Zauber der Freiheit - Judy Blume - E-Book

Zauber der Freiheit E-Book

Judy Blume

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Beschreibung

Sandy Pressman ist ihren Kindern eine liebevolle Mutter und ihrem Mann eine treue Ehefrau. Ihre Umgebung spürt nicht, dass Sandy unter der Leere und der Oberflächlichkeit des Vorstadtlebens leidet. Nicht einmal ihr Mann kennt ihre wahren Bedürfnisse und Wünsche, denn nur in ihren Gedanken lebt Sandy in einer aufregenden Phantasiewelt. Doch eines Tages entscheidet sie sich, aus der starren Langeweile auszubrechen, um zu sich selbst zu finden ...

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JUDY BLUME

ZAUBER DER FREIHEIT

Roman

Aus dem Amerikanischen von Ira Lanz

Das Buch

Sandy Pressman ist ihren Kindern eine liebevolle Mutter und ihrem Mann eine treue Ehefrau. Ihre Umgebung spürt nicht, dass Sandy unter der Leere und der Oberflächlichkeit des Vorstadtlebens leidet. Nicht einmal ihr Mann kennt ihre wahren Bedürfnisse und Wünsche, denn nur in ihren Gedanken lebt Sandy in einer aufregenden Phantasiewelt. Doch eines Tages entscheidet sie sich, aus der starren Langeweile auszubrechen, um zu sich selbst zu finden ...

Die Autorin

Judy Blume wurde 1938 geboren. Sie studierte Pädagogik an der New York University. Zunächst war sie vor allem als Autorin von Kinderbüchern sehr erfolgreich – sie erhielt zahlreiche Preise in diesem Genre – doch inzwischen hat sie sich auch in der Welt der Erwachsenenliteratur etabliert. Der Roman Sommerschwestern wurde einer ihrer größten Erfolge. Judy Blume lebt mit ihrer Familie auf Martha’s Vineyard, Massachusetts.

Inhaltsverzeichnis

Über die AutorinCopyrightKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28

HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/12408

Titel der Originalausgabe WIFEY

Das Buch erschien bereits in der Allgemeinen Reihe unter dem Titel »Verlorene Zärtlichkeit«

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Redaktion: Lüra-Service für Verlage Taschenbuchausgabe 8/2002 Copyright © by Judy Blume Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2001 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Cover: Nele Schütz Design

1

Sandy setzte sich im Bett auf und sah auf die Uhr. Viertel vor acht. Verdammt noch mal! Gestern Abend hatte sie zu Norman gesagt, ihr Nachholbedarf sei so groß, dass sie am liebsten den ganzen Tag verschlafen würde. Endlich einmal keine Kinder, keine Forderungen, keine Verantwortung. Aber dieser Lärm. Was war das, ein Lastwagen, ein Bus? Jedenfalls ganz in der Nähe. Und dann plötzlich leere Stille, nachdem der Motor abgestellt worden war. Jetzt würde sie bestimmt nicht mehr einschlafen können. Sie schlüpfte in ihren Morgenmantel, den, den die Kinder ihr zum Muttertag geschenkt hatten.

»Daddy hat ihn ausgesucht«, hatte Jen gesagt. »Gefällt er dir?«

»O ja, er ist wunderschön«, hatte Sandy geantwortet, die das Ding nicht ausstehen konnte. Allein die Vorstellung, dass Norman den gleichen Morgenmantel für sie ausgesucht hatte, den sie seiner und auch ihrer Mutter geschenkt hatte …

Sie tappste durch das Zimmer zum Fenster, rieb sich die Augen, und blies sich die Haare aus dem Gesicht. Sie sah auf das baumbestandene Grundstück hinunter.

Er stand vor dem Holzapfelbaum, die Hände auf den Hüften, als warte er auf sie. Er war mit einem weißen Bettlaken und einem Sternenbannerhelm bekleidet und stand neben einem Motorrad. Was sollte das? Ein Kind, das Halloween spielte? Ein Geist aus der Nachbarschaft? Plötzlich hielt Sandy die Luft an. Er warf das Bettlaken von sich und stand, nackt mit langem, steifem Penis, da. Sandy ließ sich auf die Knie fallen. Sie wagte kaum noch, aus dem Fenster zu schauen. Sie fürchtete sich, aber gleichzeitig war sie fasziniert, nicht von dem Vorgang selbst, sondern von der Art des Vorgehens. So schnell, so schonungslos! Tat es nicht weh? Sie war immer so vorsichtig mit Norman, wollte ihm auf keinen Fall wehtun. Wer war er nur? Was tat er auf ihrem Grundstück? Neunzehn, zwanzig, einundzwanzig, zählte Sandy. Sie kam bis siebenundzwanzig, dann ließ er sein Zeug auf ihrem Rasen zurück, sprang dann auf sein Motorrad, trat mit einem Fuß den Anlasser hinunter und ließ den Motor an. Die Maschine wurde abgewürgt. Würde sie den Notruf wählen müssen, aber wie sollte sie das Problem erklären? Guten Tag, hier spricht Mrs. Pressman … da ist ein … verstehen Sie … nun ja … jedenfalls … und er hat Ärger mit seinem Motorrad … Doch da sprang der Motor an, und der Fahrer raste die Straße hinunter, nur mit dem Sternenbannerhelm bekleidet.

Zuerst rief sie Norman in der Firma an und er fragte: »Hat es Furchen im Rasen hinterlassen?«

»Was?«

»Das Motorrad. Hat es Furchen im Rasen hinterlassen?«

»Weiß ich nicht.«

»Dann geh und sieh nach.«

»Jetzt?«

»Ja, ich bleibe dran.«

Sandy legte den Hörer hin und lief hinaus.

»Ja, es sind Furchen im Rasen«, teilte sie Norman mit. »Zwei.«

»Okay. Du rufst jetzt Rufano an und sagst ihm, dass er sich darum kümmern soll.«

»Gut. Rufano«, wiederholte sie, während sie es notierte. »Soll er nachpflanzen oder was?«

»Das kann ich doch nicht sagen. Schließlich bin ich nicht da, oder? Er soll es entscheiden, er ist der Fachmann.«

»Aber es lohnt sich doch nicht, Geld in den Rasen zu stecken, wenn wir ohnehin ausziehen, oder?«

»Wir haben das Haus noch nicht verkauft. Es wäre etwas anderes, wenn wir es bereits verkauft hätten.«

»Norm …«

»Was ist?«

»Ich fürchte mich ein bisschen.«

»Ich rufe die Polizei an, sobald wir eingehängt haben.«

»Ich bin nicht angezogen.«

»Dann zieh dich an.«

»Kommst du nach Hause?«

»Das geht nicht, Sandy. Ich stecke bis zum Hals in Arbeit.«

»Ach so.«

»Dann bis heute Abend.«

»Ist gut.«

Sandy duschte, zog sich an und wartete auf die Polizei.

»Okay Mrs. Pressman, fangen wir noch mal von vorn an.« Sie hatte mindestens Columbo erwartet. Stattdessen kam Hubanski. Er war groß und dünn, ihm fehlte ein Zahn und sein Bein juckte. Er saß auf dem Sofa und kratzte sich über seinem schwarzen Fesselsöckchen. Beste Ware aus New Jersey.

»Mein Mann hat Ihnen doch die ganze Geschichte schon erzählt, oder etwa nicht?«

»Mhm.«

Er zog sein Notizbuch aus der Tasche und ließ seinen Kugelschreiber über das Papier gleiten. »Scheint heute nicht so recht zu wollen.«

»Probieren Sie es mal mit Pusten«, schlug Sandy vor. »Manchmal hilft das.«

Hubanski versuchte es. »Nee, nichts zu wollen.«

»Moment.« Sandy ging in die Küche und brachte ihm einen anderen Stift. »Probieren Sie es mal mit dem.«

»Danke«, sagte er. Er schrieb seinen Namen in Druckbuchstaben.

Sandy setzte sich auf das kleine Zweiersofa ihm gegenüber und zog ihre Beine unter sich.

