Sommer im Herzen - Mary Kay Andrews - E-Book
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Sommer im Herzen E-Book

Mary Kay Andrews

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Beschreibung

Endlich: Nach "Die Sommerfrauen" und "Sommerprickeln" der neue Roman von Bestseller-Autorin Mary Kay Andrews. Ein Mann, vier Frauen und eine Bar direkt am Strand: der perfekte Sommerroman – große Liebe inklusive Grace Stanton ist eine erfolgreiche Lifestyle-Bloggerin. Als sie jedoch ihren Ehemann dabei erwischt, wie er sie mit ihrer Assistentin betrügt, gehen die Pferde mit ihr durch: Sie fährt seinen teuren, heißgeliebten Sportwagen in den Swimmingpool. Kurze Zeit später passt ihr Haustürschlüssel nicht mehr, ihre Kreditkarten sind gesperrt und auch der Zugang zu ihrem Blog ist gelöscht. Sie reicht die Scheidung ein, doch der Richter verdonnert sie erst einmal zu einer Trennungsbewältigungstherapie. Das hat ihr gerade noch gefehlt! Am Anfang denkt Grace noch, dass sie mit den anderen vier Teilnehmern absolut nichts gemeinsam hat. Doch dann verhält sich die Therapeutin so seltsam, dass die fünf beschließen, ihre eigene Gruppensitzung jeden Mittwochabend in der "Sandbox" abzuhalten. Dabei stellen sie schnell fest, dass sie doch mehr verbindet, als sie dachten. Können sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und zusammen einen neuen Weg ins Leben finden? »Sommerlektüre zum Verschlingen!« TV Movie

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Seitenzahl: 783

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Mary Kay Andrews

Sommer im Herzen

Roman

Aus dem Amerikanischen von Andrea Fischer

FISCHER E-Books

Inhalt

12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243444546474849505152535455565758596061626364656667686970Epilog

1

Hätte Grace Stanton geahnt, dass ihr gewohntes Leben an jenem unauffälligen Maiabend enden würde, wäre sie besser vorbereitet gewesen. Auf jeden Fall hätte sie mehr Unterwäsche und einen anständigen BH eingepackt, ganz zu schweigen von ihrer Feuchtigkeitscreme und dem Aufladegerät fürs iPhone.

Doch Grace verrichtete völlig ahnungslos ihre Arbeit. Sie schrieb Texte und machte Fotos für Gracenotes, ihren Blog, der den eigenen Lebensstil glamourös und verlockend in Szene setzte, so dass völlig normale Frauen (und schwule Männer) ihr Lebenskonzept über Bord warfen, um sich dem Vorbild von Grace anzuschließen.

 

Sie spähte durch das Objektiv ihrer Nikon D7000 und runzelte kurz die Stirn. Ben hatte ihr immer wieder eingeimpft, dass sich ein Runzeln für alle Ewigkeit in die Haut einbrannte. Bewusst versuchte Grace, die Falten auf ihrer Stirn zu glätten, dann konzentrierte sie sich wieder auf das Stillleben vor ihr.

Sie hatte den alten Kieferntisch geschrubbt, bis er stumpf glänzte, und nun schimmerte das durchs Esszimmerfenster einfallende Licht auf dem alten Holz. Mit der rechten Hand rückte Grace eine der zwei nicht ganz zueinander passenden weißen Steinplatten zurecht, die sie auf einem kunstvoll zerknitterten alten französischen Tischläufer aus grobem Leinen platziert hatte. Dann legte sie die riesigen alten Gabeln aus Sterlingsilber wieder auf den Rand, die Zinken nach unten. Sollte sie noch Messer holen? Oder Löffel? Besser nicht. Ihr Markenzeichen hieß »Schlichtheit«.

Zurückhaltung und Minimalismus, dachte Grace und nickte sich fast unmerklich zu. Weniger war mehr. Behauptete Ben jedenfalls immer.

So. Nun die Tischdeko in der Mitte. Grace hatte zuvor drei kleine Palmwedel in der vom Gartenarchitekten neu gestalteten Auffahrt abgeschnitten … Nein, korrigierte sie sich. Auf der Website des Bauunternehmers nannte sich so etwas »Wagenhof«. Die Palmwedel trieben sie noch in den Wahnsinn. Sie hatte sie in eine mit Muscheln besetzte blassblaue Flasche gestellt, die sie am vergangenen Wochenende auf dem Flohmarkt in einer Kiste mit ausrangierten Gegenständen entdeckt hatte. Eigentlich musste das super aussehen. Tat es aber nicht. Die Palmwedel waren zu steif. Zu sperrig. Zu senkrecht.

Grace legte die Wedel neben einen Pappkarton mit dicken roten Tomaten. Besser. Die leuchtende Farbe bildete einen schönen Kontrast zum groben Leinenstoff des Läufers. Auch die runden Formen und leuchtend grünen und gelben Streifen auf dem ungleich gewachsenen Gemüse wirkten apart. Vielleicht konnte sie den Karton leicht kippen und die Tomaten herauskullern lassen? Ja. Viel besser.

Grace holte ein Messer aus dem Sideboard und schnitt eine Tomate auf, drückte vorsichtig auf das Fleisch, bis Samen und Saft auf den Tisch tropften.

Perfekt. Sie hielt die Luft an und drückte auf den Auslöser der Kamera. Klick, klick, klick. Sie zoomte auf die blassen, glibberigen Samen im Vordergrund. Dann stellte sie auf Weitwinkel, und aus den Tomaten wurde ein verschwommener roter Fleck, neben dem die alten Steingutplatten mit ihren altersbedingten Rissen, Sprüngen und braunen Flecken plastisch hervortraten.

»Sehr hübsch«, raunte ihr eine Stimme ins Ohr.

Grace fuhr zusammen.

Ben legte ihr die Hand auf die Schulter und betrachtete das Stillleben.

»Ist das für dein Posting morgen? Für ›Favoriten am Freitag‹?«, fragte er.

»M-hm. Ich hab’s mit Palmwedeln, einem Korb Muscheln und mit grünen Mangos probiert, aber ich finde, mit den Tomaten sieht’s am besten aus, oder?«

Er zuckte mit den Schultern. »Wenn du meinst.«

»Wieso?« Grace studierte sein Gesicht auf der Suche nach Anerkennung. »Gefallen dir die Tomaten nicht?«

»Doch, nett. Sieht nur ein bisschen nach Möchtegern-Künstler aus.«

Sie schob sich eine hellbraune Haarsträhne aus der Stirn und trat einen Schritt zurück. Eine Stunde lang hatte sie die Gegenstände auf dem Tisch nun drapiert und umarrangiert, was sich ihrer Meinung nach im Ergebnis niederschlug. Aber Ben gefiel es offenbar nicht.

»Zu viel Friede, Freude, Landleben?«, fragte Grace mit Seitenblick auf ihren Mann. Bens geübtem Auge entging einfach nichts. Er arbeitete schon seit Ewigkeiten in der Werbung, weshalb ihm kein Detail zu klein oder unbedeutend erschien. Das war der Grund, warum sie so ein tolles Team waren.

»Ist ja dein Blog«, erinnerte er Grace. »Dein Name steht drunter. Und eigentlich sollte das Geschäftliche deine künstlerische Freiheit nicht beschneiden, aber …«

»Aber was? Komm! Ich bin ein großes Mädchen. Ich kann mit Kritik umgehen.«

»Die Leute von Aviento haben uns eine große Kiste mit Musterstücken ihrer neuen Herbstkollektion zur Ansicht für deine Tipps am Montag geschickt«, sagte Ben langsam. »›Toskanische Träume‹ heißt das neue Design. Vielleicht könntest du die Tomaten in eine Schüssel von Aviento legen?«

Grace zog die Nase kraus. »Das ist wirklich das hässlichste Geschirr, das ich je gesehen habe. Es ist ungefähr so italienisch wie Nudeln aus der Dose.«

»Du brauchst ja nicht den ganzen Tisch damit zu decken. Leg doch einfach nur ein paar Tomaten in eine Schüssel. Schließlich gibt Aviento inzwischen eine Menge Geld für Anzeigen bei uns aus, da wäre es nicht schlecht, wenn wir auf unserer Seite auch mal … du weißt schon.«

»Meinen gedeckten Tisch für ›Favoriten am Freitag‹ mit ihren Produkten versauen«, ergänzte Grace seinen Satz. »Hast du versprochen, dass ich ihre Sachen verwende? Sag mir die Wahrheit, Ben!«

»Nein!«, gab er scharf zurück. »Ich würde niemals versuchen, dich auf diese Weise zu beeinflussen. Aber wäre es denn so schlimm, wenn du mal ein paar Fotos mit einer von den Schüsseln probierst? Oder mit einer Schale?«

»Ich werd’s versuchen. Aber wenn das scheiße aussieht, wovon ich ausgehe, setze ich es nicht in den Blog. Okay? Ich erinnere an unsere Vereinbarung, als wir den Blog auf gewerbliche Nutzung umgestellt haben, dass ich mich nicht verkaufen muss, sondern weiterhin die Produkte unserer Werbepartner so verwende, wie es meinem ästhetischen Gefühl entspricht.«

»Ist deine Entscheidung«, sagte Ben, griff zu einer Tomate und untersuchte sie. »Die sehen komisch aus. Was ist das für ’ne Sorte?«

»Keine Ahnung«, sagte Grace, nahm ihm die Tomate vorsichtig wieder ab und legte sie auf den Tisch. »J’Aimee hat sie auf dem Bauernmarkt gefunden.«

»Das Mädchen hat ein gutes Auge«, sagte Ben und warf erneut einen Blick auf den Tisch. »Wie lange brauchst du noch?«

