Im unwahrscheinlichen Fall - Judy Blume - E-Book

Im unwahrscheinlichen Fall E-Book

Judy Blume

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Beschreibung

Wenn ein Moment das ganze Leben ändert

1952: Die 15-jährige Miri Ammermann wächst wohlbehütet im Städtchen Elizabeth, New Jersey, auf. Ihr Vater hat sich zwar früh aus dem Staub gemacht, aber ihre liebevolle und kämpferische Mutter, ihre weise Oma, ihre beste Freundin Natalie und all die anderen Menschen in ihrem Umfeld stehen ihr bei ihren Schritten ins Erwachsenenleben zur Seite. Als sie ihre erste große Liebe Mason kennenlernt, scheint das Glück perfekt zu sein. Doch dann stürzt ein Flugzeug ab, und nichts ist mehr, wie es war.

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Seitenzahl: 607

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Das Buch

Miri Ammerman kehrt anlässlich eines Gedenktages in ihre Heimatstadt Elizabeth, New Jersey, zurück. Aber auch ohne Gedenktag könnte sie die erschütternden Ereignisse von damals nie vergessen …

1951: Die 15-jährige Miri wächst behütet ihm liebevollen Umfeld ihrer jüdischen Familie auf. Auf einer Party ihrer besten Freundin Natalie trifft sie Mason – die erste große Liebe in ihrem Leben. Doch schon bald wird ihr Glück durch fürchterliche Ereignisse überschattet: Innerhalb weniger Wochen stürzen mehrere Flugzeuge über Elizabeth ab und erschüttern die Stadt in ihre Grundfesten.

Atemberaubend atmosphärisch entfaltet Judy Blume vor dem Hintergrund tatsächlicher historischer Ereignisse ihren großen Roman: als Geschichte dreier Generationen von Familie, Freunden und Fremden, deren Leben für immer neu geschrieben wird.

»Eine wunderbar gefühlvolle Geschichte, deren Lektüre sich anfühlt wie ein Treffen mit einem lieben alten Freund.«

The Independent

Die Autorin

Judy Blume ist eine der bekanntesten und beliebtesten Autorinnen in den USA. Sie wuchs in Elizabeth, New Jersey, auf und erlebte die Flugzeugkatastrophen selbst mit. Ihre Romane »Zauber der Freiheit«, »Zeit der Gefühle« und, am erfolgreichsten, »Die Sommerschwestern« wurden allesamt internationale Bestseller. Insgesamt hat sie über 85 Millionen Exemplare verkauft, ihr Werk wird in 32 Sprachen übersetzt. Judy Blume hat drei mittlerweile erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Ehemann in Key West und New York.

JUDY BLUME

IM UNWAHRSCHEINLICHEN FALL

ROMAN

Aus dem Amerikanischen

von Sabine Lohmann

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel IN THE UNLIKELY EVENT bei Alfred A. Knopf, a division of Penguin Random House LCC, New York

Zitat aus »How High the Moon«, lyrics by Nancy Hamilton and music by Morgan Lewis, copyright © 1940, copyright renewed, by Chappell & Co., Inc. All rights reserved. Reprinted by permission of Alfred Music.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2015 by Judy Blume

Copyright © 2016 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Babette Mock

Covergestaltung: Eisele Grafik Design, MünchenCovermotiv: Rekha Garton / Trevillion Images

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-18293-9V003

www.heyne-verlag.de

Für George,

meinen Henry Ammerman

FÜNFUNDDREISSIG JAHRE SPÄTER

10. Februar 1987

Sie kann sich immer noch nicht entscheiden. Vielleicht einfach mal eine Münze werfen? Kopf, sie fährt, Zahl, sie bleibt. Warum ist sie nur so hin- und hergerissen? Was ist denn eigentlich los mit ihr? Eine innere Stimme sagt, das weißt du ganz genau.

Sie geht zu den Münzfernsprechern in der Abflughalle und ruft ihre fünfzehnjährige Tochter Eliza im Internat an, erreicht aber nur den Anrufbeantworter. Ist doch ein gutes Zeichen, sagt sie sich, dass Eliza so früh zum Unterricht gegangen ist. Sie kann ja noch mal anrufen, wenn sie angekommen ist – falls sie überhaupt hinfährt. Sonst eben von zu Hause aus.

Sie wägt noch immer das Für und Wider ab, als eine Stunde später der Flug nach Newark aufgerufen wird. Sie spürt Panik aufsteigen – Herzklopfen, trockene Kehle, Fluchtimpuls. Der Moment der Wahrheit. Sobald sie ins Flugzeug gestiegen ist, wird es kein Zurück mehr geben. Eine Hitzewallung überkommt sie. Verdammt, auch das noch. Schweiß sammelt sich zwischen ihren Brüsten. Sie streift den Mantel ab, atmet tief durch, nimmt ihre Tasche und geht zum Gate. Doch, sie wird nicht kneifen. Sie wird es tun.

Sobald sie ihren Platz eingenommen und den Gurt angelegt hat, überlegt sie, ob sie nicht besser eine Valium nehmen sollte, um den langen Flug zu verschlafen. Aber wann hat sie je im Flugzeug schlafen können? Der Typ neben ihr auf dem Fensterplatz lockert den Schlips, zieht sich eine Schlafmaske über. Kein Konversationsbedarf, das ist ihr ganz recht. Sie will schon nach ihrer Lektüre greifen, Die Herren der Insel, zieht aber stattdessen das edle ledergebundene Tagebuch hervor, das ihre Freundin Christina ihr zum Geburtstag geschenkt hat. Jede von ihnen ist gebeten worden, morgen etwas vorzulesen, ein paar persönliche Worte, ein Gedicht, eine Reminiszenz. Dies ist ihr einziger Eintrag.

Ist genug Zeit vergangen, verblasst es, und du bist dankbar.

Nicht, dass es jemals völlig verschwunden ist.

Es ist immer noch da, tief vergraben, ein Teil von dir.

Den Brandgeruch hast du nicht mehr in der Nase –

außer irgendjemand vergisst den Teekessel auf dem Herd.

Die Albträume sind weniger geworden.

Es gibt dringendere Themen für Träume und Sorgen,

die dich nachts wach halten.

Alternde Eltern, halbwüchsige Kinder, Arbeit, Geld,

der Zustand der Welt.

Das Leben geht weiter, wie deine Eltern schon sagten

in jenem Winter.

Das Leben geht weiter für die, die Glück gehabt haben.

Doch wir gehören immer noch einem Geheimclub an –

einem, dem wir nie freiwillig beigetreten wären,

mit Mitgliedern, die nichts gemeinsam haben,

außer eine Zeit und einen Ort.

Wir werden immer verbunden sein durch diesen Winter.

Wer etwas anderes behauptet, der lügt.

ERSTER TEIL

Dezember 1951

ELIZABETH DAILY POST

Strahlender Weihnachtsbaum

11. DEZ. (UPI) – Der 82 Fuß hohe Baum am Rockefeller Center erstrahlte gestern Abend in der Pracht seiner 7500 roten, weißen und grünen Lichter bei dem traditionellen Festakt, der jedes Jahr den Beginn der Weihnachtszeit einläutet. Die 2000-köpfige, dick eingemummte Zuschauermenge brach in Oh- und Ah-Rufe aus, als die Kerzen am Baum aufleuchteten. Der Rockefeller-Center-Chor ließ Weihnachtslieder erklingen, und Eisläufer wirbelten über die Schlittschuhbahn zu Füßen des Baums.

Zum ersten Mal wurde der Festakt landesweit im Fernsehen übertragen: in der Kate Smith Show auf NBC. Miss Smith verlieh dem Ereignis noch besonderen Glanz durch die fantastische Wiedergabe von Irving Berlins »White Christmas«. Bis zum 2. Januar wird der Baum jeden Tag von frühmorgens bis Mitternacht erleuchtet sein.

1

Miri

Miri Ammerman und ihre beste Freundin, Natalie Osner, lagen bäuchlings auf dem wolligen, graubraun gesprenkelten Teppichboden in Natalies Wohnzimmer und warteten auf die allererste Fernsehübertragung vom Aufleuchten des berühmten Weihnachtsbaums. Das Wohnzimmer war Miris Lieblingsraum in Natalies Haus, nicht zuletzt wegen des Fernsehers mit dem 17-Zoll-Bildschirm in dem Schränkchen aus hellem Holz. Miris Großmutter besaß auch ein Gerät, aber so ein kleines mit Hasenohren, und manchmal war das Bild verschneit. Im Wohnzimmer der Osners passten die Möbel alle zusammen, die beigen Sofas und Sessel waren um einen modernen dänischen Kaffeetisch gruppiert, darauf ein ordentlicher Stapel Zeitschriften – Life, Look, Scientific American, National Geographic. Eine Stofftasche mit Holzgriff, die Mrs. Osners neuestes Petit-Point-Projekt enthielt, lag auf einem der Sessel. Eine komplette Ausgabe der Encyclopaedia Britannica nahm drei Regalbretter der Bücherwand ein, zusammen mit gerahmten Familienfotos, darunter eins von Natalie im Ferienlager, in Reithosen auf einem schwarz glänzenden Pferd, mit einer Medaille in der Hand, und ein anderes von ihrer kleinen Schwester Fern auf einem Pony. In einer Ecke des Zimmers stand ein Tischchen mit einem Schachbrett; Natalies älterer Bruder Steve konnte Schach spielen, und manchmal waren er und Dr. Osner stundenlang in eine Partie vertieft.

Sie und Natalie sangen »White Christmas« zusammen mit Kate Smith, riefen Oh und Ah zusammen mit der Menge, mit dem ganzen Land, als der Baum erstrahlte und den Beginn der Weihnachtszeit verkündete.

