Sommerschwestern - Judy Blume - E-Book
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Sommerschwestern E-Book

Judy Blume

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Beschreibung

Seit ihrem zwölften Lebensjahr sind Victoria und Caitlin Freundinnen und Verbündete im Kampf gegen den langweiligen Alltag. Zwar sehen sie sich seit ihrem Schulabschluss nur noch selten, aber an ihren Gefühlen hat sich nichts geändert. Bis Victoria eines Tages einen Anruf erhält. Caitlins Neuigkeiten treffen sie wie ein Schlag und versetzen sie zurück in einen Sommer voller Geheimnisse.

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Das Buch

Seit sie zwölf ist und die schillernde Caitlin sie als Freundin erwählt hat, verbringt Victoria, genannt Vix, herrliche Sommerferien: Jedes Jahr darf sie zu Caitlins exzentrischer, lebendiger Familie nach Martha’s Vineyard und verbringt dort Urlaube voller Geheimnisse, geflüsterter Bekenntnisse und inniger Freundschaft mit ihrer Sommerschwester. Bis etwas Schlimmes passiert und nichts mehr ist, wie es war.

Jahre später meldet sich Caitlin ganz überraschend wieder bei Vix: Sie soll ihre Brautjungfer werden. Die Neuigkeiten erschüttern Vix bis ins Innerste. Obwohl es sie unendliche Überwindung kostet, weiß sie: Sie muss für diese Hochzeit noch einmal nach Martha’s Vineyard zurückkehren. Um herauszufinden, was in diesem einen verhängnisvollen Sommer wirklich geschehen ist. Und warum Caitlin es immer noch schafft, ihr das Herz zu brechen.

Die Autorin

Judy Blume wuchs in Elizabeth, New Jersey, auf und studierte Pädagogik an der New York University. Ihre Romane Zauber der Freiheit,Zeit der Gefühle und, am erfolgreichsten, Die Sommerschwestern, wurden große internationale Bestseller. Insgesamt hat sie über 85 Millionen Exemplare verkauft, ihr Werk wird in 32 Sprachen übersetzt. Judy Blume hat drei mittlerweile erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Ehemann an der Ostküste. Zuletzt bei Heyne erschienen: Im unwahrscheinlichen Fall.

JUDY

BLUME

SOMMER-

SCHWESTERN

ROMAN

Aus dem Amerikanischen

von Christine Strüh

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe SUMMER SISTERS

erschien bei Delacorte Press, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt

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sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt

der Erstveröffentlichung dieses E-Books verweisen.

Vollständige Taschenbuchausgabe Mai 2016

Copyright © 1998 by Judy Blume

Copyright © 1999 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München

unter Verwendung eines Fotos von Purestock / gettyimages

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-18283-0V001

www.heyne.de

Für Mary Weaver,

meine »Sommerschwester«

Prolog

Sommer 1990

Eine sengende, frühsommerliche Hitze lag über der Stadt. Schon zum dritten Mal holte sich Victoria zum Lunch nur schnell einen Salat vom Koreaner um die Ecke und aß am Schreibtisch. Dabei hatte Maia, ihre Mitbewohnerin, sie schon tausendmal gewarnt, dass sie damit ihr Leben aufs Spiel setzte – was die Bakterien nicht schafften, würden die Konservierungsmittel allemal erledigen. Daran dachte Victoria, als sie auf einer Karotte herumkaute und sich Notizen für das bevorstehende Treffen mit einem neuen Klienten machte. Dieser Klient suchte eine PR-Firma, die die Dinge etwas bissiger und schärfer anging. So was war heute gefragt – Biss. Das fanden alle ganz toll.

Das Telefon klingelte. Bestimmt war es der Produzent von Regis and Kathie Lee. »Hier Victoria Leonard«, meldete sie sich, energisch und sehr geschäftlich.

»Vix?«

Sie war überrascht, Caitlins Stimme zu hören. War etwas passiert? Sonst rief Caitlin nämlich mit Vorliebe mitten in der Nacht an, manchmal so spät, dass sie Victoria aus dem Tiefschlaf holte. Außerdem war es schon ein paar Monate her, seit sie das letzte Mal telefoniert hatten.

»Du musst unbedingt herkommen«, hauchte Caitlin mit dem Prinzessinnenstimmchen, das sie sich in Europa angeeignet hatte, einer Mischung aus Jackie O. und Princess Di. »Ich heirate, in Lambs Haus auf Martha’s Vineyard.«

»Du heiratest?«

»Ja. Und du musst meine Brautjungfer sein. Das ist doch das Mindeste, findest du nicht?«

»Kommt ein bisschen darauf an, wen du heiratest.«

»Bru«, sagte Caitlin, und plötzlich klang ihre Stimme wie früher. »Ich heirate Bru. Ich dachte, das wüsstest du.«

Victoria schluckte, zwang sich, tief durchzuatmen, aber sie spürte, wie ihr der kalte Schweiß auf der Stirn ausbrach; ihr war auf einmal flau im Magen. Sie griff zu der eisgekühlten Cola-light-Dose vor ihr auf dem Schreibtisch und presste sie sich an die Stirn. Langsam ließ sie sie die Schläfen entlang zum Hals runterrollen und notierte dabei mechanisch Datum und Uhrzeit der Hochzeitsfeier. Während Caitlin erzählte und erzählte, kritzelte sie das Blatt voll mit Pfeilen, Mondsicheln und Dreiecken, als wäre sie wieder in der sechsten Klasse.

»Vix?«, fragte Caitlin schließlich. »Bist du noch dran? Ist die Verbindung so schlecht oder was?«

»Nein, alles okay.«

»Du kommst also?«

»Ja.« Kaum hatte Vix aufgelegt, hetzte sie zur Toilette und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Sie musste Caitlin sofort zurückrufen und ihr sagen, dass sie das nicht tun könne – was dachte sie sich bloß dabei? Und was hatte sie selbst sich nur dabei gedacht zuzusagen?

Vier Wochen später stand Caitlin, die Haare vom Wind zerzaust, auf dem winzigen Flughafen von Martha’s Vineyard, um Victoria abzuholen. Victoria hatte sie gleich nach der Landung von ihrem Fenster aus entdeckt, fühlte sich aber plötzlich unfähig, aufzustehen und ihr entgegenzugehen. Es war über zwei Jahre her, dass sie sich das letzte Mal gesehen hatten, drei, seit Victoria ihren College-Abschluss gemacht und sie das wirkliche Leben eingeholt hatte – mit einem festen Job und gerade mal zwei Wochen Urlaub im Jahr. Aber nicht genug Geld, um durch die Welt zu fliegen. Hammerhart, hätte Lamb gesagt, als sie noch klein waren.

»Fliegen Sie mit uns weiter nach Nantucket?«, fragte die Stewardess, und auf einmal wurde Victoria bewusst, dass sie der letzte Passagier an Bord war. Hastig packte sie ihre Tasche und eilte die Treppe hinunter. Als Caitlin sie in der Menge entdeckte, winkte sie heftig. Victoria ging auf sie zu und schüttelte den Kopf – Caitlin trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck: simplify, simplify, simplify. Wie üblich war sie barfuß, und Victoria hätte wetten können, dass ihre Füße genauso schmutzig waren wie in jenem ersten Sommer. Caitlin hielt sie einen Moment auf Armeslänge von sich. »Himmel, Vix …«, sagte sie, »du siehst so … so erwachsen aus!« Sie lachten beide, dann fielen sie sich in die Arme. Caitlin roch nach Meer, Sonnenmilch und noch nach etwas anderem. Victoria schloss die Augen, atmete den vertrauten Duft ein, und für einen Moment war es, als wären sie nie getrennt gewesen. Noch immer waren sie Vixen und Cassandra, Sommerschwestern auf ewig. Alles andere war ein Versehen gewesen, ein schlechter Scherz.

ERSTER TEIL

»Dancing Queen«

1977–1980

1

Sommer 1977

Victorias Welt geriet zum ersten Mal ins Wanken an dem Tag, als Caitlin Somers zu ihr an den Tisch geschlendert kam und sich lässig auf die Kante hockte. »Vix …«, sagte Caitlin, und es klang wie der Name einer wunderschönen Blume, samtweich und glatt, überhaupt nicht wie ein Abflussreiniger. Kurz nach Weihnachten war Caitlin von Aspen nach Santa Fe gezogen, und die ganze sechste Klasse der Acequia Madre Elementary School hatte sich augenblicklich in sie verliebt. Nicht nur wegen ihres Äußeren, ihrer blonden Locken, ihrer Pfirsichhaut und der tief liegenden, fast dunkelblauen Augen. Sie war angriffslustig, hatte vor nichts Angst und ein flottes Mundwerk. Sie war die Erste, die in der Klasse ungestraft das Wort »Scheiße« in den Mund nahm. Kein Lehrer, kein Erwachsener hätte gedacht, dass derartige Wörter so leicht über Caitlins rosige Lippen kamen. Und dann war da noch ihr Lächeln. Und ihr Lachen.

