Sommerherzen auf Sizilien - Liv Thomas - E-Book
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Sommerherzen auf Sizilien E-Book

Liv Thomas

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Beschreibung

Isabell braucht Abstand von ihrem bisherigen Leben: Ein schwerer Schicksalsschlag hat ihr vor vier Jahren den Boden unter den Füßen weggerissen. Dafür macht sie allein Niklas verantwortlich. Als sie ihn jetzt unerwartet trifft, reißen die alten Wunden wieder auf.

Gemeinsam mit ihrer liebenswerten, um keinen Spruch verlegenen Nachbarin Gitti und einem Koffer voller Eierlikör reist sie nach Sizilien und lässt sich von der Schönheit der Insel verzaubern. Hier schafft Isabell es endlich, mit der Vergangenheit abzuschließen und sich dem Leben zu öffnen. Mittsiebzigerin Gitti setzt währenddessen alles daran, ihre junge Freundin wieder glücklich zu sehen. Und plötzlich steht Niklas in Italien vor der Tür ...

Der neue wunderbar atmosphärische und romantische Sommerroman von Liv Thomas entführt einen an die Küste Siziliens und in die kulinarische Welt Italiens.

Alle Geschichten dieser Reihe zaubern dir den Sommer ins Herz und bringen dir den Urlaub nach Hause. Die Romane sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Inhalt

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Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Zitat

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Impressum

Weitere Titel der Autorin

Als Gabriele von Braun:

Das Geschenk eines Sommers

Ein Augenblick für immer

Alles, was wir nie gesagt haben

Für immer heißt ein Leben lang

Als Liv Thomas:

Solange wir lieben

Über dieses Buch

Isabell braucht Abstand von ihrem bisherigen Leben: Ein schwerer Schicksalsschlag hat ihr vor vier Jahren den Boden unter den Füßen weggerissen. Dafür macht sie allein Niklas verantwortlich. Als sie ihn jetzt unerwartet trifft, reißen die alten Wunden wieder auf. Gemeinsam mit ihrer liebenswerten, um keinen Spruch verlegenen Nachbarin Gitti und einem Koffer voller Eierlikör reist sie nach Sizilien und lässt sich von der Schönheit der Insel verzaubern. Hier schafft Isabell es endlich, mit der Vergangenheit abzuschließen und sich dem Leben zu öffnen. Mittsiebzigerin Gitti setzt währenddessen alles daran, ihre junge Freundin wieder glücklich zu sehen. Und plötzlich steht Niklas in Italien vor der Tür …

Über die Autorin

Liv Thomas ist das Pseudonym der Autorin Gabriele von Braun. Sie lebt in Berlin und zählt trotz ihres eher sonnigen Gemüts zu der raren und durchaus kritisch beäugten Spezies, die die feuchtkalten und vermeintlich tristen Tage in der Hauptstadt ganz besonders schätzt. Je grauer es ist, desto lieber schreibt sie. Schon früh interessierte sie sich für die unterschiedlichen Facetten der Menschen. Mit ihrem »sensiblen, investigativen Einfühlungsgedöns«, wie es ihr einst ein im Gefühlschaos steckender, leicht alkoholisierter Kommilitone fundiert ins Ohr lallte, blickt sie gern hinter die Fassaden. Was sie fasziniert: So gnadenlos das Schicksal auch manchmal zuschlagen mag, es kann einen Weg geben, daran zu wachsen.

LIV THOMAS

Sommerherzen aufSizilien

»Wir sind manchmal viel zu sehr geneigt zu glauben, dass die gegenwärtigen Voraussetzungen für einen Stand der Dinge die einzig möglichen seien.«

1

Im Rücken den Ätna und vor mir das Meer. Endlich bin ich angekommen – zumindest auf Sizilien. Ich lasse meinen neuen XL-Rollkoffer stehen und atme tief die betörend blumig-zitrusfrische Luft ein. Ein warmer Windhauch streift mich, und jegliche Anspannung fällt von mir ab wie ein loser Knopf. Ein solch befreiendes Gefühl habe ich schon sehr lange nicht mehr gespürt.

Es ist später Nachmittag, ich bin durchgeschwitzt, am Flughafen haben wir gefühlt Stunden auf unseren Mietwagen warten müssen, nachdem bereits der Flieger verspätet gewesen war, aber all das zählt jetzt nicht mehr.

»Gitti, kneif mich bitte!«

Ich stehe in einem großen, wilden Garten mit Zypressen, Mandel-, Orangen-, Zitronen- und Mandarinenbäumen und Pflanzen wie Bougainvillea, Hibiskus, Oleander und Anemonen. Wie prächtig all die Farben leuchten.

»So stelle ich mir das Paradies vor«, sage ich und registriere, wie sich meine lang vermisst geglaubte Begeisterungsfähigkeit aus ihrem Schatten wagt.

Das Grundstück im Osten der Insel thront an einem Abhang hoch über dem Meer und gibt einen spektakulären Ausblick über die ionische Küste frei. Ausgelassen funkelt das tiefblaue Wasser im Licht der Sonne, als Punkte tanzen Boote darauf.

»Siehst du, Isabell, ich habe dir nicht zu viel versprochen, das hier wird dir guttun. Sieh es mir nach, dass ich dich jetzt nicht kneife, das wäre mir zu anstrengend.«

Gitti zerrt ihren zerbeulten Koffer hinter sich her. Er ist schon viel rumgekommen in der Welt. Sie wollte nicht, dass ich ihr mit dem Gepäck helfe. Mit ihren sechsundsiebzig Jahren verfügt die zierliche Gitti über beeindruckende Kräfte. Das motiviert, auch wenn ich noch sechsunddreißig Jahre Zeit habe, bis ich in ihrem Alter bin.

»Danke, dass du mich überredet hast, dich hierherzubegleiten«, sage ich.

»Es war mir ein Vergnügen. Übrigens habe ich ausreichend Eierlikör dabei, wir stoßen nachher gebührend an.«

Ich schmunzele. »Ach deswegen musstest du für Übergepäck draufzahlen.«

»Wer hätte gedacht, dass die Flughafenmitarbeiter so kleinlich sind. Aber jetzt lassen wir uns zunächst von Vincenzo das Anwesen zeigen.«

Wir laufen weiter bis zur Haustür. Ein kleiner stämmiger Mann mit dichten weißen Haaren kommt uns entgegen. Sein wettergegerbtes Gesicht ist eine beeindruckende Landschaft gelebten Lebens. Er hebt die Arme und gestikuliert wild. »Aber nein, lasst das Gepäck stehen, ich kümmere mich darum!«

»Zu spät, außerdem rollt der Koffer fast von allein«, sagt Gitti.