Später erfuhr Miri, dass ihre Mutter sogar live dabei gewesen war, als eine von den zweitausend Zuschauern. Rusty erzählte Miri, sie sei so lange im Gedränge herumgeschubst worden, bis sie beschlossen hatte, dass es das nicht wert war, und wieder ging, um den nächsten Zug nach Elizabeth zu nehmen. Den Baum konnte sie ohnehin noch jeden Tag auf dem Heimweg von der Arbeit bewundern.

Für Miri war es der Geburtstag ihrer Mutter, der den Beginn der Feiertage bedeutete. Sie meinte immer, Rusty müsse als Kind doch enttäuscht gewesen sein, weil ihr Geburtstag so nah an Chanukka lag, aber Rusty versicherte, das habe ihn nur noch festlicher gemacht.

Dieses Jahr fiel Chanukka sogar mit Weihnachten zusammen. Miri hatte sich fest vorgenommen, mit dem Geschenkekaufen nicht bis zur letzten Minute zu warten, und doch war es nun schon Samstag, ein Tag vor dem Geburtstag ihrer Mutter, als sie sich endlich in die Stadt aufmachte, zu Nia’s Dessousboutique an der Broad Street. Miri wurde schon bald fünfzehn, aber weder sie noch ihre zweitbeste Freundin Suzanne Dietz waren je in Nia’s Dessousboutique gewesen. Allein schon bei dem Wort Dessous mussten sie loslachen. Es klang wie etwas, das Mrs. Osner in ihrem gedehnten Südstaatenakzent sagen würde, anstatt einfach bloß Unterwäsche. Unterwäsche war das, was Miri und Suzanne bei Levy Brothers kauften, einem der beiden Kaufhäuser in der Broad Street. Unterwäsche war aus weißer Baumwolle. Aber Dessous waren etwas ganz anderes. Nicht, dass es in Nias Schaufenster irgendetwas Anrüchiges gegeben hätte. Kein Büstenhalter oder Straps in Sicht. Und auch nichts in Schwarz. Dunkelblau war schon das Äußerste. Aber wer wusste, was man drinnen finden würde? Miri hatte eine Anzeige aus der Daily Post ausgeschnitten: ZUM FEST BESCHENKE SIE MIT NYLONJERSEY VON VANITY FAIR. Nylonjersey war ihr zwar kein Begriff, aber in der Anzeige von Nia’s war ein Unterrock für 3 Dollar 99 abgebildet, der sicher etwas für ihre Mutter wäre.

Ein kurzes Bimmeln ertönte, als Miri und Suzanne den Laden betraten. Drinnen herrschte ziemlicher Betrieb, aber nicht wie um diese Jahreszeit bei Levy’s oder Goerke’s, dem anderen Kaufhaus in der Stadt.

Die Kundinnen – Männer waren keine zu sehen – sprachen mit gedämpften Stimmen. Ein kleiner weißer Weihnachtsbaum, üppig mit Lametta geschmückt, stand auf dem Tresen. Satinpantoffeln und zarte Bettjäckchen in Pastellfarben waren um ihn herum ausgelegt. Wer trug denn Bettjäckchen? Rusty hatte einen flauschigen Bademantel und zwei Flanellnachthemden für den Winter und einen Pikee-Morgenrock und mehrere dünne Baumwollnachthemden für den Sommer. Vielleicht trugen Filmstars Bettjäckchen, wenn sie ihr Frühstück im Bett serviert bekamen. Aber in Elizabeth, New Jersey, gab es keine Filmstars. Selbst Mrs. Osner besaß kein Bettjäckchen. Und wenn, hing es nicht in ihrem Schrank, denn Miri hatte diesen Schrank schon hundertmal durchkämmt, seit sie und Natalie vor zwei Jahren beste Freundinnen geworden waren. Miri und Suzanne machten immer noch einen Babysitterjob zusammen und aßen jeden Tag am selben Cafeteriatisch zu Mittag – nur beste Freundinnen waren sie nicht.

»Womit kann ich dienen?«, fragte eine hübsche junge Verkäuferin.

»Sind Sie Nia?« Das hatte Miri gar nicht sagen wollen. Es war ihr einfach so rausgerutscht.

»Ich bin Athena, ihre Tochter. Was darf ich Ihnen denn heute zeigen?«

Athena – Miri kannte keine, die Athena hieß. So ein exotischer Name. War Athena nicht die griechische Göttin der Weisheit, der Künste und was noch, des Krieges? Ihr Buch über griechische Mythologie in der Fünften hatte sie geliebt. Onkel Henry hatte es ihr geschenkt. Jeden Abend hatten sie sich gegenseitig daraus vorgelesen.

»Suchen Sie irgendwas Besonderes?«, fragte Athena.

Da Miri nicht antwortete, stupste Suzanne sie an.

»Es ist für den Geburtstag meiner Mutter«, sagte Miri rasch, »und ich dachte, vielleicht ein Unterrock aus Nylonjersey.«

Noch ehe Miri die Anzeige hervorholen konnte, sagte Athena: »Ich habe genau, was Sie suchen. Welche Größe trägt Ihre Mutter denn?«

»S oder M, je nachdem.«

»Tatsächlich, S?«, meinte Athena verwundert, als könnte eine Mutter unmöglich S tragen.

»Sie ist eins zweiundsechzig, zweiundfünfzig Kilo.« Miri wusste alles über ihre Mutter, jede Einzelheit aus ihrem Leben, außer einer, aber darüber wollte sie heute nicht nachdenken.

Athena holte ein paar Unterröcke hervor und hielt einen davon hoch. Von Vanity Fair, 3 Dollar 99. »Das ist der aus Nylonjersey. Fühlen Sie mal, wie weich das Material ist. Es lädt sich nicht auf.« Sie legte einen in Größe S auf den in M, um Miri den Unterschied zu zeigen.

»Meine Mutter trägt M«, raunte Suzanne. »Und sie ist größer als deine Mom.«

»Dann nehmen Sie doch S«, riet Athena Miri. »Sie kann ihn ja notfalls umtauschen. Welche Farbe? Wir haben ihn in Weiß, Rosa und Marineblau.«

»Sie arbeitet in New York«, sagte Miri. »Sie trägt meistens dunkle Farben, besonders im Winter. Also am besten marineblau.«

»Eine ausgezeichnete Wahl«, meinte Athena. »Darf ich Ihnen noch etwas anderes zeigen?«

»Ich brauche auch noch ein Geschenk für sie zu Chanukka, aber –«

»Chanukka ist wie Weihnachten«, warf Suzanne ein.

»Ja, natürlich«, sagte Athena.

Miri warf Suzanne einen Blick zu. Was sollte das denn wieder? Nichts tat Suzanne lieber, als mit den jiddischen Begriffen um sich zu werfen, die sie von Miris Großmutter aufgeschnappt hatte. Suzanne wusste weit mehr über Chanukka als Miri über Jesus.

»Ich kann nicht so viel ausgeben«, sagte Miri zu Athena. Sie und Suzanne hatten das Geld vom Babysitten extra fürs Geschenkekaufen gespart. Und sie hatten schon zusammengelegt, um den kleinen Schwestern, die sie betreuten, eine Schachtel mit Fingerpuppen zu kaufen. Die Mädchen würden begeistert sein, aber wenn sie so weitermachte, würde Miri ihre Liste nie schaffen.

»Wie wär’s mit Strümpfen?«, schlug Athena vor. »Davon kann man nie zu viele haben, vor allem, wenn man arbeiten geht.«

»Aber Strümpfe sind so langweilig.« Miri wandte sich zu Suzanne um. »Findest du nicht auch?«

»Ich weiß nicht«, sagte Suzanne. »Ich wollte meiner Mutter eigentlich Strümpfe zu Weihnachten schenken.«

Miri ruderte zurück. »Ich meine ja auch nicht, dass es keine gute Idee ist.« Suzannes Mutter war Krankenschwester. Sie trug weiße Strümpfe zu ihrer Uniform. Aber Suzanne wählte drei Paar neue Nahtlose in »Dubonnet Blond«, hübsch verpackt und mit einer roten Schleife verziert.

Dann strich Suzanne den Namen ihrer Mutter aus ihrer alphabetisch geordneten Geschenkliste. Miris Liste befand sich in ihrem Kopf und war alles andere als geordnet. Aber wenigstens hatte sie jetzt ein schönes Geburtstagsgeschenk für Rusty. Immerhin etwas.

»Ich hoffe, Sie beehren uns bald wieder«, sagte Athena lächelnd.

»Ganz bestimmt«, antwortete Miri.

Dann wisperte sie Suzanne zu: »Nächstes Mal kaufen wir Dessous.« Suzanne lachte laut los, als sie aus der Ladentür in den kalten Wind hinaustraten, der ihnen nadelfeine Eiskristalle vom gestrigen Schneesturm entgegenblies.

Rusty

Daheim in der Sayre Street hatte Rusty Ammerman schon das Staubsaugen und die Wäsche erledigt. Das Doppelhaus besaß einen kleinen, gepflegten Vorgarten und war unterteilt in eine obere Wohnung, wo sie mit Miri lebte, und eine untere, wo ihre Mutter, Irene, mit Rustys Bruder Henry lebte. Aber die Wohnungstüren waren nie abgesperrt, und Miri verbrachte ebenso viel Zeit bei Irene wie bei sich und Rusty.

Rusty wickelte gerade noch die letzten Chanukka-Geschenke für Miri ein. Das Lanz-Nachthemd hatte ganz oben auf Miris Wunschzettel gestanden, nicht, dass Miri es ihr extra gesagt hätte, Rusty wusste es auch so. Alle Mädels trugen Lanz-Nachthemden, wie sie auf dem Foto von Natalies Pyjamaparty gesehen hatte – alle außer Miri, die betreten dreinschaute in ihrem einfachen Schlafanzug.

