wie sehr ich mich bemühe.

»Aria? Hörst du mir zu?« Sanft pikt Ted mich in den Arm.

»Hm? Was?« Ich zwinge mich, das Wirrwarr in meinem Kopf zu durchbrechen und mich auf den Menschen neben mir zu konzentrieren. »Sorry, ich war nur …«

»… in Gedanken.« Er lächelt wissend, sagt aber zum Glück nichts weiter dazu. Ted weiß, dass ich eine Träumerin bin. Allerdings geht er vermutlich davon aus, dass es schöne Dinge sind, über die ich nachdenke. Weil er keine Ahnung hat, dass für mich das Glas eben nicht immer halb voll ist. Manchmal befindet sich kein einziger Tropfen darin. Und hin und wieder habe ich das Gefühl, nicht einmal ein Glas zu besitzen.

Reiß dich zusammen, ermahne ich mich selbst und starre auf die Zeichnung zu meinen Füßen. Sie ist mir gelungen, und trotzdem bin ich froh, wenn sie bald wieder verschwunden ist. Ich ziehe mein Handy hervor, schieße ein paar Fotos und schiebe es wieder in meine Hosentasche. Den Post auf Instagram werde ich später in Ruhe machen.

Als ich Ted erneut ansehe, lächelt er mir zu. Und obwohl ich immer noch niedergeschlagen bin, kann ich nicht anders, als es zu erwidern. Die Spaziergänger im Park werfen uns manchmal komische Blicke zu, weil ich mich mit einem Obdachlosen unterhalte, aber ich habe schon vor langer Zeit gelernt, das auszublenden. Es sind nichts als Vorurteile. Vorurteile, die ich anfangs selbst hatte, doch nach meinem ersten richtigen Gespräch mit ihm abgelegt habe. Ted ist großartig, auch wenn er kein Geld und keinen feinen Anzug besitzt. Dafür hat er Humor und schafft es immer wieder, mich zum Lachen zu bringen, obwohl mir gar nicht danach ist.

Eine Weile unterhalte ich mich mit ihm, erzähle ihm schließlich sogar von Jacks Bitte. Ted findet die Sache spannend, drängt mich aber nicht dazu, bei dem Projekt mitzumachen. Dennoch ist zwischen den Zeilen herauszuhören, dass er denkt, ich solle zusagen. Ted glaubt an mich und meine Kunst – meistens sogar mehr, als ich es selbst tue.

Am späten Nachmittag muss ich los. Ich will noch mit meinen Mitbewohnerinnen zusammen essen, bevor ich mich auf den Weg zur Arbeit mache.

Als ich zu Hause ankomme, sind Thao und Isobel schon da. Nach einer schnellen Dusche stoße ich in der Küche zu ihnen. Die beiden stehen mit dem Rücken zu mir, und wieder einmal stelle ich fest, wie groß Izzy im Vergleich zu Thao ist. Die ist eher der Typ zierliche Elfe.

Mit drei Tellern in der Hand wirbelt Izzy zu mir herum. »Hey. Hunger?«, fragt sie und verteilt das Geschirr auf dem Tisch. Ihre Augen blitzen vergnügt, wie immer, wenn sie beim Sport war. Ihre langen blonden Haare sind noch feucht und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

»Und wie.«

Es duftet herrlich nach dem vietnamesischen Essen, das Thao gezaubert hat. Reisnudeln mit frischem Gemüse und unzähligen Gewürzen in der Soße nach einem alten Rezept ihrer Großmutter. Nur das Fleisch hat sie weggelassen, weil wir alle keine großen Fans davon sind.

»Ich liebe euch«, seufze ich und setze mich auf den freien Stuhl neben Izzy. Von irgendwoher hat sie sogar ein paar Blumen gezaubert, die mitten auf der winzigen Tischplatte stehen.