»Okay und jetzt will ich das Ganze noch mal von Ihnen hören, Mrs. Pressman. Sie sagen, es war Viertel nach acht?«

»Nein, Viertel vor.«

»Sind Sie sich da ganz sicher?«

»Ja, absolut, weil ich sofort auf die Uhr geschaut habe, als ich wach geworden bin.«

»Und der Lärm, der Sie geweckt hat, klang nach einem Motorrad?«

»Na ja, zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass es ein Motorrad ist. Ich wusste nur, dass es ein Motor war, und deshalb bin ich zum Fenster gegangen.«

»Wir müssen in dieser Hinsicht ganz sichergehen, Mrs. Pressman.«

»Ich habe aus dem Fenster geschaut und da stand er«, sagte Sandy. »Es ist ganz einfach.«

»Er hat nicht vorher geklingelt oder so was?«

»Warum hätte er das tun sollen?«

»Ich versuche nur, einen genauen Bericht aufzunehmen, Mrs. Pressman. Verstehen Sie, das fällt nicht gerade unter die üblichen Beschwerden, die täglich bei uns einlaufen. Lassen Sie sich also ruhig Zeit und erzählen Sie es mir noch einmal.«

»Er hatte ein Bettlaken umgehängt und er hat zu mir raufgeschaut.«

»Sehen Sie, das hier ist der entscheidende Teil, Mrs. Pressman, und ich will ganz sichergehen, dass ich alles richtig verstanden habe. Sie sagen also, dass dieser Kerl auf einem Motorrad vorfährt.«

»Ja.«

»Und er ist in ein Laken gehüllt.«

»Stimmt.«

»Ein ganz normales, einfaches Bettlaken?«

»Ja, uni weiß, Krankenhausware.«

»Okay, ich sehe es vor mir. Machen wir also hier weiter, Mrs. Pressman. Sie sehen also von Ihrem Schlafzimmerfenster aus runter und er schaut rauf. Ist das soweit richtig?«

»Ausgezeichnet. Sie machen Ihre Sache gut.«

»Sehen Sie, Mrs. Pressman, vielleicht glauben Sie mir das nicht, aber für mich ist das auch kein Zuckerschlecken.«

»Entschuldigung.«

»Okay, er zieht also das Laken runter.«

»Stimmt.«

»Und er ist splitternackt.«

»Ja, bis auf seinen Helm … mit dem Sternenbanner …«

»Ja, das habe ich schon notiert. Also, fahren Sie fort.«

»Na ja, und dann hat er masturbiert. Und das war es eigentlich auch schon.«

»Sie sagen eigentlich. War sonst noch etwas?«

»Nein. Er ist auf sein Motorrad gestiegen und weggefahren. Das ist alles.«

»Nackt?«

»Ja, das habe ich Ihnen doch schon gesagt.«

»Und wo ist dann das Bettlaken, Mrs. Pressman?« Hubanski hob die Hand und zum ersten Mal zeigte sich auf seinem Gesicht die Andeutung eines Lächelns.

»Das weiß ich nicht.«

»Sie haben es nicht aufgehoben, als Sie rausgegangen sind, um sich den Rasen anzusehen?«

»Nein.«

»Sie haben aber auch nicht gesehen, wie er es aufgehoben hat?«

»Nein, aber das kann er durchaus getan haben. Ich war zu dem Zeitpunkt schließlich ziemlich außer mir. Kann sein, dass ich das nicht gesehen habe.«

»Was mir nicht klar ist, Mrs. Pressman, ist Folgendes: Wie kommt es, dass Sie sich das alles angesehen haben? Ich meine, Sie hätten uns doch gleich anrufen können. Vielleicht wären wir noch rechtzeitig hier gewesen.«

»Ich nehme an, ich war einfach zu erschrocken. Ich weiß es nicht genau.«

»Können Sie uns etwas zum Fabrikat des Motorrads sagen?«

»Es war verchromt.«

»Jetzt kommen Sie schon, Mrs. Pressman. Sie können uns bestimmt mehr sagen. War es ein neues Modell, eins von 1970? Oder würden Sie sagen, dass es fünf bis zehn Jahre alt war?«

»Ich weiß es nicht. Für mich sehen die Dinger alle gleich aus.«

Hubanski drückte auf den Kugelschreiber, stand auf und reichte ihn Sandy.

»Behalten Sie ihn«, sagte sie. »Sie können ihn sicher noch gebrauchen.«

»Danke. Sagen Sie, was ist mit dem Hund? Ihr Mann hat gesagt, dass Sie einen Hund haben.«

»Ja, das stimmt, einen winzigen Schnauzer. Banushka. Aber der Hund hat das Ganze verschlafen.«

»Und Sie sind sicher, dass es ein Weißer war?«

»Wer?«

»Der Kerl – der Exhibitionist.«

»Ach der, ja.«

»Mischlinge können nämlich auch fast weiß aussehen.«

»Nein, er war weiß. Wie Sie.«

Er seufzte. »Nun ja, viele Anhaltspunkte haben Sie mir nicht gerade gegeben, Mrs. Pressman.«

»Tut mir Leid.«

»Hören Sie, wenn Ihnen noch etwas einfällt, ganz gleich, wie unbedeutend es Ihnen auch erscheinen mag, dann rufen Sie mich an, okay? Ich werde in der Zwischenzeit mein Bestes tun.«

»Mehr kann man wirklich nicht verlangen, Sergeant …« Sandy unterbrach sich. Wie, zum Teufel, hieß er doch gleich?

»Hubanski. U-ban-ski. Das H ist stumm.«

»Ich werde es mir merken. Auf Wiedersehen … und vielen Dank.«

Während Hubanski die Treppe hinunterging, rief Sandy ihm nach: »Ach, Sergeant?«

Er drehte sich um. »Ja?«

»Mir ist gerade noch etwas eingefallen … er war Linkshänder.«

»Hubanski hat mir nicht geglaubt«, sagte sie am Abend bei ›Hühnchen pikant‹ zu Norman. Sie war wirklich sauer.

»Es ist aber auch wirklich eine unglaubliche Geschichte, Sandy.«

»Glaubst du etwa, das weiß ich nicht?«

»Wie kommt es, dass es heute Hühnchen gibt? Heute ist Montag und Hühnchen gibt es immer mittwochs.«

»Es gibt keinen besonderen Grund. Ich habe einfach nur das Erste aufgetaut, was mir in die Finger gekommen ist, als ich die Gefriertruhe aufgemacht habe. Außerdem macht das doch keinen Unterschied, solange die Kinder weg sind.«

»Der Unterschied ist der, dass ich mittwochs mit Hühnchen rechne, genauso, wie ich mich donnerstags auf Braten und dienstags auf irgendein Hackfleischgericht verlasse. Ich habe zum Mittagessen Hühnersalat gehabt.«

»Oh, das tut mir Leid.«

»Hast du das Rezept von deiner Schwester?«

»Nein, es ist aus Raffiniert, aber leicht.«

»Nicht schlecht. Trotzdem hättest du es vorher anbraten sollen.«

»Hühnchen lassen sich so schlecht anbraten. Deshalb habe ich es nach diesem Rezept zubereitet, weil man es vorher nicht anbräunen muss.«

»Es würde aber appetitlicher aussehen.«

»Dann mach doch die Augen zu.«

»Ich habe dir doch nur einen Vorschlag gemacht, San. Du brauchst nicht gleich so empfindlich zu sein.«

»Wer ist hier empfindlich?«

Norman setzte seine Brille ab und putzte sie mit seiner Serviette. »Ich glaube, was dir fehlt, sind neue Interessen, gerade jetzt. Die Kinder sind schließlich den ganzen Sommer über fort.«

»Ich habe jede Menge zu tun. Wir haben das neue Haus und außerdem habe ich vor, viel zu lesen. Ich nehme mir die Klassiker vor. Das habe ich dir doch schon gesagt.«

»Du solltest öfter aus dem Haus gehen, unter Leute kommen«, sagte Norman.

»Ich brauche nicht ständig andere Leute.«

»Dir mangelt es an Selbstvertrauen.«

»Was soll denn das heißen?«

»Ich versuche doch nur, dir zu helfen. Wenn du nur auf mich hören würdest!«

»Möchtest du noch Reis?«

»Ja, bitte. Ich glaube, der Club wäre eine gute Idee, San.«

»Oh, bitte, Norman, fang nicht wieder davon an.«

»Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass du es noch einmal versuchst, wenn die Kinder aus dem Haus sind.«

»Sieh mal, als du beigetreten bist, habe ich dir doch gesagt, dass das nicht mein Fall ist … dass ich nichts damit zu tun haben will. Also erwarte nicht von mir … bitte mich nicht darum …« Sie stand auf, um das Geschirr abzuräumen.