»Gut eine Stunde? Ich mach jetzt noch ein paar Fotos mit den Schalen von Aviento. Dann muss ich die Fotos bearbeiten und den Beitrag dazu noch schreiben.« Sie schaute auf die Uhr. »Lieber Himmel! Ist schon nach sechs. Seit Stunden probier ich jetzt an diesem Tisch herum. Warum hast du denn nichts gesagt?«

»Wollte das Genie nicht bei der Arbeit stören«, entgegnete Ben. »Aber da wir beim Thema sind: Haben wir was Essbares für diese schönen Platten?«

»Nee«, erwiderte Grace entschuldigend. »Tut mir leid. Ich habe die Zeit total aus den Augen verloren. Hör zu, ich knipse noch schnell ein paar Fotos mit dem toskanischen Tand, dann fahr ich rüber zu Publix und hol uns ein bisschen Sushi. Oder vielleicht einen schönen Fisch zum Grillen. Um acht kann ich das Essen auf dem Tisch haben. In Ordnung?«

»Mach lieber deine Bilder«, erwiderte Ben leichthin. »J’Aimee kann uns doch was zu essen besorgen.«

»Nein, ich gehe. J’Aimee musste schon den ganzen Nachmittag Besorgungen für mich machen.«

Ben drückte seiner Frau einen Kuss auf die Stirn. »Dafür sind Assistentinnen doch da, Grace.«

»Aber ich belästige sie nicht gern«, gab sie zurück. »J’Aimee ist erst vor einer Stunde nach Hause gegangen.«

Grace wies auf die Garage hinter dem »Wagenhof«. Seit ihrer Einstellung vor drei Monaten wohnte die 26-jährige Assistentin J’Aimee in dem Apartment über der Garage. Ihr klappriger weißer Honda Accord stand in der dritten Parkbucht, neben Bens schwarzem Audi Cabrio.

Der Bauunternehmer hatte die Wohnung »Schwiegermuttersuite« oder »Kindermädchenwohnung« genannt. Aber Grace’ Mutter wohnte nicht weit entfernt in dem Fischerdorf Cortez und wäre nicht mal unter Androhung von Gewalt in das »Möchtegernschloss« gezogen, wie sie es nannte. Bens Mutter ihrerseits lebte glücklich und zufrieden in Coconut Grove. Und da der Gynäkologe, bei dem Grace in Behandlung war, nicht so recht herausbekam, warum sie nicht schwanger wurde, war das Apartment fürs Erste die perfekte Unterbringungsmöglichkeit für ihre Assistentin.

»Mach die Fotos fertig«, besiegelte Ben die Angelegenheit. »Ich geh rüber und sag J’Aimee Bescheid. Oder noch besser, ich fahre mit ihr zum Supermarkt.«

»Danke.« Grace ging wieder zu ihrer Kamera. »Du bist der Beste.«

Ben tätschelte ihr den Hintern. »Das höre ich gerne.«

Grace verschwand in der Küche. Die schwere Holzkiste mit dem Versandetikett von Aviento stand auf der Arbeitsfläche aus glänzend schwarzem Granit. Wie immer wischte sie ein paar Krümel in die Spüle. Grace konnte den schwarzen Granit nicht ausstehen. Man sah darauf selbst das winzigste Körnchen Meersalz, und sie verbrauchte jede Woche fast einen Liter Glasreiniger, um die Platte zum Glänzen zu bringen.

Aber Ben hatte sich mit dem Innenarchitekten gegen Grace verschworen und diesen Granit bestellt, nachdem der Hersteller angeboten hatte, die Arbeitsplatten gegen eine kleine Anzeige bei Gracenotes zum Selbstkostenpreis zu liefern.

Bald war sie wieder in ihre Arbeit vertieft und registrierte kaum das vertraute Brummen von Bens Wagen, als dieser rückwärts aus der Garage fuhr. Gerade noch rechtzeitig schaute Grace auf und sah, dass er das Verdeck unten hatte. Ben wendete in der Einfahrt und winkte Grace fröhlich zu, bevor er auf die Straße abbog, den Arm lässig über die Rückenlehne des Beifahrersitzes gelegt, wo J’Aimees langes rotes Haar anmutig im Wind wehte.

Ben erinnerte Grace immer an Cary Grant in Über den Dächern von Nizza: ein faszinierender Mann, elegant, distanziert, geheimnisvoll, vielleicht sogar ein bisschen gefährlich? Kurz dachte sie, wie ungerecht das Leben doch war. Mit vierundvierzig war Ben zwar sechs Jahre älter als sie, doch man sah es ihm nicht an. Er nahm kein einziges Gramm zu und schien nicht zu altern. Das ganze Jahr über hatte er seine Tennisbräune, und in seinen wunderbar glänzenden, dunkelbraunen Haaren war noch keine einzige graue Strähne zu sehen. Ja, sogar die zarten Krähenfüße um seine Augen verliehen ihm einen Ausdruck von Weisheit, nicht von Tattrigkeit.

Grace hingegen verschwendete, wie sie fand, besorgniserregend viel Zeit auf die Instandhaltung ihres Körpers. Bei ihrer Körpergröße von 1,60 m wanderte jedes zusätzliche Kilo direkt an den Hintern oder den Bauch. Seit zwei Jahren färbte sie sich auf Anregung ihrer Friseurin Ruthanne das hellbraune Haar. Grace hatte außerdem ein herzförmiges Gesicht, das nach nur dreißig Minuten in der Sonne Floridas eine puterrote Farbe annahm. Das verlieh ihr noch mehr Ähnlichkeit mit einer kleinen Holländerin, zudem Ruthanne es mit den blonden Strähnen etwas zu gut gemeint hatte. Ben bekräftigte zwar jedes Mal, sie sei immer noch so hübsch wie vor sechs Jahren, als sie sich kennengelernt hatten, dennoch war klar, dass Grace nun, da ihre Blogger-Karriere langsam Fahrt aufnahm, noch mehr Wert auf ihr Äußeres legen musste.

Eine Karriere als Bloggerin?

Wenn ihr vor zwei Jahren jemand gesagt hätte, sie könne ihren Lebensunterhalt mit Berichten über ihren Kampf für ein schöneres Leben verdienen, hätte sie denjenigen vermutlich ausgelacht. Und wenn dieser Jemand auch noch behauptet hätte, sie würde so erfolgreich sein, dass Ben seine Stelle aufgäbe, um ihre Karriere zu managen … Also, den Menschen hätte sie wohl als komplett verrückt abgestempelt.

Doch genau so war es gekommen. Ben und Grace standen kurz vor dem großen Durchbruch. Ihr Haus, ein 600 Quadratmeter großer Bau im spanischen Kolonialstil, war ein Musterhaus in der mit einem Golfplatz ausgestatteten geschlossenen Siedlung. Der Bauunternehmer, dessen Frau eine eifrige Leserin von Gracenotes war, hatte ihnen im Gegenzug für ein Werbebanner oben im Blog ein unglaublich gutes Angebot gemacht. Die anderen kostspieligen Ausstattungsmerkmale – Gartengestaltung, Swimmingpool, die Wellnessoase und ihr umwerfendes Badezimmer – waren ebenfalls mit Werbeanzeigen verrechnet worden.

Grace hatte schon immer gerne geschrieben und jahrelang mit dem Fotoapparat herumprobiert, doch kaum hatte der Blog Fahrt aufgenommen, war er verschiedenen Chefredakteuren und Fernsehproduzenten ins Auge gefallen. Daraufhin wurde nicht nur in einem halben Dutzend Zeitschriften über ihr Haus berichtet, Grace bekam auch Aufträge für Artikel, Fotostrecken und als Innenarchitektin. Inzwischen war sie Regionalredakteurin bei den Zeitschriften Country Living und Bay Life, und im nächsten Monat würden sie mit einer TV-Produktionsfirma aus Kalifornien beginnen, eine Fernsehsendung für Home and Garden TV zu drehen.

Das alles nur wegen ihres albernen kleinen Blogs.

 

Sie hätte nicht sagen können, warum sie aufwachte. Normalerweise war Grace eingeschlummert, sobald ihr Kopf auf dem Kissen lag, und schlief so fest, dass sie sogar den Hurrikan Elise verpasst hatte. Ben neckte sie immer wieder damit, sich nicht mal gerührt zu haben, als der Wind das komplette Dach von der Veranda ihres ehemaligen Hauses in einer der etwas heruntergekommenen Gegenden von Bradenton riss.

Nach dem Abendessen hatte sich Grace in ihr Arbeitszimmer zurückgezogen, den Beitrag für Gracenotes verfasst und redigiert und die Fotos bearbeitet, bis sie schließlich um kurz vor elf auf »Veröffentlichen« klickte und neben ihren bereits schlafenden Mann in die Federn kroch.

Aus welchem Grund auch immer saß sie nun aufrecht im Bett. Es war nach ein Uhr nachts. Ihr Herz klopfte, ihr Mund war trocken. Schlecht geträumt? Grace konnte es nicht sagen. Sie schaute zu Bens Seite hinüber. Niemand da.

Sie rieb sich die Augen. Ben war bestimmt unten im Medienraum und sah sich ein Golfturnier im Fernsehen an, oder er war in der Küche und suchte etwas Essbares. Gähnend taperte Grace die Treppe hinunter, überlegte, was sie selbst essen wollte.

Doch das Erdgeschoss lag im Dunkeln, der Medienraum war leer. Grace ging in die Küche. Auch dort keine Spur von ihrem Mann. Die Küche war so makellos wie vor drei Stunden, nachdem sie das Geschirr vom Abendessen gewaschen und die vermeintlich toskanische Keramik wieder verstaut hatte. Weder Glas noch Löffel lagen in der Spüle.