»Jups«, entgegnet Thao trocken und rührt seelenruhig weiter in der gelben Soße. Entweder Curry oder Kurkuma, ich bin mir nicht ganz sicher. Vielleicht ist es auch beides. »Du hattest wirklich Glück im Mitbewohnerinnen-Lotto.« Sie grinst mich über ihre Schulter hinweg an und pustet sich eine Strähne ihres pechschwarzen Haars aus dem Gesicht. Thao ist ein Wirbelwind und permanent mit mehreren Dingen gleichzeitig beschäftigt. »Und du«, sie fuchtelt mit dem Kochlöffel in Izzys Richtung, »erzählst uns jetzt bitte endlich von deinem Horrordate.« Im nächsten Moment dreht sie sich komplett zu uns um, und ihr Blick landet wieder auf mir. »Sie spannt mich nämlich seit Ewigkeiten auf die Folter, weil du noch nicht da warst.«

»Es waren maximal vierzig Minuten.«

»Wie auch immer. Es war zu lang. Los jetzt, oder ich versalze das Essen.«

»Das kannst du uns nicht antun, Iz.« Ich stoße sie leicht mit dem Ellbogen an. »Leg los.«

Und das tut sie. Während Thao weiter mit den Reisnudeln und dem Gemüse beschäftigt ist, ziehe ich die Beine an und lausche meiner Mitbewohnerin. Was sie erzählt, klingt ohne Zweifel nach dem schlimmsten Date, das man jemals erleben kann. Der Typ, den sie über eine Dating-App kennengelernt hat, las sich auf dem Papier wie ein absoluter Hauptgewinn. Doch was Izzy nun berichtet, ähnelt eher einem Albtraum.

»Er hat seine Mutter mitgebracht?« Nicht nur mir fällt es schwer, das zu glauben.

»Dein Ernst?«, fragt Thao.

»Ja.« Izzy nickt und verdreht dabei die Augen. »Weil sie es ihm nicht erlaubt, abends allein auszugehen.«

Fassungslos starren sowohl ich als auch Thao sie an. »Ist der Kerl minderjährig?«, platzt es schließlich aus ihr heraus.

»Nein, eher im Gegenteil. Er ist nicht dreiundzwanzig, wie es in seinem Profil steht, sondern mindestens doppelt so alt. Er könnte mein Vater sein.«

»Also war seine Mom …«

»Ungefähr hundertfünf, ja.«

Das ist der Moment, in dem ich nicht mehr an mich halten kann. Ich fange an zu lachen, Thao stimmt mit ein, und schließlich kichert auch Izzy los.

»Ich sollte es einfach lassen«, resümiert sie und zieht an meinen Haaren, die genau wie ihre noch nass sind. »Was ist eigentlich mit dir? Warst du im Park, oder wieso duschst du mitten am Tag? Das ist doch sonst mein Job.«

»Ja, war ich.« Ich nicke und wickle mir eine Strähne um den Finger. Meine Mitbewohnerinnen sind die einzigen Menschen, die sowohl von meinen Lernproblemen als auch von meiner Leidenschaft für das Kreidezeichnen wissen. »Musste ein bisschen Dampf ablassen, weil ich … mal wieder durchgefallen bin«, gebe ich zu und zwirble meine Haarsträhne weiter. »Also noch ein Kurs, den ich wiederholen darf.«

»Ach, Scheiße, das tut mir leid.« Izzy sieht mich mitleidig an. »Kann ich was für dich tun?«

»Nein.« Ich schüttle den Kopf, weil es schlichtweg nichts gibt. Bestünde eine Möglichkeit, hätte Wesley sie mit Sicherheit schon gefunden. »Ihr kocht Essen für mich. Das ist genug.«

»Und es ist auch gleich fertig.« Thao stellt die Reisnudeln auf den Tisch und sieht mich ernst an. »Und wenn du noch mehr Ablenkung brauchst, die nicht aus Kreide oder Geschichten über gruselige Dates besteht, dann lass es uns wissen, okay?«

Dankbar lächle ich sie an. Sie kennen mich nach über zwei Jahren, in denen wir nun schon zusammen wohnen und an der University of Maryland, Baltimore studieren, einfach zu gut. Ein paar Wochen habe ich es geschafft, ihnen zu verheimlichen, dass ich mit Wes nicht nur lerne. Dann haben sie mir beiläufig beim Essen gesagt, dass sie Bescheid wissen und er sich nicht mehr rausschleichen muss. Seit drei Monaten gibt er sich beim Gehen also keine Mühe mehr, nicht über Izzys diverse Turnschuhe zu stolpern.