Vix war zu schüchtern, zu still, um auch nur Caitlins Namen auszusprechen. Sie hielt sich im Hintergrund und beobachtete, wie die anderen um den Platz neben Caitlin wetteiferten. Deshalb dachte sie auch erst, sie hätte sich verhört, als Caitlin sie fragte: »Willst du mit mir im Sommer wegfahren?«

Vix trug eine verwaschene Schlaghose und ein purpurrotes T-Shirt mit einem Saftfleck; die Haare hatte sie zu einem lockeren Pferdeschwanz zurückgebunden.

Auf ihrer linken Wange war ein Strich von einem Farbstift. Als Caitlin den Mund aufmachte, hätte Vix schwören können, im Hintergrund »Dancing Queen« von Abba zu hören. Sie bekam nur wenig mit von dem, was Caitlin sagte, nur, dass es um eine Insel mitten im Meer ging. Herrje, das Meer! Vix war noch nie am Meer gewesen. Sie brachte kein Wort heraus, denn sie war sicher, dass Caitlin sich einen Scherz mit ihr erlaubte. Vix wartete nur darauf, dass alle anfingen zu lachen, obwohl es gerade zur Pause geklingelt hatte und die ganze Klasse aus dem Zimmer drängte.

»Vix …« Caitlin legte den Kopf schief und lächelte. »Ich verbringe den ganzen Sommer bei meinem Vater. Vom 1. Juli bis Labor Day.«

Den ganzen Sommer. Den ganzen verfluchten Sommer! Die Musik schwoll an. You’re a teaser, you turn ’em on. Leave them burning and then you’re gone … »Ich bin noch nie am Meer gewesen.« Unglaublich, wie dumm sich das anhörte, als kämen die Worte ohne ihr Zutun aus ihrem Mund.

»Gibt es heutzutage tatsächlich noch Menschen, die mit zwölf Jahren noch nie am Meer waren?«, fragte Caitlin. Es klang nicht höhnisch, sondern ehrlich verblüfft, als könnte sie sich das einfach nicht vorstellen.

Vix blieb nicht viel anderes übrig, als zu lächeln und mit den Achseln zu zucken. Ob Caitlin die Musik auch hörte, die sie auf Schritt und Tritt verfolgte? Von diesem Tag an würde Vix sich jedesmal, wenn sie »Dancing Queen« hörte, in die sechste Klasse zurückversetzt fühlen, an einen sonnigen Juninachmittag – den Nachmittag, als eine gute Fee den Zauberstab über ihr schwang und ihr Leben für immer veränderte.

Zu Hause fragte Vix ihre Mutter: »Wieso war ich noch nie am Meer, obwohl ich schon zwölf bin?«

Ihre Mutter, die gerade Victorias jüngsten Bruder, Nathan, badete, sah ihre Tochter an, als hätte sie den Verstand verloren. Nathan litt an Muskeldystrophie; sein Körper war klein und verkrüppelt. Zwar hatten sie in der Badewanne eine Vorrichtung angebracht, in der er sitzen konnte, aber man konnte ihn nicht allein lassen. Er war sieben Jahre alt, ein aufgewecktes Bürschchen, viel intelligenter als sein Bruder Lewis, der neun war, oder seine zehnjährige Schwester Lanie.

»Was ist denn das für eine Frage?«, erwiderte Victorias Mutter. »Wir wohnen in New Mexico, Hunderte Meilen vom einen und Tausende vom anderen Ozean entfernt.«

»Ich weiß, aber es gibt ’ne Menge Leute hier, die trotzdem schon mal am Meer waren.« Eigentlich wusste Vix genau, warum sie noch nie eine solche Reise gemacht hatten, aber sie setzte sich mit trotzig vor der Brust verschränkten Armen auf den heruntergeklappten Toilettendeckel und sah Nathan zu, der seine Schiffchen im Badewasser schwimmen ließ und mit den Armen Wellen schlug.

»Das ist mein Meer«, verkündete er. Er sprach undeutlich, und viele Leute hatten Schwierigkeiten, ihn zu verstehen, aber nicht Vix.

»Außerdem warst du doch in Tulsa«, meinte ihre Mutter, als hätte das irgendetwas mit Vix’ Frage zu tun.

Ja, sie war in Tulsa gewesen, ein einziges Mal, als ihre Großmutter, von deren Existenz sie bis dahin nichts gewusst hatte, im Sterben lag. »Mach die Augen auf, Darlene«, hatte ihre Mutter zu der Fremden im Krankenhausbett gesagt, »mach die Augen auf, und schau dir deine Enkelkinder an.« Vix, Lewis und Lanie standen vor ihr, Nathan schlief in seinem Wagen. Die Frau, die angeblich ihre Großmutter war, musterte die drei Kinder von oben bis unten, ohne den Kopf zu bewegen.

Dann sagte sie: »Tja, Tawny, anscheinend warst du ja schwer beschäftigt.« Das war alles.

Tawny weinte nicht, als Darlene am nächsten Tag starb. Vix half, Darlenes Wohnwagen sauber zu machen, den Wohnwagen, in dem Tawny aufgewachsen war. Tawny nahm ein paar alte Fotos mit, eine ungeöffnete Flasche Scotch und ein paar Indianerkörbe, von denen sie hoffte, sie würden eventuell ein bisschen Geld einbringen. Aber wie sich herausstellte, waren sie wertlos.

Sie konnte nicht still sitzen. In ihrem ganzen Leben hatte sie sich noch nie etwas so sehr gewünscht. Und sie war wild entschlossen, sich durchzusetzen. Egal wie – sie würde mit Caitlin Somers wegfahren.

»Hör auf zu zappeln«, sagte Tawny und warf Vix ein Handtuch zu. »Trockne lieber Nathan ab! Wir essen gleich. Ich muss Lewis noch bei den Hausaufgaben helfen.«

»Also darf ich mit?«, rief Vix ihrer Mutter nach, die bereits zur Tür hinaus war und den Korridor hinuntereilte.

»Ich werde es mit deinem Vater besprechen, Victoria«, antwortete Tawny, womit sie unmissverständlich klarstellte, dass noch nichts entschieden war.

Tawny nannte ihre Tochter nie Vix wie alle anderen: Wenn ich meine Tochter nach einem Hustenmittel hätte nennen wollen, hätte ich es getan. Eigentlich hätte man von einer Frau mit dem Namen Tawny etwas mehr Flexibilität erwarten können.

Vix war einmal bei Caitlin gewesen, im vergangenen März, als Caitlin ihren zwölften Geburtstag gefeiert und die ganze Klasse zu sich nach Hause eingeladen hatte. Es gab Live-Musik und Pizzas mit zwölf verschiedenen Belägen. Das alte Haus lag hinter einer Mauer am Camino. Caitlins Mutter Phoebe trug nachgemachte Indianersachen: einen langen Rock, Westernstiefel, Türkisketten um den Hals. Die Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten, der ihr weit über den Rücken hing. Auch ein paar von Phoebes Freunden waren anwesend, unter anderem ihr derzeitiger Liebhaber, ein Mann mit langen, silbergrauen Haaren, einem Concha-Gürtel und handgefertigten Lederstiefeln. Eine solche Party hatte Vix noch nie erlebt, in einem solchen Haus, mit solchen Erwachsenen.

Als Geburtstagsgeschenk für Caitlin hatte sie ein Tagebuch gekauft. Es hatte einen Einband aus blauem Jeansstoff und eine Silberkette als Lesezeichen. Sie hoffte nur, dass es gut genug für Caitlins Gedanken und Gefühle war. Sie träumte davon, Caitlins Haar zu berühren, ihre von der Sonne geküsste Haut.

Sie schrieb ihren Eltern einen Brief, in dem sie alle Argumente aufzählte, die dafür sprachen, dass sie mitfuhr; Caitlins Versprechen, es werde sie keinen Penny kosten, spielte dabei keine unwesentliche Rolle.

Doch Tawny ließ sich nicht beeindrucken. Sie behauptete, Caitlin komme aus einer instabilen Familie. »Man braucht sich doch bloß ihre Mutter anzusehen …«

»Aber wir sind ja auch gar nicht bei ihrer Mutter«, entgegnete Vix, »sondern bei ihrem Vater, und der ist sehr stabil.«

»Woher weißt du das?«

»Das weiß jeder. Er will dich anrufen. Du kannst ihn selbst fragen.«

Am Ende war es Victorias Vater, der Tawny überredete. Ihr Vater, der immer etwas überrascht dreinsah, wenn er die Haustür aufmachte und dahinter vier lärmende Kinder vorfand. Ein Mann, der so wortkarg war, dass er manchmal das ganze Wochenende nicht sprach, und wenn doch, wurde seine Stimme am Ende jedes Satzes so leise, dass immer jemand fragte: »Wie bitte? Was hast du gerade gesagt, Dad?« Aber er war nie unfreundlich.

