Sommerkind - Diane Chamberlain - E-Book

Sommerkind E-Book

Diane Chamberlain

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Beschreibung

Früh am Morgen ihres elften Geburtstages findet Daria am Stand neben dem Sommerhaus ihrer Eltern ein neugeborenes Baby. Das sich die Mutter der Kleinen nicht ausfindig machen lässt, wird sie von Darias liebevoller Familie adoptiert. Zwanzig Jahre später ist aus Shelly eine anmutige Schönheit geworden, die zurückgezogen mit Daria in dem Sommerhaus ihrer Kindheit wohnt. Doch das Rätsel um ihre Herkunft lässt sie nicht los, und so wendet sie sich an Rory Taylor, ein Freund Darias aus Kindertagen und nun erfolgreicher Fernsehproduzent. Sie bittet ihn, nach Kill Devil Hills zurückzukehren und zu versuchen, das Geheimnis um ihre Herkunft zu lüften. Je mehr Fragen Rory stellt, desto unruhiger wird die kleine Gemeinde in den Outer Banks, und dunkle Sünden und wohlgehütete Geheimnisse kommen an die Oberfläche. Stück für Stück wird die Geschichte des Sommerkinds entblättert: Ein Rätsel, auf dessen Lösung niemand der Beteiligten vorbereitet ist..

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Seitenzahl: 569

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Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Diane Chamberlain

Sommerkind

Roman

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuchin der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Summer’s Child

Copyright © 2000 by Diane Chamberlain

erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto

Übersetzt von Maike Walter

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: mauritius images GmbH, Mittenwald /

Getty Images, München

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-95576-152-3

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

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PROLOG

An ihrem elften Geburtstag wurde Daria Cato zur Heldin.

Nach einem schweren Unwetter in der vergangenen Nacht hatte sich eine bleierne Stille über das Sea Shanty gelegt. Wie üblich erwachte Daria schon früh. Am Himmel vor ihrem Zimmerfenster zeigten sich die ersten zaghaften Boten der Morgendämmerung. Sie öffnete das Fenster über der Frisierkommode und ließ die laue Morgenbrise herein. Vom Ozean drang ein ruhiges rhythmisches Rauschen herüber, kein aggressives Peitschen wie in der Nacht zuvor. Daria sog den Geruch von Salz und Tang in tiefen Zügen ein. Der Sonnenaufgang würde an diesem Morgen gigantisch sein.

Schnell zog sie ihren Schlafanzug aus und schlüpfte in Shorts und Top. Dann öffnete sie leise die Zimmertür und trat auf die Diele hinaus. Auf Zehenspitzen schlich sie an den Zimmern ihrer Schwester Chloe und ihrer Cousine Ellen vorbei. Ellens Mutter schlief unten im Hochparterre, das Schlafzimmer von Darias Eltern lag im zweiten Stock. Ihr Vater würde bald aufstehen, um die Frühmesse zu besuchen, aber ihre Mutter, Tante Josie, Ellen und Chloe würden mindestens noch eine Stunde schlafen. Sie konnten nicht nachvollziehen, warum der Strand in den frühen Morgenstunden eine solche Faszination auf Daria ausübte. Aber das war ihr auch ganz recht. Sie war lieber allein, wenn Sand und Himmel Morgen für Morgen ihre Farbe und Struktur änderten. Dieser Morgen würde etwas Besonderes werden; nicht nur wegen des Sturms, sondern weil es ihr Geburtstag war. Elf. Irgendwie eine stumpfsinnige Zahl, und immer noch zwei Jahre, ehe sie sich einen Teenager würde nennen können. Aber ohne Frage besser als zehn.