Grace runzelte die Stirn, und diesmal dachte sie dabei nicht an die Falten. Sie sah im Gästeklo unten nach, doch auch da war Ben nicht zu finden. Sie lief wieder nach oben und spähte in die beiden Gästezimmer, aber die waren einsam und verlassen. Zögernd ging Grace zurück ins Schlafzimmer und überlegte, ob sie Ben auf dem Handy anrufen solle. Als sie das Telefon zusammen mit seiner Brieftasche auf einer Kommode liegen sah, entspannte sie sich ein wenig. Dann fiel ihr auf, dass die Schlüssel vom Audi fehlten, und ihr Herz setzte kurz aus. Sie ging zum Fenster und schaute hinaus, konnte aber nichts erkennen. Der Mond war nur eine schmale Sichel, die zudem von einer großen Wolke verdeckt wurde. Der Garten war in Dunkelheit getaucht. Grace konnte nicht einmal die Garage ausmachen.

»Schon gut«, sagte sie zu sich selbst und staunte gleichzeitig, dass sie Selbstgespräche führte. Sie zog ihr Nachthemd aus und schlüpfte in eine Shorts und ein T-Shirt, die Füße schob sie in ein Paar Flipflops. »Ihm ist sicher nichts passiert. Vielleicht ist er draußen am Pool und raucht heimlich eine Zigarre.«

Die Flipflops klatschten laut über die Marmorstufen, das Geräusch hallte im hohen Treppenhaus wider. An der Hintertür streifte Grace die Schlappen ab und stellte vorsichtig die Alarmanlage aus, ehe sie auf die Terrasse trat. Sie hielt inne, legte die Hand aufs Herz und befürchtete, es würde ihr jeden Moment aus der Brust springen.

»Ben?«, flüsterte sie. Es war stockdunkel, man sah nur das blass türkisblaue Wasser des Pools und die unheimlichen grünen Strahler, die die Dattelpalmen hinten im Garten beleuchteten. Zikaden zirpten, in der Ferne hörte man einen Lkw über die Straße rumpeln. Mit ausgestreckten Händen schlich Grace voran, schob sich an den beiden Liegen am Rande der Terrasse vorbei, spürte den groben Korallenkies unter ihren Füßen.

Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Nirgends auf der Terrasse oder im Garten war eine glühende Zigarre zu erkennen. Grace schaute zur Garage hinüber. In J’Aimees Apartment brannte kein Licht, das Tor war geschlossen. Ob Bens Auto wohl da war?

Für einen kurzen Augenblick verselbständigte sich ihre Phantasie. Ben ohnmächtig oder sogar tot am Lenkrad seines Wagens, ein Unbekannter hinter der Ecke lauernd. Sollte sie zurück ins Haus huschen, irgendeine Waffe suchen oder sogar die Polizei rufen?

»Stell dich nicht so an!«, murmelte Grace vor sich hin. »Du bist ein großes Mädchen. Guck jetzt einfach in der Garage nach. Du wohnst in einer bewachten Siedlung, Herrgott nochmal. Das schlimmste Verbrechen ist hier, wenn ein Hund auf den Rasen kackt.«

Auf Zehenspitzen schlich sie zur Garage, machte dabei einen Bogen um die elektronisch gesicherten Metalltore, begab sich in Richtung Seitentür und versuchte sich zu erinnern, ob diese verschlossen war oder nicht.

War sie nicht, zum Glück. Der Knauf ließ sich leicht drehen, Grace trat in den dunklen Raum, tastete nach dem Lichtschalter an der Wand.

Dann hörte sie etwas … schweren Atem. Sie erstarrte. Eine Männerstimme. Die Worte waren nicht zu verstehen, aber es war eindeutig Ben. Ihre Hand suchte nach dem Schalter, fand ihn, und die Garage wurde in helles Licht getaucht.

Eine Frau kreischte auf.

Grace blinzelte in die blendende Lampe. Sie sah Ben auf dem Fahrersitz des Audis. Er hatte einen nackten Oberkörper, mit der rechten Hand schützte er seine Augen vor der Helligkeit. Sein Haar war zerzaust, seine Wangen leuchteten rot.

»Grace?« Hektisch schaute er sich um.

In dem Moment wurde ihr klar, dass er nicht allein im Auto saß. Ihre erster Instinkt war, auf dem Absatz kehrtzumachen und wegzulaufen, aber sie wurde von dem schwarzen Sportwagen angezogen wie eine Motte vom Licht. Das Verdeck war unten. Grace schaute hinein und erkannte die unverwechselbare flammrote Mähne.

J’Aimee, ihre treue, unschätzbar wertvolle Assistentin, kauerte nackt im Fußraum des Beifahrersitzes und versuchte sich in Luft aufzulösen.

»Was ist das denn?!?«, schrie Grace und riss an der Beifahrertür.

»Es tut mir leid, Grace, es tut mir so leid«, stieß J’Aimee aus, die Augen so groß wie Untertassen.

Ihre Kleidung war überall in der Garage verstreut, und da Grace nun genauer hinsah, erkannte sie, dass es Bens Hemd war, das über der Windschutzscheibe hing. Es war sein teures, maßgeschneidertes blassblaues Hemd aus ägyptischer Baumwolle mit Monogramm, das Grace ihm zum Geburtstag geschenkt hatte.

Durch die geöffnete Beifahrertür konnte sie ohne große Schwierigkeiten sehen, dass auch ihr Mann nackt war – falls man es als nackt bezeichnen konnte, wenn man die Jeans um die Knöchel hängen hatte.

Kurz fragte sich Grace, ob sie gerade einen besonders schlechten Traum erlebte. Hatte sie nicht eben noch geschlafen? Das konnte doch nicht Wirklichkeit sein. Doch nicht Ben! Ben liebte sie. Er würde sie niemals betrügen. Entschlossen schüttelte sie den Kopf, schloss die Augen, öffnete sie wieder.

Nein, es war kein Albtraum. Und es war nicht zu verkennen, wobei sie die beiden gerade gestört hatte. Heiße Wut kochte in ihr hoch.

»Schlampe!«, keifte Grace und riss J’Aimee mit einem heftigen Ruck am Oberarm aus dem Auto.

»Au«, jammerte ihre Assistentin.

Grace stieß sie gegen die Wagentür.

»Hör auf!«, weinte J’Aimee. Sie war blass, ihre Sommersprossen hoben sich stark von ihrer milchig-weißen Haut ab. Aus irgendeinem Grund registrierte ein kranker Winkel von Grace’ Hirn zufrieden, dass J’Aimee für eine so junge Frau seltsam pendelförmige Brüste hatte. Und sie war nicht einmal von Natur aus rothaarig.

»Hör du auf!«, rief Grace und ließ ihre Assistentin los.

»Mein Gott!«, keuchte J’Aimee. Sie hielt sich die Arme schützend vors Gesicht, und Grace zögerte. Noch nie hatte sie jemanden geschlagen. Sie ließ die Hand sinken und sah die junge Frau böse an.

»Hey, Grace«, mischte sich Ben ein. Er rutschte auf seinem Sitz herum, versuchte vergeblich, unauffällig die Hose hochzuziehen. »Versteh das jetzt bitte nicht falsch. Das …«

»Schnauze, halt einfach die Schnauze!«, schrie Grace mit glühenden Augen. Kurzfristig vergaß sie J’Aimee. Sie flitzte zur Seite ihres Mannes, doch bevor sie dort ankam, war es ihm gelungen, hinterm Lenkrad hervorzuschlüpfen, seine Hose hochzuziehen und den Reißverschluss zu schließen.

»Wie kannst du nur!« Grace trommelte mit den Fäusten auf seinen Kopf und Oberkörper ein, ohne erkennbare Wirkung. Ihr war bewusst, dass sie wie eine Verrückte kreischte, konnte die Gefühle aber nicht kontrollieren. »Du und J’Aimee? Meine Assistentin? Hast du sie gebumst? Unter meinem Dach?«

Ben griff nach ihren Händen und hielt sie fest. »Nein!«, log er. »Es ist nicht so, wie du denkst. Hör zu, wenn du dich beruhigst, können wir darüber reden, ja? Ich weiß, dass das hier nicht gut aussieht, aber es gibt für alles eine einleuchtende Erklärung.«

»Ach ja, welche denn? Seid ihr beide mitten in der Nacht nach draußen in die Garage geschlichen, um in deinem Wagen ein Meeting abzuhalten? Bei freier Kleiderwahl? Und auf einmal kam J’Aimee auf die Idee, Wiederbelebungsversuche an deinem Penis durchzuführen? Ist das die einleuchtende Erklärung für das hier?«

»Beruhige dich«, wiederholte Ben. »Du regst dich viel zu sehr auf …«

Aus dem Augenwinkel nahm Grace eine Bewegung wahr und sah gerade noch rechtzeitig, wie J’Aimee ihre Sachen aufsammelte und verschwinden wollte.

»O nein!«, sagte Grace. »So einfach kommst du mir nicht davon.« J’Aimee war schon durch die Tür geschlüpft, Grace folgte ihr.

»Lass mich in Ruhe!«, keuchte die Assistentin und lief in Richtung Haus. »Ich rufe die Polizei, wenn du mir zu nahe kommst … Das ist tätliche Bedrohung!«

»Du weißt gar nicht, was ›tätlich‹ bedeutet«, rief Grace. Als ihre nackten Füße auf den Rasen traten, der von den automatischen Sprengern feucht war, zuckte sie zusammen, blieb aber nicht stehen, sondern lief weiter J’Aimee nach, die für eine unbekleidete junge Frau erstaunlich langsam war. Grace war nur noch wenige Meter hinter ihrer Assistentin. Sie streckte die Hand aus, um J’Aimee an den Haaren festzuhalten, doch die Mähne entwischte ihr.

»Fass mich nicht an!«, keifte J’Aimee und entfernte sich rückwärts. »Das meine ich ernst!«

Grace war schneller als erwartet. Sie bekam J’Aimees Arm zu fassen, das Mädchen begann zu schreien.

Im Haus nebenan ging das Licht an. Hinten auf dem Grundstück begann ein Hund zu bellen.