Die weißen Angorafäustlinge mit Lederhandflächen waren nicht eingeplant gewesen, aber sie hatte nicht widerstehen können, als sie sie vorige Woche bei Goerke’s im Schaufenster gesehen hatte. Miri liebte Angora. Das Zweitbeste, sagte sie immer, wenn man schon kein Haustier haben durfte. Ein Hund oder eine Katze kamen in der kleinen Wohnung nicht infrage. Tagsüber war keiner da, und Irene wollte nichts damit zu tun haben. Als Kind hatte Rusty um einen Hund gebettelt, als sie in der Westfield Avenue in einem Einfamilienhaus mit Garten gewohnt hatten, unweit des Feinkostladens ihres Vaters, Ammerman’s Fine Food Emporium.

»Wir haben doch schon eine Katze im Geschäft«, hatte ihre Mutter gesagt. »Du kannst immer mit Schmaltzie spielen, wenn du Lust hast.«

»Schmaltzie ist fett und fängt Mäuse«, hatte Rusty gesagt.

»Das ist sein Job«, erklärte ihr Vater. »Er mag aber trotzdem spielen.«

»Ich will aber eine andere Katze«, sagte Rusty. »Eine, die bei uns zu Hause lebt, oder einen Hund. Ein Hund wäre noch besser.«

Aber dann brach der Markt zusammen, und in der darauf folgenden Wirtschaftskrise war an ein Haustier nicht mehr zu denken.

Rusty versteckte die eingewickelten Geschenke in ihrem Schrank, ganz hinten im obersten Fach; nicht, dass Miri noch danach stöbern würde, aber irgendwie machte es ihr Freude.

Nun, da sie die Hausarbeit für die Woche hinter sich hatte, wollte sie sich ein langes, heißes Bad gönnen. Während das Wasser in die klauenfüßige Wanne lief, suchte Rusty sich bedächtig ihr Badesalz aus. War sie in der Stimmung für Lavendel, Vanille, Moschus? Ja, Moschus, um sich daran zu erinnern, dass sie erst dreiunddreißig wurde. Sie war noch jung. Es war noch nicht zu spät. Sie stieg in das dampfende Bad und ließ sich langsam tiefer gleiten.

Irene

In der Parterrewohnung goss Rustys Mutter, Irene Ammerman, eine Flasche Harvey’s Bristol Cream in eine Kristallkaraffe, ein Willkommensdrink für die Kundinnen, die sie am Nachmittag scharenweise bei sich zu empfangen hoffte, auch wenn es draußen immer frostiger wurde.

Bevor Henry zur Arbeit in der Daily Post-Redaktion aufgebrochen war, hatte er ihren großen Esstisch auf die volle Länge ausgezogen. Sie hatte eine Tischdekoration mit fluffigen Wattebällchen kreiert, weiß wie frisch gefallener Schnee, die Volupté-Puderdosen hübsch dazwischen drapiert und alles mit glitzernden Flocken bestreut. Die Produktlinie dieses Jahr hatte für jeden Geschmack etwas zu bieten. Wenn eine Kundin Glitzersteine auf der Puderdose wollte, gab es Glitzersteine. Ob eine Dame Goldakzente auf Mattsilber vorzog oder mehr für schlichte Eleganz war, es gab jede Menge Auswahl. Die Ronson-Feuerzeuge, ihre zweite Produktlinie, stellte sie in kleinen Gruppen auf, von den bauchigen silbernen Tischfeuerzeugen bis hin zu den flachen, rechteckigen Modellen für die Jackentasche. Bis zum Fest blieb sogar noch Zeit, die Ronsons gravieren zu lassen.

Gestern hatte sie viel Geld ausgegeben für Waschen, Legen und Maniküre in Connie’s Beauty Salon. Sie musste so elegant aussehen wie die Geschenke, die sie zu verkaufen hoffte. Präsentation war alles. Die Familienfotos, die sonst auf dem Sideboard standen, kamen auf das Spinett, um Platz zu machen für ihre berühmten Kuchen. Sie drückte Miris Foto kurz an die Lippen und stellte es neben das von Max, ihrem Mann, der zwei Wochen vor Miris Geburt gestorben war. Es war alles so unglaublich schnell gegangen: Rusty wurde achtzehn, Max starb, Miri kam auf die Welt. Sie war damals einundvierzig und in einem Monat Witwe und Großmutter geworden.

Aller guten Dinge sind drei, aber aller schlechten auch, wie Cousine Belle zu sagen pflegte, doch Irene konnte nichts Schlechtes dabei finden, dass Rusty mit achtzehn ein Baby bekam. Die Umstände waren nicht ideal, das Baby, Miri, war jedoch eine reine Freude, mit ihren niedlichen Grübchen und den hohen Wangenknochen ihres Großvaters. Keine Schönheit wie Rusty, noch nicht, aber langsam wuchs sie schon zu einer markanten Persönlichkeit heran. Die Augen – wo die herkamen, wusste Irene genau, aber sie behielt es für sich. Sie konnte nur hoffen, niemals mehr mit dem Mann zusammenzutreffen, der für diese Augen verantwortlich war. Und wenn doch, wäre sie zu allem fähig. Aber wenn sie noch länger an ihn dachte, würde sie eine Nitro unter der Zunge brauchen. Sie streifte die Hände am Rock ab, als wollte sie die bösen Gedanken vertreiben, und schenkte sich ein Gläschen Sherry ein.

Rusty kam herunter, um zu helfen. Irene wirkte sehr smart in ihrem schlichten grauen Wollkleid mit weißem Kragen. Sie gab sich charmant, plauderte mit den Kundinnen, bot den wenigen Ehemännern, die ihre Frauen begleiteten, ein Glas Sherry an, und den Frauen ebenfalls. »Der wird Sie aufwärmen«, sagte sie immer wieder. Beherrschte irgendjemand dieses Spiel besser als ihre Mutter? Das konnte Rusty sich nicht vorstellen. Irene hatte ihr mal anvertraut, dass sie in ihrer Jugend die Gelegenheit gehabt hatte, in die Familie einzuheiraten, die Volupté lanciert hatte. Doch ihre Eltern hatten Max Ammerman für die bessere Partie gehalten. Er war fünfzehn Jahre älter und besaß schon ein eigenes Geschäft. Hätte sie den Volupté-Jungen geheiratet, würde sie sich jetzt die Nase in den besten Clubs pudern, statt zu Hause Puderdosen zu verkaufen.

Es war noch früh am Nachmittag, doch es sah bereits so aus, als ob Irene einen guten Umsatz machen würde. Rusty füllte das Sortiment aus Irenes Schrank auf, kassierte das Geld, gelegentlich auch einen Scheck, und half beim Geschenkeverpacken. Als das Telefon klingelte, entschuldigte sie sich kurz und nahm den Hörer ab.

»Irene?«

»Nein, ich bin ihre Tochter, Rusty.«

»Oh, Rusty, meine Liebe, ich habe Sie ja ewig nicht mehr gesehen. Hier ist Estelle Sapphire aus Bayonne. Ich kann heute nicht nach Elizabeth kommen. Ich packe gerade für Florida, und ich hatte gehofft, Irene könnte mir sechs Puderdosen zurücklegen. Mein Mann holt sie morgen auf dem Rückweg vom Flughafen ab. Er bringt mich zum Flieger und kommt mit dem Wagen nach Miami nach.«

Glückliche Mrs. Sapphire, dachte Rusty, dass sie diesem Wetter entkommen konnte. Sie selbst nahm ihren Urlaub stets im Sommer, damit sie mit Miri an den Strand gehen konnte.

»Irgendein spezielles Design?«, fragte Rusty.

»Nein, meine Liebe. Was Irene für richtig hält.«

»Und preislich?«

»So mittel. Ich wollte sie nur haben, falls ich jemandem etwas schenken möchte, einer gute Friseuse, einem freundliches Zimmermädchen. Als kleine Geste, Sie wissen schon.«

»Natürlich«, sagte Rusty. »Ich werde sie gleich für Sie zurücklegen.«

»Danke, Rusty. Bitte grüßen Sie Irene von mir.«

»Ja, gern.« Sie legte den Hörer auf.

»Rusty, Schätzchen«, sagte Irene und drückte ihr vier Puderdosen und zwei Ronsons in die Hand. »Kannst du die hier mal für Mrs. Delaney einwickeln? Rotes Geschenkband.«

Rotes Geschenkband war der Code für Weihnachten, nicht Chanukka; dafür war blaues Geschenkband vorgesehen.

Rusty kannte Mrs. Delaneys Sohn, einen gut aussehenden Mann, der in der Bankfiliale in der Elmora Avenue arbeitete. Er flirtete immer mit ihr. Manchmal flirtete sie zurück, nur um nicht aus der Übung zu kommen, obwohl sie wusste, dass er verheiratet war und Vater von vier Kindern. Und obendrein katholisch.

Steve

Ein paar Häuserblocks entfernt vom Martin Building, in dem Steve Osners Vater seine Zahnarztpraxis hatte und wo man einen super Burger im Three Brothers Luncheonette bekam, spielte Steve Osner im YMHA, dem jüdischen Jugendclub, Basketball mit seinem besten Freund, Phil Stein, der wie er in der Oberstufe der Thomas Jefferson High war. Ein paar von den Jungs, die immer dort abhingen, hatten sich zu einem improvisierten Match zusammengefunden, und einer von ihnen musste wohl diesen Mason McKittrick mitgebracht haben. Der Bursche schien ganz okay zu sein, auch wenn er einer aus der Unterstufe war, und werfen konnte er wie der Teufel. »Du solltest nächstes Jahr ins Team eintreten«, riet ihm Steve.