Barfuß tappte Daria die Treppe hinunter, wobei sie sich bemühte, nicht auf die Stufe zu treten, die immer knarrte. Ob irgendwer an ihren Geburtstag denken würde? In diesem Jahr würde bestimmt alles anders sein als im letzten, als ihre Mutter für sie und die anderen Kinder, die in der Sackgasse wohnten, eine Party veranstaltet hatte. Ja, dieses Jahr war zum Anderssein geradezu prädestiniert. Weil ihre Mutter anders war. Sie hatte sich in den letzten Monaten verändert, und diese erste düstere und wolkenverhangene Woche in Kill Devil Hills in North Carolina hatte nicht gerade zur Besserung ihrer mürrischen Laune beigetragen. Sue Cato schlief fast jeden Tag lange, und war sie dann endlich auf den Beinen, schlich sie griesgrämig durchs Haus. Nur mit Mühe schien sie sich an die Namen ihrer Töchter zu erinnern, von den Geburtstagen gar nicht zu reden. Chloe würde das natürlich egal sein. Sie war diesen Sommer siebzehn geworden; die Schlaue in der Familie, die gerade ihr erstes Jahr am College hinter sich gebracht hatte und sich nur für Jungs interessierte und dafür, mit welchem Nagellack sie sich die Fußnägel anmalen könnte. Das war der Zeitpunkt, als sich unsere Mutter verändert hat, dachte Daria, als Chloe ans College ging. “Allmählich verliere ich meine kleinen Mädchen”, hatte Daria ihre Mutter am Vortag zu Tante Josie sagen hören.

Und außerdem würden sich die Jungen und Mädchen aus der Straße auch nicht gerade darum reißen, auf die Geburtstagsfeier einer Elfjährigen zu gehen. Jetzt, wo sie alle Teenager waren. Alle außer ihr! Gut, dass mir das Alleinsein nicht so viel ausmacht, dachte sie, als sie die Haustür öffnete und auf die große, mit Fliegengittern gesäumte Veranda des Sea Shanty trat. Denn allem Anschein nach würde sie diesen Sommer die meiste Zeit für sich sein.

Von der Veranda aus konnte Daria auf der anderen Straßenseite das Poll-Rory sehen, das Cottage von Rory Taylor. Selbst Rory, mit dem sie die Sommer verbracht hatte, seit sie denken konnte, war nun vierzehn und ignorierte sie völlig. Es war, als hätte er all die Stunden vergessen, in denen sie zusammen geangelt und Krebse gefangen oder in der Bucht Wettschwimmen veranstaltet hatten.

Im Poll-Rory brannte kein Licht. Und als sie zu dem Fenster im Obergeschoss hinaufsah, wo Rorys Zimmer lag, spürte sie im Herzen einen stechenden Schmerz.

“Wer braucht dich schon”, murmelte sie, stieß die Fliegengittertür auf und stieg die Stufen hinunter in den kühlen Sand. Sie schlenderte zum Strand, über dem der Himmel gerade sein allmorgendliches kupferrotes Schauspiel begann.

Alle sechs Häuser in der Straße waren auf Stelzen gebaut, wie die meisten meerwärts liegenden Gebäude auf den Outer Banks. Darias Vater und Onkel hatten das Sea Shanty in ihrem Geburtsjahr fertiggestellt. Da nur ein weiteres Cottage zwischen ihrem Haus und dem Meer lag, gelangte Daria schnell zu der niedrigen, von Strandhafer bewachsenen Düne, die über den Strand wachte. Von dort warf sie einen Blick zu dem Cottage, in dem Cindy Trump lebte. Es war das einzige Haus in der Sackgasse, das unmittelbar ans Meer grenzte, und Daria wollte sich vergewissern, dass der Sturm es nicht beschädigt hatte. Es war in bestem Zustand. Sie beneidete Cindy und ihren Bruder um die exklusive Lage ihres Häuschens, aber ihr Vater hatte gesagt, der Strand in Kill Devil Hills werde schmaler und Cindys Cottage würde eines Tages vom Ozean verschluckt. Dennoch stellte sie es sich schön vor, vom eigenen Zimmer aus nichts als das türkisblaue Meer zu sehen.