»Hau ab!«, kreischte J’Aimee, ließ ihre Kleidung auf den Rasen fallen und fuchtelte mit den Armen in Grace’ Richtung. »Hau ab!«

Plötzlich hörten sie das tiefe Summen und metallische Klappern des sich öffnenden Garagentors. Grace schaute über die Schulter zurück und sah Ben auf sich zukommen. »Bist du verrückt?«, rief er. »Um Himmels willen, Grace, lass sie los!«

Fuchsteufelswild wandte sich Grace zu ihrem Mann um, und J’Aimee nutzte diesen Moment, um sich flink aus ihrem Griff zu befreien. Sprachlos beobachtete Grace, wie ihre Assistentin nackt über die Terrasse huschte. Kurz darauf verschwand sie hinter einer dichten Hibiskushecke, die das Grundstück der Stantons von dem der Nachbarn trennte.

»Sieh zu, dass du wegkommst, du Schlampe!«, kreischte Grace. »Du bist gefeuert! Hast du mich verstanden? Ich kündige deinem fetten Arsch!«

Lässig schlenderte Ben über den Rasen, die Hände zu einer vorsichtigen Kapitulationsgeste erhoben. »Schon gut, Grace«, sagte er und machte dabei tiefe, beruhigende Geräusche, so als versuche er, eine Katze aus dem Baumwipfel zu locken. »Alles gut. Ich weiß, dass du sauer bist. Das verstehe ich. Können wir jetzt reingehen? Du machst dich hier gerade zum Affen. Komm, gehen wir rein, ja? Ich koche uns einen Kaffee, dann können wir in Ruhe …«

»Wir gehen nicht ins Haus«, fuhr Grace ihn an. »Was soll ich mit Kaffee? Willst du mich verarschen? Glaubst du, ein Löffel Starbucks Extra Bold macht alles wieder gut? Wir bleiben hier stehen. Hast du mich verstanden?«

»Die gesamte Nachbarschaft kann dich hören. Könntest du bitte etwas leiser sprechen? Deine Stimme ein klein wenig senken?«

»Einen Teufel werd ich tun!« Seine Ruhe machte sie noch aggressiver, als sie eh schon war. Grace formte mit den Händen einen Trichter um den Mund. »Hey, Leute! Alle Nachbarn – aufgewacht! Hier ist Grace Stanton. Ich habe meinen Mann Ben Stanton gerade dabei erwischt, wie er meine Assistentin bumste!«

»Hör auf«, zischte Ben. »Ich habe sie nicht gebumst.«

»Fehler«, grölte Grace in den Himmel. »Sie hat ihm einen geblasen. Mein Fehler, Leute.«

»Du bist verrückt«, fuhr Ben sie an. »Diesen Blödsinn werde ich mir nicht länger anhören.« Er stapfte in Richtung Haus. »Wir können uns unterhalten, wenn du dich wieder beruhigt hast.«

»Eine Frage noch, Ben!« Grace lief ihm nach und packte ihn an der Schulter. »Diese Antwort bist du mir schuldig.«

»Was?« Starr vor Zorn wirbelte er herum. Grace entdeckte drei kleine rote Punkte an seinem Schlüsselbein. Knutschflecke? Ihr 44-jähriger Ehemann hatte Knutschflecke? Plötzlich wurde ihr übel. Sie musste schlucken.

»Wie lange läuft das jetzt? Wie lange vögelst du sie schon?«

»Ich …« Er zuckte die Achseln. »Komm mit rein, ja?«

»Wie lange?« Grace spürte, wie ihr heiße Tränen in die Augen sprangen. »Sag es mir, verdammt nochmal. Das war heute nicht das erste Mal, oder? Sag mir die Wahrheit: seit wann?«

»Egal was ich sage, du wirst mir nicht glauben«, erwiderte Ben leise.

»Sag mir die Wahrheit, dann glaube ich dir«, gab Grace zurück.

»Nein«, sagte er sanft. »Es war nicht das erste Mal. Aber wir bekommen das wieder hin, Grace.«

»Wir bekommen das hin?« Grace explodierte vor weißglühender Wut. »Wir bekommen das hin?«, schrie sie in den Himmel. »Er bumst sie schon wer weiß wie lange und meint, dass wir es wieder hinbekommen.«

»Jetzt reicht es«, sagte Ben. »Ich stehe nicht hier rum, um mich von dir demütigen zu lassen.«

»Wag es nicht, jetzt abzuhauen«, drohte Grace.

»Ich bin weg«, entgegnete er. Getreu seiner Ankündigung ging er ins Haus.

Sie flitzte zur Hintertür und stellte fest, dass Ben abgeschlossen hatte.

»Lass mich rein, verdammt nochmal!«, kreischte Grace und hämmerte gegen das Holz.

Keine Reaktion. Sie trat gegen die Tür. Nichts.

Grace sah sich um, suchte irgendwas, um die Glasscheibe einzuschlagen. Da fiel ihr Blick auf den Kleiderberg, den J’Aimee bei ihrer übereilten Flucht zurückgelassen hatte.

Sie sammelte die Kleidungsstücke auf und ging damit zur Terrasse. Mit gerecktem Hals suchte sie die Hibiskushecke in der Hoffnung ab, dort J’Aimees knochigen weißen Arsch zu entdecken, falls sie sich zwischen den Blättern versteckte, oder besser noch, vom Nachbarhund, einem bösartigen Chow-Chow-Mischling namens Peaches, gebissen wurde. Doch nichts regte sich im Laub.

Grace hatte eine Idee. Sie ging zurück zur Terrasse und knipste das Licht der Außenküche mit den Granitarbeitsflächen und dem sechsflammigen Gasgrill an.

Im Mai hatte sie auf Gracenotes einen Beitrag übers Grillen verfasst:

Mr. Stanton und ich haben das Glück, in Florida zu leben, wo eigentlich immer Grillsaison ist. Doch nur weil wir draußen essen, muss ich noch lange keine verbrannten Würstchen auf dünnen weißen Papptellern servieren. Ich lege gerne ein weißes Matelassé-Betttuch diagonal auf die Glasplatte unseres Terrassentischs und beschwere es mit zwei mächtigen schmiedeeisernen Kerzenhaltern. Wenn es sehr windig ist, stelle ich Votivkerzen in alten Einmachgläsern auf, gefüllt mit gebleichten Muscheln. Gerade für einen zwanglosen Anlass wie diesen braucht man keine passenden Teller. Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Ich hasse es, wenn alles zu einheitlich ist! Stattdessen bevorzuge ich eine Kombination bunter Teller in frischen Farben wie Türkis, Grün, Rosa, Gelb und Orange, die ich im Laufe der Jahre auf Flohmärkten und in Billigläden gefunden habe. Dazu Besteck mit elfenbeinfarbenen Bakelitgriffen, übergroße schlichte weiße Geschirrtücher von IKEA und ein Gesteck aus leuchtenden Zinnien aus dem Garten – so ist die Botschaft an meine Gäste perfekt: Der Spaß kann beginnen!

Apropos Spaß – Grace schmunzelte vor sich hin, als sie J’Aimees Klamotten (ein T-Shirt, eine Shorts, einen BH und einen rosa Tanga) auf die Granitfläche legte, in den Barkühlschrank aus Edelstahl griff und eine perfekt gekühlte Flasche Corona herausnahm. Eigentlich mochte sie Bier nicht besonders, auch hatte sie keine Limette zur Hand, aber das war jetzt nicht zu ändern. Grace öffnete die Flasche und trank einen langen Schluck, dann einen zweiten. Sie drückte auf den Zündknopf der vorderen Kochstelle, und die blaue Flamme schoss mit einem befriedigenden Zischen hervor.

Das Bier war gar nicht so schlecht. Grace trank noch einen Schluck und warf den Slip in die Flamme. Der kleine Fetzen aus Synthetik entzündete sich sofort und war nach ein oder zwei Sekunden verglüht – was eine Enttäuschung war. Die kurze Hose gab schon mehr her. Grace sah gebannt zwei, drei Minuten lang zu, bis sie zögernd das T-Shirt und nach weiteren fünf Minuten den BH dazulegte. Der dick gepolsterte BH schwelte einige Minuten vor sich hin und ließ eine stinkende schwarze Wolke aufsteigen.

Grace sah sich um, suchte mehr, das sie ins Feuer werfen konnte. Da fiel ihr Bens Hemd ein, das noch auf der Windschutzscheibe des Audis lag.

Ben liebte teure Dinge. Grace hingegen, die über der Kneipe ihrer Eltern im nahe gelegenen Fischerort Cortez groß geworden war, hatte sich mit den Luxusgütern nie so richtig wohl gefühlt, an die ihr Mann als das verhätschelte Einzelkind eines Bankdirektors in Miami gewöhnt war. An dem Tag, als sie das Hemd für 350 Dollar bei Neiman-Marcus gekauft hatte, war sie zuvor zweimal wieder gegangen, bis sie sich endlich zum Kauf des verfluchten Teils überwunden hatte.

Grace stand im offenen Garagentor und betrachtete mit böse funkelndem Blick den Audi. Wenn Ben das Hemd liebte, so war der Audi, ein Spyder-R8-Cabrio von 2013, sein Ein und Alles. Er war besessen von dem Wagen. Ben hatte den Audi direkt nach der Unterzeichnung des Vertrags mit Home and Garden TV gekauft, ohne Rücksprache mit Grace zu halten. Auch später wollte er nicht sagen, was er dafür bezahlt hatte, behauptete nur, er hätte einen »Deal« ausgehandelt. Doch als sie im Internet nach den Preisen forschte, stellte sie schockiert fest, dass die Karre für 175000 Dollar in der Liste stand! Irgendwie war es Grace gelungen, die Verärgerung darüber hinunterzuschlucken, dass sie nicht in die Entscheidung einbezogen worden war. Ben als Finanzminister der Firma konnte sicher abschätzen, ob sie sich den Wagen leisten konnten.