»Ich geh nach der Schule arbeiten«, sagte Mason, »bei Edison Lanes – da bleibt nicht viel Zeit zum Training.«

»Du stellst Kegel auf?«

»Ja, und sonst noch alles Mögliche, wenn viel los ist.«

»Dann halt ich mal nach dir Ausschau, wenn wir nächstes Mal zum Bowling gehen.«

Mason nickte.

In der Umkleide fragte Steve Phil: »Kommst du mit auf einen Burger?«

»Nee, geht nicht – meine Mutter hat sicher das Essen im Ofen stehen.«

»Na gut, aber dann komm später noch vorbei.«

»Hast du was geplant?«

»Sag bloß, du hast es vergessen?«

»Was denn?«

»Na, die Party von meiner Schwester.«

»Wir sollen auf die Party von deiner Schwester?«

Steve zog ihm eins mit dem feuchten Handtuch über. »Meine Mutter will, dass ich da den Anstandswauwau mache, damit nichts passiert. So ein Schwachsinn! Weißt du noch, was da los war, in der Neunten? Zum ersten Mal so richtig gefummelt?«

»Du hattest uns schon immer was voraus«, meinte Phil.

Wenn das nur immer noch so wäre, dachte Steve. Viele Jungs gaben damit an, wie weit sie bei ihren Freundinnen gehen durften – anfassen und anschauen. Angefasst hatte Steve auch schon, aber keine hatte ihn hinschauen lassen. Er hatte auch keine feste Freundin. Vielleicht hatte er ja die Richtige noch nicht getroffen. Er kannte Mädchen, die einen zu sich nach Hause einluden, um auf dem Sofa rumzuknutschen, aber weiter ging es nie. Wenn sie gemischte Klassen hätten, wäre es sicher einfacher. Ihre Stadt war die einzige in New Jersey, wo es noch Geschlechtertrennung an den öffentlichen Highschools gab, Jefferson für die Jungen, Battin für die Mädchen.

»Ich stell einen Kartentisch in der Waschküche auf«, sagte er zu Phil. »Dann können wir pokern. Bist du dabei?«

»Warum nicht?«, meinte Phil.

Mason schwieg.

»Weißt du, was sie auf ihren Partys machen?«, sagte Steve.

»Wer?«

»Mann, Phil, meine Schwester und ihre Freunde! Wer denn sonst?«

»Keine Ahnung.«

»Sie spielen Bäumchen wechsle dich, die Kleinen, knutschen nach Zufallsprinzip. Wenn das keine Vorstufe von Sex ist!« Mit Phil darüber zu feixen war eine Sache, aber wehe, wenn er jemand dabei erwischte, dass er seine Schwester betatschte, den würde er in Stücke reißen. Und das galt auch für Natalie und Fern. Die Männer der Familie mussten die Frauen beschützen. So war das nun mal, ob es den Frauen passte oder nicht. Es ging um die Familienehre. Keiner hatte ihm das so gesagt, aber er begriff, was seine Mutter von ihm erwartete. Ein Ehrenmann zu sein. Zum Glück hatte er noch zehn Jahre, ehe er sich um Fern Gedanken machen musste, sie ging ja erst in den Kindergarten. In zehn Jahren wäre er fast achtundzwanzig, sicher schon verheiratet, hätte vielleicht selbst Kinder. Was für eine gruselige Vorstellung.

»Wann soll’s denn heute Abend losgehen?«, fragte Phil.

»Gegen acht.«

»Also, bis dann.« Phil drehte sich zu Mason um. »Soll ich dich nach Hause fahren? Ich bin mit dem Auto da.«

»Ja, klar«, sagte Mason. »Ich muss nur noch schnell meinen Hund beim Hausmeister abholen.«

Steve war auch mit dem Auto da, fuhr aber in eine andere Richtung.

Mason

Phil nahm Mason nach Hause mit und stellte ihn und seinen Hund Fred den Eltern vor. Seine Mutter war ganz hingerissen von Fred und kraulte ihn hinter den Ohren. »Ja was bist du denn für ein Süßer«, sagte sie zu dem Hund, der den Kopf schief legte und zu ihr aufsah. »Ich vermisse meinen Hund Goldie immer noch«, sagte sie an Mason gewandt.

Beim Essen saß Fred mit hoffnungsvoller Miene zu Mrs. Steins Füßen. Von Goldie war nicht mehr die Rede, und Mason fragte auch nicht nach.

Phils Vater war irgendein wichtiger Manager. Er und Phil redeten beim Roastbeef über Football. Sie waren Fans der New York Giants und hatten Karten für das morgige Spiel, das letzte der Saison, gegen die New York Yanks.

»Bist du auch Football-Fan?«, fragte Phils Vater Mason.

»Jawohl, Sir.«

»Und von welchem Team?«

»Von Ihrem, Sir. Den New York Giants.«

»Bravo!«, sagte Phils Vater mit einem breiten Grinsen und klopfte mit der Gabel an sein Glas.

Mason war eigentlich Baseball-Fan, aber das behielt er lieber für sich.

Als es Zeit war aufzubrechen, nahm Mrs. Stein Fred auf den Arm. »Es ist zu kalt draußen für so einen süßen kleinen Kerl. Er kann ruhig über Nacht hierbleiben«, bot sie Mason an. »Du kannst ihn ja morgen wieder abholen.« Fred winselte nicht, er lief nicht einmal mit zur Tür, als Mason mit Phil hinausging.

Natalie

Das Haus der Osners befand sich in der Shelley Avenue, gegenüber der School No. 21, Natalies ehemaliger Grundschule.

»Ich versteh überhaupt nicht, wieso Steve heute Abend den Anstandswauwau spielen muss«, beschwerte sie sich bei ihrer Mutter. »Was soll denn schon passieren? Du kennst die doch alle. Ich geh seit der siebten Klasse mit denen zur Schule. Die waren doch schon tausendmal hier.«

»Jungs schlagen gern mal über die Stränge«, entgegnete ihre Mutter, und wie immer, wenn sie ihren Standpunkt verteidigen musste, färbte ihr Südstaatenakzent noch stärker durch. »Und in den Ferien sind die doch außer Rand und Band. Ich will keinen Ärger. Ich bin den anderen Eltern gegenüber verantwortlich.«

»Aber ihr seid doch schließlich nicht außer Haus, ihr schaut im Wohnzimmer fern.«

»Steve wird gar nicht weiter auffallen.«

»Dir ist doch klar, dass du mir meine Party verdirbst.«

»Ihr werdet nicht mal merken, dass er da ist. Er bleibt ganz diskret in der Waschküche.«

»In der Waschküche?« Natalie hätte fast aufgelacht. Die Waschküche lag neben dem Partykeller.

»Mit ein paar von seinen Freunden.«

»Was? Ich will seine Freunde nicht auf meiner Party!«

»Wie gesagt, ihr werdet sie gar nicht bemerken.«

»Aber ich weiß es. Ich kann nur hoffen, dass meine Freunde es nicht rausfinden. Wenn Daddy da wäre, würde er das verstehen.«

»Ich bin sicher, dein Vater wäre meiner Meinung.«

»Das glaub ich kaum. Und sieh bitte zu, dass Fern oben bleibt. Das Letzte, was ich brauchen kann, ist Fern mit ihrem Cowboyhasen. Es ist schwer genug, fünfzehn zu sein, ohne dass die Familie alles noch schlimmer macht.«

»Du bist noch keine fünfzehn, Natalie Grace Osner.«

»Aber bald, wenn ich nicht vorher vor Scham sterbe.«

Kurz bevor die Party losging, kam Natalie in die Waschküche gefegt, wo Steve gerade den Kartentisch aufstellte. »Wehe, du vergraulst mir meine Gäste mit deinen blöden Witzen!«

»Deine Freundinnen stehen doch auf meine Witze.«

»Lass die Finger von meinen Freundinnen!«

Steve lachte. »Als ob die mich interessieren würden.«

»Du bist nur drei Jahre älter als ich. Das Mädchen, das du später heiraten wirst, ist heute wahrscheinlich erst so alt wie Fern.«

»Uiii! Ob sie wohl auch einen Schmusehasen hat?«

Hätte Natalie eine Flasche Cola zur Hand gehabt, dann hätte sie sie geschüttelt und Steve ins Gesicht gesprüht. So konnte sie sich nur umdrehen und davonrauschen.

Ruby

In Sunnyside, Queens, verwöhnte Ruby Granik sich gerade mit einer Gesichtsmaske aus grauer Tonerde. Um die Haare hatte sie ein Handtuch geschlungen. Sie gab acht, dass die Tonerde nicht auf ihren Bademantel tropfte. Ihr Koffer lag offen auf dem Bett, obenauf eine hellrosa Strickjacke mit Perlmuttknöpfen.

Ihre Familie würde heute Abend Weihnachten feiern, zehn Tage früher als üblich, weil sie morgen nach Miami fliegen musste, um im Vagabond Club am Biscayne Boulevard zu tanzen. Zuvor war sie im Café Society in New York aufgetreten, und auf die Gage wartete sie immer noch.