Vix wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen, um ihm zu zeigen, wie dankbar sie war, aber das hätte sie beide furchtbar verlegen gemacht. Also sagte sie nur: »Danke, Dad«, und er murmelte etwas Unverständliches und strich ihr kurz über den Kopf.

Bis zu diesem Augenblick war der Höhepunkt ihrer Kindheit das Wochenende gewesen, an dem ihr Vater die Dusche im Elternzimmer eingebaut hatte. Als sie angeschlossen und funktionstüchtig war, bettelten Vix, Lewis und Lanie, sie als Erste ausprobieren zu dürfen. Ihr Vater hatte Vix angesehen und gesagt: »Wir machen es dem Alter nach. Vix ist als Erste an der Reihe.«

Wie stolz sie an dem Tag gewesen war, wie dankbar, dass ihr Vater ihre Sonderstellung in der Familie anerkannt hatte! Die erste Tochter und das älteste Kind. Eine gelbe Dusche mit einer Glastür. Am liebsten wäre Vix ewig unter dem warmen Wasserstrahl geblieben. Erst viel später war ihr aufgefallen, wie beengt sie wohnten in dem kleinen Haus mit den schmalen, hohen Nordfenstern, die es das ganze Jahr über kühl und dunkel machten, selbst im erbarmungslos sonnigen Santa Fe.

Darüber, wie ihre Eltern früher gelebt hatten, wusste sie so gut wie nichts. Jedesmal, wenn Vix ihrer Mutter eine persönliche Frage stellte, antwortete Tawny: »Wir waschen unsere Wäsche nicht öffentlich.«

»Ich bin aber nicht öffentlich«, gab Vix zurück. »Ich gehöre zur Familie. Ich bin deine Tochter.«

»Du weißt genug«, erwiderte Tawny. »Du weißt alles, was wichtig ist. Außerdem sollst du nicht so neugierig sein.«

Ich wäre nicht neugierig, wenn du mehr erzählen würdest, dachte Vix, wagte es aber nicht mehr laut zu sagen. Sonst würde Tawny sie wieder anschreien: »Das reicht, Victoria!« Also hielt sie lieber den Mund. Es brachte sowieso nichts.

Manchmal versuchte sie sich vorzustellen, wie Tawny an dem Tag, als sie mit der Highschool fertig war, in den Bus gestiegen war und Tulsa hinter sich gelassen hatte. Ihr Geld hatte allerdings nur bis Albuquerque gereicht, wo sie – dank ihrer Schreibmaschinen- und Stenokenntnisse, das betonte sie stets – bei einem jungen Anwalt einen Job gefunden hatte. Sieben Jahre später arbeitete sie noch immer für ihn, aber inzwischen war sie mit Ed Leonard aus Sioux City verlobt, einem netten und recht attraktiven jungen Mann, den sie bei einer Tanzveranstaltung in der Kirtland Air Force Base kennengelernt hatte.

Als Ed den Militärdienst beendet hatte, gaben sich die beiden vor dem Friedensrichter das Jawort. Der junge Anwalt, der mittlerweile nicht mehr so jung war, richtete in seinem Garten eine Party für sie aus. Tawny lud Darlene nicht zur Hochzeit ein; sie verriet Ed nicht einmal, dass ihre Mutter noch lebte.

Dann kamen die toten Babys, drei in fünf Jahren, Frühgeburten, die noch nicht aus eigener Kraft atmen konnten. Vix und Lanie spielten das Tote-Baby-Spiel; wie andere Kinder Abzählverse aufsagten, zählten sie die Namen auf, die Tawny und Ed für ihre Babys ausgesucht hatten: William Edward, Bonnie Karen, James Howard. Ihre Eltern hatten die Hoffnung schon beinahe aufgegeben, als Vix auf die Welt kam, und sie war stark und gesund, ein robustes Kind. Lanie und Lewis folgten. Wenig später zogen sie nach Santa Fe, wo Ed einen Job als Versicherungsvertreter annahm. Und dann wurde Nathan geboren.

Ihr Vater machte oft Witze darüber, wie er in den Club der Millionäre aufgenommen würde, wenn er in einem Jahr Versicherungen im Wert von einer Million Dollar verkaufte. Vielleicht würde er dann eine Urlaubsreise an einen exotischen Ort gewinnen, womöglich Hawaii. Er versprach, die ganze Familie mitzunehmen, und Vix träumte von diesem Urlaub, bis die Versicherungsgesellschaft Pleite machte und ihr Vater fast ein Jahr lang arbeitslos war. Zum Glück fand Tawny Arbeit bei der Gräfin, und sie gab den Job auch nicht auf, als Ed Nachtmanager beim La Fonda wurde, dem alten Hotel an der Plaza. »Selbst wenn wir beide verdienen, ist es noch schwer genug, über die Runden zu kommen«, sagte sie immer.

Die Gräfin trug Reithosen aus Veloursleder, blauen Nagellack und exotischen Schmuck. Sie besaß fünf Hunde, und kein Mensch wusste, wie alt sie wirklich war. Tawny brachte sie unter anderem zu ihren Anonyme-Alkoholiker-Treffen. In den Phasen, in denen die Gräfin wieder einmal mit dem Trinken aufhören wollte, war Tawny zu Hause unausstehlich.

Vix lag im Bett in dem Zimmer, das sie mit Lanie teilte, und träumte vom Sommer. Sie stellte sich Palmen vor, die sich in der Sonne wiegten, und konnte die langen, schwülen Nächte und den Rhythmus der Reggae-Musik förmlich spüren. Fantasy Island – oder zumindest Gilligan’s Island. Sie musste sich immer wieder kneifen, um sich zu vergewissern, dass es Wirklichkeit war, dass sie mit Caitlin Somers in die Ferien fahren würde, dass sie es sich nicht nur eingebildet hatte.

Lanie war sauer. »Das ist so ungerecht!«, schimpfte sie. »Immer darfst du alles.«

Vermutlich wunderte sich auch Lanie darüber, dass Caitlin Somers, die Attraktion der Schule, ausgerechnet ihre Schwester eingeladen hatte, den Sommer mit ihr zu verbringen. Vix staunte ja selbst darüber. »Sieh es doch mal so …«, versuchte sie Lanie zu trösten, »du hast den ganzen Sommer das Zimmer für dich allein. Deine Freundinnen können hier übernachten und so.«

»Gibst du mir deine Barbiepuppen?«

»Kommt nicht infrage.«

»Darf ich manchmal mit ihnen spielen?«

»Na ja … okay … wenn du versprichst, dass du ordentlich mit ihnen umgehst. Und Barbies Traumhaus darfst du nicht anrühren.«

»Du bist echt gemein … Das Traumhaus ist das Beste!«

»Dann eben gar nicht.«

Lanie schmollte. Sie und Vix hatten beide Tawnys dunkle Augen und hohe Wangenknochen, von irgendeinem fernen Cherokee-Ahnen. Aber Lanie war die Hübscheste der Familie, mit Eds kastanienbraunen Haaren und seiner hellen Haut. »Okay … ich fass dein Traumhaus nicht an.«

Vix war schon fast eingeschlafen, als Lanie flüsterte: »Wenn du wegfährst, verpasst du aber deinen Geburtstag.«

»Nein, tu ich nicht. Ich bin nur nicht hier.«

Phoebe fuhr nie nach Albuquerque, nicht einmal wenn sie selbst zum Flughafen musste, deshalb fuhr Caitlin mit Vix und ihrer Familie im Wohnmobil, das eigens für Nathans Sitz umgebaut war. Am Flughafen beugte sich Vix zu Nathan hinunter, um ihn zum Abschied zu umarmen. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er, »ich vergess dich nicht«, und grinste sie schief an.

»Ich vergess dich auch nicht«, versprach Vix. Als sie sich wieder aufrichtete, bemerkte sie, dass eine Frau Nathan anstarrte. Vix war solche Blicke gewohnt, diese Mischung aus Neugier, Mitleid und Ekel. Wenn man die Leute dabei erwischte, wandten sie meist schnell die Augen ab.

Sobald die beiden Mädchen im Flugzeug saßen und sich angeschnallt hatten, holte Vix ihr Lunchpaket aus dem Rucksack. Tawny hatte zwei Mortadella-Sandwiches eingepackt, einige Fruchtsäfte, Tüten mit Salzbrezeln und Chips – als wäre sie auf einem Campingausflug. Dazwischen lag, zusammengefaltet, ein Blatt Papier, auf dem gekritzelt stand: Falls Du das Essen im Flugzeug nicht magst. Mutter.

Vix wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.

»Was ist das?«, wollte Caitlin wissen.

»Ein Brief von meiner Mutter.«

»Jetzt schon?«

Vix nickte.