Grace ging zur Fahrerseite herum und zupfte das Hemd von der Windschutzscheibe. Der Schlüssel steckte noch im Zündschloss.

Ehe sie sich versah, wischte sie mit dem Hemd über das Lederpolster des Schalensitzes – nur für den Fall – und schob sich hinter das Lenkrad. Sie drehte den Schlüssel und lächelte, als der kraftvolle Motor zum Leben erwachte.

Ben hatte ihr nicht gerade verboten, den Audi zu fahren, aber ermutigte hatte er sie auch nicht dazu. Er behauptete, es sei »eine Menge Auto« für eine Frau, und wies darauf hin, dass ihre Erfahrung mit Gangschaltungen begrenzt war. Dabei hatte sie das Autofahren im ramponierten Chevy-Pick-up ihres Vaters gelernt, der ebenfalls eine Gangschaltung hatte.

Vielleicht, dachte Grace, würde sie mit dem Auto einfach eine kleine Spritztour durchs Viertel machen. Das würde Ben so richtig auf die Palme bringen. Sie hoffte, er sah von einem der Fenster im ersten Stock aus zu. Er würde einen Schlag bekommen, wenn er sie hinter dem Lenkrad entdeckte. Grace legte den Rückwärtsgang ein und rollte vorsichtig aus der Garage.

Mit einem Wendemanöver wie aus dem Bilderbuch wollte sie die Einfahrt hinter sich lassen. Da wurde die Küchentür aufgerissen.

»Grace!«, rief Ben. »Was glaubst du, was du da tust?«

»Mach ’ne Spritztour«, gab sie fröhlich zurück und prostete ihm mit der Corona-Flasche zu.

»Spinnst du?«, fuhr er sie an und kam nach draußen. »Du hast was getrunken und bist nicht in der Lage zu fahren. Steig aus meinem Auto!«

»Dein Auto?« Sie hob die Augenbraue.

»Du weißt, was ich meine«, sagte er. »Du hast deinen Spaß gehabt. Jetzt treibst du es zu weit.«

Zu weit? Grace ließ den Motor aufheulen, legte den ersten Gang ein und fuhr mit kreischenden Reifen an Ben vorbei, der wie von Sinnen fluchte und tobte. Sie rempelte die Liegestühle und den schmiedeeisernen Tisch mit dem knallgelben Sonnenschirm am Ende der Terrasse um. Die türkisblau schimmernde Wasserfläche des Pools war direkt vor ihr. Grace schloss die Augen, hielt sich die Nase zu und trat aufs Gas. Das kalte Wasser machte ihr auf der Stelle klar: Dies war kein Albtraum. Sie war wach.

2

Grace war zwar am Hafen groß geworden, doch schwimmen konnte sie nicht besonders gut. Wenn es die Gelegenheit erforderte, konnte sie sich paddelnd über Wasser halten und auch einigermaßen brustschwimmen. Der Schock des Eintauchens ins kalte Wasser raubte ihr kurzfristig die Orientierung, aber schnell befreite sie sich aus dem Sitz und stieß sich in Richtung Wasseroberfläche ab, wo sie blinzelnd nach Luft schnappte.

Kaum war sie oben, wurde ihr in aller Deutlichkeit bewusst, was sie gerade getan hatte. Sie schob sich das Haar aus den Augen und sah Ben am Beckenrand stehen. Er starrte sie mit irrem Blick an, zorniger als sie ihn je erlebt hatte. »Verdammt, Grace!«, schrie er. »Mein Auto! Was hast du mit meinem Auto angestellt?«

Er war nicht allein. Neben ihm stand ein Polizeibeamter in Uniform, der eine große Taschenlampe auf den Pool richtete. Grace wäre am liebsten wieder abgetaucht und hätte sich im Kofferraum des Audi versteckt. Zumindest so lange, bis sich alles wieder ein bisschen beruhigte.

»Ma’am?« Der Polizist war noch jung, hatte kurzgeschorenes Haar und einen besorgten Gesichtsausdruck, der Grace’ Mann erstaunlicherweise völlig abging. »Ist alles in Ordnung?«

Hustend schob sich Grace eine Haarsträhne aus dem Gesicht und machte Schwimmbewegungen auf der Stelle, um nicht unterzugehen. »Alles in Ordnung«, erwiderte sie zögernd, spreizte zur Sicherheit die Zehen und prüfte ihre Hände. Nicht ein Kratzer, dachte sie erfreut. Schließlich war sie nicht selbstmordgefährdet, sondern mordsgefährlich.

»Bei dir ist nicht alles in Ordnung«, rief Ben. »Du bist total übergeschnappt.«

»Ma’am, könnten Sie bitte aus dem Pool kommen?«, fragte der Cop.

Grace reckte den Hals. »Wo ist die alte Schlampe?«, rief sie aus dem Wasser.

Der Polizist war verwirrt. »Wer?«

»J’Aimee. Die Schlampe. Ich komme erst raus, wenn sie weg ist.«

»Wer ist Jamie?«

Grace wies mit dem Kinn auf Ben. »Fragen Sie ihn!« Da ihre Beine etwas müde vom Paddeln wurden, ließ sie sich auf dem Rücken treiben und schaute hoch in den Himmel. Es war ein wunderschöner Abend. Die Wolken hatten sich aufgelöst, die Sterne funkelten am tiefblauen Firmament und wirkten so nah, dass Grace beinahe das Gefühl hatte, sie pflücken zu können. Schade, dass sie nicht länger hier treiben und den Anblick genießen konnte.

»Sir?«, hörte sie den Polizisten sagen.

»Nicht Jamie, sondern J’Aimee, mit der Betonung auf der zweiten Silbe«, sagte Ben. »Das ist unsere Assistentin. Die Frau, die heute Abend von meiner Gattin attackiert wurde. Grace hat sie verjagt. Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist.«

»Unsere Assistentin?«, wiederholte Grace. »Ich dachte, sie wäre meine Assistentin. Das war natürlich, bevor ich sie dabei überraschte, wie sie dir heute Abend assistierte.« Sie schaute den jungen Beamten an. »Ich hab die beiden erwischt, wie sie es trieben, direkt in der Garage. Auf dem Vordersitz des Audi. Sie verstehen bestimmt, warum ich sichergehen will, dass die Tussi weg ist, oder?«

Der Polizist errötete, was ihn noch jünger wirken ließ. Er hustete, verschränkte die Arme vor der Brust und sah Ben fragend an. »Stimmt das?«

»Nein, das stimmt nicht«, sagte Ben. »Meine Frau bildet sich ein, etwas gesehen zu haben, was gar nicht stattgefunden hat, und bläst sich ganz fürchterlich auf.«

»Ich blase mich auf?«, rief Grace und strampelte mit den Beinen. Ihre Stimme klang überdreht fröhlich. »Ich würde eher sagen: Du wurdest aufgeblasen! Nur, dass ich nicht diejenige war, die geblasen hat!«

»Du bist abartig«, sagte Ben, dann an den Beamten gewandt: »Sie hat was getrunken.«

Der Polizist schaute Grace streng an. »Ma’am, haben Sie etwas getrunken?«

»Ein halbes Bier«, antwortete sie. »Soll ich einen Alkoholtest machen? Möchten Sie mir Blut abnehmen?« Sie streckte den Arm in die Luft, als könnte er an Ort und Stelle ihre Vene anzapfen.

Während der junge Beamte noch darüber nachdachte, rauschte das Funkgerät an seiner Schulter. Er wandte Grace den Rücken zu, sprach schnell etwas hinein und drehte sich wieder um.

»Ich denke, Sie kommen jetzt mal besser aus dem Wasser«, sagte er. Dann fragte er Ben: »Sie haben der Leitstelle gesagt, Sie hätten Angst, dass sie verletzt sein könnte. Oder jemand anderen verletzt. Haben Sie immer noch diese Sorge?«

Ben zuckte mit den Achseln. »Eher nicht.«

»Was ist mit Ihnen?«, fragte der Polizeibeamte Grace. »Hat Ihr Mann Sie geschlagen oder irgendwie gedroht, Sie zu verletzen?«

»Eigentlich nicht«, gab Grace zu.

»Was ist mit dieser J’Aimee? Muss ich deren Aussage aufnehmen?«

Grace schwamm zum flachen Ende des Pools und hievte sich hoch zur Terrasse aus Korallenkies. Trotz der lauen Mainacht stand sie tropfend und zitternd da.

Ben sprach ganz leise. »Das wird nicht nötig sein.«

»Ich möchte eine Aussage von ihr«, rief Grace und richtete sich auf. Sie wies auf die Hibiskushecke. »Sie ist da lang gelaufen.«

Ihre Zähne klapperten, sie schlang die Arme um sich. »Entschuldigung«, sagte sie zu dem Beamten. »Ich hole mir nur schnell ein Handtuch, um mich abzutrocknen.«

Grace fand ein dickes gelb-grün gestreiftes Strandtuch im Schuppen neben der Terrasse und wickelte sich hinein. Ein zweites Handtuch schlang sie sich wie einen Turban um den Kopf. Auf einmal wurden ihre Beine weich. Schnell setzte sie sich auf die einzige Liege, die sie nicht niedergemäht hatte.

Der junge Polizist betrachtete sie mit einem Ausdruck unaussprechlichen Mitleids. »Geht es Ihnen wirklich gut? Haben Sie sich auch nicht den Kopf gestoßen oder so?«

»Meinem Kopf geht’s gut«, sagte Grace, und Tränen sprangen ihr in die Augen. Von ihrem Herzen konnte sie das nicht behaupten. Es fühlte sich an, als würde ihre Brust zerspringen.

»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Ben mit rauer Stimme. Er war zehn Meter entfernt und blieb auf Distanz, damit Grace’ Verrücktheit nicht auf ihn abfärbte.