Vincenzos warme braune Augen lächeln uns genauso herzlich an wie sein faltiger Mund.

»Ich freue mich, dass ihr hier seid. Herzlich willkommen, meine Damen.«

Sein Deutsch klingt sehr gut. Von Gitti weiß ich, dass er der Bruder von Francesco ist, dem Besitzer ihrer Berliner Lieblingstrattoria. Mit Francesco verbindet sie schon über Jahre eine gute Bekanntschaft. Er hat ihr das Ferienhaus vermittelt.

»Vielen Dank. Sie sprechen hervorragend Deutsch«, sage ich.

»Naturalmente, ich habe lange in Deutschland gelebt. Und bitte sieze mich nicht, sonst fühle ich mich alt.« Vincenzo lacht und legt entgegen aller Klischees zwei vollständige Reihen Zähne frei.

»Das ist das Letzte, was ich möchte. Ich bin Isabell, aber du kannst mich Isa nennen.«

»Wunderbar. Ciao, Isa.«

Wir schütteln uns kräftig die Hände.

»Vincenzo ist vor über fünfzig Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, und irgendwann hatte er die besten Eisdielen in ganz Bayern«, sagt Gitti.

»Gieti übertreibt maßlos. Aber ich kann mich nicht beklagen, die Deutschen mögen unser Eis. Nun führt mein Sohn die Geschäfte weiter.«

Gieti. Wie melodiös er ihren Namen ausspricht.

»Ihr kennt euch schon länger?«

»Sagen wir so, wir sind uns schon einmal begegnet«, erwidert Gitti knapp.

»Si, si«, murmelt Vincenzo und beginnt mit der Führung durchs Haus.

»La Casa ist über dreihundert Jahre alt. Schon immer hat es unserer Familie gehört, aber irgendwann war es so heruntergekommen, dass niemand mehr hier gelebt hat. Vor einigen Jahren war es mir dann eine Herzensangelegenheit, es renovieren zu lassen.«

Bezaubernder hätte ich mir ein antikes sizilianisches Landhaus nicht vorstellen können. Mit drei Schlafzimmern und zwei Bädern sowie einem geräumigen Wohnbereich bietet es ausreichend Platz für uns. Die Räume mit den weißen Mauern und Terracotta-Böden sind stilvoll mit antiken Möbeln eingerichtet. An den Decken ziehen sich dunkelbraune Holzbalken entlang, die perfekt mit den Türrahmen und Möbeln harmonieren. Trotz der Sanierung spürt man überall die alte Seele dieses Hauses. In der großen Küche gibt es einen gemauerten Tresen, und die Wände zieren handbemalte Kacheln mit blauen Ornamenten. Über der Spüle hängen diverse Pfannen und Töpfe. Anscheinend wird hier gern gekocht.

»Das alles ist wundervoll.«

»Wenn Isabell das sagt, dann will das was heißen. Und ich stimme ihr zu«, sagt Gitti.

»Da bin ich aber erleichtert.« Wieder lacht Vincenzo und führt uns dann über eine beeindruckende Panorama-Terrasse in den Garten. Erst jetzt sehe ich den türkis schimmernden Pool.

»Wow! Es könnte nicht schöner sein«, sage ich.

»Wir werden die nächsten drei Wochen hier angemessen zu genießen wissen, mein Lieber«, sagt Gitti.

Drei Wochen. Ich kann selbst kaum glauben, dass ich mir so lange freigenommen habe. Markus, Chef der Werbeagentur, für die ich als freie Grafikerin arbeite, hielt meine kleine Auszeit zunächst für einen schlechten Scherz. Ein wichtiger Pitch stand an. Da er es von mir gewohnt ist, dass ich immer da und rund um die Uhr verfügbar bin, hatte er die berechtigte Sorge, keine angemessene Vertretung für mich zu finden. Aber diesmal habe ich das nicht zu meinem Problem gemacht.

Nachdem sich Vincenzo verabschiedet hat, richten wir uns ein und beziehen unsere Zimmer.

Ich lege meinen Koffer auf der dunklen Holztruhe vor dem schmiedeeisernen Doppelbett ab und bringe meine Sachen in dem wuchtigen Kleiderschrank unter.

Ohne Gitti wäre ich nicht hier. Sie ist meine Nachbarin, und so verschieden wir auch sein mögen, wir haben uns angefreundet. Hätte das Schicksal Erbarmen gehabt, dann wäre sie jetzt mit ihrem Mann Werner hier. Die beiden wollten ihre Goldene Hochzeit auf Sizilien feiern. Doch Werner starb vor einem Jahr.

Als Gitti und ich vor ein paar Wochen eine Flasche ihres legendären, selbst gemachten Eierlikörs leerten und Vicky Leandros von Platte Ich liebe das Leben sang, lud Gitti mich ein, sie nach Sizilien zu begleiten. Sie machte das dermaßen charmant, dass ich nicht ablehnen konnte, außerdem war ich beschwipst. Allerdings hielt ich meine Zusage schon am nächsten Tag für keine gute Idee mehr, drei Wochen Urlaub, das schien mir unmöglich. Aber Gitti überzeugte mich in der ihr eigenen Art davon, nur ja keinen Rückzieher zu machen.

Ihr verstorbener Mann war Psychotherapeut, und Gitti, die über Jahre die Praxis gemanagt hat, hat sich zur Heilpraktikerin für Psychotherapie ausbilden lassen. Zu fast jeder Lebenslage weiß sie etwas beizusteuern. Das kann bereichernd sein, manchmal sogar witzig, aber auch anstrengend. Da ich Gitti allerdings längst fest ins Herz geschlossen habe, nehme ich es ihr nicht übel, wenn sie wieder einmal damit anfängt, mich zu analysieren, nur weil ich gehetzt wirke oder meine Mundwinkel ihrer Meinung zu tief nach unten hängen. Ich weiß ja, dass sie es nur gut meint.

Später sitzen wir auf der von wildem Wein umrankten Terrasse und prosten uns mit einem Willkommens-Eierlikör zu, bevor wir auf sizilianischen Wein umschwenken. Vincenzo hat uns zum Einzug einige Flaschen von einem befreundeten Winzer geschenkt. Aber mehr noch, er hat uns mit reichlich Delikatessen versorgt, sodass wir heute weder einkaufen gehen noch verhungern müssen. Es gibt Salami, Schinken, Caponata, jede Menge Oliven, Ciabatta und lokales Olivenöl. Ich gieße etwas Öl auf einen Teller, streue Salz drüber und tunke ein Stückchen Brot ein.

»Mmh, köstlich. Mehr brauche ich nicht«, sage ich mit vollem Mund.