Der Strand war herrlich! Der Sturm hatte den Sand rein gewaschen, und die Flut hatte ein breites dunkles Muschelband zurückgelassen, das nur darauf wartete, von ihr verlesen zu werden. Die Sonne zeigte sich bereits als schmaler Kupfersplitter am Horizont über dem Ozean, der so ruhig war, dass er eher einem See als dem offenen Meer glich. Keine wilden, schaumigen Wellen wie in der Nacht zuvor. Sie setzte sich auf die Düne, grub ihre Füße tief in den feuchten Sand und sah der Sonne bei ihrem raschen Aufstieg in den changierenden Himmel zu.

Übersät mit den großen braunen Panzern der Pfeilschwanzkrebse, erweckte der Strand im rötlichen Morgenlicht den Eindruck, man befände sich auf einem anderen Stern. Irgendwie unheimlich. Zwar war Daria von dieser Vielzahl an Muscheln fasziniert, doch nach wenigen Momenten war sie mit ihren Gedanken schon wieder bei dem sozialen Dilemma, vor dem sie diesen Sommer stand. Obwohl die Catos erst vor knapp einer Woche im Sea Shanty angekommen waren, konnte Daria sich ausmalen, wie der Sommer ablaufen würde – und dieses Bild war alles andere als farbenfroh. Im Geiste ging sie die Kinder aus ihrer Straße durch und hoffte, sich beim Alter des einen oder anderen vertan zu haben. Chloe war siebzehn und Ellen, die fast den ganzen Sommer mit ihnen verbringen würde, fünfzehn. Cindy Trump war sechzehn, ihr Bruder Todd dreizehn. Dann gab es noch die siebzehnjährigen Zwillinge Jill und Brian Fletcher, die im Cottage neben dem Poll-Rory wohnten. Neben ihnen wiederum wohnte dieses stille Mädchen Linda; sie war vierzehn und steckte ihre Nase stets in irgendein Buch. Das Haus zur Rechten des Sea Shanty gehörte den Wheelers, einem älteren Ehepaar, dessen drei Kinder schon aus dem Haus waren. Im letzten Jahr hatte Daria einmal mit Rorys Schwester Polly gespielt. Sie war fünfzehn, aber geistig zurückgeblieben, sodass sie wesentlich jünger wirkte. Doch selbst Polly war in diesem Sommer in ihrer Entwicklung weit an Daria vorbeigezogen – und wenn auch nicht hinsichtlich ihrer Interessen, dann doch zumindest, was das Körperliche betraf. Sie hatte Brüste, um die Chloe und Ellen sie heiß beneideten.

Als die Sonne wie ein Ball am Horizont stand, lief Daria auf das einladende Muschelband zu. Die Taschen ihrer Shorts waren tief, sie würde also jeden Schatz nach Hause tragen können. Auch wenn das ihre Mutter verärgern würde, die sich neuerdings darüber beschwerte, dass sie jeden Sommer eimerweise “nutzloses Zeug” mit nach Hause brachte.

Daria folgte dem Muschelband ein Stückchen, und als sie auf Höhe des Trump-Hauses angelangt war, entdeckte sie inmitten der Muscheln plötzlich den größten Pfeilschwanzkrebs-Panzer, den sie je gesehen hatte. Er kam ihr eigenartig vor, denn er stand irgendwie hoch, ganz so, als läge der Krebs noch darunter. Neugierig stupste sie die braune Kugel mit ihrem sandbeschmutzten Zeh an, bis sie auf den Rücken kullerte. Daria blinzelte ungläubig. Ein blutverschmiertes Baby! Ehe sie sich's versah, rannte sie auch schon kreischend und mit wedelnden Armen durch den Sand davon. Jetzt wünschte sie sich, nicht mutterseelenallein am Strand zu sein.

Sie war bereits ein ganzes Stück gerannt, als sie abrupt stehen blieb. Hatte da wirklich ein Baby gelegen? Konnte es nicht auch eine Puppe gewesen sein? Bestimmt war nur die Fantasie mit ihr durchgegangen. Sie warf einen Blick über die Schulter. Nein, sie war sicher, dass es ein echtes Menschenbaby war. Sie meinte sogar, sich an die kleine, fast unmerkliche Bewegung eines winzigen Fußes erinnern zu können. Reglos stand sie am Strand und drehte sich erneut zu dem Krebspanzer um. Na gut, vielleicht war es ja tatsächlich ein Baby, aber dann war es wohl kaum am Leben. Zögernd ging sie zurück. Das Meer war so leise, dass sie ihr Herz laut in den Ohren pochen hörte. Als sie vor dem Panzer stand, zwang sie sich, nach unten zu sehen.