»Sieh dir doch deine Schwester an«, sagte Norman.

»Das tust du doch schon.«

»Vier Jahre älter als du.«

»Dreieinhalb, aber wer nimmt das schon so genau?«

»Sie liebt den Club. Sie lebt praktisch dort.«

»Sie war schon immer die Sportlerin in unserer Familie.«

»Braun und stramm und in Hochform.«

»Ich bin in der achten Klasse im Turnen durchgefallen, wusstest du das nicht?« Sandy stellte einen Teller mit Plätzchen auf den Tisch und zwei Tassen kaltes Wasser mit Teebeuteln in den neuen Mikrowellenherd.

»Du gehst nicht mehr in die achte Klasse, Sandy.« Er biss eins der Plätzchen an. »Pepperidge Farm?«

»Nein, Keeblers.« Der Mikrowellenherd surrte und Sandy trug die Teetassen zum Tisch. »Myra hatte während der gesamten Schulzeit Einser im Turnen. Sie hat Urkunden gewonnen. Sie hat bei der Organisation sämtlicher Sportveranstaltungen mitgemacht!«

»Du solltest lernen, mehr mit dem Mikrowellenherd anzufangen, als nur Wasser darin zu erhitzen.«

»Ich kann solche Apparate nicht ausstehen.«

»Weil es dir an Selbstvertrauen mangelt.«

»Was hat Selbstvertrauen mit Mikrowellen zu tun?«

»Was haben technische Geräte damit zu tun?«

»Ich habe das mit dem Club ausprobiert, Norm. Ich habe zwei Golfstunden und zwei Tennisstunden genommen und ich war miserabel. Ich bin für so was einfach nicht geeignet, ich kann’s nicht.«

»Komm mir nicht mit diesem Blödsinn, Sandy. Du könntest so gut wie die meisten Mädchen sein, wenn du dir Mühe geben würdest.« Norman nahm sich noch ein Plätzchen. »Warum lässt du dir nicht die Haare machen … kaufst dir was Neues zum Anziehen … du hast doch ganz toll ausgesehen.«

»Meine Güte, du sagst das so wie meine Mutter.«

»Sie hat es also auch gemerkt?«

»Ich war krank, Norm!«

»Das ist Monate her. Das ist doch heute keine Entschuldigung mehr.«

Sandy ging zum Spülbecken und drehte den Wasserhahn auf.

»Ich werde wohl mal mit Banushka spazieren gehen«, sagte Norman.

»Mach doch!«

»Oh, San, um Himmels willen.« Er wollte sie in den Arm nehmen, aber sie stieß ihn von sich. »Du bist seit einer Weile so verdammt empfindlich«, sagte er. »Ich kann überhaupt nicht mehr mit dir reden.«

Nicht mehr?, dachte Sandy. Aber sie sprach es nicht aus.

Als die Haustür ins Schloss fiel, griff sie nach einem Teller und schleuderte ihn durch die Küche. Er zersplitterte in winzige Scherben und sie fühlte sich besser.

2

Okay. Sie sah also nicht gerade besonders gut aus. Aber das war doch schließlich nicht ihre Schuld, oder? Sie hatte zwei harte Monate hinter sich und begann gerade erst wieder, sich gesund zu fühlen. Nach einer solchen Krankheit konnte es ein Jahr dauern, bis sich alles wieder normalisiert hatte. Und es war noch kein Jahr her. Es hatte letztes Jahr an Halloween angefangen, im Supermarkt. Ihr war an der Kasse schlecht geworden und der Kassierer hatte sie zur Damentoilette gebracht. Sie dachte, sie würde ohnmächtig werden, doch als sie auf dem Boden lag, fühlte sie sich gleich besser. Der Manager hatte ihre Einkäufe zum Wagen getragen und ihr sogar angeboten, sie nach Hause zu fahren, doch sie hatte ihm versichert, dass sie sich wieder wohl fühlte, dass ihr nur wegen der Hitze in dem Laden in Verbindung mit ihrer schweren Jacke schwindlig geworden war. Es war einfach zu warm für Oktober.

Auf der Heimfahrt war eine Welle von Übelkeit über sie hereingebrochen, begleitet von heftigem Kopfschmerz. Sie war an den Straßenrand gefahren und hatte sich ganz so gefühlt wie vor Jahren, als sie an Pfeifferschem Drüsenfieber erkrankt war. Nach wenigen Minuten war auch das vorübergegangen und sie hatte nach Hause fahren können. Jen hatte sie an der Tür begrüßt: »Oh, Mom, du siehst ja ganz süß aus mit der Halloween-Schminke im Gesicht.«

»Welche Schminke?«

»Die kleinen Herzchen.«

Sandy war zum Spiegel gelaufen. Gütiger Gott, sie hatte wirklich kleine herzförmige Male um die Augen und auf den Wangen.

William R. Ackerman, Dr. med., spezialisiert auf innere Medizin, besonders auf Erkrankungen der Leber, hatte sie am Spätnachmittag untersucht. Inzwischen waren die herzförmigen Male verschwunden. »Scharlach«, hatte der Arzt gesagt und er hatte ihren Zustand mit Buckys gerade ausgeheilten Streptokokken in Verbindung gebracht. Dann hatte er einen Abstrich aus der Kehle entnommen und Penicillin verschrieben: dreimal täglich eine Kapsel.

Im Laufe einer Woche hatte sich ihr Zustand soweit gebessert, dass sie ihren Verpflichtungen gegenüber der Familie wieder nachgehen konnte, wenn sie sich auch nicht gerade großartig fühlte. Zehn Tage später ging es wieder los, diesmal aber schlimmer. Vierzigzwei Fieber, Schmerzen und Stiche in den Gelenken, ein seltsamer Ausschlag, der plötzlich ihren ganzen Körper bedeckte; wie Nesselausschlag auf den Armen, wie Masern auf dem Bauch, Pusteln auf ihrem geschwollenen Gesicht. Sie wollte nur noch schlafen.

Sie nahm das tägliche Geschehen nur noch am Rande wahr. Spürte es, ohne sich etwas daraus zu machen. »Wird Mom sterben?«, fragten die Kinder in demselben beiläufigen Tonfall wie: Geht Mom einkaufen? Normans Zorn entging ihr nicht. Sie hatte noch nie verstehen können, warum er so wütend war, wenn sie oder die Kinder krank waren, wenn das Leben nicht planmäßig verlief, als sei alles ihre Schuld. Auch ihre Mutter nahm sie wahr, die Norman geholt hatte, damit sie sich um alles kümmerte, denn in elfeinhalb Jahren Ehe hatte er nie auch nur einen Tag nicht gearbeitet oder auch nur ein Golf- oder Tennisspiel ausfallen lassen. »Oh, mein Gott, mein Gott«, hatte Mona ausgerufen. »Mein kleines Mädchen, Sandy, mein Liebling.«

Diesmal hatte Dr. Ackerman am Fußende von Sandys Bett gestanden. Nicht etwa, weil er Hausbesuche machte, sondern weil Sonntag war und er schräg gegenüber wohnte. Daher war es bequemer für ihn, sie zu Hause aufzusuchen, als quer durch die Stadt zu seiner Praxis zu fahren. Dort stand er, sah auf sie hinunter und zählte die Möglichkeiten an seinen Fingern ab. »… es könnte aber auch Brustkrebs sein oder Lepra, Leukämie oder eine heftige allergische Reaktion.«

Sandy schloss die Augen. Sie wollte nichts mehr hören. Bitte, Gott, lass es nicht Lepra sein, betete sie.

»Ich denke, wir sollten an der Theorie einer allergischen Reaktion festhalten und sie gleich mit Cortison behandeln«, sagte Dr. Ackerman.

»Aber was genau hat sie eigentlich?«, hatte Norman gedrängt.

»Hautausschlag. Entkräftend, aber nicht tödlich.«

Diesmal würde sie also nicht sterben.