»Es passiert gar nichts, es sei denn, einer von Ihnen will Anzeige erstatten«, erklärte der Beamte. »Ich schlage vor, dass Sie Ihre Frau mit ins Haus nehmen und ihr trockene Kleidung geben.«

»Die kann sie sich selbst holen«, entgegnete Ben.

»Angesichts der … ähm … Umstände wäre es vielleicht das Beste, wenn Sie beide den Rest der Nacht nicht in einem Haus verbringen«, fuhr der Beamte fort. Er schaute Ben an. »Können Sie vielleicht einen Freund anrufen? Oder in einem Motel unterkommen?«

»Ich bleibe auf jeden Fall hier!«, rief Ben empört. »Das ist mein Haus.« Er sah zu Grace hinüber. »Außerdem bin ich ja nicht gerade mobil, da mein Wagen momentan auf dem Grund des Swimmingpools steht.«

»Keine Sorge, ich haue ab«, sagte Grace und mühte sich, auf die Beine zu kommen. Sie schielte zum Haus hinüber. Im Schlafzimmer und in der Küche hatte sie Licht brennen lassen. Der Bau wirkte riesengroß, wie die Häuser, die man normalerweise nur in Zeitschriften sah. Oder in einer Immobilienanzeige. Das Ganze wirkte irreal. Nicht wie ein Heim. Alles andere als ein Heim.

Der Polizeibeamte schaute von Ben zu Grace. Wieder rauschte sein Funkgerät. »Wären wir dann so weit?«

»Wir wären so weit«, entgegnete Grace müde.

Ben stapfte hinüber zum Haus. Kurz darauf erlosch das Außenlicht, es wurde ganz dunkel im Garten. Der Polizist hustete nervös, verschwand aber nicht. Er schaltete seine Taschenlampe an und richtete sie auf den Boden neben sich.

»Ähm«, begann er. Grace merkte, dass er schon wieder rot anlief.

»Ich verspreche, dass ich nicht gewalttätig werde«, sagte Grace. »Ich möchte Ihnen nur gerne mitteilen, egal wozu das gut ist, dass ich eigentlich ein ganz normaler, friedliebender Mensch bin. In meinem ganzen Leben habe ich so etwas noch nicht getan.«

Sie sah ihm ins Gesicht, um festzustellen, ob er ihr glaubte.

»Hören Sie«, gab der Beamte zurück. »Ich wollte das nicht in Gegenwart Ihres Mannes sagen, aber ich bin ein großer Fan Ihres Blogs.«

»Sie lesen Gracenotes?« Grace wusste nicht, ob sie sich peinlich berührt oder geschmeichelt fühlen sollte. »Wirklich?«

»O ja! Ich habe es sogar abonniert. Ich bin gerade mit meiner Freundin zusammengezogen, und wir renovieren das Haus, da lesen wir beide gerne Gracenotes. Nächstes Wochenende wollen wir die Decke im Badezimmer in derselben Farbe streichen wie Ihr Gäste-WC.«

»Wasserfall-Blau! Ach, wie hübsch!«

»Also, wir wollen die Farbe zu fünfzig Prozent verdünnen, so wie Sie es vorgeschlagen haben«, erklärte er. »Aber Amy, also meine Freundin, die hat die Wände schon in Wolkenweiß gestrichen. Was glauben Sie, passt das zusammen?«

»Ganz toll!«, versicherte Grace ihm. »Das ist einer meiner Lieblings-Weißtöne. Und die Farbe von Benjamin Moore ist hervorragend. Die nehme ich immer.«

Stehe ich hier gerade wirklich herum und unterhalte mich mit einem Bullen über Wandfarben? Keine Stunde nachdem mein Leben in die Luft geflogen ist?

»Super«, sagte der Beamte. Er griff in seine Tasche und zog eine Visitenkarte hervor. »Hören Sie, das mit heute Abend tut mir leid. Sagen Sie’s nicht weiter, aber ich kann Ihnen irgendwie nicht verübeln, was Sie mit dem Auto gemacht haben. Ich meine, was für ein Trottel tut so was?«

»Die Sorte, mit der ich verheiratet bin«, erwiderte Grace. Sie nahm die Visitenkarte, und er leuchtete mit der Taschenlampe darauf, damit sie die Schrift lesen konnte. »Officer Strivecky.«

»Pete«, gab er zurück. »Meine Handynummer steht auch drauf, falls Sie mich heute Nacht noch mal brauchen. Ich bin bis sieben im Dienst, ja?«

»Okay«, sagte Grace, gerührt von seiner Freundlichkeit. »Danke, dass Sie mich nicht festgenommen haben.«

»Können Sie irgendwo hin?«, fragte er. »Es ist wirklich keine gute Idee, hier zu bleiben.«

»Keine Sorge«, erwiderte Grace, und ein Schauer lief ihr über den Rücken. »Ich pack schnell ein paar Sachen zusammen, dann bin ich weg. Meine Mutter wohnt drüben in Cortez. Ich fahre zu ihr rüber. So viel Geld können Sie mir gar nicht geben, dass ich hier noch eine einzige Nacht verbringe. Wo ich nun weiß, was direkt vor meiner Nase passiert ist –«

»Ich kann noch ein bisschen bleiben.« Pete Strivecky zeigte auf das Haus. »Um sicherzugehen, dass er keine Tricks probiert.«

»Tut er nicht«, sagte Grace. »Er ist ein Trottel, wie Sie gerade sagten, aber er ist nicht gefährlich.«

Der Beamte wandte sich zum Gehen.

»Officer Strivecky? Pete?«

»Ja?« Er blieb am Rand des Schwimmbeckens stehen und schielte zu dem abgesoffenen Audi hinunter.

»Darf ich vielleicht fragen, wie alt Sie sind? Sie sehen für einen Polizeibeamten so jung aus.«

Er lachte. »Das höre ich ständig. Das liegt an den roten Haaren und den Sommersprossen. Ich bin sechsundzwanzig. Schon seit drei Jahren dabei.«

»Sechsundzwanzig«, wiederholte Grace sehnsüchtig. »So jung …« Sie wies mit dem Kopf in Richtung Haus. »Kommt mir ewig lange her vor.«

»Ja, Ma’am«, sagte er.

Grace hatte eine Idee. »Hey, schicken Sie mir doch ein Foto von Ihrem Badezimmer, wenn es fertig ist, ja? Für meinen Blog? Ich würde gerne sehen, wie es wirkt.«

»Mache ich«, versprach er. »Und Sie passen auf sich auf.«

 

Auf der Arbeitsfläche in der Küche stand eine Flasche Chivas Regal. Grace hörte den Fernseher im Medienraum. Die Tür war geschlossen, aber Ben hatte die Lautstärke des Dolby-Surround-Systems aufgedreht, so dass Grace die Stimme von Bruce Willis erkannte. Er sah sich wieder einen Stirb langsam an. Für Ben wurde es nie langweilig, den Bösen dabei zuzusehen, wie sie Gebäude in die Luft jagten und Flugzeuge abschossen.

Sie stieg die hintere Treppe empor ins Schlafzimmer. Auf ihrer Seite des gemeinsamen Badezimmers schälte sie sich aus der klatschnassen Hose und dem T-Shirt und hängte beides ordentlich über die Handtuchstange neben ihrer Jacuzzi-Wanne. Grace holte die Kulturtasche aus einer Schublade der Schminkkommode und packte verschiedene Utensilien ein: Shampoo und Spülung, Deo, Vitamintabletten. Ihre Hand schwebte über der Packung mit den Fruchtbarkeitshormonen. Eigentlich sollte sie beim nächsten Zyklus mit der Einnahme beginnen, in zwei Wochen.

Es hatte zwei Jahre gedauert, bis Grace Ben überredet hatte, sich bei einem Reproduktionsmediziner vorzustellen. Da sie selbst Einzelkind war, hatte sie sich immer mehrere Kinder gewünscht. Ben behauptete das auch von sich, sah aber nicht ein, warum sie nicht einfach »abwarten und Tee trinken« konnten, bis sie irgendwann auf »natürlichem Wege« schwanger werden würde, wie er es nannte. Vor zwei Monaten dann hatte er endlich nachgegeben. »Jetzt oder nie«, hatte er gesagt.

»Nie«, sagte Grace laut und warf die Tabletten in den Mülleimer. Sie fragte sich, ob Ben bereits mit J’Aimee geschlafen hatte, als sie sich für die Hormonbehandlung entschieden hatte. Aber eigentlich wollte sie nicht darüber nachdenken. Was passiert war, war passiert. Sie und Ben waren Geschichte.

In ihrem begehbaren Kleiderschrank zog sie sich schnell eine weiße Jeans und ihren bevorzugten dunkelblauen Strickpulli über. Mit den Füßen schlüpfte sie in ein Paar Sandalen von Jack Rogers. Grace öffnete einen Koffer, der auf einer Ablage mit den gefalteten Kleidungsstücken wartete, und packte wahllos ein: Slips und BHs, kurze Hosen und Sonnentops, eine Jeans. Obenauf warf sie Laufschuhe und Socken, dann zog sie den Reißverschluss zu.

Grace ging ins Schlafzimmer und schaute sich um. Ein letztes Mal, sagte sie sich. Sie betrachtete die Fotos in den silbernen Rahmen, die Ben und sie in glücklicheren Tagen zeigten, die von ihr gesammelten Gemälde an der Wand und die hübschen, extra angefertigten Leinenvorhänge. Es war das schönste Zimmer, das ihr je gehört hatte, und jetzt war sie kurz davor, es hinter sich zu lassen.

Ihre Handtasche lag auf der Bank mit dem samtenen Knopfpolster am Fuße des Bettes. Grace schlang sich den Riemen über die Schulter, hob den Koffer an und wuchtete ihn die Treppe hinunter. Dann ging sie in ihr Arbeitszimmer, wo sie ihren Laptop und mehrere Aktenordner in eine große Schultertasche steckte. Obenauf legte sie ihre Kamera, hievte die Tasche auf die andere Schulter und schleppte sich mühsam zur Küchentür.