Es war ein Baby, ein nacktes Baby. Es war nicht nur blutbefleckt, sondern lag auch noch neben einem Haufen, der wie ein matschiger Blutberg aussah. Und es war wirklich am Leben. Daran gab es keinen Zweifel: Das Baby drehte sein Köpfchen zum Meer und stieß zwischen seinen puppenhaften Lippen ein leises Wimmern aus.

Obwohl ihr schwarz vor Augen wurde, zog Daria ihr Top aus und kniete sich in den Sand. Vorsichtig wickelte sie den Stoff um das Kind, um dann erschrocken zurückzuweichen. Der Blutberg war mit dem Baby verbunden! Man konnte ihn nicht einfach dort liegen lassen. Sie biss die Zähne zusammen, wickelte alles in ihr Top ein – Baby, Blutberg und ein halbes Dutzend Muscheln – und stand auf. Das Bündel in den Armen, rannte sie so schnell sie konnte zum Sea Shanty. Nur ein einziges Mal blieb sie stehen, weil sie glaubte, sich übergeben zu müssen. Doch als sie spürte, wie das zarte Leben in ihrem Arm zitterte, zwang sie sich zum Weitergehen.

Im Sea Shanty angekommen, legte sie das Bündel auf den Küchentisch. Ihr Top hatte sich mit Blut vollgesogen, und als Daria die Treppen zum Schlafzimmer ihrer Eltern hinaufrannte, merkte sie, dass auch ihre nackte Brust blutverschmiert war.

“Mom!” Sie hämmerte gegen die Schlafzimmertür. “Daddy!”

Hinter der Tür hörte sie die schweren Schritte ihres Vaters. Einen Augenblick später kam er heraus. Er band sich gerade die Krawatte. Sein dickes, sonst wirres schwarzes Haar hatte er für die Kirche ordentlich zurechtgekämmt. Hinter ihm lag Darias Mutter noch schlafend im Ehebett.

“Shhh.” Ihr Vater hielt den Zeigefinger vor die Lippen. “Was ist los?” Als er die Blutspur auf ihrer Brust sah, riss er die Augen auf. Er packte sie bei den Schultern. “Was ist passiert? Bist du verletzt?”

“Ich habe ein Baby am Strand gefunden!”, sagte sie. “Es lebt, aber es ist völlig …”

“Was hast du gesagt?” Ihre Mutter setzte sich auf. Die Haare standen ihr an einer Seite vom Kopf ab. Mit einem Mal war sie hellwach.

“Ich habe ein Baby am Strand gefunden”, wiederholte Daria und sauste an ihrem Vater vorbei zum Bett. Sie zerrte an der Hand ihrer Mutter.

“Es liegt unten auf dem Küchentisch. Ich habe solche Angst, dass es stirbt. Es ist so klein, und überall ist Blut.”

Im Nu war Darias Mutter auf den Beinen. So schnell hatte sie sich seit Monaten nicht mehr bewegt. Sie schlüpfte in Bademantel und Hausschuhe und stürmte noch vor ihrem Mann und Daria die Stufen hinunter.

Das Baby lag noch immer genau dort, wo Daria es hingelegt hatte, und zwar so reglos, dass sie fürchtete, nun sei es wirklich tot. Ihre Mutter ließ sich nicht eine Sekunde von dem Blut beirren, und Daria war von der Entschlossenheit, mit der sie das blutrote Top entfernte, beeindruckt.

“Heiliger Vater im Himmel!”, sagte Darias Dad und wich einen Schritt zurück. Ihre Mutter hingegen bewegte sich mit den routinierten Handgriffen der Krankenschwester, die sie einst gewesen war, in der Küche. Sie füllte einen Topf mit Wasser und stellte ihn auf den Herd, befeuchtete dann ein Handtuch und säuberte damit das Baby.