»Es muss doch irgendetwas geben, was sie tun kann, um gegen diese Krankheiten vorzubeugen«, sagte Norman. »Vitamine essen oder sonst etwas. Ich habe keine Zeit für diese ganzen Geschichten.«

Später, als der Arzt gegangen war, schlug sie die Augen auf und blickte in Normans Nikon. »Was tust du da?«

»Nur ein paar Aufnahmen«, hatte Norman zu ihr gesagt.

»Aber, Norm …«

»Nur für den Notfall.«

»Für welchen Notfall?«

»Medizinische Fehlbehandlung, man kann ja nie wissen.«

Norman las das AMA Journal andächtig, ungewöhnlich für einen Mann, der sich beruflich mit chemischer Reinigung befasste. Hatte er eigentlich Arzt werden wollen? Oder war sein morbides Interesse an Medizin auf Sandys physische Probleme zurückzuführen? Dr. Ackerman hatte einmal zu ihr gesagt, sie sei die gesündeste Kranke, die er je behandelt habe. Gesund insofern, als ihr allgemein nichts fehlte. Man hatte sie immer wieder untersucht. Alles war soweit in Ordnung, wenngleich Dr. Ackerman auch einmal den Verdacht gehegt hatte, ihr Magen sei in ihrem Brustkasten, weil er beim Abhorchen ihrer Herztöne ein Gurgeln vernommen hatte. Keine Krankheit, hatte er tröstlich zu ihr gesagt, sondern ein Umstand, über den wir etwas wissen sollten, für unsere Akten. Er hatte sie zu einem Radiologen geschickt, der ihr ein großes Glas Barium mit Zitronengeschmack vorgesetzt hatte. Doch die Röntgenstrahlen hatten nur bewiesen, dass ihr Magen genau dort saß, wo er sitzen sollte.

Camille hatte Tante Lottie sie als Kind genannt. Doch Mona hatte gesagt: »Es ist nicht ihre Schuld, dass sie keine Abwehrkräfte hat!«

Ihre erste richtige Krankheit hatte sie mit zehn gehabt. Blasenentzündung. Es hatte beim Pinkeln gebrannt. Wie gemütlich, wie warm und sicher, sich im Bett zu verkriechen, während ihre Mutter sich um sie kümmerte! Mona war eine etwas nervöse, aber freundliche Krankenschwester, die Sandy jeden Wunsch erfüllte. In den ersten Tagen war sie zu krank gewesen, um etwas anderes zu tun, als nur einfach dazuliegen und vor sich hin zu dösen. Mona hatte ihr die grässliche Medizin mit dem Schokoladenaroma eingeflößt, die der Arzt verschrieben hatte, und als der Labortechniker zu ihr nach Hause kam, um eine Blutprobe zu entnehmen, hatte Sandy sich übergeben und die Medizin über den Techniker gekotzt. Mona war schrecklich verlegen gewesen. »Warum hast du nicht nach dem Eimer gefragt?«

»Es kam ganz plötzlich«, hatte Sandy gesagt. »Es tut mir Leid.«

Damals hatte sie zwei Wochen im Bett gelegen, sich im Radio Soap Operas angehört, Ausschneidebögen von Filmschauspielern ausgeschnitten, spannende Geschichten von Nancy Drew gelesen und geübt, ihre Zunge zu Tunneln zu rollen. Das hatte sie im Sprachunterricht in der Schule gelernt, bis Mona eines Tages in die Schule gelaufen war, um Sandys Befreiung vom Unterricht zu fordern, denn »An der Sprache meiner Tochter ist nichts auszusetzen.«

»Es geht um ihre ing-Endungen«, hatte Miss Tobias erklärt.

»Ihre ing-Endungen sind ebenso gut wie Ihre eigenen ing-Endungen, wenn nicht sogar besser«, hatte Mona argumentiert. Und sogar mit Erfolg.

All dem war ein dreijähriger Kampf gegen die Neurodermitis gefolgt. Alle anderen in ihrer Klasse hatten die gute, alte Akne, doch Sandy litt an Ekzemen, die sich großflächig auf ihrem Körper ausbreiteten, und sie musste mit weißen Baumwollhandschuhen schlafen, damit sie sich die Haut nicht aufriss, wenn sie sich nachts kratzte. In den folgenden Jahren wurde sie wegen ihrer Ohnmachtsanfälle auf Diabetes untersucht, jedoch mit negativem Ergebnis. Dann heiratete sie Norman und die Ehe brachte eine nie endende Parade von körperlichen Beschwerden mit sich: immer wieder auftretendes Halsweh, die verschiedensten Viruserkrankungen, Magenschmerzen, ein Überbein im rechten Handgelenk, Warzen an den Fußsohlen, und all das mit zwei Kindern, die ihre geringen Abwehrkräfte geerbt hatten und jeden erdenklichen Bazillus mit nach Hause brachten, und sowie sie sie gesund gepflegt hatte, brach die jeweilige Krankheit bei ihr aus. Aber diese Erytheme waren die erschreckendste, aber gleichzeitig auch die exotischste Krankheit bisher.

Sandy reagierte ohne Nebenwirkungen auf die Cortisonbehandlung. »Glück gehabt, Mädchen«, hatte Dr. Ackerman gesagt und im Lauf von zwei Wochen waren sämtliche Symptome verschwunden. Sie war zehn Pfund leichter, ausgelaugt und sah wirklich schlecht aus. In den Weihnachtsferien waren sie nach Jamaika geflogen. Myra und Gordon hatten darauf bestanden. »Schau dich doch an«, hatte Myra gesagt. »Ein Vogel könnte dich umpusten. Was du brauchst, ist Sonne, noch mal Sonne und Ruhe. Und außerdem kann Gordon nach dir sehen, wenn es Schwierigkeiten gibt.«

»Gordon ist Gynäkologe«, hatte Sandy gesagt. »Meine Probleme sind nicht gynäkologisch.«

»Glaubst du, bloß weil er Gynäkologe ist, kennt er sich nur mit Muschis aus? Ich sorge dafür, dass er mit Bill Ackerman spricht. Er wird entscheiden, was das Beste für dich ist.«

Und Dr. Ackerman hatte seinen Segen gegeben.

Sie waren gemeinsam nach Montego Bay geflogen. Myra, Gordon und ihre Töchter, die Zwillinge; Sandy, Norman, Bucky und Jen. »Gott gebe, dass dieses Flugzeug nicht abstürzt«, hatte Mona beim Abschied gesagt. »Sonst schlucke ich Tabletten … oder vielleicht lieber Gas … mein ganzes Leben ist an Bord!«

»Du solltest mitkommen«, hatte Myra gesagt.

»Ich fliege nicht, Punkt aus«, hatte Mona geantwortet. Und dann hatte sie ihre Geschichte mit den Tabletten oder dem Gas dem Mann am Flugschalter erzählt. Er hatte gelächelt und gesagt: »Kein Problem.« Womit gab es keine Probleme? Mit den Tabletten? Mit dem Flugzeug? Sandy hatte jedes Wort buchstäblich aufgefasst. Mit dem Fliegen war schließlich nicht zu spaßen.

Es machte sie nervös, doch sie spielte den Kindern gegenüber die Gelassene. Seht mal, wie tapfer Mommy ist. Sobald sie an Bord waren, betete sie jede halbe Stunde und nichts entging ihr: merkwürdige Geräusche, Gerüche, flackernde Lichter, Rufe nach den Stewardessen, verdächtig wirkende Gestalten, die durchaus Bomben im Gepäck haben konnten. Und während der Starts und Landungen griff sie immer nach Normans Hand und drückte sie so fest sie konnte. Einmal hatte er sich eine Infektion geholt, weil ihr Fingernagel seine Haut geritzt hatte.