»Phoebe findet es toll, den Sommer über mal nicht Mutter sein zu müssen«, verkündete Caitlin stolz. »Sie fliegt nach Südfrankreich. Von dort schreibt sie mir ’ne Postkarte und bringt mir was Schickes zum Anziehen mit.«

Meine Mutter würde alles darum geben, einmal nach Frankreich fahren zu können, dachte Vix. Aber die Gräfin legte großen Wert darauf, die Opernsaison in Santa Fe nicht zu verpassen. Dann würde sie riesige Partys geben, und Tawny würde alles organisieren müssen.

Das Flugzeug rollte jetzt über die Startbahn, wurde schneller und schneller und hob schließlich ab. Vix schloss die Augen, schickte ein Stoßgebet zum Himmel und umklammerte krampfhaft ihre Armlehne.

»Warte …«, sagte Caitlin. »Lass mich raten … Du sitzt zum ersten Mal in einem Flugzeug!«

»Stimmt. Und frag jetzt bloß nicht: ›Gibt es heutzutage noch Menschen, die mit zwölf Jahren noch nie geflogen sind?‹«

Caitlin lachte. »Du bist total anders«, sagte sie und drückte Vix’ Arm. »Das gefällt mir so an dir.«

Tawny

Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, Victoria ein Lunchpaket mitzugeben? Es war doch sonst nicht ihre Art, so viel Wirbel um ihre Kinder zu machen. Man muss sie aufs Leben vorbereiten, und das Leben ist nun mal hart und voller Enttäuschungen. Sie hätte nicht auf Ed hören sollen, sie hätte nicht zulassen dürfen, dass Victoria ausgerechnet auf eine Insel fährt, wo sie nicht mal schwimmen kann. Da erzählt er ihr, sie solle sich keine Sorgen machen. Sorgen? Sie ist viel zu müde, um sich Sorgen zu machen. Sie weiß überhaupt nicht mehr, wie es ist, nicht müde zu sein. Sie schließt die Augen und bittet Gott, auf ihre Tochter aufzupassen. Sie zu beschützen. Aber es wird nie mehr so sein wie früher. Wenn Victoria erst mal ein anderes Leben kennengelernt hat, wenn sie erst mal einen Sommer mit einem Mädchen wie Caitlin Somers verbracht hat, dann ist sie für ihre eigene Familie verloren, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Sie, Tawny, weiß das – im Gegensatz zu Ed, wie es scheint.

Und jetzt zerren die anderen Kinder schon wieder an ihr rum, wollen Geld für den Kaugummiautomaten. Nur Nathan denkt noch an Victoria, das sieht man ihm an. Eigentlich wundert sich Tawny ein bisschen, dass Victoria sich einfach aus dem Staub gemacht und ihn sitzengelassen hat. Im Grunde hat sie sich immer darauf verlassen, dass Victoria in den Sommerferien aushilft. Die beiden anderen sind zu nichts zu gebrauchen, sind aus einem anderen Holz geschnitzt. Victoria ist eher wie sie selbst. Sie tut, was getan werden muss.

Ed

Tawny erwartet zu viel von dem Mädchen. Sie bürdet ihr zuviel Verantwortung auf. Schließlich ist sie noch ein Kind, gerade mal zwölf. Er war im gleichen Alter, als sein Vater starb. Drei Jahre lang hat ihn seine Mutter mit ihrer überschüssigen Liebe fast erdrückt. »Mein kleiner Mann«, hat sie ihn immer genannt. Himmel, er war kein Mann, egal wie sehr er sich auch anstrengte. Und dann, eines Tages, verkündet sie aus heiterem Himmel, dass sie am Wochenende heiraten wird, einen Mann, den er noch nie zu Gesicht bekommen hat, von dem er noch nicht einmal gehört hat. Einen Witwer mit drei Kindern, allesamt jünger als er. Einfach so.

Sein Stiefvater hasste ihn wie die Pest: Der Junge ist doch zu absolut nichts zu gebrauchen, Maddy. Und die anderen Kinder folgten dem Beispiel ihres Vaters und machten sich einen Spaß daraus, Ed fertigzumachen.

Ist der schüchtern?

Nee, der ist nur doof.

Hast du deine Zunge verschluckt, Eddie?

Nee, der hat seinen Pimmel verschluckt!

Eine Zeitlang sprach er zu Hause kein Wort.

Seine Mutter sagte: Wir brauchen ihn, Eddie. Versuch das zu verstehen. Er hat ’nen guten Job. Er sorgt für uns, du wirst schon sehen …

In Wirklichkeit aber war sie diejenige, die für diesen Mann und seine drei Bälger und die Zwillinge sorgte, die sie sieben Monate nach der Hochzeit zur Welt brachte. Sie schuftete sich zu Tode und erlebte nicht einmal ihren fünfzigsten Geburtstag.

Nicht, dass Ed dabei zugesehen hätte. Mit achtzehn meldete er sich freiwillig zum Militär. Geh zur Armee … lern die Welt kennen. Das klang wie Musik in seinen Ohren. Aber er hätte alles getan, um wegzukommen.

Alles, was er wollte, war ein anständiger Job, eine eigene Familie, Kinder, die er lieben konnte. Er wollte ein richtiger Vater sein. Auch wenn er noch nie einen erlebt hatte – er würde schon rausfinden, wie das ging. Dann lernte er Tawny kennen, eine Frau, die genau wusste, was sie wollte. Das gefiel ihm, sie war nicht so schwach und willenlos wie seine Mutter.

Jetzt … Himmel, jetzt ist alles anders. Und das hat Tawny hart gemacht. Niemand ist schuld daran. So ist es eben.

2

Caitlin sagte nicht immer die Wahrheit. Manchmal ließ sie etwas aus. Auch wichtige Dinge. Zum Beispiel die Tatsache, dass sie einen Bruder hatte. Einen Bruder und einen Hund. Für seine vierzehn Jahre war der Bruder reichlich mickrig, mit einem traurigen Gesicht und ungepflegten braunen Haaren. Er sah Caitlin kein bisschen ähnlich, er wohnte nicht mal bei ihr, aber sie schwor Stein und Bein, dass sie dieselben Eltern hatten. Sie nannte ihn Sharkey, obwohl er auch mit einem Hai keine Ähnlichkeit hatte.

Caitlins Vater hatte Vix bereits gesagt, sie solle ihn Lamb nennen. »Lamb wie Lamm, ein Babyschaf«, fügte Caitlin hinzu. »Du weißt schon, määähh …« Vielleicht waren sie allesamt auf Tiere fixiert.

»Lamb«, sagte Vix probeweise vor sich hin. Seltsames Gefühl, zu einem erwachsenen Menschen – zu jemandes Vater! – Lamb zu sagen. Er war groß und dünn, trug Birkenstock-Sandalen, Jeans mit Aufbügelflicken und ein schwarzes T-Shirt mit Brusttasche. Er hatte dasselbe breite Grinsen wie Caitlin, und als er seine Hände ausstreckte, um sie willkommen zu heißen, bemerkte Vix, dass seine Arme mit einem hellen Flaum bedeckt waren, heller als seine Haare, in denen graue Strähnen zu sehen waren, obwohl er eigentlich nicht richtig alt war. Nicht, dass sein Alter eine Bedeutung für Vix gehabt hätte. Eltern waren Eltern, da gab es nur unwesentliche Unterschiede.

Bei der Gepäckausgabe im Bostoner Logan Airport zeigte sie Lamb ihre Tasche, und er holte sie vom Band.

Sie wünschte sich, sie hätte eine Reisetasche aus Segeltuch wie Caitlin anstelle des alten Koffers ihrer Mutter aus kariertem Stoff, zusammengehalten mit Klebeband, auf dem mit dickem Filzstift ihr Name geschrieben war.

Auf dem Rücksitz des verbeulten grauen Volvo-Kombi saß ein Hund, ein schwarzer Labrador mit einem bunten Tuch um den Hals. Caitlins Bruder saß vorn. »Sie wohnen beide mit Lamb in Cambridge«, erklärte ihr Caitlin noch, ehe sie, ohne nach rechts oder links zu schauen, über die Straße flitzte und damit den Fahrer eines Toyota zu einer Vollbremsung zwang. Aber Lamb schimpfte nicht, sondern schüttelte nur lächelnd den Kopf. Tawny hätte garantiert gebrüllt: »Pass gefälligst auf, wo du hinläufst, Victoria! Bist du lebensmüde? Ist dir klar, wie viel ein Begräbnis heutzutage kostet?«

»Sweetie, gute alte Sweetie!«, gurrte Caitlin und küsste den Hund mitten auf die Schnauze. »Hey, Vix, das ist Sweetie … In Hundejahren gerechnet ist sie älter als Lamb. Komm, Sweetie, du kannst Vix ruhig mal beschnüffeln«, sagte sie, und der Hund folgte ihrer Aufforderung sofort und begann zwischen Vix’ Beinen zu schnuppern. Vix spürte, dass sie rot wurde; hastig scheuchte sie den Hund weg und schlug die Beine übereinander.