Daria stand dicht neben ihr. Die sachliche Art, mit der ihre Mutter die Situation meisterte, beruhigte sie. “Warum ist es so blutig?”, fragte sie.

“Weil es ein Neugeborenes ist”, erklärte ihre Mutter. “Weil sie ein Neugeborenes ist.”

Bei näherem Hinsehen erkannte auch Daria, dass es ein Mädchen war.

“Wo genau hast du sie gefunden?”, wollte ihre Mutter wissen.

“Sie lag unter dem Panzer eines Pfeilschwanzkrebses”.

“Unter einem Panzer?”

“Zwischen all den Muscheln, die die Flut angespült hat. Glaubst du, der Sturm letzte Nacht hat sie an den Strand gespült?”

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. “Nein. Dann wäre sie sauber. Und sie wäre tot.” Ihre Unterlippe zitterte, und ihre Nasenlöcher bebten vor Zorn. “Nein, irgendjemand hat sie einfach dort liegen lassen.”

“Ich rufe jetzt die Polizei.” Darias Vater ging zum Telefon im Wohnzimmer. Sein Gesicht war aschfahl. Tante Josie, die gerade auf dem Weg in die Küche war, kam ihm entgegen.

“Was ist denn hier los?”, fragte sie. “Oh mein Gott!” Beim Blick zum Küchentisch schlug sie die Hände vor den Mund.

“Ich habe sie am Strand gefunden”, erklärte Daria.

“Wie, ganz allein?”, fragte Tante Josie. “Wo am Strand?”

“Direkt vor dem Cottage von Cindy Trump”, antwortete Daria.

Ihre Mutter und Tante Josie tauschten einen vielsagenden Blick. Das taten die Leute immer, wenn die Rede von Cindy Trump war, aber Daria hatte keine Ahnung, warum.

“Die Plazenta ist noch dran”, sagte Tante Josie fachmännisch. Damit musste sie den Blutberg meinen.

“Ich weiß.” Sue Cato spülte das Tuch unter dem Wasserhahn aus und schüttelte den Kopf. “Ist das nicht unglaublich?”

Daria dachte an Chloe und Ellen, die immer noch schliefen. Sie sollten das auf keinen Fall verpassen. Sie war schon auf dem Weg zur Küchentür, als ihre Mutter fragte: “Wohin gehst du?”

“Chloe und Ellen holen.”

“Es ist noch nicht mal acht. Lass sie noch schlafen.”

“Teenager schlafen den Schlaf des Gerechten, das kann ich dir sagen”, fügte Tante Josie hinzu.

Zwar würden Chloe und Ellen ihr später Vorwürfe machen, weil sie sie nicht geweckt hatte, doch Daria hielt es im Augenblick für das Beste zu gehorchen. Sie trat wieder nah an den Tisch heran und beobachtete, wie ihre Mutter für ein paar Sekunden die Klingen einer Schere in das kochende Wasser tauchte und dann damit die Schnur durchtrennte, die aus dem Bauch des Babys kam. Endlich war das Kind von der furchtbaren matschigen Masse befreit. Tante Josie holte ein Handtuch aus dem Badezimmer, und Darias Mutter wickelte das frisch gewaschene Baby darin ein. Dann nahm sie das Bündel auf den Arm. Sie wiegte es sanft hin und her. “Armer kleiner Schatz”, flüsterte sie. “Armes verstoßenes Ding.” Daria hatte den Eindruck, der Blick ihrer Mutter sei seit Jahren nicht so lebendig gewesen.

Die Polizei und das Rettungsteam trafen schon nach wenigen Minuten ein. Einer der Rettungsassistenten – ein junger langhaariger Mann – musste Darias Mutter das Baby förmlich entreißen. Noch immer in Bademantel und Hausschuhen, folgte sie dem Kind bis zum Krankenwagen. Sie sah dem wegfahrenden Fahrzeug nach, und auch als es längst auf die Strandstraße abgebogen war, stand sie noch minutenlang da.