Ihre Geschenke für die Eltern waren schon eingewickelt, es fehlte nur noch das Geschenkband. Ihre Mutter sollte die gleiche rosa Strickjacke bekommen wie die ihre, nur größer, sie trug immer gern die gleichen Sachen wie Ruby; vielleicht, weil sie ein Zwilling war? Als Ruby klein war, hatte ihre Mutter ihnen immer Mutter-Tochter-Kleider genäht. Doch an dem Tag, als sie zehn wurde, hatte Ruby gestreikt. »Ich bin nicht dein Zwilling!«

»Das weiß ich, Ruby. Du bist meine Tochter.«

»Ich will nicht dieselben Sachen anziehen wie du.«

»Gut, wenn du nicht willst, dann musst du auch nicht.«

»Du und Tante Emmy, ihr könnt dieselben Sachen anziehen. Ihr seid Zwillinge.«

»Ja, aber wir sind erwachsen, und da ziehen wir nur noch dieselben Sachen an, wenn wir auf Familienfeste gehen.«

Komisch, inzwischen machte es ihr nichts mehr aus, die gleichen Sachen für sich und ihre Mutter zu kaufen, da ihre Mutter es so schwer hatte und ihr dieses Mutter-Tochter-Ding solche Freude machte. Für ihren Vater hatte sie ein Vergrößerungsglas in einem Lederetui. Ihr Vater hatte Diabetes und saß im Rollstuhl, seit ihm im August ein Fuß amputiert worden war, und nun hatten sich auch noch seine Augen verschlechtert. Ihre Mutter hatte ihren Job aufgeben müssen, um sich um ihn zu kümmern. Ruby war ihre einzige Stütze. Nicht, dass sie viel beitragen konnte, aber das würde sich ja nun hoffentlich bald ändern.

Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre Eltern in den Weihnachtstagen allein ließ. Aber ihre Tante würde aus New Jersey kommen, aus Elizabeth, wo sie und ihre Mutter aufgewachsen waren und im Kirchenchor gesungen hatten. Die singenden Konecki-Zwillinge. Emmy und Wendy. Ihre Eltern stritten sich ununterbrochen, und Tante Emmys Anwesenheit würde helfen, die Wellen zu glätten; ihr Vater mochte Emmy. Er nannte sie den vernünftigen Zwilling.

Von unten hörte sie ihre Mutter rufen. »Ruby … soll ich dir schnell noch deine weiße Bluse bügeln?«

»Nein danke, Mom, das mach ich später. Ich hab noch mehr Sachen zu bügeln.«

»Komm, bring sie runter, das mach ich doch gern.«

Ruby raffte ein Paar Shorts und zwei Röcke zusammen, dazu eine schulterfreie Bluse, und lief die Treppe hinab, als die Türklingel läutete. Sie öffnete die Tür, es war Dana, Rubys beste Freundin, auch eine Tänzerin.

»Na, du siehst ja aus!«, meinte Dana und grinste, was Ruby daran erinnerte, dass sie noch die Gesichtsmaske trug.

»Dana, Sie müssen ja halb erfroren sein«, meinte Rubys Mutter, die eilig hinzugekommen war. »Wie wär’s mit einem schönen heißen Tee? Oder Kaffee?«

»Nein danke«, sagte Dana lächelnd. »Ist schon gut.«

Sie folgte Ruby die Treppe hinauf.

»Sieht ja schon alles reisefertig aus«, meinte Dana.

»So gut wie. Ich war eben noch am Geschenkeeinwickeln.«

»Gib mir mal das Geschenkband, ich mach’s fertig, dann kannst du dir das Zeug vom Gesicht waschen gehen. So kann ich dich nicht auf einen Abschiedsdrink mitnehmen.«

»Wir gehen auf einen Drink?«

»Jawohl.«

Ruby reichte Dana das rote und grüne Geschenkband. »In zehn Minuten können wir los. Hauptsache, ich bin zum Essen wieder da. Bleib doch auch zum Essen. Meine Mutter macht Piroggen.«

»Hmm! Ich liebe die Piroggen deiner Mutter.«

»Sie wird sich freuen. Tante Emmy kommt aus Elizabeth.«

»Mit dem feschen Onkel Victor?«

»Ich fürchte, der fesche Feuerwehrmann muss zu Hause bleiben. Er hat Bereitschaftsdienst. Außerdem ist er alt genug, dein Vater zu sein.«

»Ich mag ältere Männer.«

»Mein Onkel ist aber tabu.«

»Als ob ich das nicht wüsste.«

Arm in Arm liefen sie zu Billy’s Ecklokal, wo sie sich in eine Nische setzten. Rubys Haut schimmerte rosig. Ohne Make-up wäre sie glatt als Schulmädchen durchgegangen.

»Was darf ich den jungen Damen bringen?«, fragte Billy. Billy war kahl, klein und dickbäuchig, aber fix auf den Beinen.

»Zwei heiße Rum-Toddies«, sagte Dana.

»Mit Vergnügen, obwohl keine von euch beiden Schönheiten alt genug dafür aussieht, dass es erlaubt wäre.« Billy kannte Rubys Familie länger, als sie auf der Welt war, und wusste, dass sie im Sommer zweiundzwanzig geworden war, kurz vor der Operation ihres Vaters. Billy wusste so gut wie alles über ihre Familie, behielt es aber für sich.

Als sie ihre Drinks erhalten hatten, hob Dana ihr dampfendes Glas. »Prost! Auf ein gutes neues Jahr!«

Ruby stieß mit ihr an. »Gleichfalls!«

Abwechselnd fütterten sie die Jukebox und bestellten sich noch einen Toddy. Als sie genug von den ewig gleichen Weihnachtsschnulzen hatten, ließen sie Songs aus Broadway-Musicals laufen und sangen lauthals mit, in Erinnerung an ihre herrlichen gemeinsamen Tournee-Zeiten.

Als es Zeit war zu gehen, rief Billy hinterm Tresen: »Gute Reise, Ruby!«

»Danke, Billy. Und geben Sie meinem Vater nicht mehr als einen Drink, falls er hereingeschneit kommen sollte.«

»Keine Sorge, Schätzchen. Und fröhliche Weihnachten!«

»Ihnen auch, Billy.«

Miri

An jenem Abend setzte Suzannes Vater Miri und Suzanne vor Natalies Haus ab. Mrs. Osner öffnete ihnen. Hübsch und zierlich, trug sie stets eine Perlenkette, egal ob zu Rock und Pullover, wie heute, oder zum Cocktailkleid, wenn sie in den Country Club ausging. Für Miri war sie eigentlich immer nur Corinne. Im Stillen nannte Miri alle Erwachsenen, die sie kannte, beim Vornamen. Das ließ sie weniger wie Eltern wirken, mehr wie normale Leute mit eigenen Geschichten. Steve und Fern waren dunkelhaarig wie Dr. Osner, aber Natalie war dunkelblond, mit kurzen Locken wie ihre Mutter, und hatte auch die gleichen blaugrauen Augen.

Obwohl Natalies Familie jüdisch war und an hohen Feiertagen in den Tempel B’nai Israel ging, genau wie Miris Familie, hatten sie einen schönen großen Weihnachtsbaum im Wohnzimmer, den sie den Chanukka-Busch nannten. Er war mit handgeschnitzten Holztieren behängt. An Heiligabend hängten Natalie und Fern Strümpfe am Kamin auf, und Fern stellte Milch und Kekse für den jüdischen Nikolaus bereit, der in einem blauen Gewand mit silbernen Sternen durch die Lüfte flog. Statt von Rentieren wurde sein Schlitten von Kamelen gezogen, weil er aus Israel kam, nicht vom Nordpol.

Dr. Osner hielt nichts von dieser Art zu feiern, doch Mrs. Osner, die aus Birmingham, Alabama, kam, war damit aufgewachsen und mochte es nicht aufgeben. Miri wünschte, ihre Familie würde auch den jüdischen Nikolaus feiern, auch wenn sie schon zu alt war, um an ihn zu glauben.

»Die jungen Leute sind unten«, sagte Corinne zu Miri und Suzanne, als ob sie es nicht wüssten.

Natalie war nicht die Einzige aus ihrer Clique, die einen Partykeller hatte, aber wenn man entscheiden wollte, welcher der beste war, würde ihrer haushoch gewinnen. Nicht nur wegen der Wandbänke aus echtem Leder, der urigen Täfelung und dem rot-schwarzen Fliesenboden, nicht nur wegen der ovalen Theke mit Durchgangsklappe und Gläsern in allen erdenklichen Größen auf dem Spiegelregal – nein, was Natalies Partykeller einzigartig machte, war die Jukebox.

»Sie ist ja gebraucht gekauft«, sagte Natalie immer, als sei es irgendwie unanständig, eine brandneue Jukebox zu besitzen, so eine vollautomatische mit bunt flimmernden Lichtern. Natalie musste die Platten noch selber wechseln, und keiner musste eine Münze reinstecken, damit sie losging.

Dr. Osner hatte die Jukebox durch einen Patienten bekommen, der in der Musikbranche war. Irgend so’n Gangster, hatte Natalie Miri mal anvertraut.

Als Natalie die Taste drückte und die Jukebox loslegte, begann die Tanzerei mit Hey good lookin’, whatcha got cookin’? –, die sie alle außer Atem und aufgedreht nach mehr gieren ließ.

Aber als Nat King Cole dann mit »Nature Boy« einsetzte, veränderte sich die Stimmung. Miri fragte sich, mit wem sie den ersten Slow tanzen würde, als wie aus dem Nichts ein dunkelhaariger Junge auftauchte, den sie noch nie gesehen hatte, die Arme um sie legte und sie an sich drückte, als hätten sie immer schon zusammen getanzt. Na ja, eher in Zeitlupe hin und her geschwankt, aber immerhin … There was a boy, a very strange enchanted boy … Sie konnte die Schachtel Luckies in seiner Hemdtasche spüren. Natürlich wusste sie nicht, ob es Luckies waren, das stellte sie sich nur vor. Was er wohl spürte, wenn er sie so an sich drückte? Hoffentlich nicht ihren Hidden-Treasure-BH. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht loszuquasseln, wie immer, wenn sie angespannt war. Sie hoffte, ihre Hände würden nicht feucht werden und der leichte Hauch vom Arpège ihrer Mutter würde ihm in die Nase steigen. Sein Atem an ihrem Ohr fühlte sich kitzlig an. Dann war der Song zu Ende, und er war verschwunden. Sie wusste nicht mal seinen Namen. Und er ihren sicher auch nicht. Hoffentlich hatte ihr blauer Angorapulli genug Haare auf seinem Flanellhemd hinterlassen, um ihn an sie zu erinnern.