Dann machte Caitlin Vix mit Sharkey bekannt. »Wehe, du behandelst sie nicht anständig!«, drohte sie.

»Ich behandle alle deine Freundinnen anständig, es sei denn, sie blicken’s nicht«, antwortete Sharkey.

Vix schwor sich auf der Stelle, auf keinen Fall zu den Personen zu gehören, die es nicht blickten. Worum auch immer es dabei gehen mochte.

Die Fahrt schien eine Ewigkeit zu dauern. Lamb klopfte mit den Fingern im Takt zu der Musik vom Kassettenrecorder aufs Lenkrad. »Hey Jude« sangen die Beatles. Sie fuhren über eine Brücke mit einem Schild: Verzweifelt? Die Samariter sind für Sie da. Darunter war eine Telefonnummer angegeben. Sollten die Leute so daran gehindert werden, aus Verzweiflung von der Brücke zu springen? Auf einmal hatte Vix fürchterliches Heimweh. Was hatte sie hier zu suchen? Sie kannte Caitlin doch überhaupt nicht.

Kurz vor Sonnenuntergang erreichten sie die Fähre – wieder etwas Neues für Vix. Sie hatte noch nie so viel Wasser auf einmal gesehen, aber Caitlin versicherte ihr, dass das nicht das Meer war. Seevögel umkreisten die Fähre, und Caitlin warnte Vix, dass sie im Flug manchmal etwas fallen ließen.

Als sie eine Dreiviertelstunde später anlegten, wurde Vix klar, dass dies nicht die Tropeninsel war, die sie in ihren Träumen heraufbeschworen hatte. Die Nachtluft war alles andere als lau, man hörte keine Reggae-Musik, und es gab Kiefern und Eichen anstelle von Palmen.

In dem Moment, als Lamb die Tür aufschloss, klingelte das Telefon. Er rannte zum Apparat und reichte den Hörer dann an Vix weiter. »Für dich, Kiddo.«

»Du solltest doch anrufen«, sagte ihre Mutter.

»Ich weiß, aber …«

Tawny ließ Vix nicht zu Wort kommen. »Ich möchte, dass du tust, was man dir sagt, Victoria.«

»Das mach ich doch, es ist nur …« Lamb knipste das Licht an, und Vix sah, dass sie in der Küche waren: ein alter Herd, Regale, aber keine Schränke, ein gelb gestrichener Tisch, von dem die Farbe abblätterte.

»Wie war der Flug?«, fragte ihre Mutter.

Caitlin winkte, Vix solle sich beeilen. Sie deutete zum Fenster, vor dem unheimliche Schatten tanzten.

»Das Flugzeug?«, fragte Vix.

»Ja, das Flugzeug«, wiederholte ihre Mutter.

Unterdessen warf sich Caitlin ein Handtuch über den Kopf und ging mit ausgestreckten Armen auf Vix zu, wie ein Zombie. Sweetie begann zu bellen, aufgeregt über Caitlins Faxen. »Das Flugzeug war okay«, antwortete Vix. Schon jetzt kam es ihr vor, als sei seitdem eine Ewigkeit vergangen. Ihr erster Flug. Sie fragte sich, ob all die ersten Male in ihrem Leben so schnell vorbei und vergessen sein würden.

Phoebe

Sie hört Paul Simon, während sie ihre Koffer packt. Just slip out the back, Jack. Make a new plan, Stan … Sie, wirbelt zur Kommode und schnappt sich einen Arm voller Unterwäsche – Spitzen-BHs mit passenden Slips, lange Seidennachthemden, Bodys. Sie lässt alles auf ihr schickes weißes Bett plumpsen, über dem ein Mylar-Spiegel hängt.

Sie ist schon immer gern gereist. Nicht wie Caity, die nie weg will, außer zu Lamb. Womöglich war es doch ein Fehler, sie ihm wegzunehmen, damals, vor vielen Jahren. Natürlich könnte Caity auch bei ihm leben, wenn sie wollte. Sie müsste es nur sagen. Das würde Phoebe nicht kränken. Wirklich nicht. Sie weiß, dass sie ganz sicher keine Supermutter ist, aber auch keine richtig schlechte. Sie und Caity kommen gut miteinander zurecht.

Sharkey dagegen ist ihr ein Buch mit sieben Siegeln. Erwachsene Männer kann sie verstehen, sie weiß, was sie wollen. Mit Sharkey aber war das etwas anderes. Vielleicht sind alle vierzehnjährigen Jungen ein bisschen sonderbar. Wenn er erst mal ein bisschen älter wäre, würde er sie bestimmt zu schätzen wissen. Er würde froh sein, eine so flotte Mutter zu haben. Beide Kinder.

Komisch, dass Caity ausgerechnet dieses Mädchen in die Sommerferien mitnehmen wollte. Ob das wohl wieder eine ihrer spontanen Ideen war? Die Freundin vom letzten Jahr hatte es genau zehn Tage ausgehalten. Nach zehn Tagen flog sie zurück, und soweit Phoebe weiß, hat Caity ihr keine Träne nachgeweint. Als der Sommer dann vorbei war, hatte sie gefragt: Was ist denn passiert? Und Caity hatte geantwortet: Sie hat’s einfach nicht geblickt.

Was hat sie nicht geblickt?

Ach komm, Phoebe … du weißt doch.

Sie wusste es nicht. Sollte Lamb doch versuchen, es zu verstehen. Zehn Monate im Jahr Mutter zu sein ist wirklich genug. Jeder Mensch braucht ein bisschen Zeit für sich selbst.

Heute Abend ist sie in New York, morgen Abend in Paris.

3

In diesem Sommer schrieb Vix selten nach Hause. Sie log nicht direkt, aber wie Caitlin übte sie sich in der selektiven Wahrheit. Was ihre Familie nicht wusste, konnte sie auch nicht stören.

Das Haus war dunkel und unordentlich; niemand kümmerte sich darum, wie viel Sand man von draußen reinschleppte und wie viel davon auf dem Boden oder in den Betten landete. Caitlin nannte es das Psycho-Haus. Und Vix fand den Namen sehr passend. Ihr Zimmer hatte ungestrichene Holzwände, ein Doppelbett mit quietschenden Federn, verwaschene rote Laken und Kissen, die schlimmer mieften als der feuchte Schwamm, mit dem man in der Schule die Esstische abwischte. Die Regale waren vollgestopft mit Barbiepuppen ohne Kopf, Legosteinen, unvollständigen Brettspielen, kaputten Tennisschlägern, Seesternen, ehemals von Einsiedlerkrebsen bewohnten Schneckenhäusern, Behältern mit toten Insekten und Unmengen von Steinen.

Das Badezimmer lag ein Stück den Flur hinunter, und sie benutzten es gemeinsam mit Sharkey. Wenn Vix in der Wanne mit den Klauenfüßen saß, konnte sie den über eineinhalb Kilometer langen Tashmoo Pond sehen, von dem Boote in die Bucht hinausfuhren.

Im Wasser von Tashmoo Pond schwammen kleine braune Ablagerungen herum, die aussahen wie Kotstücke. Zwar versicherte ihr Caitlin, dass es keine waren, aber Vix war da nicht so sicher. Caitlin ging jeden Tag in ihrem purpurroten Badeanzug schwimmen. Vix’ Badeanzug war blau-weiß mit roten Sternen. Sie hasste ihn, aber ihre Mutter hatte gesagt, es wäre ja wohl sinnlos, einen neuen zu kaufen, wenn Vix sowieso nicht vorhabe, schwimmen zu gehen. In dem Punkt war sie Sharkey sehr ähnlich. Auch er ging weder in die Nähe des Wassers, noch trug er je eine Badehose.

Und noch etwas gab es da – er und Caitlin zogen fast nie frische Sachen an. Wirklich unappetitlich war, dass Caitlin nicht einmal die Unterhose wechselte. Manchmal lief sie sogar ganz ohne Unterhose herum. Seit ihrer Ankunft hatte sie weder gebadet noch geduscht. Ihre Haare standen vor Dreck. Mittlerweile fingen sie und Sharkey schon an, schlecht zu riechen, nach ungewaschenen Füßen und nach irgendetwas anderem, das Vix nicht identifizieren konnte. Es roch jedenfalls nicht gut. Falls Lamb es überhaupt bemerkte, sagte er nichts dazu. Er war so entspannt, dass es schon erstaunlich war, wenn er gelegentlich aufrecht durch die Gegend ging.