Ihre älteste und liebste Freundin Lisbeth, eine Psychologin, hatte Sandy dieses Verhalten als ihren Drang erklärt, über ihr eigenes Schicksal zu bestimmen. »Wenn du der Pilot wärst«, hatte sie gesagt, »würdest du dich nicht fürchten. Eigentlich solltest du wirklich Flugstunden nehmen.«

»Sicher doch«, hatte Sandy geantwortet. »Als ob das Autofahren mir noch nicht genug Schwierigkeiten machen würde. Ich kann bis heute nicht rückwärts in eine Parklücke fahren.«

»Und mit deiner Angst vor Gewittern ist es dasselbe. Du hast keine Kontrolle über die Natur.«

»Wer hat das denn?«

»Niemand, aber die meisten Menschen akzeptieren das.«

»Deine Erklärung ist sehr vernünftig, aber es hilft mir doch nicht weiter, wenn ich es akzeptiere.«

»Du musst darum kämpfen, deine Ängste zu überwinden. Glaub mir, ich weiß es.«

Sandy wollte ihre Ängste überwinden, sie war bereit, zu kämpfen, aber nicht gerade auf diesem Flug. Sie hatte nicht die Kraft, etwas Neues auszuprobieren.

Sie waren sicher gelandet, fünf Minuten zu früh, und am Flughafen wurden sie von einer Steelband empfangen und bekamen zur Begrüßung Daiquiris serviert. Myra hatte Fleisch im Wert von dreihundert Dollar in ihrem Koffer transportiert, das von ihrem Metzger in South Orange verpackt und mit Trockeneis eingefroren worden war. Sie hatte sich mit dem zuständigen Zollbeamten vor dem Schalter von Air Jamaica verabredet, aber er war bisher nicht aufgetaucht. Ohne ihn würde das Fleisch beschlagnahmt werden. Sandy trank zwei weitere Daiquiris, während Myra hektisch in dem Flughafengebäude umherlief und den Mann suchte. Bucky und Jen, denen heiß und langweilig war, spielten Haschen. Die Zwillinge, die so missmutig waren wie immer, klagten über die fehlende Klimaanlage und fächerten sich mit Zeitschriften kühle Luft zu.

Nach einer Stunde war klar, dass der Beamte nicht erscheinen würde, und sie stellten sich in der Schlange an, um durch den Zoll zu gehen. »Diese Schufte!«, zischte Myra. »Das ist doch nicht gerecht. Man macht uns Schwierigkeiten und dabei sind wir doch diejenigen, die das Geld ins Land bringen …«

»Nur die Ruhe, gnädige Frau«, sagte der Zollbeamte. »Sie haben drei Tage Zeit, Ihr Fleisch abzuholen, ehe wir es beschlagnahmen.«

»Und ich soll Ihnen wohl glauben, dass das Fleisch drei Tage lang gefroren bleibt?«

»Na klar … Sie kommen mit dem Kollegen … Sie nehmen das Fleisch mit nach Hause.«

»Sie erwarten tatsächlich von mir, dass ich einen ganzen Urlaubstag opfere, um wieder hierher zu kommen?«

»Ja, das ist Vorschrift.«

»Oh, dieses Volk!« Myra schüttelte den Kopf. »Kein Wunder, dass es so ist, wie es ist … Sie glauben …« Sie drohte ihm mit dem Finger. »Eines Tages werden Sie es schon merken!«

»Ja, gnädige Frau.«

Myra ging wütend davon. Ihre goldenen Armbänder klimperten, Ketten flogen nach allen Richtungen. Waren es wirklich Schweißflecken, die sich unter den Ärmeln ihrer beigen Seidenbluse bildeten? Sandy hatte Myra noch nie schwitzen sehen.

Der Wagen wartete auf sie, doch selbst in dem Buick Rancho war es stickig. Jen fischte einen Wollfaden aus ihrer Tasche und spielte allein Fadenabheben, während Bucky die restlichen Schokoladenplätzchen verputzte, die inzwischen geschmolzen waren. Connie und Kate schliefen sofort ein. Auch Sandy konnte nur mit Mühe die Augen offen halten. Sie brauchten eineinhalb Stunden zur Runaway Bay. Wenigstens wurde keinem der Kinder mehr beim Fahren übel.

Myra und Gordon hatten sich in diese Gegend verliebt und vor achtzehn Monaten das Haus gekauft. Komplett möbliert, mit vier Dienstboten und sogar einen Namen hatte es bereits. Sandy hatte viele Bilder von dem Haus gesehen, doch selbst die Fotos hatten sie nicht auf La Carousella vorbereitet. Der Name deutete es bereits an: Das Haus war rund. In der Mitte lag unter freiem Himmel ein Swimmingpool. Um den Pool herum lagen vier große Schlafzimmer und ein riesiges Wohnzimmer mit Wänden aus Glas, von dem aus man auf den Golfplatz sah und auf ein weiteres Gebäude, in dem das Personal untergebracht war. Daneben lag ein brandneuer Tennisplatz mit angrenzender strohgedeckter Bar.

»Hollywood …«, sang Myra und tanzte um den Pool herum.

»Mutter, bitte!«, riefen ihre Töchter.

»Kann ich mich denn nicht mal über mein eigenes Haus freuen? Was hältst du davon, San?«

»Ich kann gar nicht … es ist … Ich bin sprachlos.«

»Dürfen wir schwimmen gehen, Tante Myra?«, fragte Bucky.

»Ja, zieht nur eure Badesachen an. Los, wir ziehen uns alle um! Wer als letzter fertig ist, ist ein faules Ei.«

Sandy, die von der Reise erschöpft war, sagte: »Ich glaube, ich ruhe mich erst etwas aus.« Sie schlief bis zum nächsten Morgen.

3

Sie war sicher, dass sie sich bis zum nächsten Halloween wieder vollständig erholt haben würde. Vielleicht würde sie die Kinder sogar ermutigen, ein Kostümfest zu geben, denn das wäre eine günstige Gelegenheit für sie, neue Freunde zu finden, wenn sie umgezogen waren. Daran dachte Sandy, während sie die Scherben zusammenkehrte. Sie räumte die Küche auf, schaltete den Fernseher für den Montagabendfilm ein und fragte sich, wie es Bucky und Jen im Ferienlager gehen mochte, als Norman mit Banushka hereinkam. »Dreimal groß und zweimal klein«, sagte er. »Würdest du es in die Tabelle eintragen, San? Ich habe noch einen wichtigen Anruf zu erledigen.«

Sandy wartete, bis der erste Werbespot kam. Dann ging sie in die Küche und trug Striche auf Banushkas Tabelle ein. Diese Tabelle war Normans Idee gewesen. Er hatte jedes Beinheben und jeden Haufen des Hundes aufgezeichnet, seit sie ihn vor vier Jahren aus dem Tierheim geholt hatten. Als die Kinder geboren wurden, hatte Norman darauf bestanden, dass Sandy auch für sie solche Tabellen anlegte. Sorgsame Aufzeichnungen ihrer Temperatur und der Regungen ihrer Eingeweide mit den entsprechenden Beschreibungen sollte sie anfertigen. Seine Mutter Enid hatte es genau so gemacht, als er ein kleiner Junge war. Sandy hatte die Tabellen der Kinder vor drei Jahren weggeworfen, als Buck acht war und sieben Darmbetätigungen pro Tag verzeichnet hatte. Sie hatte ihm eine große Dosis Kohletabletten gegeben, ehe sie herausgefunden hatte, dass Bucky nur einen Witz gemacht hatte. Norman hatte ihr das nie verziehen. Er und Enid diskutierten detailliert über ihre Darmtätigkeit und ihre Badezimmerschränke waren mit Klistierspritzen ausgestattet, nur für den Fall, dass …

Als sie zu Bett gingen, schwiegen sie. Sandy putzte sich die Zähne mit Crest und spuckte blaue Flüssigkeit in ihr Waschbecken. Norman benutzte Colgate, wie er es sein Leben lang getan hatte. Er ging in einer gestreiften, bügelfreien, kurzen Schlafanzughose in sein Bett und Sandy legte sich in einem pfirsichfarbenen Babydoll in das ihre. Sie hatte ihre Haare hoch gesteckt, weil sie in letzter Zeit im Schlaf schwitzte und die Haarsträhnen, die an den Seiten ihres Gesichts klebten, einen akneartigen Hautausschlag hervorriefen. Als sei sie mit zweiunddreißig wieder in der Pubertät! Norman drehte ihr den Rücken zu und sie ihm den ihren.