Als jemand das Licht ausmachte, verzog Miri sich nach oben in Natalies Zimmer. Sie war nicht in der Stimmung, Bäumchen wechsle dich zu spielen, nachdem sie mit dem schönen Unbekannten getanzt hatte.

Oben legte sie sich auf eins der beiden Betten, in dem sie fast jeden Samstag übernachtete, nur heute nicht, denn morgen war der Geburtstag ihrer Mutter, da musste sie zu Hause sein, um ihr das Frühstück ans Bett zu bringen. Miri stellte sich immer gern vor, Natalies Zimmer wäre ihres. Die gerüschte Organzaborte am Frisiertisch war so hübsch, man hätte sie glatt zum Partykleid für das Abschlussfest der Neunten im Juni umarbeiten können. Sie wusste genau, wie viele Kaschmirpullis im Schrank lagen. Vierzehn. Sie hatte sie gezählt. Natalie war dieser Luxus ein bisschen peinlich. »Wir kriegen sie von der Kaschmirwaren-Vertreterin zum Vorzugspreis. Ich sag dir Bescheid, wenn sie wieder zu uns kommt.« Als ob Miri sich Kaschmir leisten könnte, ob zum Vorzugspreis oder nicht.

Oft hatte Miri davon geträumt, zu Natalies perfekter Familie zu gehören. Falls Natalies Mutter starb – kein grausiger, langsamer Tod, sondern schnell und dramatisch, zum Beispiel bei einem Autounfall –, konnte Natalies Vater ja Miris Mutter heiraten, die jung und schön und ledig war. Dann würden Miri und ihre Mutter und Großmutter in Natalies großes Backsteinhaus ziehen, Miri und Natalie würden Schwestern sein, und Miri würde sich auch mit Kaschmirpullis eindecken. Doch Miri schämte sich ihrer Wunschträume. Sie mochte Mrs. Osner, Corinne, die immer sehr nett zu ihr war. Sie wollte keine gemeine und selbstsüchtige Person sein.

Plötzlich tauchte Fern in der Tür auf, mit einem Plüschhasen in Cowboymontur unterm Arm. Er hieß Roy, nach Roy Rogers, dem singenden Film-Cowboy, von dem sie ganz besessen war.

Fern trug einen geblümten Flanellpyjama mit Füßen. »Ist die Party schon vorbei?«, fragte sie.

»Nein«, sagte Miri. »Weiß Mrs. Barnes, dass du hier rumläufst?« Mrs. Barnes passte auf Fern auf und kochte viermal in der Woche das Abendessen für die Familie. Sie bereitete Gerichte zu, von denen Miri noch nie etwas gehört hatte, Gerichte mit ausländischen Namen wie Bœuf bourguignon und Kalbsragout Marsala. Es schmeckte besser als es klang.

»Sie ist heute nicht da«, sagte Fern. »Aber Mommy und Daddy sind da. Unten im Wohnzimmer.«

»Ach so.«

»Roy Rogers hat einen Penis«, sagte Fern und wedelte mit dem Hasen Roy vor Miris Gesicht herum. »Wusstest du das?«

»Ja«, meinte Miri. Sie hatte das schon oft gehört, jedes Mal, wenn sie bei Natalie zu Hause war, aber sie wusste nie recht, wie sie darauf reagieren sollte. Fern ging schließlich erst in den Kindergarten.

»Ich hab schon zwei Penisse gesehen«, verkündete Fern. »Den von Daddy und den von Steve.«

Miri hatte noch nie einen Penis gesehen und hatte es auch nicht eilig damit. »Soll ich dich ins Bett bringen?«, bot sie Fern an.

»Okay.«

Miri folgte Fern zu ihrem Zimmer und genoss es, wie weich der Teppich sich unter den Füßen anfühlte. Fern krabbelte ins Bett, und Miri deckte sie zu. »Mein Roy hat keinen Penis, obwohl er ein Junge ist.«

Miri wandte sich zum Gehen, sie hatte genug von dem Penis-Gerede.

»Vergiss nicht, mir einen Gutenachtkuss zu geben«, sagte Fern.

Miri gab ihr einen kurzen Schmatz auf die Stirn. Ferns Haut war kühl und roch süß.

Als sie zur Party zurückkehrte, herrschte schon Aufbruchstimmung.

»Wo bist du denn gewesen?«, wollte Natalie wissen.

»Oben. Ich hatte Kopfweh, muss wohl eingenickt sein.«

»Geht’s dir wieder besser?«

Miri nickte. »Wer war der Junge, mit dem ich getanzt habe?«

»Welcher Junge?«

»Der mit dem dunklen Haar.«

»Ist mir nicht aufgefallen. Vielleicht einer von Steves Freunden. Er war in der Waschküche mit ihnen am Pokern und hätte sie eigentlich von meiner Party fernhalten sollen.«

Mason

Steve war sauer auf ihn, weil er mit dem Mädchen getanzt hatte. »Sie ist die beste Freundin meiner Schwester, also Pfoten weg, kapiert? Du warst nicht mal eingeladen.«

»Hey«, sagte Phil. »Jetzt mal ganz ruhig, Mann. Ich hab ihn eingeladen.«

»Ich wusste nicht, dass wir nicht tanzen durften«, meinte Mason.

»Wir sind hier bloß die Anstandswauwaus«, belehrte ihn Steve. »Weißt du, was das heißt? Oder kriegt man das in der Unterstufe noch nicht beigebracht?«

»Alles klar, Steve«, sagte Phil beschwichtigend. »Wir haben’s begriffen. Die Mädels sind tabu. Du bist hier zu Hause, du machst hier die Regeln.«

Es war ein Fehler gewesen, zu Steve mitzukommen, und so verkrümelte Mason sich nach oben. In der Küche traf er auf Dr. Osner, der gerade Breyers-Eiskrem in zwei Schälchen füllte. »Na, alles in Ordnung?«, fragte Dr. Osner.

»Jawohl, Sir«, antwortete Mason. »Alles bestens.« Er hoffte, Dr. Osner würde ihn nicht als den wiedererkennen, der von seinem Bruder mit dick geschwollener Backe in die Zahnarztpraxis geschleift worden war. Die Freundin seines Bruders war bei Dr. Osner angestellt, aber keiner durfte wissen, dass sie miteinander gingen, weil ihre Familie griechischer und seine irischer Abstammung war. Doch bei ihm war ihr Geheimnis gut aufgehoben. Er kannte viele Geheimnisse, und er behielt sie grundsätzlich für sich.

Er schnappte sich seine Jacke und machte, dass er da rauskam, froh, dass sein Hund über Nacht bei Phils Eltern bleiben konnte. Das Einzige, worüber er sich wunderte, war, was eigentlich so schlimm daran war, dass er mit dem Mädchen getanzt hatte. Sie hatte ihm gefallen, wie sie sich vorher beim Swing mit diesem kleinen Wicht bewegte, ihre Grübchen, ihre fliegenden langen Haare. Er wollte sie einfach in den Armen halten. Und als er es dann tat, sagte sie nichts, kein Wort, und er auch nicht. Nur die Musik und das Gefühl von ihr in seinen Armen. Das war alles. Sie flirtete nicht, spielte keine Spielchen, tanzte nur mit ihm.

Miri

Suzanne übernachtete bei Robo in der Byron Street, also fuhr Natalies Vater Miri heim. Sie genoss es, Dr. Osner für sich zu haben. »Was gibt’s denn so Neues in deinem Leben, Miss Mirabelle?« So nannte er sie immer, und es machte ihr Spaß, aber von dem geheimnisvollen Jungen konnte sie ihm trotzdem nicht erzählen, darum schwieg sie.

»Machst du noch bei der Schülerzeitung mit?«, fragte Dr. Osner, und es klang echt interessiert.

»Ja, aber da gibt’s nichts Spannendes zu berichten, immer die gleichen langweiligen Storys.«

»Sagen wir mal, du würdest mich interviewen«, schlug er vor. »Was würdest du mich dann fragen?«

»Ich würde Sie fragen, wie Sie darauf gekommen sind, ausgerechnet Zahnarzt zu werden.«

Er lachte. »Wieso, interessierst du dich für Zähne?«

»Ich interessiere mich für Menschen.«

»Das ist es, was mir am Zahnarztsein gefällt«, sagte er. »Der Kontakt zu meinen Patienten.«

Miri war Patientin bei ihm, wie der Rest der Familie. »Haben Sie immer schon die Zähne Ihrer Freunde begutachtet, als Sie jung waren, und ›bitte mal weit öffnen‹ gesagt?«

Er lachte wieder. »Ich war eigentlich mehr für Musik zu haben. Aber meine Brüder waren Zahnärzte, die haben mir zu der Ausbildung geraten. Wir hatten mal eine gemeinsame Praxis.«

»Und wo sind sie jetzt?«

Er zögerte. »Weggezogen.«

»Vermissen Sie sie?«

»Ja, sehr.«

Sie hielten vor Miris Haus. »Danke fürs Bringen«, rief sie beim Aussteigen.

»Es war mir ein Vergnügen, Miss Mirabelle.«

Dr. O. war ein Schatz, Miri wünschte sich immer, sie hätte selbst so einen Vater. Irgendwo hatte sie wohl auch einen. Doch was mochte das für ein Mensch sein, der seine siebzehn Jahre alte schwangere Freundin im Stich ließ und sein Baby niemals sehen wollte?