»Er war mal ’n Hippie«, erklärte Caitlin Vix. »Er hat mit all den anderen Hippies im Norden der Insel gewohnt. Manche von ihnen sind berühmt geworden, manche sogar reich.«

Vix stellte die Frage, die auf der Hand lag, nicht. Niemand sollte ihr vorwerfen, dass sie zu den Leuten gehörte, die es nicht blickten. Manchmal nahm Lamb sie gegen Abend zum Fischen mit. Wenn sie einen Blauling oder einen Barsch fingen, wurde er in Folie gewickelt und auf dem Grill mit Tomaten, grünen Paprika und Zwiebeln zubereitet. Anfangs weigerte sich Vix, auch nur zu probieren. Das Äußerste, was sie je an Fisch gegessen hatte, war Thunfisch aus der Dose. Auch das war für Lamb kein Problem.

»Wie du willst, Kiddo«, sagte er, »dann mach dir eben ein Erdnussbuttersandwich.« Auch Sharkey aß keinen Fisch. Er ernährte sich ausschließlich von Cheerios.

Doch nach einer Weile merkte Vix, dass der Fisch eigentlich ganz gut roch, und sie entdeckte, dass er auch nicht schlecht schmeckte. Nur die Gräten waren ein Problem. Sie staunte immer, wie Caitlin sie einfach aus dem Mund zog und auf dem Tellerrand aufreihte, während sie selbst oft einen ganzen Bissen in die Serviette würgen musste.

Caitlin brachte ihr bei, Jacks zu spielen. Sie streute Babypuder auf den Boden, sodass ihre Hände mühelos über die Holzdielen im Wohnzimmer glitten; überhaupt war sie ein Wirbelwind und sprudelte nur so über vor Ideen.

Fernsehen gab es nicht. Bei Vix in Santa Fe lief der Fernseher den ganzen Tag. Vor dem Abendessen sahen Lewis und Lanie irgendwelche alten Serien an, und Tawny verpasste nie »Laverne and Shirley« oder »Drei Engel für Charlie«.

Das Haus auf der Insel war vollgestopft mit alten Büchern, die einen modrigen Geruch verbreiteten. An einem verregneten Tag stießen Vix und Caitlin auf zwei Bände mit dem Titel »Die ideale Ehe« und »Liebe ohne Angst«. Nachts lasen sie sich in ihrem Zimmer Passagen daraus vor, schütteten sich aus vor Lachen und waren furchtbar enttäuscht, dass die Bücher nicht illustriert waren. Caitlin sagte, Coitus interruptus klinge wie etwas, was man in einem französischen Restaurant bestellt.

Im Wörterbuch aus Lambs Arbeitszimmer schlugen sie Cunnilingus, Fellatio und Dingleberry nach. Letzteres war ihr Lieblingswort. Dingleberry: ein kleiner Kotklumpen, wie er beispielsweise am Hinterteil eines Tieres hängt. Vix sagte zu Caitlin, wenn sie nicht anfinge, saubere Unterhosen anzuziehen, würde sie ihr den Dingleberry-Award verleihen. Ein paar Tage bemühte sich Caitlin tatsächlich, dann aber gewann die Macht der Gewohnheit wieder die Oberhand.

Das erste Mal, als Caitlin mit Vix und Sweetie durch den Wald ging, auf dem geheimen Kiefernnadelweg, der zum nördlichen Strand und zum Vineyard Sound führte, hielten sie sich an den Händen, schlossen die Augen und schworen, nie normal zu werden. Phoebe hatte Caitlin erklärt, normal zu sein sei schlimmer als der Tod. Caitlin nannte es den NINO-PAKT. »Nino oder sterben!«, rief sie in den Wind. »Abgemacht?«

»Abgemacht.« In diesem Augenblick war Vix der glücklichste Mensch der Welt. Sie war die Auserwählte, war aus unerfindlichen Gründen Caitlins Freundin, und ihr zuliebe hätte sie fast alles geschworen. Sie malte ihr Zeichen in den Sand – ein Herz mit einem V in der Mitte –, und Caitlin deutete einen kunstvollen Blitz um ihre Initialen an.

Caitlin war beeindruckt, wie braun Vix innerhalb weniger Wochen wurde. »Das ist das Gen von meinen indianischen Vorfahren«, erklärte Vix. »Ich bin ein Sechzehntel Cherokee, von meiner Mutter.« Sie war nicht ganz sicher, ob der Bruchteil so genau stimmte, aber sie wusste, dass sie darauf stolz sein konnte.

»Gott, das ist ja interessant! Ich wollte, ich hätte auch irgendwelche ungewöhnlichen Gene.«

»Du hast bestimmt welche«, erwiderte Vix und dachte an Phoebe und Lamb.

Wenn Caitlin hinausschwamm, sah Vix ihr nach, bis sie nur noch ein dunkler Punkt auf dem Wasser war, der herumhüpfte wie die Boje eines Krabbenfischers. »Ich kann nicht schwimmen«, vertraute Vix Sweetie an. »Also musst du sie notfalls retten, ja?«

Sweetie schien sich keine Sorgen zu machen. Sie legte den Kopf schief, als hörte sie aufmerksam zu, aber dann rannte sie plötzlich davon, um sich irgendwo zu wälzen, gewöhnlich in etwas Totem oder Verwesendem. Was immer es auch war – auf jeden Fall stank ihr Fell danach wie alter Fisch.

Wenn Caitlin aus dem Wasser kam, schüttelte sie sich wie ein Hund und wickelte sich dann ein Handtuch um den Bauch, das im Sand schleifte wie ein langer Rock. »Hab ich dir schon erzählt, dass ich in meinem früheren Leben eine Nixe war?«

»Aber in diesem Leben bist du ein Mensch«, erinnerte Vix sie, für den Fall, dass Caitlin es vergessen hatte. »Und ich wollte, du würdest nicht so weit rausschwimmen.« Sie tröpfelte mit nassem Sand kleine Türmchen auf ihr kunstvolles Sandschloss.

»Es gefällt mir, wenn du dir Sorgen um mich machst«, sagte Caitlin.

»Irgendjemand muss es ja tun.«

Nachts in ihrem Zimmer spielten sie Nixen. Sie malten sich die Lippen knallrot und die Augen schwarz mit den Schminksachen, die sie sich auf Lambs Rechnung in Leslie’s Pharmacy gekauft hatten. Der Spiegel an der Wand über dem Waschbecken im Bad war so alt wie das Haus und hatte einen diagonalen Sprung; wenn sie hineinsahen, schien eine Narbe quer über ihre Gesichter zu verlaufen.

Sie warfen sich in Positur und sangen die neuesten Songs von Abba, den Eagles und Shaun Cassidy – »Da Doo Ron Ron« –, die Oberteile ihrer Badeanzüge mit Socken ausgestopft, um zu probieren, wie sie mit großen Brüsten aussehen würden. Von Natur aus war Caitlin noch ganz flach, aber bei Vix begannen sich schon winzige Hügelchen abzuzeichnen – ein verheißungsvoller Anfang.

Vor allem aber war Caitlin fasziniert von Vix’ Schamhaaren. »Leg dich hin«, sagte sie, »ich zähle sie für dich.«

»Wozu?«

»Bist du nicht neugierig? Willst du nicht wissen, wie viele du hast?«

»Neugier war der Katze Tod«, sagte Vix.

Caitlin betrachtete sie mitleidig. »Wer nicht neugierig ist, kann ebenso gut tot sein.«

Hätte das nur jemand Vix’ Mutter klarmachen können! Um zu beweisen, dass sie durchaus noch am Leben war, legte Vix sich mit heruntergezogener Unterhose aufs Bett und lachte hysterisch, während Caitlin sorgfältig ein Haar nach dem anderen hochzog und laut zählte.

»Sechzehn«, verkündete sie schließlich das großartige Endergebnis. »Du Glückspilz!«

»Was soll denn an sechzehn Schamhaaren so toll sein?«

»Du würdest das auch toll finden, wenn du nur das da hättest!« Caitlin zog ihre Shorts ebenfalls herunter, um Vix ihren zarten Flaum zu zeigen. Natürlich sah Vix ihn nicht zum ersten Mal.

In diesem Moment platzte Sharkey herein. Die beiden Mädchen kreischten so laut, dass er mit erschrockenem Gesicht den Rückzug antrat, aber von nun an stellten sie einen Stuhl vor ihre Schlafzimmertür – Schlösser gab es im ganzen Haus nicht.

Als ihnen die Meerjungfrauen langweilig wurden, erfanden sie ein noch besseres Spiel: Vixen und Cassandra, Sommerschwestern, die attraktivsten Mädchen auf Martha’s Vineyard, vielleicht auf der ganzen Welt. Sie hatten die Macht. Diese Macht war in ihren Höschen, zwischen ihren Beinen. Sie hatten gerade entdeckt, dass ein elektrisches Prickeln durch ihren ganzen Körper fuhr, wenn sie sich dort auf eine bestimmte Weise rieben.

Hallo, Leute,

Mir geht’s großartig!