Sandy zitterte und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Sie zog sich die Decke über den Kopf. Norman sorgte dafür, dass im Haus Kühlschranktemperatur herrschte, und die Klimaanlage war immer zu hoch eingestellt. Doch er fror nie. Er hatte Körperwärme. So nannte er es, aber das half Sandy auch nicht weiter. Er mochte es nicht, wenn sie dicht nebeneinander schliefen, und so hatten sie zwei Einzelbetten, die ein gemeinsames Kopfende hatten und morgens sehr schwer zu machen waren, aber weshalb sollte sie klagen? Schließlich machte meistens Florenzia die Betten.

Normans Bett, mit kühlen, gestreiften Laken, wurde zweimal wöchentlich frisch bezogen. Nicht, dass er nicht gern täglich frisches Bettzeug gehabt hätte, aber sogar er sah ein, dass dies ein unvernünftiges Ansinnen war. In Sandys Bett taten sie es, wenn sie ihre Periode nicht hatte, einmal wöchentlich, immer samstagabends. Sie vögelten in ihrem Bett, und anschließend ging Norman ins Bad, um sich die Hände und den Penis zu waschen. Sandy fühlte sich jedes Mal schmutzig und schämte sich. Dann kletterte er in sein eigenes Bett, in seine sauberen, kühlen Laken, und innerhalb von Sekunden schlief er ein, ohne sich je herumzuwälzen oder zu seufzen. Nie hatte er das Bedürfnis, ihre Hand zu halten, sich an sie zu kuscheln oder leise mit ihr zu lachen. Drei bis fünf Minuten vom Anfang bis zum Ende. Sie wusste es. Sie hatte oft genug auf die Digitaluhr auf dem Nachttisch geschaut. Drei bis fünf Minuten. Dann sagte er: »Sehr schön. Hast du dein Dessert bekommen?«

»Ja, danke, der Nachtisch hat geschmeckt.«

»Ja, dann schlaf gut.«

»Gute Nacht, Norm.«

Sie hatte gelernt, innerhalb von Minuten zu kommen, von Sekunden, wenn es sein musste, und sie schaffte es fast immer zweimal. Das war kein Problem. Sie bekam fast immer Hauptgang und Nachtisch. Aber es war ein gewöhnliches Abendessen vor dem Fernsehen und hinterher Plätzchen, während sie sich nach Scampi und Mousse au chocolat sehnte.

Norman war auch von einer gierigen, aufmüpfigen Muschi verschont geblieben, die ihn die halbe Nacht lang wach hielt. Die machte Sandy verrückt. Sie grub ihre Nägel in das zarte, empfindliche Fleisch der Schamlippen und riss sie auf. Wenn sie sich am nächsten Morgen zum Pinkeln hinsetzte, brannte es unerträglich. Sie probierte es mit Cremes und Lotionen und Puder und Maisstärke und Antihystaminen und mit Baumwollunterwäsche, aber nichts half.

»Ein Pilz ist es nicht«, sagte Gordon zu ihr, »und es bestehen auch keine Anzeichen für eine Infektion. Wir ziehen nach wie vor eine allergische Reaktion in Betracht. Auf Norms Samen. Aber es kann auch eine rein funktionelle Störung sein …«

»Funktionell?«

»Ja, psychosomatisch, bezogen auf dein Sexualleben. Also, wie steht es mit deinem Sexualleben, Sandy?«

Mein Sexualleben? Ach so, du meinst mein Sexualleben. Ja. Nun ja. Hmm, wenn du es auf der Grundlage von Orgasmen beurteilen willst, ist alles bestens. Großartig. Das heißt, ich onaniere wie verrückt, Gordon. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich onaniere. Mein Gott, ich mache es dauernd. Heute Morgen zum Beispiel, als ich hierhergefahren bin … beim Fahren, mitten im Verkehr, nicht mehr und nicht weniger … Nein, nicht im Cadillac, mit dem ist Norm zur Arbeit gefahren. Im Buick … ich fahre den Buick und höre diesen Song im Radio … aus meiner Jugend, Gordy … siebzehn oder so war ich damals … Blue velvet, bluer than velvet was the night … Das erinnert mich an Shep … Und ich spüre dieses komische Gefühl in meiner Muschi … Dieses tolle Gefühl, dass alles ganz heiß wird … und ich reibe nur ein bisschen mit einer Hand … nur ein kleines Kitzeln, ein Kitzeln durch meine Kleider … nur eins-zwei-drei und dann reicht es schon … Ich komme, und dabei will ich noch gar nicht kommen, weil es so gut tut … Ich will, dass es anhält. Und weißt du was, Gordy? Wenn ich auf die Art gekommen bin, juckt es mich nie. Es juckt mich nur nach Norman. Siehst du, es muss wohl etwas mit ihm zu tun haben. Vielleicht bin ich wirklich allergisch gegen sein Sperma … Vielleicht bin ich allergisch gegen seinen Schwanz … Vielleicht bin ich allergisch gegen ihn! Was hältst du davon?

Oh, du willst lieber etwas über mein Sexualleben mit Norman hören? Ja. Natürlich. Ich verstehe, Gordy. Auf das Krankheitsbild bezogen. Gewiss. Nun ja. Jeden Samstagabend, ob Regen oder Sonnenschein, es sei denn, ich habe meine Periode. Abwechslung? Du meinst so, wie es in den Büchern steht? Tja, also, nein … Norm hält nichts von Abwechslung. Jede Veränderung erzeugt bei ihm Unbehagen. Und ich bin auch nicht gerade der Typ, der etwas Neues vorschlägt, Gordy. Du findest, das sollte ich tun? Ich weiß nicht so recht … ich muss erst darüber nachdenken … vielleicht …

Oralverkehr? Oh, Gordy … jetzt wirst du aber sehr persönlich. Muss das sein? Muss das wirklich sein? Na gut, ich sehe natürlich, dass das ein Teil meines Sexuallebens ist. Ja, gewiss haben wir es probiert … Aber das einzige Mal, als Norman sein Gesicht zwischen meine Beine gelegt hat … Er hat gekeucht und gehustet und hinterher eine halbe Stunde im Bad verbracht und mit Listerine gegurgelt und ich habe schreckliche Schuldgefühle bekommen. All das Leid, nur um mir einen Gefallen zu tun. Und dazu kommt das Geruchsproblem … Körpergerüche, du weißt schon … Norman hasst den Geruch nach Sexualität. Am Morgen danach klagt er immer darüber, reißt alle Fenster auf und sprüht Lysol.

Deshalb dusche ich mit Essig … um es appetitlicher zu machen …

»Wie steht es jetzt damit, Sandy?«

»Womit?«

»Mit deinem Sexualleben.«

»Was hat das mit meinem Problem zu tun?«

»Es könnte viel damit zu tun haben.«

»Ich glaube nicht, dass ich mit dir darüber reden kann, Gordon.«

»Soll ich dich an einen anderen Arzt überweisen?«

»Nein, ich glaube nicht, dass ich überhaupt über dieses Thema reden kann.«

4

Früher hatte sie ausgesehen wie Jackie Kennedy. Jeder hatte das gesagt. 1960 hatte sie den Wettbewerb gewonnen, in dem es darum ging, wer Jackie Kennedy am ähnlichsten sah. Die Plainfield Courier-News hatten diesen Wettbewerb ausgeschrieben. Normans Mutter hatte ihr Foto eingeschickt und sie hatte gar nicht gewusst, dass sie unter den Bewerberinnen war, bis sie den Anruf bekam, dass sie gewonnen hatte, und ihr Bild zwei Spalten breit auf der Titelseite erschienen war. Sie war eine Berühmtheit. Ein Star.

Natürlich hatte sie für Jack gestimmt. Es war ihre erste Präsidentschaftswahl und sie hätte Normans Kandidaten unter keinen Umständen unterstützt, obwohl Norman damals Kassenwart des Republikanerclubs von Plainsfield war. Aber Norman hatte ohnehin keine Ahnung von ihren Plänen. Er dachte, seine Politik sei auch ihre Politik, sein Kandidat ihr Kandidat. Oh, dieser wonnige Schauder, sich für Kennedy einzusetzen, Norman zu trotzen, und sei es auch noch so heimlich!

»Du solltest mit mir die Runde machen«, hatte er während der Wahlkampagne zu ihr gesagt.