Als sie klein war, hatte sie Rusty oft gefragt: »Wo ist mein Daddy? Wo ist mein Daddy?«

Doch selbst damals schon hatte sie gespürt, dass Rusty ihr darauf keine Antwort geben würde.

ELIZABETH DAILY POST

… und der Welt ein Wohlgefallen

15. DEZ. – Die dicke Schneedecke, die sich in den letzten zwei Tagen über Elizabeth gebreitet hat, scheint die Menschen nicht von der Vorfreude auf die Feiertage abgehalten zu haben. Die Straßen der Stadt sind mit Lichtergirlanden geschmückt, die Schaufenster festlich dekoriert, überall erklingen Weihnachtslieder, und die begeisterte Kundschaft scheint förmlich beweisen zu wollen, dass sie sich vom Wetter nicht den Spaß verderben lässt.

Wegen der widrigen Straßenverhältnisse ließen die meisten ihre Autos stehen und zogen es vor, in der Innenstadt auf den Bus zu warten, was noch zusätzlich zu der Belastung des öffentlichen Verkehrs nach dem Schneesturm vom Freitag beitrug.

»Tja, es ist Weihnachten«, sagte Myrtle Carter, tapfer bemüht, ihre ganzen Tragetaschen und zwei kleine Kinder in den Griff zu bekommen. »Der Welt ein Wohlgefallen, und so weiter.«

2

Miri

Der Sonntag war kalt, grau und windig. Am Newark Airport wurde um sieben Uhr früh ein neuer Kälterekord gemessen. Aber Miri, die tief und fest unter ihrer molligen Steppdecke schlief, machte das Wetter nichts aus. Sie träumte von dem geheimnisvollen Jungen, mit dem sie am vorigen Abend getanzt hatte.

Als um acht der Wecker klingelte, warf sie den Morgenrock über und lief in die Küche, wo sie zwei Eier zubereitete, exakt drei Minuten gekocht, dazu Roggentoast mit Butter, frisch gepressten Orangensaft und Kaffee mit Zucker und Sahne. Sie verzierte das Tablett mit einem Papierdeckchen und einer Blume.

Eigentlich hieß ihre Mutter Naomi, aber wegen ihrer rotbraunen Haarpracht nannten alle sie Rusty. Die Leute drehten sich nach ihr um, wenn sie vorbeikam, als ob sie ein Filmstar wäre. Schade, dass Miri weder ihr Haar noch ihre grünen Augen geerbt hatte. Keiner drehte sich nach ihr um, wenn sie vorbeikam.

Als sie mit dem Frühstückstablett ins Schlafzimmer trat, tat Rusty ganz überrascht, als habe sie vergessen, dass sie Geburtstag hatte. Miri dachte an die Bettjäckchen in Nia’s Boutique. Wie gern hätte sie Rusty so eins gekauft, damit sie an ihrem Geburtstag richtig stilvoll im Bett hätte frühstücken können.

»Das war lecker«, sagte Rusty, als sie mit dem Frühstück fertig war.

Miri hielt ihr das Geschenk aus Nia’s Boutique hin.

»Was? Frühstück im Bett und ein Geschenk?«, sagte Rusty staunend. »Soll ich es gleich aufmachen?«

Miri nickte. Was denn sonst?

Rusty löste die Schleife und rollte langsam das Band auf, dann streifte sie das Papier vorsichtig ab, damit man es noch mal benutzen konnte. Schließlich hob sie den Deckel vom Karton und zog den Unterrock hervor. »Das ist ja genau, was ich wollte!«

Es klang wirklich, als ob sie es so meinte. Miri war froh.

»Und in Dunkelblau!«, sagte Rusty. »Einfach perfekt.«

»Es ist Nylonjersey«, erklärte Miri. »Und wenn es die falsche Größe ist, kannst du ihn umtauschen.«

»Danke, Schatz«, sagte Rusty mit strahlendem Lächeln und breitete die Arme aus. Sie drückte Miri an sich und küsste sie auf die Stirn.

»Gern geschehen, Mom.«

Nachdem Miri die Küche aufgeräumt hatte, beschloss sie, ihre Hausaufgaben zu machen, damit sie es hinter sich hatte, doch sie konnte die Augen nicht offen halten, also legte sie sich wieder ins Bett und kroch unter die Decke.

Ruby

Ruby saß auf einem Barhocker am Tresen von Hanson’s Drug Store an der Ecke Fifty-first Street und Seventh Avenue in New York City und schlürfte genüsslich ein Erdbeereis-Soda mit Schlagsahne, Nusskrokant und einer Maraschinokirsche. Die Kirsche hob sie sich bis zuletzt auf. Als sie dann hineinbiss, sagte Jimmy, der Barkeeper: »Die sind nicht zum Essen gedacht.«

»Wieso nicht?«

»Sie sind nur zur Dekoration. Zu viele davon können einen umbringen.«

»Na, wenn du meinst.«

Hanson’s war ein Künstlerlokal, wo Ruby gern herumhing und mit Kollegen aus der Unterhaltungsbranche plauderte. Aber an diesem Sonntagmorgen war nichts los, wahrscheinlich wegen des schaurigen Wetters. Sie war in der WJZ-Morgensendung aufgetreten, die aus Howie’s Restaurant an der Sixth Avenue ausgestrahlt wurde, und von dort war sie zum Hanson’s hinübergegangen. Da sie der einzige Gast war, konnte sie ungehindert mit Jimmy flirten, einem Broadway-Zigeuner, der zwischen seinen Auftritten als Barkeeper jobbte. Gott, war das ein hübscher Kerl. Irgendwann einmal hatten sie hinter der Bühne geknutscht, aber weiter war es nie gegangen. Ruby hütete sich davor, ihr Herz an einen Tänzer zu verlieren. Außerdem hatte sie gehört, dass er Jungen genauso mochte wie Mädchen.

Seit Kurzem war sie nun mit Danny Thomas’ Bruder Paul zusammen. Sie wusste noch nicht, ob es was Ernstes werden würde. »Heirate, Ruby, solange du noch so gut aussiehst«, lag ihre Mutter ihr ständig in den Ohren. »Und heirate um Gottes willen nach oben. Geld haben ist so viel angenehmer als arm sein!«

Als ob Ruby das nicht wüsste. Sorry, Mom, aber für die Ehe war sie wirklich noch nicht reif. Sie musste an ihre Karriere denken. Und gut aussehen würde sie noch lange. Ihr Agent versuchte gerade, sie zur Ed-Sullivan-Show zu vermitteln. Ein Film-Musical könnte auch nichts schaden. Vielleicht würde Danny Thomas sie in seinem nächsten Film besetzen. Immer gut, wenn man seine Beziehungen spielen lassen konnte; dass sie was mit seinem Bruder hatte, würde sich vielleicht bezahlt machen.

»Wann geht dein Flieger, Baby?«, fragte Jimmy.

»Das letzte Mal, als ich nachgefragt habe, war er zwei Stunden verspätet.« Sie sah auf die Uhr, die Paul ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, eine rotgoldene Bulova. Die winzigen Zeiger standen auf kurz vor halb elf. »Ups, ich muss vor zwölf am Flughafen sein!« Sie raffte ihre Sachen zusammen und bezahlte.

Jimmy beugte sich vor, um ihr einen Abschiedskuss auf die Wange zu geben. Im letzten Moment drehte sie den Kopf, sodass der Kuss auf ihren Lippen landete.

»Mhm, Erdbeer …« Jimmy leckte sich die Lippen, was Ruby zum Lachen brachte. »Gute Reise, Baby, und komm bald wieder.«

»Aber ja, das weißt du doch.« Ruby hauchte ihm einen Luftkuss zu.

Sie reiste für ihr Leben gern. Wenn man ihr ein Ticket in die Hand drückte, egal wohin, sprang sie gleich in den nächsten Flieger. Sie wohnte gern in Hotels, wo jemand einem jeden Tag das Bett machte und frische Handtücher brachte. Selbst wenn die Hotels nicht so schick waren, sondern ziemlich miese Absteigen, wie es meistens der Fall war, genoss sie es, unterwegs zu sein.

Miri

Gegen Mittag fand Rusty ihre Tochter immer noch schlafend im Bett vor. Sie schüttelte sie sanft. »Na komm, Schatz, steh auf! Wir gehen in die Matinee-Vorstellung im Elmora.«

Miri drehte sich auf die andere Seite, ohne die Augen zu öffnen.

»Beeil dich, sonst verpassen wir noch den Anfang.«

Ein Einzelkind zu sein bedeutete, dass Miri ihrer Mutter oft als Begleitung diente. Und wenn Rusty heute ins Kino wollte, dann musste sie natürlich mit. Miri zog Latzhosen und Rollkragenpulli an, darüber noch einen Pullover und dicke Wollsocken. Sie schnürte sich die Halbschuhe zu, putzte sich die Zähne, band sich die Haare zu einem Pferdeschwanz und wappnete sich mit Winterjacke, Handschuhen, Schal und Ohrschützern gegen den Frost.

Miri und Rusty legten die knappe Meile bis zum Kino zu Fuß zurück. Keine strahlende Wintersonne heute, nur grauer Himmel und beißende Kälte. Bisher war Miri immer für einen Vierteldollar ins Kino gekommen, aber jetzt nicht mehr. Sie war die Erste von ihren Freundinnen, die fünfzehn wurde, das ersehnte Alter, in dem sich alles endlich zum Guten wenden oder wenigstens der eine oder andere Traum wahr werden würde – zum Beispiel, dass der geheimnisvolle Junge von der Party gestern Abend sich wieder blicken ließ.

Am Erfrischungsstand kaufte Rusty ein Milky Way für Miri, ohne erst zu fragen, was sie wollte, und eine Schachtel Eispralinen für sich. »Ich hab heute nämlich Geburtstag«, erzählte sie Little Mary, die am Tresen stand.