Alles Liebe, Vix.

Und dann war da noch Von, der tollste Junge, den Vix je gesehen hatte. Er war ungefähr sechzehn, mit einem langen, sonnengebleichten Pferdeschwanz und muskulösen Armen. Im Ärmelaufschlag seines T-Shirts trug er immer ein Päckchen Marlboro. Seine vollen Lippen sahen so weich aus, dass Caitlin behauptete, sie würde am liebsten die ganze Nacht an ihnen saugen. Bis jetzt hatte Vix noch nie daran gedacht, an den Lippen von irgendjemand zu saugen.

Von arbeitete bei den Flying Horses, dem angeblich ältesten Karussell des Landes; es gehörte zu den nationalen Kulturgütern, von denen die Leute auf der Insel schwärmten. Er sammelte die Tickets ein und steckte die Ringe wieder in die Maschine, während das Karussell sich drehte. Vix fand, man sollte Von zum nationalen Kulturgut erklären. Jedesmal, wenn Lamb sich auf den Weg nach Oak Bluffs machte, bettelten die beiden Mädchen, mitfahren zu dürfen. Lamb steckte ihnen ein paar Dollar zu, und während er seine Erledigungen machte, fuhren die beiden Mädchen Karussell, bis ihnen so schwindlig war, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnten.

Von nannte sie Double Trouble. Er stöhnte, wenn er sie kommen sah, und tat so, als gingen sie ihm schrecklich auf die Nerven; Caitlin boxte ihn dann zur Strafe in den Arm. Sie ärgerte ihn furchtbar gern, zog ihn an seinem Pferdeschwanz, sprang von einem Karussellpferd aufs andere und forderte ihn geradezu heraus, sie zu bremsen. Sie brach sämtliche Regeln, aber er ließ sie trotzdem weiterfahren. Ohne Caitlin hätte er Vix bestimmt gar nicht wahrgenommen. Aber das machte ihr nichts aus. Sie war stolz, Caitlins Freundin zu sein.

Eines Abends stellte das nationale Kulturgut ihnen seinen Cousin Bru vor. Er war größer als Von, mit muskulösen Armen. Er redete nicht viel. Vix spürte, dass sie für ihn Kinder waren, unter seiner Würde.

Ein anderes Mal nahm Lamb sie mit ins Kino in Woody Allens »Stadtneurotiker«, und als Caitlin ihn nach dem Film löcherte, sie wollten wenigstens noch einmal Karussell fahren, gab Lamb schließlich nach. »Okay, aber nur einmal.« Sharkey und er gingen so lange zu Papa John’s in der Circuit Avenue, um sich ein Stück Pizza zu holen.

Aber Von war nicht da. Statt dessen schwor Caitlin, ihn in einer dunklen Gasse neben dem Karussell mit einem Mädchen gesehen zu haben, seine Hand unter ihrer Bluse, ihre Hand auf seinem – Vix brachte das Wort nicht über die Lippen. Sie konnte nicht »Pimmel« oder »Schwanz« sagen, nicht mal »Penis«, jedenfalls nicht, wenn es um Von ging. Deshalb dachte sich Caitlin ein neues Wort dafür aus: Päckchen. Sie sagte, dieses Mädchen hätte die Hand auf Vons Päckchen gehabt.

In dieser Nacht erfanden sie ein neues Spiel. Es hieß Vixen und Cassandra treffen Von. Sie spielten abwechselnd Von, legten sich aufeinander und rieben die Macht aneinander, bis das elektrische Prickeln sie durchströmte.

Sie schworen, niemandem je von Vixen und Cassandra zu erzählen. Caitlin meinte, sie seien nicht unbedingt Lesben, denn sie würden ja immer so tun, als ob sie mit einem Jungen zusammen wären. Ganz ausgeschlossen war es aber nicht.

Lamb

Er schwört, dass sie in der Nacht, als sie geboren wurde und man sie ihm in den Arm legte, direkt in seine Augen gesehen und gelächelt hat. Er hat ihren rosigen Mund berührt und sich Hals über Kopf in sie verliebt. Seine Tochter. Sein kleines Mädchen. Er hat nicht im Traum daran gedacht, dass er sie jemals verlieren könnte. Und er hat sie nicht verloren, das sagt er sich immer wieder. Bisher war sie jeden Sommer bei ihm, sie ist noch nie auf die Idee gekommen, die Ferien mit jemand anders zu verbringen als mit ihm.

Er und Phoebe waren Idioten – es ist nicht so einfach, wie sie gedacht hatten. Sicher, sie sind ohne Groll auseinandergegangen. Lamb kann sich nicht mal mehr daran erinnern, ob es Phoebes Idee war oder seine. Diese ganze Geschichte mit offener Ehe und so. Irgendjemand hat immer das Nachsehen. Aber die Kinder zu trennen, nur um fair zu sein? Ein Mädchen für dich, einen Jungen für mich … Woher hätte er wissen sollen, dass Phoebe mit Caitlin überall im Land herumziehen würde? Späte Reue? Natürlich bereut er manches.

Er beobachtet sie auf den Flying Horses. Er kann nicht glauben, dass sie nicht ewig so jung bleiben wird, so unschuldig.

4

Es ist schwer, einen Menschen anzuhimmeln, mit dem man so eng zusammen ist wie Vix in diesem Sommer mit Caitlin. Wenn die Angehimmelte schmutzige Füße hat, die riechen wie der Schlamm auf dem Meeresgrund, oder wenn sie die Beine spreizt und ihre Macht an einem reibt.

»Gott, ich liebe dieses Gefühl!«, sagte Caitlin. »Du bist eigentlich ganz anders, als ich gedacht habe.«

»Was hast du denn gedacht?«

Caitlin nahm zwei kleine rote Flanelltücher und begann, sie von einer Hand in die andere zu werfen. Vielleicht hatte sie vor, Vix’ Frage zu ignorieren. Das machte sie öfter, wenn sie eine Frage nicht beantworten wollte. Dann tat sie einfach so, als hätte sie nichts gehört.

Aber nach einer Weile meinte sie: »Ich wusste, du bist schlau, aber sehr still.« Sie fing die viereckigen Tücher auf und überflog die nächste Übung in »Jonglieren für hoffnungslose Fälle«. »Ich wusste, du würdest nicht dauernd Fragen stellen und mir nicht in die Quere kommen.« Sie fing wieder an zu jonglieren, diesmal mit drei Tüchern. »Und mir hat dein Lächeln gefallen … und dieses dunkelrote T-Shirt, das du immer anhattest.« Sie ließ die roten Vierecke keine Sekunde aus den Augen.

Das also waren Caitlins Gründe für ihre Freundschaft? Aber was hatte Vix denn erwartet? Schließlich hatte sie Caitlin nicht besser gekannt als umgekehrt.

Caitlin warf alle drei Tücher gleichzeitig in die Luft, sprang mit einem Satz auf Vix’ Bett und warf sich platt auf den Rücken. »Ich war einfach nicht sicher, ob du auch richtig Spaß haben kannst!«

Vix nahm es als Kompliment. Sie wusste, dass Caitlin sie mochte. Und zwar auf eine Art, die nichts mit ihren geheimen Spielen zu tun hatte. Wenn sie in der Stadt waren, merkte Vix manchmal, dass die Leute sich nach ihnen umdrehten, und dann fiel ihr ein, wie schön Caitlin war, was ansonsten kaum eine Rolle spielte. Caitlins Schönheit stand nicht zwischen ihnen.

Eines Abends fragte Lamb beim Essen, ob es Vix bei ihnen gefiel. Ob es ihr gefiel? Vix konnte selbst kaum glauben, wie gut es ihr gefiel. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie so viel Spaß gehabt! Manchmal wünschte sie sich, der Sommer würde nie zu Ende gehen und sie müsste nie mehr nach Hause zurück.

Sie blickte auf ihren Teller mit der Riesenportion Blauling, neuen Kartoffeln und grünen Bohnen. »Ja, danke, mir gefällt es hier gut«, antwortete sie mit leiser Stimme. Caitlin versetzte ihr unter dem Tisch einen Tritt gegen das Schienbein, und Vix hatte Angst, sie würde gleich laut loslachen.

Dann fragte Lamb: »Vermisst du deine Familie?«

Plötzlich bekam Vix ein entsetzlich schlechtes Gewissen, weil sie ihre Familie nicht vermisste. Sie dachte kaum an sie. Na ja, vielleicht an Nathan, aber an mehr auch nicht. Sie schrieb ihm jede Woche, schickte ihm mal eine kleine Tupperdose mit Sand, mal einen Plastikbehälter voller Wasser vom Tashmoo Pond oder eine blaue Glasscherbe, die Caitlin am Strand gefunden und ihr für Nathan geschenkt hatte. »Sieht aus wie Kobalt, stimmt’s?«, hatte sie Vix gefragt.