»Wenn du sagst, dass ich schwanger bin, versteht es jeder.«

Norman hatte nachgegeben und brachte Wählerlisten mit nach Hause. In der Wahlwoche saß Sandy jeden Abend am Telefon und rief Leute an.

So hatte sie ihren Teil dazu beigetragen, ihren Mann zu unterstützen. Sie hatte sich das Recht darauf erworben, insgeheim Jacks Wahlsieg zu feiern. Zum ersten Mal war Sandy mit Politik in Berührung gekommen. Keine Wirtschaftskrise und kein Weltkrieg hatten ihr Leben bestimmt und Mona und Ivan waren entschlossen, ihren Kindern die Unsicherheiten und die Ängste zu ersparen, die sie erlebt hatten. Als sie zwei Wochen mit Tante Lottie auf dem Land verbracht hatte, hatte sie ihre Mutter anschließend gefragt: »Wie steht der Krieg in Korea?« Und Mona hatte geantwortet: »Es ist alles beim Alten, und zerbrich dir dein hübsches kleines Köpfchen nicht darüber. Das betrifft dich überhaupt nicht.«

Bis jetzt. Sandy und Jackie. Sie waren gleichzeitig schwanger gewesen. John-John war als Erster geboren worden, im November, und Bucky war ihm im Dezember gefolgt. Sandy sah sich die Geburt nicht in dem Spiegel über dem Bett an, obwohl Dr. Snyder es ihr geraten hatte. Es war schon schlimm genug gewesen, dass er das Baby auf ihren Bauch gelegt hatte, frisch aus dem Ofen, ganz blutig und hässlich. Sie war high von den Medikamenten. »Nehmen Sie ihn weg!«, hatte sie geschrien. »Er ist grässlich!«

Dr. Snyder hatte gelacht. »Das meinen Sie nicht so, Sandy. Dies ist der glücklichste Augenblick in Ihrem Leben.«

Sie war dann eingedöst. Später hatte eine Krankenschwester Bucky zu ihr gebracht, sauber und in eine weiche Decke gewickelt, ganz kuschelig und warm. Und die Krankenschwester hatte ihn ausgezogen, damit Sandy seine winzigen Finger und Zehen begutachten konnte, seinen Nabel und seinen Miniaturpenis, und damit sie sehen konnte, dass sie und Norm ein perfektes Baby produziert hatten.

Nach ihrem Großvater hatten sie ihn Bertram genannt und sich geeinigt, ihn Bucky zu nennen, bis er alt genug war, mit einem so ernsten Namen umgehen zu können.

»Bucky«, hatte Enid gehöhnt. »Was ist denn das für ein Name für einen jüdischen Jungen?«

»Er ist genauso gut wie Brett«, hatte Sandy geantwortet, wobei sie den Namen von Enids älterem Enkel eher gezischt hatte.

»Von Miss Piss erwarte ich einen Namen wie Brett«, hatte Enid gesagt. »Von dir habe ich etwas Besseres erwartet.«

Miss Piss war mit Normans Bruder Fred verheiratet, einem Versicherungsvertreter, der in Sherman Oaks arbeitete. Andere Leute nannten sie Arlene. Sie sahen einander nur gelegentlich und Sandy hatte sich immer über Arlenes dauernd wechselnde Haarfarbe gewundert.

Sechs Monate nach Buddys Geburt, als Normans Vater Sam tot umgefallen war, während er einen Kassierer feuerte, der Kleingeld in die eigene Tasche gesteckt hatte, hatte Enid sich bei Sandy ausgeweint. »Hättest du das Baby nicht jetzt bekommen können! Dann hätte es einen anständigen Namen bekommen. Wer weiß, wie lange ich noch warten muss, bis Miss Piss mir noch ein Enkelkind schenkt. Oder du.«

Jen war zweieinhalb Jahre später gekommen, wenige Monate, nachdem Jackie ihren Patrick durch eine Lungenkrankheit verloren hatte. Sandy hatte ihre Tochter Jennifer Patrice genannt. Jennifer, weil ihr der Name gefiel, und Patrice wegen Jackies Baby.

»Findest du nicht, dass wir sie nach meinem Vater Sarah nennen sollten?«, hatte Norman gefragt.

»Sarah kann ihr hebräischer Name sein«, hatte Sandy gesagt und Norman hatte nichts dagegen eingewandt. Schließlich hatte sie die gesamte Arbeit geleistet. Und sie hatte mit Hilfe von Bucky herausgefunden, dass Normans Vorstellung von Vaterschaft sich darauf beschränkte, die Rechnungen zu zahlen.

Enid und Mona waren gemeinsam während der nachmittäglichen Besuchszeit ins Krankenhaus gekommen und beide hatten ein Geschenk für ihren kleinen Enkel mitgebracht: eine Giraffe mit eingebauter Spieluhr von Mona, ein rosaweißes Tuch von Enid. Sandy hatte ein kleines Privatzimmer, das voller Postkarten und Blumen war. Der kunstvollste Strauß war von Norman. Um die Tatsache wieder gutzumachen, dass er nicht da gewesen war, um sie ins Krankenhaus zu fahren? Sandy war nicht sicher. Als man ihn am sechzehnten Loch endlich erreichte, hatte Sandy das Kind bereits geboren.

Sie trug das rosa Bettjäckchen aus Satin, das Mona ihr geschickt hatte, als sie Bucky bekommen hatte, und sie hatte ihre Haare zu einem französischen Knoten hoch gesteckt, sich mit Chanel eingesprüht und Make-up aufgelegt und sich darüber hinweggesetzt, dass sie auf einem Gummireifen saß, um den Schmerz der Stiche zu lindern, und dass sie von dem Darvon, das Dr. Snyder ihr verschrieben hatte, um ihre zarten, angeschwollenen Brüste zu betäuben, leicht benommen war.

Nachts brachte ihr die Krankenschwester Eisbeutel, die sie unter ihre Arme klemmen sollte. »Immer sind es die ganz kleinen Mädchen, die gleich so voll werden … eine Schande, das alles zu verschwenden.«

»Ich glaube nicht an das Stillen«, hatte Sandy zu ihr gesagt. »Ich bin acht Monate lang gestillt worden, und war trotzdem laufend krank.«

»Das hätten Sie dem Arzt sagen sollen. Dagegen gibt es nämlich Spritzen.«

»Ich habe es ihm gesagt.«

Dr. Snyder hatte Mitgefühl für Sandys Unbehagen gehabt. »Ich dachte, Sie hätten es sich anders überlegt«, hatte er gesagt.

»Das mit dem Stillen werde ich mir nie anders überlegen.«

»Gut, dann geben wir Ihnen beim nächsten Mal sofort nach der Geburt eine Spritze, damit Sie nicht so leiden müssen.«

Beim nächsten Mal? Wer hatte etwas von einem nächsten Mal gesagt? Man hatte von ihr erwartet, dass sie zwei Kinder fabrizierte, vorzugsweise eins von jedem Geschlecht. Sie hatte ihr Soll erfüllt.

Beim ersten Mal hatte das plötzliche Wachstum ihrer Brüste Norman so beeindruckt, dass er seine Nikon ins Krankenhaus mitgebracht und Schnappschüsse von Sandy in ihrem Bettjäckchen gemacht hatte, das gerade soweit aufgeknöpft war, dass man den Spalt zwischen ihren Brüsten sehen konnte. Diesmal war er weniger enthusiastisch. Er hatte gemerkt, dass dies nur eine vorübergehende Veränderung war. Anschließend würde sie wieder ebenso kleine Brüste haben wie vorher, nicht wie ihre Schwester Myra, die Tante Lotties Mammutbusen geerbt und sich vor zwei Jahren einer Operation zur Brustverkleinerung unterzogen hatte, denn »du kannst dir nicht vorstellen, was es heißt, ein Paar solche Titten herumzutragen.«

»Zu schade, dass sie dir nicht was abgeben kann«, hatte Norman damals gesagt und dann hinzugefügt. »Ha, ha …«

»Ja, wirklich zu schade«, hatte Sandy geantwortet. »Ha, ha, ha …«

»Und wann kommt meine kleine Sarah nach Hause?«, fragte Enid, während sie die Karten las, die auf Sandys Kommode aufgereiht waren.