Während Thao sich ein letztes Mal der Soße widmet und Izzy ein paar WhatsApp-Nachrichten beantwortet, nehme auch ich mein Handy in die Hand und mache den neuen Post fertig. Es ist einfach nur das Bild der Berge mit dem Ballon und eine kurze Caption. Ich schreibe nie viel dazu, will es meinen Followern selbst überlassen, wie sie die Zeichnungen verstehen. Kunst ist individuell und bedeutet für jeden Menschen etwas anderes. Für manche die Welt, für andere gar nichts. Und für mich sind meine Bilder Erinnerungen an die Momente, als ich sie gezeichnet habe. Augenblicke, die nun vergangen sind und so doch weiter bestehen. Ich vergesse ständig, wie man Worte richtig schreibt, kann einfach nicht abrufen, was ich gelernt habe. Aber was ich niemals vergesse, sind diese Minuten, in denen ich gezeichnet habe. Ohne Beobachtung. Ohne Druck. Einfach nur ich und meine Farben und die Vision in meinem Kopf.

Ich schicke den Post ab und erhalte unmittelbar danach die ersten Likes und Kommentare. Und dann halten meine Finger über dem Bildschirm inne.

Jacks_JPEG. Oder Jacks_JPEGs.

Ehe ich mich’s versehe, gebe ich seinen Namen in das Suchfeld ein. Sofort werden mir einige Vorschläge gemacht. Ein paar sind definitiv nicht richtig, doch dann entdecke ich seinen Account. Und klicke ihn an.

Die Bilder laden und … »Was ist das?«

Izzys Stimme, als sie sich über meine Schulter beugt, lässt mich schlagartig zusammenzucken. Ich blicke vom Bildschirm auf und direkt in ihr fragendes Gesicht.

»Nichts« sage ich und will das Handy beiseitelegen, doch sie ist schneller. Sie hält mich auf, mustert das Display und runzelt die Stirn.

»Das sind ziemlich coole Fotos«, meint sie anschließend.

»Hm«, murmle ich und halte nun auch Thao das Handy hin, die mit dem Gemüse und der Soße näherkommt. »Der Fotograf hat mich heute im Park angesprochen.« Und gestern auch schon, aber das verschweige ich ihnen. »Er wollte mich fotografieren. Für sein Projekt.« Ich nicke mit dem Kinn in Richtung Bildschirm.

»Was für ein Projekt?« Izzys Neugier ist geweckt. Und weil ich weiß, dass sie nicht aufhören wird zu fragen, bis ich ihr alles erzählt habe, berichte ich ihnen, was ich über Jack und sein Vorhaben weiß. Was nicht viel ist. »Ganz ehrlich? Das klingt ziemlich cool«, zieht sie ihr Fazit, nachdem ich geendet habe, und sieht mich nachdenklich an. »Wieso willst du nicht mitmachen?«

»Das weißt du doch.« Ich greife nach einem Teller, den Thao mittlerweile gefüllt hat, und nach einer Gabel. »Diese Zeichnungen … Sie sollen meins bleiben. Meine Art der Frustbewältigung und Entspannung und … einfach meins, verstehst du? Abgesehen davon kann ich nicht riskieren, dass meine Eltern diesen Post von ihm entdecken.«

»Nichts für ungut, Aria, du weißt, dass ich deine Eltern liebe. Sie können gerne mal wieder vorbeikommen. Aber … Sie leben in einer vollkommen anderen Welt. Bevor sie einen Post auf Instagram über dich finden, friert die Hölle zu.«

»Haha. Sehr witzig.« Ich verdrehe die Augen und probiere den ersten Bissen. Wie immer, wenn Thao gekocht hat, entsteht eine Geschmacksexplosion in meinem Mund. Am liebsten würde ich die Augen schließen und den Moment einfach nur genießen. Aber das geht nicht, solange Izzy mich anstarrt. Auf ihrem Gesicht kann ich alles ablesen, was sie nicht ausspricht. Im Gegensatz zu Thao, die ein perfektes Pokerface besitzt, wenn es drauf ankommt, ist Izzy ein offenes Buch. Und im Moment steht da verdammt viel Unverständnis geschrieben. Unverständnis und auch ein bisschen Sorge.

»Selbst wenn sie diesen Post entdecken, was wirklich, wirklich, wirklich sehr unwahrscheinlich ist, ich meine, sind wir ehrlich, sie sind nicht gerade die Instagram-Typen … dann wissen sie eben, dass du gerne zeichnest, auch wenn sie selbst nichts damit anfangen können. Aber von deinen Problemen …«