»Ja, tatsächlich …«, hatte Vix geantwortet, obwohl sie nicht wusste, was Kobalt war.

Sie hatten eine Schmuckschachtel mit Watte ausgepolstert, das Glasstück hineingelegt und die Schachtel zusätzlich noch in Noppenfolie gewickelt, nachdem Caitlin mit ihren nackten Füßen all die kleinen Blasen zum Platzen gebracht hatte.

»Du kannst sie anrufen, wann immer du willst«, fuhr Lamb fort. »Mach dir wegen der Gebühren keine Sorgen.«

»Lamb …«, sagte Caitlin. »Es reicht.«

»Es ist nur, weil Vix so still ist«, erklärte ihr Lamb, als säße Vix nicht am gleichen Tisch. Und auch Sharkey nicht, der beim Abendessen nie ein Wort sagte, sondern ein seltsames Brummen von sich gab, während er seine Cheerios in sich hineinstopfte. Als hätte er einen Motor in seinem Körper.

Vix hätte gern gewusst, warum Sharkey nicht auch einen Freund über die Ferien mitbrachte. Als sie sich – in dem Bewusstsein, dass sie damit ihr wöchentliches Fragepensum womöglich überschritt – danach erkundigte, antwortete Caitlin: »Ich glaube, er hat keine Freunde.«

»Das ist aber traurig.«

»Bemitleidenswert«, bestätigte Caitlin.

»Vermutlich ist Vix der schüchterne, stille Typ«, meinte Lamb, den das Thema noch immer beschäftigte. »Wie Sharkey.«

»Sie ist kein bisschen wie Sharkey«, widersprach Caitlin.

Da machte Sharkey tatsächlich den Mund auf. »Woher willst du das wissen?«, fragte er. »Woher will einer von euch das wissen?«

Sharkey

Es ist alles so leicht für die beiden, quasseln den ganzen Tag und die halbe Nacht. Glauben die denn tatsächlich, er würde sie nicht hören? Glauben die, er wüsste nicht, dass sie ihn für verrückt halten? Herrgott! Sein Leben geht sie nichts an. Er braucht keine Freunde. Es gibt einen Unterschied zwischen einsam und allein. Nicht, dass sie diesen Unterschied kennen würden. Bei den beiden handelt es sich seiner Meinung nach um Außerirdische. Beam me up, Scottie …

Vix brauchte nur Bescheid zu sagen, wenn sie etwas auf der Insel sehen oder unternehmen wollte. »Dein Wunsch ist mir Befehl«, erklärte Lamb, wie im Märchen. Also sagte sie: »Ich möchte das Meer sehen.« Und – Abrakadabra! – am nächsten Tag fuhren sie ans Meer. In Menemsha, einem alten Fischerdorf, wo es fast so viele Boote im Hafen gab wie Touristen, die fotografierten, machten sie Rast. Sharkey hatte dankend auf den Ausflug verzichtet und war zu Hause geblieben, wahrscheinlich, um ungestört mit Lambs altem Truck die ungepflasterte Auffahrt rauf und runter zu brettern oder sich unter der Kühlerhaube des alten Volvo zu vergraben oder sich der Länge nach auf sein mannsgroßes Skatebord zu legen, das er eigens konstruiert hatte, um Autos in Ruhe von unten betrachten zu können.

Vix und Caitlin folgten Lamb hinaus aufs Dock, bis sie zu einem altersschwachen hölzernen Segelboot namens Island Girl kamen. »Trisha … hey, Trish …!«, rief Lamb.

Eine braun gebrannte Frau mit wirren braunen Locken, in einer abgeschnittenen Jeans und einem blauen Arbeitshemd, tauchte aus dem Inneren des Boots auf, die Hand schützend über die Augen gelegt. Sie sprang aufs Dock und umarmte erst Lamb, dann Caitlin.

»Das ist meine Freundin Vix«, stellte Caitlin vor.

Trisha begrüßte Vix mit traditionellem Handschlag.

»Wir sind unterwegs nach Gay Head«, erklärte Lamb. »Hast du Lust mitzukommen?«

Vix, die gerade herausgefunden hatte, dass gay auch schwul heißen konnte und man mit head auch jemanden aus der Drogenszene bezeichnete, fand es komisch, als Lamb den Namen laut aussprach.

»Zwei Sekunden, dann bin ich da«, antwortete Trisha. »Ich hol nur schnell meine Sachen.« Sie sprang wieder aufs Boot und verschwand mit eingezogenem Kopf in der Kabine. Lamb folgte ihr.

»Sie sind Freunde, nichts weiter«, erklärte Caitlin, während sie und Vix auf die beiden warteten. »Von früher … als Lamb hier gewohnt hat. Aber vielleicht haben sie trotzdem noch Sex miteinander. Eigentlich bin ich mir sogar fast sicher. Mir würde es nichts ausmachen, wenn sie heiraten. Trisha spinnt, aber sie liebt uns.«

Zum Lunch holten sie sich unterwegs Muschelbrötchen und Hummerröllchen. Vix hatte von beidem noch nie gehört und bestellte lieber Pommes mit Ketchup. Als sie sich wieder auf den Weg machten, interessierte sich Vix mehr für Trisha als fürs Meer und überlegte, ob Lamb mit seiner Freundin in der Kabine wohl wirklich das gemacht hatte, worüber sie und Caitlin nachgelesen hatten. Sie glaubte eher nicht, denn lange waren sie eigentlich nicht weg gewesen. Andererseits hatte sie natürlich keine Ahnung, wie lange so etwas dauerte.

Das Meer war genau so, wie Vix es sich vorgestellt und in unzähligen Filmen gesehen hatte. Die einzige Überraschung waren der Geruch und der Lärm, den die Wellen machten, wenn sie ans Ufer schlugen. Die beiden Mädchen folgten Lamb und Trisha zu einer geschützten Bucht, aber selbst hier peitschte der Wind durch ihre Haare, und wenn man etwas sagen wollte, hatte man den Mund auch schon voller Sand.

Kaum hatten sie ihre Taschen am Strand abgestellt, fing Trisha an, sich auszuziehen. Sie knöpfte das Hemd auf, streifte es ab, und ihre riesigen Brüste kamen zum Vorschein, mit Brustwarzen so groß wie runde Eiswaffeln. Vix hatte so etwas noch nie gesehen. Sie wollte die Augen abwenden, brachte es aber nicht fertig. Trotz des Windes spürte sie, wie ihr Gesicht heiß wurde.

Trisha merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. »Ach, Honey …«, rief sie, den Wind mühsam übertönend, »ist dir das peinlich? Ich muss mich nicht unbedingt ausziehen.« Sie sah etwas hilflos zu Lamb hinüber.

»Ich denke, es wäre besser …«, begann Lamb.

»Alles klar«, antwortete Trisha und streifte ihr Hemd wieder über.

»Das hier ist nämlich ein Nacktbadestrand«, sagte Caitlin zu Vix, »aber keiner muss sich ausziehen. Ich tu es auch nie.«

Erst jetzt legte Vix die Hand über die Augen und sah sich blinzelnd um. Es stimmte! Die meisten Leute am Strand waren splitternackt! Lamb zog seine Jeans aus, und eine Sekunde hielt Vix den Atem an, denn sie wollte keinesfalls sein Päckchen sehen, aber es passierte nichts: Er trug eine knappe Badehose, wie Mark Spitz bei den Olympischen Spielen, als er all die Medaillen gewonnen hatte. Damals war Vix erst in der zweiten Klasse gewesen. Sie konnte gar nicht glauben, dass sich alle so locker benahmen, als wäre ein Strand voller nackter Leute das Alltäglichste der Welt.

»Also, Vix …«, sagte Lamb. »Wie findest du es?«

»Wie ich es finde?«

»Ja, das Meer.«

»Oh, das Meer.« Sie hätte gern etwas Interessantes gesagt, aber es war nicht das Meer, was sie momentan am meisten beschäftigte. Als sie nicht antwortete, lachte Lamb. »Ziemlich überwältigend, was, Kiddo?« Dann fassten Trisha und er sich an den Händen und rannten auf die Wellen zu.

Vix stellte sich vor, wie sie ihrer Mutter erzählte, dass Lamb sie mit an einen Nacktbadestrand genommen hatte. So was ist unanständig, wäre der Kommentar ihrer Mutter. Obszön und unanständig. Ich möchte, dass du sofort nach Hause kommst. Ihre Eltern liefen nie nackt herum. Immerhin war ihre Mutter eine Katholikin gewesen, bevor sie aus der Kirche ausgetreten war.

Trisha

Heute hat sie Mist gebaut, total. Reine Gedankenlosigkeit, dass sie sich vor dem Mädchen einfach ausgezogen hat. Andererseits war es nun mal ein Nacktbadestrand. Warum hat Lamb sie dorthin geschleppt, wenn sie sich nicht ausziehen durfte? Was soll das?