»Sie heißt Jennifer«, antwortete Sandy. »Jennifer Patrice. Hat Norman dir das nicht erzählt?«

»Er hat gesagt Sarah.«

»Ja, auf hebräisch heißt sie Sarah, aber wir werden sie Jen nennen.«

»Ich kann es einfach nicht glauben!«

»So ist es aber. »Ich habe die Geburtsurkunde bereits unterschrieben. Jennifer Patrice.«

»Mona, sag mir, dass ich das alles nur träume«., stöhnte Enid, eine Hand an die Stirn gepresst, die andere auf die Brust.

»Sie kann dem Baby einen Namen geben«, sagte Mona. »Du hattest deine Chance bei Norman und Fred.«

»O Gott, o Gott.« Enid setzte sich schwankend hin. »Ich fühle mich ganz schwach. Als würde ich gleich ohnmächtig.«

Mona schenkte Enid eine Tasse Wasser ein. »Versuch, dich zu entspannen. Mach dich nicht für nichts und wieder nichts verrückt …«

»Nichts? Du glaubst, mein Sohn wollte sein eigenes Kind nicht nach seinem Vater nennen, möge er in Frieden ruhen. Nein, sie ist es …«, sagte Enid mit einer Kopfbewegung zum Bett hin. »Sie glaubt, ein schlichter, schöner, biblischer Name wie Sarah ist nicht gut genug für sie.« Sie trank einen Schluck Wasser.

»Darum geht es nicht …«, setzte Sandy an.

»Miss Hochmut!«

So war auch sie getauft worden.

»Miss Hochmut ist sich zu gut dazu, sich etwas aus ihrer armen, alten Schwiegermutter zu machen. Habe ich nun ihr Bild an die Courier-News geschickt und eine Berühmtheit aus ihr gemacht, oder nicht?«

»Bitte …«

»Wie viel Zeit habe ich denn noch? Mehr als ein bisschen Glück verlange ich doch nicht.«

»Hör damit auf!« Sandy verlor die Geduld. »Hör jetzt bitte auf.«

Die Krankenschwester steckte ihren Kopf durch die Tür. »Meine Damen, könnten wir bitte daran denken, dass wir in einem Krankenhaus sind?«

Enid wandte sich an Mona. »Eins sage ich dir: Meine Feinde behandeln mich besser als meine Schwiegertöchter. Du weißt gar nicht, wie froh du sein kannst, dass du Töchter und keine Söhne hast. Mit Söhnen handelst du dir nur Zores ein …«

»Du solltest wenigstens froh sein, dass das Baby den hebräischen Namen hat, den du wolltest«, erwiderte Mona.

»Für mich wird sie immer Sarah sein, ganz gleich, wie Miss Hochmut sie nennt!«

»Sie heißt Jennifer, verdammt noch mal!« schrie Sandy. »Und ich habe die Geburtsurkunde als Beweis!« Sie konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten.

»Meine Damen, meine Damen.« Die Krankenschwester stand kopfschüttelnd da. »Ich muss Sie bitten, jetzt zu gehen. Sehen Sie sich unsere Patientin an.«

Sandy schluchzte laut. »Pass auf dich auf, Liebling«, sagte Mona, während sie sie auf die Wange küsste. »Ich gehe jetzt besser auch. So sollte man sie nicht fahren lassen.« Dann eilte sie Enid hinterher.

Die Krankenschwester gab Sandy ein Beruhigungsmittel, und sie verschlief das Abendessen und sogar die abendliche Visite.

Sandy war voller Schuldgefühle. Es ging nicht nur darum, dass sie den Namen Jennifer mochte, und sie hatte bestimmt nichts gegen den Namen Sarah. Es war nur so, dass sie ihr Kind nicht nach Samuel D. Pressman benennen wollte, benennen konnte. Sam Pressman hatte Sandy nie mit ihrem Namen angesprochen. Er hatte Mädchen oder du zu ihr gesagt, nicht ohne Zuneigung, aber auch nicht besonders interessiert. Samuel David Pressman, der Besitzer von Pressman’s Trockenreinigung, einer Kette von vier Läden in Plainfield, Roselle und New Brunswick, machte sein Geschäft mit ›Black is Beautiful‹, indem er den Slogan mit dem Zusatz ›in frisch gereinigten und gebügelten Kleidern‹ versah. Und im Schaufenster jedes Ladens schlief ein Dobermann als kleiner Hinweis für Einbrecher, dass sie ihren Geschäften besser andernorts nachgehen sollten.

Zwei Monate nach Sams Beerdigung beschloss Enid, ihre Vereine, ihre Gabelfrühstücke, ihre Einkaufsbummel bei Loehman und ihre nachmittäglichen Mah-Jongg-Spiele um des Geschäftes willen aufzugeben. »Ich kann doch schließlich nicht von meinem Jungen erwarten, dass er das alles allein macht, oder?« Und sie setzte sich selbst als Geschäftsführerin der Filiale in Plainfield ein, wobei sie Norman freie Hand ließ, das Geschäft auszubauen und Verbesserungen durchzuführen. Das tat er auch. Er hatte in jenem Jahr drei weitere Filialen eröffnet und seitdem weitere vier. Er steckte immer bis zu den Ellbogen in einer neuen Weiterentwicklung.

Sandy saß an jenem grauen Novembernachmittag im Jahre 1963 unter der Trockenhaube des Friseursalons Coiffure Elegante im Zentrum von Plainfield und ihr Kopf war mit riesigen blauen Lockenwicklern bedeckt, die nach einer Stunde die locker fallende Frisur der Frau zurücklassen sollten, der sie so ähnlich sah. Sie blätterte mit den Fingerkuppen die Seiten der neuesten Ausgabe von Vogue um und achtete dabei auf den frisch aufgetragenen Nagellack, als die Nachricht im Radio kam. Sandy wusste nicht, was los war, da sie unter der Trockenhaube nichts hören konnte, doch plötzlich liefen alle aufgeregt durcheinander. Sie schob die Trockenhaube nach oben. »Was ist passiert?«

»Auf den Präsidenten ist geschossen worden!«

»Ist es ernst?«

»Es sieht danach aus.«

»O Gott!«

Die anderen Frauen zogen sich die Trockenhauben wieder über die nassen Köpfe. Nicht so Sandy. Sie sprang auf und stieß den kleinen Manikürtisch um. Winzige Fläschchen mit Nagellack fielen auf den Boden. Sie rannte durch den Laden zu dem Hinterzimmer, in dem ihr Mantel hing, und als sie aus der Tür stürzte, waren die letzten Worte, die sie hörte, die ihrer Nachbarin: »Alex, könnten Sie links etwas straffer anziehen, weil diese Locke schon am nächsten Tag immer runterfällt …«

Sandy fuhr eilig nach Hause, stürzte ins Haus und fand Bucky, der sich auf dem Sofa an Mazie kuschelte, auf deren Schoß das Baby schlief. Der Fernseher war angestellt. »Oh, Mrs. Pressman«, schrie Mazie, »der Präsident ist tot! Er ist in den Kopf geschossen worden. Gott steh uns bei, unser Präsident ist tot!«

Bucky streckte seine Finger wie eine Waffe aus. »Peng, peng, der Präsident ist tot!« Er betrachtete Sandy aufmerksam. »Du siehst komisch aus, Mommy … wie ein Mondmensch.«

Sandy nahm ihn auf den Arm und weinte in seine warmen, duftenden Haare, ging dann in ihr Zimmer, zog die Lockenwickler aus ihrem Haar, holte ihr schwarzes Kleid und die Schuhe heraus, grub den schwarzen Schleier aus, den sie bei Sams Begräbnis getragen hatte, und legte Trauerkleidung an.

»Was, zum Teufel, soll das heißen?«, fragte Norman, als er nach Hause kam und Sandy ganz in Schwarz vorfand.

»Ich sitze Schiwe für den Präsidenten.«

»Bist du verrückt?«

»Nein.«

»Du hast nicht Schiwe gesessen, als mein Vater gestorben ist.«

»Das hat nichts miteinander zu tun.«

»Außerdem sind die Kennedys katholisch!«

»Na und?«

»Ich glaube, diesmal hat du wirklich eine Schraube locker. Ich glaube, du bist nicht mehr ganz dicht.«