»Alles Gute«, sagte Little Mary. »Ich würd Ihnen gern eine Limo aufs Haus spendieren, aber dann flieg ich raus.«

Die Matinee um halb eins war eine Doppelvorstellung. Als Erstes kam eine Komödie, You Never Can Tell, mit Dick Powell und Peggy Dow. Rusty liebte Komödien. Miri zog Melodramen vor. Der Hauptfilm war Colorado mit Clark Gable. Nach der Hälfte lehnte Rusty sich zu ihr hinüber und sagte: »Wir müssen gehen.« Jetzt würde Miri niemals erfahren, wie das mit Clark Gable und seiner indianischen Ehefrau ausgegangen war.

Ruby

Am Newark Airport war der Flug nach Miami schon wieder verspätet, ohne Angabe von Gründen. Kein Wunder, dass Dana versucht hatte, sie davon abzuhalten, einen Charterflug nach Tampa zu nehmen und von da aus weiter nach Miami. »Charterflüge sind immer unzuverlässig«, meinte Dana.

Ruby wandte ein, dass der Flug viel günstiger war. Und was machte es denn schon für einen Unterschied? Ein Flieger war wie der andere. Er brachte einen dahin, wo man hinwollte, ob mit festem Fahrplan oder ohne. Außerdem konnte sie es kaum erwarten, nach Florida zu kommen, endlich weg aus diesem schrecklichen Wetter, zu den warmen Stränden und Mondscheinnächten. Nur musste sie sich jetzt eben noch ein, zwei Stunden gedulden.

Sie setzte sich in die Abflughalle und holte das Buch, das sie gerade las, aus ihrer Handtasche, froh, eine spannende Lektüre zur Ablenkung zu haben. Sie war sich der Blicke bewusst, die sie auf sich zog: so ein hübsches junges Ding da mit einem Buch von Mickey Spillane, der für seine ungehobelte Sprache bekannt war. Ruby machte sich nichts draus. Sollten sie doch gucken. Ihr war das schnuppe.

Ein älteres Ehepaar ihr gegenüber unterhielt sich so laut, dass sie nicht anders konnte als mitzuhören. »Du hast eine lange Fahrt vor dir«, sagte die Frau. »Mach dich mal lieber auf den Weg, und vergiss nicht, meine Voluptés bei Irene Ammerman abzuholen. Hast du noch die Adresse?«

»Ich geh hier nicht weg, bevor ich dich ins Flugzeug gesetzt habe«, sagte er.

»Das ist lieb von dir, Ben, aber ganz unnötig.«

»Mir ist es nun mal wichtig.«

Sie lachte. »Ach, was bist du doch für ein Romantiker.«

»Ich? Ich soll ein Romantiker sein?«

»Na ja, vielleicht nicht jeden Tag, aber wenn’s drauf ankommt.«

Er lachte und küsste sie.

»Nicht doch, Ben, die Leute …«

»Na und? Habe ich vielleicht nicht das Recht, meine Frau nach fünfunddreißig Jahren Ehe in der Öffentlichkeit zu küssen?«

Ruby lächelte in sich hinein. Sie konnte sich nicht erinnern, dass ihre Eltern je so miteinander geschäkert hätten.

»Entschuldigung«, sagte ein junger Mann. »Sitzt hier jemand?«

Seufzend nahm Ruby ihre Tasche vom Nebensitz, die sie extra dort abgestellt hatte, damit niemand sich zu ihr setzte. Sie sah dem Kerl an, dass er sie angraben wollte.

»Meine Mutter denkt, ich fahre mit dem Auto nach Florida«, sagte er. »Oder mit dem Zug. Ich habe sechs Brüder. Jeder von uns hat in Übersee gedient. Ich bin der Jüngste.«

»Ich dachte, es ist gesetzlich verboten, alle Söhne einer Familie einzuziehen.«

»Na ja, wir haben uns freiwillig gemeldet, und sie haben uns genommen. Wir sind auch alle zurückgekommen.« Er lächelte sie an. »Und Sie?«

Sie hatte keine Lust, ihm zu sagen, dass sie Tänzerin war. »Mein Verlobter lebt in Miami«, flunkerte sie. »Er ist auch im Krieg gewesen. Ich fahre über die Feiertage zu ihm und seiner Familie.« In seiner Miene zeichneten sich Überraschung und Enttäuschung ab. Schließlich trug sie keinen Ring. Sie kam sich unfair vor. Er schien ein netter Junge zu sein. »Sicher werden Sie jede Menge Spaß haben in Miami«, meinte sie tröstend.

»Haben Sie da nicht vielleicht noch eine ungebundene Freundin?«, wollte er wissen. »Vielleicht hat Ihr Verlobter eine Schwester?«

»Nein, tut mir leid. Aber Sie werden bestimmt keine Schwierigkeiten haben, nette Mädchen kennenzulernen. Sie sind doch ein attraktiver junger Mann.«

»So jung nun auch wieder nicht. Bald fünfundzwanzig.«

»Das hätte ich nie gedacht.«

»Und Sie?«

»Zweiundzwanzig.«

»Nicht möglich!«

»Was hätten Sie gedacht? Junger oder älter?«

»Jünger, natürlich.«

Sie lachte. »Na klar.«

»Ich heiße übrigens Paul, Paul Stefanelli.« Er streckte die Hand aus.

»Ruby Granik«, sagte sie und schüttelte ihm die Hand.

»Wie ist das Buch, Ruby?« Er nickte zu dem Mickey Spillane hin.

»Irrsinnig spannend«, sagte sie. »Also wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen …«

»Klar. Schon verstanden.« Er stand auf und schlenderte davon.

Leah

Leah Cohen hoffte, Henry Ammerman würde ihr bald die entscheidende Frage stellen, vielleicht irgendwann in den Feiertagen. Heute würden sie alle zusammen den Geburtstag seiner Schwester feiern. Henrys Mutter verkaufte Volupté-Puderdosen zum Vorzugspreis. Als Frau konnte man ja nie genug Voluptés haben. Sie würde sicher noch ein paar von den Müttern ihrer Schüler zu Weihnachten bekommen, genau wie letztes Jahr. Immer noch besser als Früchtebrot oder billiges Parfüm.

Sie wusste, um Henry für sich zu gewinnen, musste sie dem Rest der Familie gefallen, und bisher war ihr das ganz gut gelungen, vor allem, indem sie den Mund hielt. Sie hielten sie für still und bescheiden, ein nettes Mädchen aus einer guten Cleveland-Familie, noch dazu Lehrerin. Und das alles war sie ja auch, nicht wahr?

Sie ging schon seit fast anderthalb Jahren mit Henry. Kennengelernt hatte sie ihn auf einer Party, kurz nachdem sie nach New Jersey zu ihrer Tante Alma gezogen war. Ihre Mutter hatte geschworen, sie würde sie nur aus Cleveland weglassen, wenn sie zu Verwandten zog. Alma, die Schwester ihrer Mutter, hatte nichts dagegen. Und was Leah betraf, so war alles besser, als in Cleveland bei ihren Eltern zu versauern. Tante Alma war früher Schulsekretärin gewesen und hatte nie geheiratet. Eine alte Jungfer, nannte ihre Mutter sie, aber eine, die drei Nachmittage die Woche mit ihren Freundinnen Canasta spielte und jeden Freitagvormittag ehrenamtlich im Krankenhaus tätig war.

Alma billigte die Verbindung mit Henry und hatte es Leahs Mutter auch mitgeteilt. Aber wer könnte auch etwas gegen Henry haben? Henry war smart, geistreich und attraktiv und zudem Reporter bei der Elizabeth Daily Post. Als er sich nach der Schule zur Armee gemeldet hatte, wollte er als Reporter für Stars and Stripes dienen, da er bereits bei der Monticello Times, der Schülerzeitung an der Jefferson High, mitgearbeitet hatte. Doch nach nur drei Monaten Ausbildung war er in den Krieg geschickt worden, und zwar direkt in die Ardennenschlacht. Er konnte sich glücklich schätzen, dass er mit einer Schusswunde im Bein davongekommen war. Die meisten seiner Kameraden waren dabei draufgegangen. Er lag zwei Monate im Lazarett, dann bekam er endlich seinen Traumjob bei Stars and Stripes in London, der ihm bis nach Kriegsende erhalten blieb. Von den Journalisten dort, sagte er, habe er mehr gelernt als jemals auf dem College. Leah hatte ihn nie seinen Gehstock benutzen sehen.

Auch wenn Tante Alma Henry mochte, hatte sie in letzter Zeit doch angefangen, Leah vor den Männern im Allgemeinen zu warnen und vor Henry im Besonderen. Warum soll er die Kuh kaufen, wenn er die Milch umsonst haben kann? Tante Almas Ratschläge waren ziemlich antiquiert. Außerdem drängte Henry sie nie, obwohl sie gar nichts dagegen gehabt hätte. Sie waren ja schließlich keine Teenager mehr. Henry war im Sommer achtundzwanzig geworden, und sie wurde bald vierundzwanzig. Falls sie aber immer noch nicht verlobt sein sollte, bis sie fünfundzwanzig war, wollte sie sich nicht länger aufsparen. Dann konnte sie ihre Jugend genauso gut genießen, solange es noch ging. Tante Alma hatte ihre Jugend sicher nie genossen.

Als an ihrer Schule nach Freiwilligen gesucht wurde, um eine Weihnachtsfeier im Elks Club in Elizabeth zu beaufsichtigen, hatte Leah gehofft, den Direktor damit zu beeindrucken, dass sie sich dafür meldete, obwohl es der Sonntag vor Weihnachten war.