Die Polizisten hatten eine Menge Fragen, vor allem an Daria. Sie saßen mit ihr auf der Veranda und gingen die Details ihres Fundes so lange durch, bis sie sich selbst schuldig fühlte. So als hätte sie einen unverzeihlichen Fehler gemacht und würde jeden Moment ins Gefängnis gesteckt. Nach einer halben Stunde schickten sie sie ins Haus und wandten sich an ihre Eltern und Tante Josie. Daria setzte sich im Wohnzimmer in den Korbsessel, der direkt neben dem Fenster zur Veranda stand, sodass sie jedes Wort der Erwachsenen mithören konnte.

“Können Sie uns sagen, was für Mädchen im Teenageralter in der Straße leben?”, fragte einer der Polizisten.

Tante Josie begann sie aufzuzählen. “In dem Haus dort am Strand, da lebt so ein naives Ding. Cindy Trump. Die Jungs hier nennen sie Cindy Tramp, weil sie vom einen zum Nächsten zieht, wenn Sie verstehen, was ich meine.”

“Ach, so solltest du das aber nicht sagen, Josie”, wies Darias Mutter sie zurecht.

“Ich habe sie gestern noch gesehen”, meinte Darias Vater. “Und sie kam mir nicht schwanger vor.”

Daria neigte ihren Kopf leicht zur Seite, um das spannende Gespräch besser verstehen zu können.

“Ich habe sie auch gesehen”, sagte Tante Josie. “Sie trug ein weites weißes Männershirt. Darunter hätte sie alles Mögliche verstecken können.”

Daria konnte das resignierte Achselzucken ihres Vaters fast hören. Tante Josie war mit seinem vor fünf Jahren verstorbenen Bruder verheiratet gewesen, und anscheinend schaffte sie es immer wieder aufs Neue, bei Darias Dad ihren Kopf durchzusetzen.

Tante Josie setzte erneut an. “Dann ist da noch dieses Mädchen Linda, das …”

“Sie ist erst vierzehn”, protestierte Darias Mutter. “Und sie ist so schüchtern, dass sie noch nicht mal mit Jungs reden kann, geschweige denn …” Ihre Stimme verlor sich.

“Wir wüssten trotzdem gerne, welche Mädchen noch in der Straße wohnen”, sagte der Polizist. “Egal, ob Sie sich eine von ihnen als Kindsmutter vorstellen können oder nicht. Was ist denn mit diesem Haus? Leben hier noch andere Mädchen außer dem Supergirl Daria?”

Supergirl? Daria grinste in sich hinein.

“Ja”, antwortete Darias Vater, “aber das sind gute katholische Mädchen.”

“Meine Tochter Ellen ist fünfzehn”, warf Tante Josie ein, “und ich kann ihnen versichern, dass sie nicht schwanger war.”

“Das gilt auch für unsere Tochter Chloe.” Darias Vater klang, als wäre er beleidigt, dass man seine Tochter verdächtigte. “Sie besucht ein katholisches College, seit sie sechzehn ist. Sie können sich also vorstellen, dass sie ihre Nase die meiste Zeit in Bücher steckt.”

Dessen war sich Daria alles andere als sicher, denn Chloe war gescheit genug, gute Noten zu schreiben, ohne viel dafür zu lernen.

“Sonst noch jemand?”, fragte diesmal der andere Polizist.

“In diesem Haus? Nein”, sagte Tante Josie. “Aber in unserer Straße leben noch mehr Mädchen. Polly von gegenüber, zum Beispiel.”

“Jetzt reicht es aber, Josie”, fuhr Darias Mutter sie an. “Sie ist geistig zurückgeblieben. Glaubst du wirklich …”

“Erzählen Sie nur weiter”, verteidigte sie der Polizist. “Wer noch?” Es klang, als wären er und Tante Josie alte Freunde.

“Ich glaube, das einzige weitere Mädchen ist diese Jill”, sagte Tante Josie.

“Sie ist die Tochter der Fletchers”, fügte Darias Mutter kapitulierend hinzu. Jedes der Mädchen würde auf die Liste kommen, ob es ihr nun passte oder nicht.