Gitti lädt sich eine ordentliche Portion Caponata auf ihren Teller. »Und ich brauche nicht mehr als das. Dafür würde ich töten.«

»Also bei Gemüse entziehen sich solcherlei Gedanken meiner Vorstellungskraft.«

Gitti schließt genießerisch die Augen, als die erste Gabel in ihren Mund wandert.

»Perfetto! Du weißt nicht, was dir bisher entgangen ist und welche kulinarische Komposition Auberginen, Tomaten, etwas Stangensellerie, Zwiebeln und Knoblauch ergeben. Hier, du musst das probieren.« Gitti füttert mich.

»Stimmt, schmeckt gar nicht so schlecht. Aber töten würde ich dafür trotzdem nicht.«

Gitti hat ein Faible für die italienische Küche. Wir reden darüber, bis wir satt sind.

»Werner hatte sich so darauf gefreut, noch einmal hierherzukommen«, sagt Gitti.

»Das kann ich gut verstehen.«

Ein Rotkehlchen lässt sich dicht neben uns auf einem Stein nieder, es zeigt keine Scheu. Mein Blick schweift ins Hinterland über blassgrüne Hügel hin zum grauen Ätna in der Ferne. Als würde die Wahl eines neuen Papstes verkündet werden, steigt weißer Rauch aus ihm auf. Das sei nicht bedrohlich, hat Vincenzo vorhin gesagt, als ich wegen dieser Rauchfahne besorgt nachfragte, ob ein Ausbruch bevorstehe.

»Aber warum wolltet ihr eure Goldene Hochzeit unbedingt hier feiern?«

Gittis Blick gleitet in den sich orange färbenden Abendhimmel. »Weil wir seit Jahren mit der Insel verbunden sind.« Ein wehmütiges Lächeln umspielt ihren Mund. »An unserem ersten Hochzeitstag lief Der Pate in den Kinos. Wir haben den Film mehrmals geschaut, Werner konnte Don Vito Corleone perfekt imitieren.«

»War das Marlon Brando?«

Gitti sieht mich überrascht an. »Du kennst dich gut aus.«

»Der Film ist ein Klassiker. Ähem, ich muss aber zugeben, dass ich ihn noch nicht komplett gesehen habe.«

»Das holen wir irgendwann zusammen nach. Was hat Werner mich mit seiner Parodie zum Lachen gebracht. Obwohl der Film alles andere als witzig ist … entschuldige, ich drifte ab.«

»Nein, nein, ich möchte alles wissen.«

Gittis von Knitterfalten umzingelten olivfarbenen Augen leuchten.

»Nachdem wir den Film gesehen hatten, wollten wir unbedingt nach Sizilien. Und so haben wir damals unseren Sommerurlaub hier verbracht. Weißt du, es gibt auf der Insel eine Stadt namens Corleone. Daraus hat sich im Film der Name abgeleitet. Damals war das eine Mafia-Hochburg, die wollten wir uns ansehen. Corleone bedeutet so viel wie Löwenherz, schön, oder?«

Ich schmunzele. »Auf jeden Fall. Eine Mafia-Hochburg, etwas Romantischeres kann ich mir kaum vorstellen.«

»Wir waren nur kurz dort, es gibt schönere Orte auf Sizilien. Jedenfalls haben wir in jenem ersten Sommer hier auf der Insel Ulf, Pardon Dave, gezeugt.«

Ulf ist Gittis einziger Sohn, ein Exzentriker und Schauspieler, der seinen Vornamen in Dave ändern ließ, was ich in diesem Fall durchaus verstehen kann. Ich habe Ulf-Dave noch nicht persönlich kennengelernt, aber im TV gesehen und einiges über ihn gelesen. Er ist gut im Geschäft, was sicher daran liegt, dass er Klaus Kinski hätte doubeln können.

»Oh, ich kann mich an diese Nacht erinnern, als wäre es gestern gewesen. Wobei, es waren so einige Nächte.«

Gitti kichert wie ein Teenager, und ich sehe in ihr die junge Frau, die damals ihr Leben noch vor sich hatte.

»Das ist jetzt fünfzig Jahre her. Unglaublich«, sagt sie und seufzt, bevor sie fortfährt: »Erst können wir es kaum erwarten, dass das Leben richtig losgeht, Kindheit, Schule, Ausbildung, es kann uns nicht schnell genug gehen. Und dann plötzlich sprintet es los, und ehe du dichs versiehst, bist du auf der Zielgeraden.«

»Aber du …«

Gitti schüttelt den Kopf und fährt mir ins Wort. »Du brauchst jetzt nichts zu sagen. Lass mir ruhig diesen melancholischen Moment, so ist das nun mal. Wir haben viele schöne Sommer auf Sizilien verbracht. Vor fünfundzwanzig Jahren haben wir unsere Silberhochzeit hier gefeiert. Es war klar, dass wir auch zu unserer Goldenen hier sein würden. Aber wie wir wissen, hatte das Schicksal anderes vor.«

Ich schiebe meine Hand über den Tisch zu Gittis und drücke sie. »Warum muss das Schicksal nur so ein gnadenloses Monster sein?«, murmele ich.

»Das kann nicht mal ich beantworten. Ach Isa, in der Rückschau habe ich das Gefühl, dass meine schönsten Jahre viel zu schnell vergangen sind.«

Schweigen. Bisher habe ich Gitti selten wehmütig erlebt. Sie beißt sich auf die schmale Unterlippe. Ihr roter Lippenstift ist verblasst, das lässt sie verletzlicher wirken. Gitti ohne ihren roten Lippenstift ist in etwa so wie die Vogue ohne Anna Wintour – unvorstellbar. Von allem anderen, was über Jahre ihren Look prägte – ein dunkler Pagenkopf und eine illustre Auswahl an exzentrischen Brillen –, hat sie sich nach dem Tod ihres Mannes getrennt. Gitti ließ sich die Augen lasern und trägt nun einen hellgrauen Pixie Cut. So ungewohnt ich ihr neues Aussehen anfangs fand, die Typveränderung steht ihr.

»Meine Güte, was für ein ausgelassener erster Abend«, sagt Gitti da, als wäre sie aus einer Trance erwacht.

»Und diesmal lag es ausnahmsweise nicht an mir.«

»Leider bin ich zuversichtlich, dass du schnell wieder aufholen wirst.«

Meine Widerworte bleiben mir im Halse stecken. Wie aufs Stichwort legt sich blitzschnell diese unnachgiebige Schwere auf mich, die mich seit einigen Wochen wieder zuverlässig heimsucht. Seit auch noch …

»Isabell! So war das nicht gemeint. Ich wollte dich nicht anstecken mit meinen trüben Gedanken. Wir sind jetzt hier. Und wir machen es uns schön.«

Nun drückt Gitti meine Hand. Ich nicke mit gesenktem Blick.