Die Flasche Chivas stand nicht mehr auf der Arbeitsfläche, die Tür zum Medienraum war aber wieder geschlossen. Dahinter zeigte Bruce Willis seinen Gegnern, wo der Hammer hing.

Grace blieb vor der Tür stehen. Sie hob die Hand, um zu klopfen, überlegte es sich aber anders. Durch die Küchentür verließ sie das Haus, ging zur Garage und stieg in ihr eigenes Auto, einen vier Jahre alten Subaru. »Jetzt oder nie«, flüsterte sie.

3

Gelangweilt zappte Grace durch die Programme auf dem riesengroßen Fernseher in der Sandbox, der Kneipe ihrer Mutter in Cortez, die tatsächlich nur sieben Meilen, aber vom Stil her Lichtjahre von Grace’ Haus auf der Sand Dollar Lane entfernt war.

»Lass mal das Vierte an!«, sagte Rochelle. »Bitte!«

Grace warf ihr einen vielsagenden Blick zu.

»Du weißt doch, dass ich morgens immer die Nachrichten im Vierten gucke«, erklärte Rochelle. »Ich kann die Frisur von dem Wettertypen im achten Programm nicht ertragen.«

Grace seufzte leidend und tat wie befohlen. Sie stellte auf den Lieblingssender ihrer Mutter zurück, gerade noch rechtzeitig, um eine Reporterin in ihrem eigenen Vorgarten stehen zu sehen.

»Heilige Scheiße«, flüsterte Rochelle. »Ist es das, wofür ich es halte?«

»Guten Morgen«, sagte die Reporterin, eine Farbige, die ein Zugpferd dieses Lokalsenders war, solange Grace sich erinnern konnte. Camryn Nobles. Grace starrte auf den Bildschirm. Wie zum Teufel war Camryn Nobles an der Schranke vorbeigekommen?

»Ich stehe hier in der exklusiven geschlossenen Wohnsiedlung Gulf Vista auf Siesta Key, wo heute in den frühen Morgenstunden die Polizei zu einer, wie sie sich ausdrückte, eskalierenden Familienstreitigkeit gerufen wurde. Berichtenswert, ja faszinierend macht diese Geschichte aber erst der Umstand, dass es sich bei den Hauptdarstellern dieses Dramas um eine landesweit bekannte Innenarchitektin und ihren Ehemann handelt – oder darf man sagen: um ihren baldigen Ex-Ehemann?«

Die Kamera schwenkte herum und zeigte die blassrosa verputzte zweistöckige Villa im spanischen Kolonialstil mit roten Dachpfannen, vor der sich ein smaragdgrüner Rasen erstreckte, eingerahmt von bunten Beeten mit Tropenblumen. Vor dem Haus stand ein halbes Dutzend schwarzweißer Einsatzfahrzeuge des Sheriffs von Sarasota County, dazu ein Feuerwehrauto, ein Rettungswagen und ein großer schwarzer Abschleppwagen. Ein Hubschrauber von der Redaktion des CBS in Tampa dröhnte in der Luft.

»Du bist eine Fernsehmeldung«, bemerkte Rochelle, und Grace warf ihr einen warnenden Blick zu.

»Falls einigen von Ihnen dieses palastartige Haus und das Grundstück bekannt vorkommen sollte«, fuhr Camryn Nobles mit vertraulich gesenkter Stimme fort, »dann liegt es daran, dass es sich hierbei um das Heim der Lifestyle-Bloggerin Grace Stanton handelt, die den ungeheuer beliebten Blog Gracenotes verfasst. Das Haus wurde bereits in zahlreichen Zeitschriften vorgestellt, und Mrs. Stanton ist häufig zu Gast in Sendungen wie Oprah, Ellen und, ja, auch in der Today Show, oder unserem Morgenmagazin, wo sie im Laufe der letzten zwei Jahre als Expertin für Lifestyle geradezu eine feste Einrichtung geworden ist.«

Während Camryn erzählte, schlenderte sie an der Seite des Hauses über den langen Weg aus Korallenkies entlang nach hinten in den Garten.

»Grace Stanton ist eine erfolgreiche Innenarchitektin, die hier aus der Region stammt. Sie wuchs in einfachen Verhältnissen im nahen Cortez auf«, erklärte Camryn. »Nach ihrem Umzug nach South Florida und ihrer Hochzeit führte sie ein gutgehendes Innenarchitekturbüro, siedelte aber 2009 zurück an die Suncoast. Ihr Mann Ben, 44, arbeitete als Werbefachmann, gab aber vor zwei Jahren seinen Beruf auf, um sich mit ganzer Kraft der florierenden Firma seiner Frau zu widmen. Grace und Ben Stanton sind feste Größen in der örtlichen Gesellschaft; noch im Oktober gaben sie eine Benefizparty für das örtliche Kinderheim direkt hier in diesem hübschen Garten mit Pool. Von offizieller Seite wird bestätigt, dass dieses friedliche Idyll irgendwann nach Mitternacht seine Unschuld verlor. Dies ist der panische Anruf, den die Polizei freigegeben hat; er ging um Viertel nach eins von Ben Stanton ein. Wir möchten uns schon im Voraus für die teilweise deftige Sprache bei unseren Zuschauern entschuldigen.«

»Ja, ich brauche wohl ein bisschen Unterstützung. Meine … ähm … meine Frau dreht gerade durch.«

Die weibliche Stimme in der Leitstelle klang gelangweilt. »Sir, werden Sie körperlich bedroht?«

»Was? Keine Ahnung. Sie ist einfach durchgedreht. So hab ich sie noch nie gesehen. Hören Sie, schicken Sie besser einen Beamten rüber, bevor sie noch jemandem weh tut.«

Im Hintergrund waren deutlich Schreie zu vernehmen. Dann hörte man wieder Ben Stantons Stimme, jetzt schwächer.

»Grace, was machst du da? Das ist kein Spaß! Bist du verrückt? Was zum … Verdammt nochmal, hau ab da!«

Eine Wagentür schlug zu, dann heulte ein mächtiger Motor auf, Reifen quietschten über Pflastersteine. Schließlich ein lautes Platschen.

»O Gott! Grace, verdammt nochmal, was hast du …? Du meine Scheiße …«

»Sir? Befinden Sie sich in einer lebensbedrohlichen Situation?«

Als Ben wieder ans Telefon kam, war seine Stimme unerbittlich. »Wenn die Alte jetzt nicht ertrunken ist, bringe ich sie eigenhändig um.«

»Mach das bitte aus«, sagte Grace und wandte dem Fernseher den Rücken zu.

Rochelle stellte die Lautstärke leiser, schaute aber weiter hin.

Mit Blick in die Kamera ging Camryn zur Terrasse, die von einer üppigen Hecke aus Seetrauben gesäumt wurde. Elegante Kokospalmen und Hibiskusbüsche standen in großen Töpfen, auch die Außenküche und eine strohgedeckte Cocktailbar waren zu sehen.

Die Reporterin wies auf eine zweistöckige Garage mit drei Toren. »Die Polizei gibt keine Auskunft, wodurch die Auseinandersetzung zwischen Grace und Ben Stanton in der vergangenen Nacht ausgelöst wurde, aber ich habe mich mit einer Nachbarin unterhalten, die behauptet, einen, wie sie sagt, ›angeregten Austausch‹ zwischen dem Ehepaar mitbekommen zu haben. Die Nachbarin sagt, Ursache des Ganzen sei Mrs. Stantons hübsche 26-jährige Assistentin gewesen, die seit einigen Monaten in dem Apartment über der Garage wohnt. Laut Aussage der Nachbarin flüchtete die Assistentin, deren Namen wir nicht freigeben, lediglich in ein Strandlaken gehüllt in den frühen Morgenstunden voller Angst durch diese Hecke.« Camryn wies auf den Hibiskus.

»Keiner der Stantons stand für einen Kommentar zur Verfügung«, fuhr Camryn fort, immer noch auf der Terrasse. »Doch trotz mangelnder Zeugenaussagen und fehlender Kooperation seitens der Beteiligten können wir einige Schlussfolgerungen darüber ziehen, was sich hier in der letzten Nacht ereignet haben muss.«

Die Kamera fuhr zurück und zeigte eine Garage mit drei leeren Stellplätzen, dann schwenkte sie hinüber zum Swimmingpool, einer individuell geformten und schimmernden türkisfarbenen Oase, die von Platten aus Korallenkalk eingefasst war. Am flachen Ende des Wassers führten Treppenstufen in einen eingebauten Whirlpool. Und am tiefen Ende?

Camryn Nobles stand am Rand des Beckens und schaute hinab. Die Kamera folgte ihrem Blick. Ein zitronengelber Sonnenschirm aus Segeltuch trieb auf dem Wasser, ebenso vier tannengrüne Loungekissen aus Vinyl. Auf dem Grund des Beckens befand sich ein bedrohlich wirkender länglicher schwarzer Umriss.

»Und das«, sagte Camryn mit düsterer Stimme, »ist offenbar der neue Audi Spyder Cabrio von Ben Stanton, käuflich zu erwerben für rund 175000 Dollar.«

 

Rochelle Davenport richtete die Fernbedienung auf den Fernseher und schaltete ihn gnädigerweise endlich aus.

»Du hast wirklich ein Auto im Wert von 175000 Dollar in den Pool gefahren?«, fragte sie ihre Tochter.