Als ihre Schwester die Treppe herunterkam, legte Daria einen Finger auf die Lippen. Chloe zog die Augenbrauen hoch, während sie mit nackten Füßen über den Wohnzimmerteppich tappte.

“Was ist denn hier los?”, flüsterte sie und versuchte, durch das Fenster auf die Veranda zu spähen.

“Pass auf, dass sie dich nicht sehen!” Daria griff ihrer Schwester in das ungekämmte schwarze Haar und zog ihren Kopf herunter.

“Autsch.” Chloe wand sich aus Darias Griff. “Warum sind die Bullen hier?”

“Ich habe ein Baby am Strand gefunden.”

“Du hast was gefunden?”

“Psst”, machte Daria, doch noch ehe sie mehr erklären konnte, betrat ihr Vater das Zimmer.

“Chloe, gut, dass du hier bist”, sagte er. Seine Haare waren jetzt wieder durcheinander. Er konnte sie nie für lange Zeit bändigen. “Ich wollte dich gerade holen. Die Polizisten haben ein paar Fragen an dich und Ellen.”

“Warum?” Chloe war überrascht. Ihr sonst olivenfarbener Teint war im fahlen Morgenlicht ziemlich blass. Daria vermutete, dass ihre Schwester wegen des bevorstehenden Gesprächs nervös war.

“Es ist überhaupt nicht schlimm”, beruhigte Daria sie. “Ich habe lange mit ihnen gesprochen. Sie sind wirklich nett.” Klar, schließlich bin ich ja auch Supergirl.

“Geh und hol Ellen”, sagte ihr Vater zu Chloe, die die Augen verdrehte und ihm einen verächtlichen Blick zuwarf, bevor sie die Treppe hinaufstapfte. Dieses aufsässige Verhalten war neu. Nach einem ganzen Jahr am College war Chloe erst vor wenigen Tagen im Sea Shanty angekommen, und Daria musste sich an ihre neue Art noch gewöhnen. Seit jeher war die aufrichtige und zuverlässige Chloe der ganze Stolz ihrer Eltern gewesen. Ein Muster an Folgsamkeit. Und plötzlich tat sie so, als brauchte sie überhaupt keine Eltern mehr.

“Und du …” Darias Vater sah ihr direkt ins Gesicht, und sie wusste, dass er sie beim Lauschen am Fenster ertappt hatte. “Du gehst jetzt nach oben. Du musst doch müde sein. Es war schon ein langer Morgen für dich.”

Daria wollte nicht hochgehen. Sie wollte hören, was die Polizisten mit Chloe und Ellen zu besprechen hatten, und sie fand, sie hatte auch ein Recht darauf. Schließlich war sie jetzt elf – auch wenn sich kein Mensch daran zu erinnern schien. Und wenn sie nicht gewesen wäre, würde das ganze Spektakel überhaupt nicht stattfinden. Aber im Gesicht ihres Vaters lag jener strenge Ausdruck, der ihr verriet, dass jegliche Diskussion zwecklos war.

Auf dem Weg nach oben kamen ihr Chloe und Ellen entgegen. Ihre Cousine war genauso blass um die Nase wie Chloe. Die beiden gingen wortlos an ihr vorbei. Erst als sie schon fast auf der ersten Etage war, hörte sie Chloe rufen: “Hey, Schwesterherz! Alles Liebe zum Geburtstag.”

Im Obergeschoss angekommen, setzte sich Daria bei dem Versuch, in Hörweite zu bleiben, auf die oberste Treppenstufe. Zwar konnte sie hören, wer gerade sprach, doch was gesagt wurde, verstand sie kaum. Und so schweiften ihre Gedanken ab. Sie dachte darüber nach, was sie der Polizei erzählt hatte, und spielte die Befragung wieder und wieder durch. Wenn man die Polizei anlog, kam man dann ins Gefängnis? Würden sie ein elfjähriges Mädchen einsperren? Aber eigentlich habe ich ja gar nicht gelogen, beruhigte sie sich. Sie hatte einfach nur eine Sache weggelassen – ein kleines, vermutlich unbedeutendes Detail: Das Baby war nicht das Einzige, was sie an diesem Morgen am Strand gefunden hatte.