»Du bist doch noch so jung, das Leben liegt vor dir. Wie kann es sein, dass in deinem Kopf für nichts anderes als die Vergangenheit Platz zu sein scheint?«

Gitti ist wieder die Alte, vergessen scheint ihre sentimentale Abschweifung.

»Was soll das denn jetzt?«

»Ist doch wahr. Ich sehe es dir an! Schau dich um, du bist an einem der schönsten Plätze dieser Welt, aber du schaffst es nicht, hier zu sein. Du musst dein Leben endlich wieder zulassen!«

»Aber, aber ich bin …«

»Nichts aber! Feudele endlich ordentlich durch da oben!« Gitti tippt sich immer wieder mit dem Zeigefinger an ihren Kopf. »Wenn das Wiedersehen mit Niklas neulich nicht der perfekte Anlass dafür ist, endlich klar Schiff zu machen, dann weiß ich auch nicht mehr weiter. Es ist jetzt vier Jahre her, seit Benedict …«

Grob fahre ich Gitti ins Wort. »Das weiß ich! Und dir sollte doch klar sein, wie sehr mich das Treffen mit Niklas aufgewühlt hat, immerhin hatte ich ihn nicht gesehen seit … seit damals.« Meine Stimme schwankt, ich spüre einen Kloß im Hals. »Dass dann ausgerechnet auch noch Dante gestorben ist …« Und die Wunden umso schmerzlicher wieder aufbrechen mussten.

»Dass Hunde irgendwann sterben, ist der natürliche Lauf der Dinge. Selbst wenn es sich um einen Philosophenhund handelt.«

»Mach dich nicht lustig, Gitti.« Ich schlucke schwer. Dante war der Hund von Benedict, meiner großen Liebe. Er hat ihn mit in unsere Beziehung gebracht. Dieser Hund hat die Seele eines Philosophen, hat er gern gesagt. Das wadenhohe, wuschelige Tier, das mindestens ein Dutzend Hunderassen in sich vereint haben dürfte, schien unkaputtbar und war der treueste Begleiter, den man sich vorstellen konnte. Bis er kürzlich mit sechzehn Jahren und weißem Bart gestorben ist.

Gitti sieht mich eindringlich an und gießt mir noch einen Eierlikör ein. Ihr gelber Seelentröster, immer zur Stelle, wenn man ihn braucht, aber letztlich auch keine nachhaltige Hilfe. Ich tauche meine Zunge in die süße, zähflüssige Masse und blicke mich um. Die Dämmerung hat eingesetzt, dazu spielt ein Orchester aus Zikaden. Ja, dieser Ort könnte nicht schöner sein. Warum nur kann ich dieses wunderbare Gefühl, das ich vorhin hatte, nicht sofort wieder abrufen? Eine bleierne Müdigkeit überfällt mich. Ich kann ein Gähnen nicht unterdrücken und verspüre den Wunsch, allein zu sein.

»Das war ganz schön viel heute, was? Du brauchst nicht für mich hier sitzen zu bleiben, ich komme schon klar, wenn du es auch tust. Schlaf dich richtig aus, meine Scarlett mit den traurigen Augen.«

Ich seufze. Da war sie wieder einmal, die Scarlett, lange schon hat Gitti mich nicht mehr so genannt. Als wir uns kurz nach meinem Einzug vor vier Jahren im Hausflur das erste Mal begegneten, attestierte Gitti mir eine Ähnlichkeit mit Vivien Leigh, die in Vom Winde verweht Scarlett O’Hara gespielt hat. Nur meine großen grünen Augen würden viel zu traurig in die Welt blicken, meinte sie. Na klasse, dachte ich und habe mir die Frau genauer angesehen. Was uns neben der Augenfarbe und den markant geschwungenen Augenbrauen eint, sind die lockigen, dunklen Haare, die ich allerdings weniger akkurat frisiert trage, meist sind sie zu einem Dutt gezwirbelt. Außerdem dürfte ich mit meinen eins vierundsiebzig deutlich größer sein, als es die längst verstorbene Schauspielerin war.

»Gut, dann gehe ich ins Bett. Gute Nacht, Gitti.« Ich werfe ihr einen Luftkuss zu, räume noch schnell den Tisch ab und ziehe mich zurück.

Als ich im Bett liege, komme ich nicht zur Ruhe und wälze mich von einer Seite auf die andere. Seit ich völlig überraschend nach all der Zeit Benedicts bestem Freund Niklas begegnet bin, spult mein Gehirn immer wieder wie ein alter Videorekorder durch die schmerzlichen Erinnerungen. Ich schüttele das Kissen auf und zuppele an dem Laken herum, das mir als Zudecke dient, doch es nutzt nichts. Vor und zurück, Stop – und Play.

Eine Woche vor meiner Hochzeit klingelte es in der Morgendämmerung an der Tür. Das war eine lange Party, dachte ich noch und quälte mich aus dem Bett, um zu öffnen. Ich erwartete einen sturzbetrunkenen Junggesellen, der nach dem Abschied von dieser Ära das Schlüsselloch verfehlt hatte. Doch vor der Tür standen ein dicklicher Polizist mit Brille, ein langer, blasser Mann mit Aknenarben – seltsam, dass ich mich so genau daran erinnern kann – und eine unscheinbare junge Frau, die ihm bis zur Schulter reichte. Ich weiß nicht mehr, was sie sagten, irgendwann saßen wir in der Küche. Dante schnüffelte entgegen seiner Art nicht an den Fremden herum, sondern saß wie versteinert neben mir. Er wusste es vor mir. Die junge Frau redete von einem Unfall und stockte öfter. Immer wieder warf sie ihrem großen Begleiter unsichere Blicke zu, und ich sah, wie er nickte, bevor sie fortfuhr. Sie ist sicher noch in der Ausbildung, und ich bin einer ihrer Praxistests, schoss es mir durch den Kopf, bevor auch zu mir durchdrang, was passiert war. Benedict war tot. Die Hochzeit in einer Woche würde nicht stattfinden, sie würde niemals stattfinden. In mir begann es zu rauschen, und dann spülte mich eine riesige Welle fort aus der Welt, die ich geliebt und in der ich mich sicher gewogen hatte.