Grace zuckte mit den Schultern. »Ich bezweifle, dass er so viel dafür bezahlt hat. Wie ich Ben kenne, hat er irgendeinen Werbedeal mit dem Händler gemacht.«

»Das sieht dir überhaupt nicht ähnlich«, sagte Rochelle. »Ich meine, ich werfe dir das nicht vor, aber das passt überhaupt nicht zu dir.«

»Vorübergehende geistige Umnachtung«, erwiderte Grace. »Das ist die einzige Erklärung, die mir einfällt.«

»Du hättest ertrinken können«, sagte Rochelle. »Hast du daran gedacht? Du hättest mich zu einer kinderlosen Witwe gemacht.«

»Und Ben hätte die Lebensversicherung über zwei Millionen Dollar kassiert, die wir letztes Jahr abgeschlossen haben«, murmelte Grace. »Das muss ich dringend ändern.«

»Das war eine große Dummheit«, beharrte Rochelle. »Im Ernst.«

»Ich konnte nicht ertrinken. Das Verdeck war doch unten.« Grace war wieder ganz die Alte, logisch und stringent. »Ich schätze, es wurde ein bisschen heiß in der Garage, als sie ihm …«

»Als sie ihm einen blies?«, ergänzte Rochelle hilfsbereit.

»Genau. Auf dem Vordersitz des Audi.«

»Ich kann kaum glauben, dass Ben einfach nur zugeguckt hat, als du den Wagen im Pool versenkt hast«, sagte Rochelle. »Wie genau ist das passiert?«

»Darüber will ich jetzt nicht reden.« Schlechtgelaunt starrte Grace auf ihr Glas Eistee. »Davon bekomme ich Kopfschmerzen.«

Rochelle griff hinter die Theke nach dem großen Glas mit Ibuprofen-Tabletten, das sie dort aufbewahrte, schüttelte zwei heraus und reichte sie ihrer Tochter.

»Danke«, sagte Grace und schluckte die Pillen. »Hast du irgendwas zu essen da? Eigentlich sagt man ja, bei Liebeskummer würde einem der Appetit vergehen, aber ich habe seit zwölf Stunden nichts mehr gegessen, ich könnte wirklich die Zähne in meinen eigenen Arm schlagen.«

Rochelle schob zwei in Plastik laminierte Speisekarten über die Theke.

Grace überflog die Speisekarte der Sandbox, die sich, soweit sie wusste, in den letzten fünfzehn Jahren nicht verändert hatte. »Chicken Wings. Gefüllte Ofenkartoffeln. Gefüllte Ofenkartoffeln mit Chicken-Wing-Sauce. Zwiebelringe. Frittierte Austern. Frittierte Shrimps.« Sie schaute ihre Mutter an. »Ernsthaft? Wie kannst du immer noch leben, wenn du die ganze Zeit diesen Kram isst?«

»Ich esse diesen Scheiß doch nicht«, erwiderte Rochelle entrüstet. »Willst du mich veräppeln? Dann wäre ich schon so fett wie ein Nilpferd.«

Sie gönnte sich einen selbstzufriedenen Blick in den Spiegel hinter der Theke. Mit ihren neunundfünfzig Jahren war Rochelle stolz auf ihre immer noch knackige Figur. Sie pflegte sich, cremte sich dick mit Sonnenmilch ein, bevor sie jeden Morgen die zwei Meilen am Strand von Bradenton entlangging. Sie färbte sich das Haar zu Hause in einem sanften Braunton und gönnte sich abends meistens ein Glas herzstärkenden Rotwein oder hin und wieder ein Bier. Als Grace noch klein war, hatte sie aufgehört zu rauchen, und ihr Arzt sagte, sie habe die Knochendichte einer 18-Jährigen.

»Ich schiebe mir immer ein Menü von Lean Cuisine in die Mikrowelle, schon lange. Und zum Frühstück safte ich.«

»Du saftest? Ist das ein Verb?«

»Sei nicht so frech«, gab Rochelle zurück. Mit dem Kinn wies sie auf den riesigen Mixer hinter der Theke. »Felipe, ein wirklich netter Mexikaner, kommt sonntags immer mit seiner Fußballmannschaft her. Seine Mutter hat einen Stand auf dem Markt, und er bringt mir alle möglichen Gemüse- und Obstsorten mit, immer frisch. Spinat, Grünkohl, Chayote, Erdbeeren, Ananas, Mangos. Auch Kräuter. Ich mag Minze und Ingwer. Die tu ich überall mit rein.«

»Das klingt gar nicht schlecht«, gab Grace zu. »Hast du noch was da, das du mir machen könntest? Außer Grünkohl.« Sie rümpfte die Nase.

»Tut mir leid«, sagte Rochelle. »Heute Morgen habe ich die letzten Reste aufgebraucht. Ich kann dir vielleicht noch ein Sandwich machen. Wären Schinken, Tomate und Salat eine Beleidigung für deinen verwöhnten Gaumen?«

»Nein, wäre super«, sagte Grace, legte die Wange auf die Theke und verschränkte die Arme vor dem Kopf. Ihre Schultern schmerzten, sie stieß einen unterdrückten Seufzer aus. Es war das erste Mal, dass Rochelle ihre Tochter seit ihrer Jugend weinen sah, und es zerriss ihr wie damals das Herz.

Rochelle zögerte, dann strich sie Grace über das zerzauste Haar. »Keine Sorge, Spätzchen. Das bekommen wir wieder hin. Wir schaffen das schon.«

Grace hob den Kopf. Tränen strömten ihr über die Wangen. Sie sah ihre Mutter an. »Wir bekommen das hin? Genau das hat Ben auch gesagt: Wir bekommen das wieder hin. Und dann gab er zu, dass es nicht das erste Mal gewesen war. Wie sollen wir das wieder hinbekommen, Mom? Ich habe ihn geliebt. Ich dachte, er würde mich auch lieben. Aber es war alles gelogen. Von vorne bis hinten gelogen. Was soll ich jetzt tun?«

Rochelle gab ihr ein Blatt von der Haushaltsrolle. »Putz dir die Nase. Trockne deine Augen. Iss was. Und dann rufen wir Onkel Dennis an und ziehen das Schwein bis aufs letzte Hemd aus.«

»Onkel Dennis ist Anwalt für Immobilienrecht«, sagte Grace schniefend. »Er macht keine Scheidungen.«

»Nein, aber er wurde selbst schon zweimal geschieden, deshalb weiß er, wen wir anrufen können und wem wir besser aus dem Weg gehen.«

Grace trank einen Schluck Eistee. »Ich weiß noch nicht mal, ob ich mich scheiden lassen will.«

»Du machst ja wohl Witze«, sagte Rochelle. »Du hast Ben in eurer Garage beim Sex mit deiner Assistentin erwischt, die er mit Sicherheit schon seit Monaten in deinem Haus pimpert, und du bist dir nicht sicher, ob es aus ist?«

»Ich weiß es nicht«, jammerte Grace. »So hatte ich mir mein Leben nicht vorgestellt. Ich verstehe das alles nicht. Ich dachte, ich würde für immer verheiratet sein, so wie du und Daddy.«

Rochelle dachte nach, wollte etwas sagen, überlegte es sich aber anders. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt.

»Hast du seit gestern Abend mit Ben gesprochen?«

»Nein.«

»Hast du es denn vor?«

Grace zuckte mit den Achseln. »Ich muss bald mal rüber und mir neue Klamotten holen. Und ich sollte mir überlegen, wie es mit dem Blog, der Pilotsendung auf Home and Garten TV und den ganzen Sachen weitergehen soll.«

Rochelle machte sich daran, ihrer Tochter das Sandwich zuzubereiten. Sie steckte zwei Scheiben Brot in den Toaster, legte Schinkenspeck auf das Grillblech und nahm eine dicke rote Tomate aus einer Schüssel auf der Theke. Gerade setzte sie zum Schneiden an, als Grace sie unterbrach: »Könntest du die bitte schälen?«

Ihre Mutter warf ihr einen genervten Blick zu. »Ich habe dir in deinem Leben schon eine Million Sandwiches mit Tomate gemacht, und auf einmal willst du die Tomate geschält haben? So ein Affentheater!«

Grace stand auf und ging hinter die Theke. »Schon gut. Dann mach ich es selbst, wenn es so schwer ist.«

»Das ist nicht schwer. Ich verstehe bloß nicht, warum das auf einmal sein muss. In der Schale stecken die meisten Vitamine.«

»Das stimmt nicht«, gab Grace lustlos zurück, nahm ihrer Mutter das Messer ab und begann, die Tomate zu häuten.

Rochelle trat einen Schritt zurück und stemmte die Hände in die Hüfte. »Stimmt garantiert doch!«

»Sagt wer?«

»Hab ich vergessen«, erwiderte Rochelle stur. »Vielleicht habe ich das in einer Kochsendung im Fernsehen gehört.«

Kopfschüttelnd holte Grace den Salatkopf aus dem Kühlschrank. Sie zupfte ein Blatt ab und stieß einen leidenden Seufzer aus.

»Was ist jetzt schon wieder? Magst du meinen Salat nicht?«

»Ich bin halt kein großer Fan von Eisbergsalat«, gab Grace zurück. »Romana ist viel geschmackvoller. Und sieht besser aus. Außerdem ist er gesünder, wenn wir schon von Vitaminen sprechen.«

»Ich mag aber Eisbergsalat.« Rochelles Stimme war kühl. »Den kaufe ich seit Ewigkeiten. Bis jetzt war er immer gut genug für dich.«

Grace sah ihrer Mutter ins Gesicht. »Geht das jetzt schon wieder los, Mom? Ich mag halt nun mal gute Dinge. Es tut mir leid, wenn es dich beleidigt, dass ich nicht mehr dieselben Gerichte mag wie früher: Makkaroni mit Käse, Tiefkühlkroketten und Aufläufe aus Pilzsuppe und Zwiebelringen aus der Dose. Oder Asti Spumante.« Unwillkürlich schüttelte sie sich bei dem Gedanken an den Schaumwein.

»Hühnchenauflauf war immer dein Leibgericht«, sagte Rochelle. »Hast du dir jedes Jahr zum Geburtstag gewünscht.«

»Da war ich noch klein«, sagte Grace. »Inzwischen hat sich mein Geschmack geändert. Verfeinert, wenn du so willst.«