1. KAPITEL

Zweiundzwanzig Jahre später

Darias dreiunddreißigster Geburtstag unterschied sich nicht wesentlich von den anderen Tagen Anfang Juni. Mit den ersten Urlaubern, die in die Küstenregion kamen, kehrte allmählich auch das Leben auf die Outer Banks zurück, und es schien, als würden schlagartig auch Luft und Meer wärmer. Daria verbrachte den Tag mit ihrem Tischlerkollegen Andy Kramer. Gemeinsam gestalteten sie in einem Haus in Nag's Head eine Küche neu. Während sie Wandschränke und Arbeitsplatten montierte, kämpfte Daria die ganze Zeit über gegen die Melancholie an, die seit anderthalb Monaten ihr ständiger Begleiter war.

Andy hatte darauf bestanden, ihr zum Geburtstag das Mittagessen zu spendieren – Hühnchensandwich mit Pommes Frites bei Wendy's. Die beiden saßen sich am Tisch gegenüber. Während sie an ihrem Sandwich nagte und er seine drei Hamburger und zwei Portionen Pommes verschlang, stellten sie den Arbeitsplan für den Nachmittag auf. Trotz seines gesegneten Appetits war Andy rank und schlank. Das blonde Haar trug er zum Pferdeschwanz gebunden, der ihm bis zur Rückenmitte reichte, ein goldener Ring zierte sein Ohrläppchen. Er war erst Mitte zwanzig. Wahrscheinlich kann er deshalb essen, was er will, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen, vermutete Daria.

“Und”, fragte er, als er gerade seinen letzten Burger verdrückte, “gehst du heute Abend feiern?”

“Nein, ich werde nur mit Chloe und Shelly ein bisschen Kuchen essen.”

“Richtig. Shelly hat ja heute auch Geburtstag.”

“M-hm. Sie wird zweiundzwanzig.” Kaum zu glauben. In ihren Augen war Shelly immer noch ein Kind.

Andy nahm den letzten Schluck von seiner Limonade und stellte den leeren Becher auf dem Tablett ab. “Ich finde, du und Shelly solltet heute Abend die Stadt unsicher machen.”

“Ich unterrichte gleich noch eine Klasse auf der Feuerwache”, sagte Daria, als wäre das der Grund, der sie von einer Kneipentour abhielt.

“Ach tatsächlich?” Andy sah überrascht aus. “Ich dachte, du bist nicht mehr …”

“Ich bin keine Rettungsassistentin mehr, nein”, beendete Daria seinen Satz. “Aber ich möchte trotzdem noch als Dozentin arbeiten. Das heute ist meine erste Klasse seit … seit einiger Zeit.”

Sicher wusste er, dass sie seit April nicht mehr unterrichtet hatte, als das Flugzeug ins Meer gestürzt und fortan ihr gesamtes Leben durcheinandergeraten war. Aber er war klug genug, den Mund zu halten. Daria war unwohl bei dem Gedanken, wieder vor einer Klasse zu stehen. Heute Abend würde sie ihre ehemaligen Kollegen zum ersten Mal wieder sehen; zum ersten Mal, seit sie den Freiwilligen Rettungsdienst verlassen und die anderen völlig verwirrt – und unterbesetzt – zurückgelassen hatte. Sie hatte Angst, ihr Vertrauen verspielt zu haben.

Gemeinsam mit Andy verließ sie das Restaurant und überlegte, wie er wohl mit ihrer Kündigung zurechtkam, wo es doch sein sehnlichster Wunsch war, Rettungsassistent zu werden. Er war zweimal durch die Prüfung gefallen, und Daria war sich sicher, dass er sie nie bestehen würde. Doch er versuchte es unbeirrt weiter. Trotzdem – auch er war bei dem Flugzeugabsturz im April dabei gewesen und musste einfach verstehen, wie entsetzlich das alles für sie war. Auch wenn selbst Andy nicht die ganze Geschichte kannte.

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