Es folgte eine Zeit der Lähmung, die abgelöst wurde von einer trotzigen Phase der Verleugnung. Als dann die Realität des Verlustes endgültig zu mir durchdrang, begrub mich eine haushohe Lawine aus Schmerz unter sich. Manchmal gesellte sich Wut dazu, weil Benedict mich eine Woche vor der Hochzeit verlassen hatte. Nur sieben Tage später, und ich wäre eine sechsunddreißigjährige Witwe gewesen, so war nur mein Freund gestorben. Meine Gefühle waren oft völlig irrational, widersprachen sie doch jeder Vernunft. Aber wenn ich eines gelernt habe, dann dass sich Gefühle nicht nach Logik richten.

Achtundneunzig Gäste wären zu unserer Hochzeit gekommen. Doch statt Glückwünsche zur Eheschließung kamen nun Beileidsbekundungen.

Einige Wochen nach der Beerdigung habe ich wieder angefangen zu arbeiten. Der Alltag in der Agentur hat mir Struktur gegeben und Ablenkung verschafft. Ich durfte fortan sogar Dante mitbringen, obwohl mein Chef Hunde hasste. Niemand hat sich über mich lustig gemacht, wenn ich mit dem Hund sprach, als wäre er mein Partner auf Augenhöhe.

»Isa, glaub mir, wir machen uns trotzdem noch ein schönes Leben!«, sagte meine liebe Freundin Caro irgendwann zu mir. Dieser einfache Satz hat mir Kraft gespendet, denn er ließ Hoffnung zu, dass womöglich doch noch nicht alles Schöne in meinem Leben vorbei war. Caro war auch diejenige, die mich zu einer Therapie überredete. Wenn ich dort über meinen Schmerz und meine Trauer gesprochen habe, bin ich immer wieder zusammengebrochen, nichts ist dadurch leichter geworden. Deswegen habe ich die Therapie irgendwann abgebrochen. In dieser Zeit bin ich umgezogen, weil ich es in unserer Wohnung nicht mehr ausgehalten habe. Als Gitti von meinem Schicksal erfuhr, sagte sie, dass es mich später einholen würde, wenn ich die Konfrontation scheute, dann würde ich alles nur verdrängen. Trauerarbeit, das war ihr großes Wort.

»Trauer ist doch keine Arbeit, die ist einfach da«, erwiderte ich trotzig. Aber doch, Trauer ist Arbeit. Harte, mühevolle Arbeit, die viel Disziplin erfordert, die ich nicht hatte. Ich bin davor weggelaufen und habe mich immer wieder in meinem eigenen Schmerz gesuhlt, ja, ich habe mich regelrecht in ihm verkrochen. Dabei wusste ich da schon längst, dass wir einen solchen Verlust weder vergessen noch verdrängen können. Irgendwann holt dich alles wieder ein.

Bis zu der unverhofften Begegnung auf dem Friedhof hatte ich Niklas seit dem Tag des Unfalls nicht gesehen. Als er damals Benedict zu seinem Junggesellenabschied abgeholt hatte, hatten wir wie immer gescherzt und gelacht. Ich mochte Niklas sehr, er war auch zu einem meiner Freunde geworden. Doch dann stiegen die beiden in seinen Wagen. Niklas saß am Steuer, überlebte schwer verletzt – und Benedict war tot. An der Beerdigung hatte Niklas nicht teilnehmen können, weil er im Krankenhaus gelegen hatte. Darüber war ich froh gewesen, denn ich hätte es nicht ertragen, ihn zu sehen. Vor drei Wochen, an Benedicts viertem Todestag, war Niklas an Benedicts Grab. Ich erkannte ihn schon von weitem. Wie eine Statue stand er dort mit gesenktem Kopf. Aber anstatt irgendwo in Deckung zu gehen, weil ich eine Begegnung mit ihm vermeiden wollte, bewegte ich mich wie in Trance auf ihn zu. Er hatte Tränen in den Augen und wischte sich nervös über das Gesicht, als er mich sah.

Nach seiner Genesung ist Niklas mit seiner Freundin Eva nach Stuttgart gezogen. Immer wieder hat er versucht, Kontakt zu mir aufzunehmen, aber ich habe all seine Vorstöße ignoriert. Daran änderte auch nichts, dass die Untersuchung des Unfallhergangs ergeben hatte, dass Niklas angeblich keine Schuld traf. Der Abbiegepfeil zeigte Grün, als er anfuhr und ihm ein Wagen, der bei Rot über die Kreuzung donnerte, frontal in die Seite krachte. Aber für mich machte das nichts besser. Dieser Unfall hätte verhindert werden können, und Benedict würde noch leben, wenn er nicht zu Niklas ins Auto gestiegen wäre. Wir haben uns auf dem Friedhof kurz unterhalten. Ich war distanziert, aber Niklas überrumpelte mich auf eine erfrischende Weise, ihm zu versprechen, dass ich mich nicht mehr vor ihm verstecken würde. Es gebe doch so vieles, über das wir reden sollten, sagte er. Vielleicht war es gut, dass ich nicht davongelaufen bin an jenem Nachmittag. All die Jahre hatte ich große Angst vor einem Wiedersehen, aber ich habe es überstanden. Seither schreiben wir uns ab und zu. Seine Nachrichten haben Tiefgang und spiegeln echtes Interesse an mir und meinem Leben wider, doch ich setze auf Belanglosigkeiten. Daran merke ich, dass ich noch nicht so weit bin. Vergebung ist ein riesengroßes Wort, selbst wenn es objektiv betrachtet gar nichts zu vergeben gibt, wie Gitti mir immer wieder klarmacht.

Ich schalte das Licht auf dem Nachttisch ein und schaue auf die Uhr. Schon kurz vor zwei, der Film in meinem Kopf hat mal wieder Überlänge. Ganz ruhig, Isa. Ich zähle von tausend an rückwärts, irgendwann zeigt sich der Schlaf gnädig und erhört mich.

2

Stück für Stück erklimmt die Morgensonne den strahlend blauen Himmel. Vögel zwitschern, ein leichtes Rauschen geht durch die Blätter der Bäume. Obwohl ich wenig geschlafen habe, hat mich sportlicher Ehrgeiz gepackt, und so ziehe ich kraftvoll meine Bahnen durch den Pool. Ich kraule, schwimme Brust, Delfin und auf dem Rücken, immer wieder wechsele ich den Stil. Wie sehr ich das genieße. Früher war ich eine ehrgeizige Schwimmerin. Einmal bin ich sogar Landesjugendmeisterin geworden. Auch mit Benedict war ich oft im Wasser, er hat meine Leidenschaft geteilt. Nach seinem Tod verlor ich die Freude daran, wie an so vielen Dingen. Aber jetzt, hier, in diesem Pool, fühlt es sich auf einmal so an, als wäre ein abgestorbener Teil von mir zu neuem Leben erweckt worden. Noch eine Bahn und noch eine, nur keine Pause. Ich komme außer Puste, tauche durch das Becken, bevor ich mich auf den Rand schwinge und die Wärme des neuen Tages absorbiere.

»Das hat gutgetan«, japse ich, als Gitti mit Kaffee an den Pool kommt.

Sie lächelt. »Das habe ich dir angesehen.«

»Es ist wirklich höchste Zeit für einen Pool in meinem Leben.«

Ich nehme mir ein Handtuch von der Liege und tupfe mich trocken, dann löse ich meine Haare. Nass und schwer hängen sie über meinen Schultern.

»Ein Pool also, aha. Übrigens steht dir die Frisur richtig gut.«

»Frisur? Spätestens in zwei Stunden sehe ich aus wie ein verwahrloster Pudel, wenn ich das so lasse.«

»Das sind doch possierliche Tierchen. Zumindest solange ich sie nur von weitem sehe.«

»Fein, dann weiß ich, welche Frisur ich tragen werde, wenn ich dich mal auf Abstand halten will.«

Gitti grinst und reicht mir eine Tasse Kaffee. »Danke, den kann ich jetzt wirklich gut gebrauchen.« Ich nehme einen großen Schluck, nicht zu heiß, schwarz und wohltuend stark ist er.

»Du bist nicht die Einzige, die sich über den Pool freut. Ich war heute schon kurz nach fünf wach und bin auch schon eine Runde geschwommen, gleich nach meiner Meditation.«

»Angeberin«, scherze ich.

»Tja, ich tue, was ich kann.«

»Ich wusste nicht, dass du meditierst. Seit wann machst du das?«

»Schon seit Jahren, mal mehr, mal weniger ausgeprägt. Es ist aber nicht so, dass ich stundenlang im Schneidersitz irgendwo herumsitze und Mantras vor mich hin summe, also mach dir keine Sorgen.«

»Ich glaube, ich wäre viel zu hibbelig zum Meditieren. Aber ich bewundere Menschen, die es praktizieren.«

»Probiere es doch mal aus. Vor Jahren habe ich in der Praxis einen Kurs für Frauen angeboten. Es ging darum, ganz schlichte Sätze zu verinnerlichen.« Gitti faltet die Hände. »So was in der Art: Möge ich glücklich sein. Möge ich mich sicher und geborgen fühlen. Möge ich gesund sein.«

Sie spricht mit einer solchen Inbrunst, dass ich kichern muss. »Entschuldige, aber dein Werner hat das zugelassen? In seiner Praxis? Soweit ich ihn einschätzen konnte, war er in etwa so spirituell wie Stalin.«

»Du nun wieder. Ja, ja, das war er.« Gitti fährt sich durch die Haare und greift nach ihrer Kaffeetasse. »Der Kurs war nicht besonders gefragt. Ich muss zugeben, dass ich ihn nur zwei Mal gegeben habe.«

»Immerhin.«

Gitti zuckt mit den Schultern. »Die Menschen waren damals noch nicht so weit. Inzwischen gibt es ja genügend Zeitschriften und dutzende von diesen Dingern … ähm … Apps dazu. Da braucht mich niemand mehr.«

»Sag das nicht, du stellst doch jede App in den Schatten.«

»Danke, das wollte ich jetzt hören.«

Wir schmunzeln.

»Wusstest du, dass wir ungefähr sechzigtausend Gedanken am Tag haben?«

»Tatsächlich? Wer hat die alle nachgezählt?«, frage ich.

»Irgendwelche Wissenschaftler, Quantenphysiker, Maschinen, was weiß ich. Die brauchen doch alle eine Aufgabe.«

»Na, das klingt fundiert. Da kommt auf jeden Fall eine Menge zusammen an Gedanken. Und ich bin die Letzte, die nicht weiß, wie schwer man sie zur Ruhe bringen kann.«

»Siehst du, da sind wir wieder bei der Meditation. So wie du lernen kannst, ein wildes Tier zu dressieren, kannst du auch lernen, die Bewegungen deiner Gedanken zu steuern.« Gitti umfasst anmutig ihren Kopf und wiegt ihn hin und her. Wieder einmal fällt mir auf, über welch bewundernswerte Körperspannung diese kleine, schmale Person verfügt. Im Gegensatz zu mir sitzt sie aufrecht und mit geradem Rücken auf dem Fußteil der Poolliege. Automatisch hebe ich meine nach vorn hängenden Schultern an und drücke sie nach hinten durch.

»Na gut, jetzt, wo ich an der Quelle sitze, kann ich dir ja mal Gesellschaft leisten bei der morgendlichen Meditation.«

»Fühl dich frei und willkommen, meine Liebe.«

Ich lasse meine Kaffeetasse kreisen, bevor ich den letzten Schluck trinke. Dann knurrt mein Magen so laut, dass sich selbst Gitti erschrickt.

»Du Löwin, du. Frühstück?«

»Nichts lieber als das.«

»Ich kenne ein entzückendes Café, da fahren wir jetzt hin. Von dort aus können wir dann prima unseren Großeinkauf erledigen«, sagt Gitti.

»Gut, der steht für heute ganz oben auf der To-do-Liste.«

Wir machen uns ausgehfertig und fahren los.

Auf Sizilien scheint beim Autofahren vor allem eine Regel zu gelten: Willst du im Verkehrsfluss mitschwimmen, drücke aufs Gas. Weitere Grundsätze: Halte bloß nicht vor roten Ampeln. Fahre dem Auto vor dir so dicht wie möglich auf, und bremse nicht für Fußgänger. Ich bin durchgeschwitzt, obwohl die Klimaanlage auf vollen Touren läuft. Es ist schon verrückt, zu welchem Kraftakt das Autofahren werden kann, wenn man es gewohnt ist, sich an Verkehrsregeln zu halten.

»Soll ich beim nächsten Mal fahren?«, fragt Gitti.

»So gern ich dein Angebot annehmen würde, aber das geht aus Versicherungsgründen nicht. Nur ich bin als Fahrerin eingetragen, und mir ist das Risiko zu groß, dass etwas passiert. Da muss ich jetzt durch.«

»Du wirst dich an den Stil gewöhnen. Hier passieren nicht mehr Unfälle als bei uns.«

»Du Optimistin, darauf würde ich nicht wetten.«

Innerlich mache ich drei Kreuze, als wir unser Ziel, nur sechs Kilometer von unserem Haus entfernt, erreicht haben.

Auffallend viele Menschen wimmeln durch das Dorf, das von Gitti als ursprünglich angepriesen wurde. Der Grund dafür ist schnell gefunden, es ist Markttag. Auf dem Weg zum Café müssen wir den kopfsteingepflasterten Marktplatz überqueren, auf dem es äußerst geschäftig zugeht. Von schattenspendenden Schirmen und Markisen bedeckt, stehen die Stände und Menschen dicht gedrängt. Es gibt Kleidung, Taschen, Haushaltswaren, Schmuck, Stoffballen und sogar Vogelkäfige. Italienischer Pop dudelt aus kleinen Boxen, und immer wieder preisen die Händler lautstark ihre Waren an. Auf den Tischen stapeln sich frisches Obst und Gemüse. Leuchtende feuerrote Peperoncini, eingelegte grüne und schwarze Oliven werden in großen Schüsseln angeboten. Die unterschiedlichsten Gerüche liegen in der Luft, exotische Gewürze, Käse, frischer Fisch, es scheint an nichts zu mangeln.

»Gitti, das ist Quälerei, gleich fange ich an zu sabbern. Ich könnte jetzt alles essen.«

»Das Café ist gleich da drüben. Und wenn wir satt sind, kaufen wir ein.«

»Gute Idee, sonst würden wir womöglich nicht alles ins Auto kriegen.«

Die Terrasse des kleinen Cafés ist gut besucht. Wir haben Glück, ein älteres Paar hat gezahlt und überlässt uns seinen Tisch unter einem bordeauxfarbenen Sonnenschirm. Ich bestelle einen Cappuccino und Gitti einen Caffè Latte, außerdem nehmen wir frisch gepressten Orangensaft und süß gefüllte Hörnchen mit Marmelade und Vanillecreme. Hier steht Zucker für Leben, zumindest würde ich das nach einem Blick auf die Karte so interpretieren.

Gitti schaut auf die Uhr und rümpft die Nase. »Gleich ist es halb elf, und wir sind als Touristen enttarnt worden.«

Ich schmunzele. »O Schreck, wie kann das sein? Doch nicht etwa, weil wir Deutsch sprechen?«

»Stimmt, gutes Argument. Aber das meine ich nicht. Kein Italiener trinkt um diese Uhrzeit noch Cappuccino oder Caffè Latte. Ab zehn gibt’s nur noch Espresso.«

»Wie kann man sich freiwillig so kasteien? Ich bin gern Touristin.«

Überraschend schnell und bestens gelaunt serviert eine kleine, burschikose Kellnerin unsere Bestellung. Gitti unterhält sich kurz mit ihr, die Frauen lachen, doch außer bellissima, herrlich, verstehe ich nichts.

»Es macht so viel Spaß, wieder einmal italienisch zu sprechen.«

»Wo hast du das so gut gelernt?«

»Gut? Na ja, aber danke. Das waren die Reisen hierher und ein paar knallharte Semester an der Volkshochschule.«

Die Kellnerin kommt nun mit einer Bestellung für den Nachbartisch an uns vorbei und schenkt Gitti ein herzliches Lächeln.

»Was für eine Energie die Menschen hier haben! Ich liebe diese Mentalität. Und überhaupt, es tut auch mal gut, auf mein morgendliches Müsli mit all diesem gesunden Gedöns zu verzichten.« Gitti beißt genussvoll in eins der süßen Teilchen. Sie ist sehr kritisch, was ihre Ernährung angeht. Beim Trinken sieht es anders aus, immerhin gehört Eierlikör nicht unbedingt zu den Top Ten der gesündesten Getränke. Aber diese Flexibilität macht sie nur noch sympathischer.

»Schön, dass du auch feste Nahrung noch richtig zu genießen weißt«, witzele ich.

»Keine Sorge, solange ich klar denken kann, wird das immer so sein. Ohne Fähigkeit zum Genuss ist ein Leben nicht besonders lebenswert.«

»Das hast du schön gesagt. Ich werde dich bei deinem nächsten Gerstengrasdrink daran erinnern.«

»Der Mix macht’s, meine Liebe.«

Mir sind die Hörnchen zu süß, ich bestelle Tramezzini mit Thunfisch, eine Art Sandwich und das einzig Herzhafte auf der Karte. Da meldet sich mein Handy. Eine Nachricht ist eingegangen. Ich ziehe es aus der Tasche.

»Wer ist es? Etwa Niklas?!« Erwartungsvoll sieht Gitti mich an.

Ich nicke. »Er weiß, dass ich auf Sizilien bin.«

»Was schreibt er?«

»Gitti! Du bist eindeutig zu neugierig.«

»Was erwartest du von mir? Es geht um dein Leben.«

Ich seufze und rolle mit den Augen. »Geht es noch etwas dramatischer?«

»Isa! Schließ endlich mit der Vergangenheit ab. Gib Niklas eine Chance! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass Vergebung Freiheit bedeutet.«

»Das geht aber nicht so einfach.«

»Von einfach war nie die Rede. Komm, jetzt mach schon!«

Ich öffne die Nachricht und lese vor:

Liebe Isa, jetzt bist du auf Sizilien, und ich hoffe, du kommst etwas zur Ruhe. Seit unserem unverhofften Wiedersehen denke ich oft an dich. Es hat mir gezeigt, wie nah du mir nach all den Jahren noch bist. Wir beide haben Benedict geliebt, jeder auf seine Weise. Glaub mir, ich weiß, wie tief dein Schmerz ist, und ich kann nachvollziehen, warum du mich aus deinem Leben verbannt hast. Aber inzwischen ist so viel Zeit vergangen. Ich wünsche mir sehr, dass du mir eines Tages wieder in die Augen sehen kannst und Niklas darin siehst, nicht den »Totfahrer«. Sag mir, was ich dafür tun kann, und ich werde es machen. Ich freue mich darauf, von dir zu hören. Niklas

PS: Eva ist schwanger. Nachdem Benedict gestorben war, wollte ich nie Kinder, und Eva schien sich damit arrangiert zu haben. An den Gedanken, Vater zu werden, muss ich mich noch gewöhnen.

Ich lasse das Telefon sinken und starre ins Leere. Seine Worte wirken in mir nach, sie kratzen an der nie verheilten Wunde. Der Totfahrer. Es stimmt, zu nichts anderem ist Niklas für mich geworden.

»Er schreibt ganz wunderbar. Ich mag diesen Niklas. Aber eine Schwangerschaft als PS zu verkünden, ist schon etwas speziell.«

»Macht das einen Unterschied? Mich erstaunt eher, dass er noch immer mit Eva zusammen ist. Benedict und ich fanden sie anstrengend. Wir hatten nicht den Eindruck, dass es zwischen den beiden die große Liebe ist. Sie hat sich ständig in den Vordergrund gedrängt und ohne Punkt und Komma von sich erzählt.«

Gitti hebt wissend die Hände. »Alles klar, eine klassische Energieräuberin. Solche Menschen versuchen, ihren Mangel an Selbstbewusstsein zu überspielen, und können wahrlich anstrengend sein.«

»Gitti-Analytics, zack. Sag ihr das mal.«

»Es geht nicht um sie.«

Ich nicke matt.

»Studien besagen, dass die meisten Menschen eine gewisse Zeit nach dem Tod ihres Partners fast wieder so zufrieden sind wie vor dessen Tod.«

»Bitte, Gitti, komm mir nicht mit irgendwelchen Studien. Was sagst du? Bist du wieder so zufrieden wie vor Werners Tod?«

Sie starrt ins Leere und schüttelt den Kopf. »Nein, das bin ich sicher nicht. Ich glaube, nach einem Jahr darf ich das noch nicht erwarten.«

»Aber ich nach vier Jahren? Mir ging es doch nicht schlecht, ich hatte mich arrangiert mit meinem Leben … zumindest bis Dante gestorben ist und solange Niklas nur ein Teil meiner Vergangenheit war.«

»Isa, arrangiert hast du dich mit gar nichts. Seit Jahren verläuft dein Leben in den immer gleichen Bahnen, du lässt dich doch von kaum etwas da draußen ansprechen und berühren. Du funktionierst, statt zu leben.«

»Wenigstens etwas.« Ich fahre mir mit den Händen über das Gesicht.

»Merkst du nicht selbst, wie du vor deinem Leben fliehst? Denke nur an deine ständigen Überstunden in der Agentur.« Gitti nippt an ihrem Orangensaft und fährt fort: »Aber immerhin sind wir jetzt für drei Wochen hier. Das kann ein Anfang sein.«

Als klar war, dass ich Gitti auf diese Reise begleiten würde, ging ich zunächst von einer Woche aus. Doch sie meinte, dass das viel zu wenig Zeit sei und ich nach all den Jahren verdammt noch mal an mich zu denken habe, unter drei Wochen gehe gar nichts.

»Wovon auch immer es ein Anfang sein wird«, murmele ich und beiße mir auf die Unterlippe, die leicht zu zittern beginnt. Mit Selbstmitleid kenne ich mich aus, jetzt nimmt es sich wieder einmal heraus, die Regie zu übernehmen. Nur zu gern würde ich dieses lästige Anhängsel endlich loswerden, aber ich schaffe es nicht. Dabei war ich früher der optimistischste Mensch der Welt, das fand zumindest Benedict, wenn ich ihn wieder einmal aufbaute, weil die Pläne einer eigenen Firma, die er mit Niklas gründen wollte, an der Kreditunwilligkeit der Banken scheiterten.

»Schau mich nicht so an, Gitti. Ich weiß, dass die letzten Jahre nicht zu den besten meines Lebens gehören. Wie auch?« Mein Blick folgt einem kleinen braunen Käfer, der unerschrocken über die Armlehne meines Stuhls flitzt. »Während meine Welt stehen geblieben ist, ging das Leben da draußen einfach weiter.«

Gitti mustert mich einen Moment lang schweigend, dann sagt sie: »Wenn wir immer nur zurückschauen, dann verschwindet der Schmerz nicht. Im Gegenteil, wir sind die ganze Zeit damit beschäftigt, und je häufiger du über etwas nachdenkst, desto mehr verschaltet sich das im Gehirn.«

Ich verziehe die Mundwinkel. »Und was schlägt meine Lieblingstherapeutin vor?«

Gitti nimmt ihre riesige Sonnenbrille ab und reibt sich die Nasenwurzel. »Mir hilft es, mich an jedem Tag auf Dinge zu konzentrieren, für die ich dankbar bin. Das kann ich dir nur empfehlen.« Sie setzt die Brille wieder auf, sie bedeckt ihr halbes Gesicht.

»Wie oft ich das schon gehört habe. Soll ich womöglich auch noch dankbar dafür sein, dass Benedict gestorben ist?«

»Schon gut, Isa, dein Sarkasmus in allen Ehren. Aber versuch doch mal, Dankbarkeit gegenüber Dingen zu entwickeln, die noch gar nicht passiert sind.«

»Das wird ja immer besser.«

»Tu das nicht ab! Unser Gehirn kann nicht zwischen einer lebendigen Vorstellung und einer realen Erfahrung unterscheiden. Denk nur daran, wie du bei Filmen mitfiebern kannst.«

Skeptisch runzele ich die Stirn. »Das macht mich aber noch lange nicht zur Heldin.«

Gitti verschränkt ihre Arme im Nacken und lehnt sich zurück. »Es ist nun mal so, das, was wir denken und fühlen, macht etwas mit unserem Leben. Und nicht das Leben die ganze Zeit etwas mit uns.«

»Dann sind wir also selbst schuld, wenn wir leiden, ja? Weil wir die falschen Gedanken haben. Das ist doch absurd.«

»Ist es nicht! Es gibt genug Menschen, die trotz schrecklicher Schicksalsschläge in sich eine Kraft gefunden haben, durch die die Vergangenheit keine Macht mehr über sie hat. Wenn du es schaffst, dich selbst als treibende Kraft zu sehen, dann kannst du mit all den Dramen des Lebens besser umgehen als jemand, der sich hilflos seinem Schicksal ausgeliefert fühlt.«

Ich nehme einen tiefen Atemzug. »Alles klar, das habe ich verstanden.«

»Jetzt guck nicht so genervt! Es liegt mehr in deiner Macht, als du glaubst. Ich wünsche mir doch nur, dass du das endlich erkennst.«

Ich nehme Gitti ihre mentale Tracht Prügel nicht übel. Mir ist klar, dass sie nicht unrecht hat mit dem, was sie sagt. Das macht es aber nicht leichter, entsprechend zu leben.

Der Cappuccino ist kalt geworden, ich trinke ihn aus und löffle den übrig gebliebenen Milchschaum vom Boden. Noch die letzten Bissen meines Thunfisch-Sandwichs in den Mund geschoben, dann zahlen wir und brechen auf.

Das Angebot der frischen Köstlichkeiten an den Marktständen hat deutlich abgenommen. Es ist Mittag, die ersten Händler beginnen mit dem Abbau. Wir kaufen Antipasti, Käse, Salami und einen Hut mir breiter Krempe für mich. Die Sonne ist eindeutig zu stark für meinen Kopf, er soll nicht mehr leiden als meine blasse, standardmäßig mit LSF 50 geschützte Haut. Der Hut sieht aus, als wäre er aus Stroh, ist aber aus Papier. Ich löse meinen Dutt, binde einen tiefen Pferdeschwanz und setze ihn gleich auf.