Sonne, Mond und elf Sterne - Melike Yasar - E-Book

Sonne, Mond und elf Sterne E-Book

Melike Yasar

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Beschreibung

 Es war einmal - So einfach kann eine wahre Geschichte sein, welche, sich wie ein Märchen anhört. Ich erzähle euch in einfacher und moderner Sprache die Geschichte des Propheten Josef (Yusuf), so, wie ihr sie nicht gelesen und gehört habt.      "Vater, ich sah elf Sterne und mit ihnen die Sonne und den Mond vom Himmel hinabsteigen, die sich dann vor mir niederwarfen."      Sie fürchteten seine Träume Sie verachteten ihn, weil der Vater ihn mehr liebte und sie richteten über ihn, weil er klug, anmutig und schön war.    Um seinem Traum zuvorzukommen, wird Yusuf von seinen Brüdern in eine tiefe Zisterne hineingeworfen. Eine Karawane, die auf der Durchreise ist, findet ihn und verkauft ihn an einen reichen Ägypter. Als Yusuf zu einem jungen Manne heranwächst, verliebt sich Raila, die Frau seines Herrn in ihn und versucht mit allen Mitteln, seine Liebe für sich zu erlangen. Durch Yusufs Zurückweisung gekränkt, lässt sie ihn in den Kerker werfen, in der Hoffnung, er würde seine Entscheidung neu überdenken und sich ihr zuwenden.    Die wahre Liebe jedoch forderte einen hohen Preis und verlangte ihr das Wertvollste ab, das sie besaß.   Ihre Jugend und die Schönheit 

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Melike Yasar

Sonne, Mond und elf Sterne

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Kurzer Blick in die Geschichte

Yusuf ließ den Blick kurz über den schwach erleuchteten Raum schweifen. Die Vorhänge waren zugezogen, ein Hauch von Amber hing in der Luft.

Raila hatte die Perücke abgelegt und ihr natürliches, schwarzes Haar floss über ihre nackten Schultern. Eine Hand gegen den Türrahmen gestützt, die andere in die Hüfte gestemmt, verlagerte sie ihr Gewicht auf ein Bein, während sie das andere leicht angewinkelt hielt, sodass nur die Zehenspitzen den Boden berührten.

Yusuf senkte sofort den Blick, als er unter dem dünnen Stoff jede Bewegung ihrer Muskeln erkennen konnte.

»Gefalle ich dir, Yusuf?«, fragte sie mit einem schelmischen Lächeln und schritt mit einer einladenden Bewegung zum Bett. »Ich habe mich für dich zurechtgemacht.« Sie legte sich seitlich hin und klopfte neben sich. »Komm her, leg dich zu mir.«

 

Über die Autorin

Melike Yasar, geboren in der Türkei und aufgewachsen in Hamburg. Stolze Mutter von zwei Söhnen. Schon als Kind las sie gerne Bücher und schrieb kurze Geschichten. Sie arbeitete als Fremdsprachen Assistentin bei GE-Bayer/Leverkusen. Später absolvierte sie eine Ausbildung zur Heilpraktikerin. Seit 2016 widmet sie sich vollständig dem Schreiben. Heute lebt sie in Kreis Hildesheim in Niedersachsen.

 

Mehr über die Autorin und ihre Bücher erfahren Sie hier.                      melikes1001nacht.jimdofree.com

Vorwort

 

Es war einmal … So einfach kann eine wahre Geschichte sein, welche sich wie ein Märchen anhört.

 

Ich erzähle euch in einfacher und moderner Sprache die Geschichte des Propheten Josef (Yusuf), so, wie ihr sie noch nie zuvor gelesen und gehört habt.

Bereits seit meiner Kindheit liebe ich die Erzählungen über Propheten, die Wunder vollbrachten. Besonders die von Josef faszinierte mich und so habe ich mich entschlossen, diese in meinen Worten nachzuerzählen.

Ich habe mich lediglich an die Qur‘anverse sowie die alten Schriften gehalten und versucht, die Originalgeschichte so gut wie möglich beizubehalten. Dabei sollte eines beachtet werden: Die Propheten waren ohne Sünde, jedoch nicht frei vom Fehler. Sie haben alles Unheil mit Geduld ertragen, ohne sich darüber zu beschweren, und wurden aus diesem Grund als Verkünder Gottes auserwählt. Andersherum wären sie gewöhnliche Menschen wie wir.

Die Namen von Jakobs Söhnen habe ich vorerst bewusst weggelassen, da im Alten Testament drei unterschiedliche Brüder genannt werden, die den Mord an Yusuf verhindert haben sollen.

Yusufs Geschichte beginnt im Brunnen und wird durch Rückblicke erzählt. In diesem Buch aber geht es hauptsächlich um die Gemahlin des Wesirs, die sich unsterblich in Yusuf verliebte und ihn zu verführen versuchte. In der islamischen Welt sind über Yusuf und dieser Dame unzählige Legenden und Gedichte in arabischer, türkischer und persischer Sprache geschrieben worden. Dennoch wird diese geheimnisvolle Frau weder im Alten Testament noch im Qur‘an namentlich erwähnt. In alten Schriften jedoch wird sie vorher als Raila (Ra’il) und später als Zulaikha oder Suleika - je nach Landessprache - aufgeführt. Raila war die Tochter eines Königs und erhielt aufgrund ihrer Schönheit, ihrer Intelligenz und ihrer Unnachgiebigkeit von Yusuf den Namen Zulaikha, was auch Wasserfee bedeutet.

Der heilige Qur‘an bezeichnet die Sure Yusuf als eine der schönsten Geschichten, und zwar aus folgenden Gründen: Sie ist gekennzeichnet von dem Auf und Ab eines Menschenschicksals. Zu allen Zeiten hat sie daher bei Menschen, egal welcher Klasse, großen Anklang und Gefallen gefunden.

Sie erzählt von den verschiedenen Lebensweisen, mit all ihrer moralischen Bedeutung und von der verschiedenartigen Einstellung der Menschen und ihrem Verhalten. Sie berichtet von Jacobs Liebe zu seinem jüngeren Sohn Yusuf und der daraus resultierenden Eifersucht der älteren Brüder und ihrer Verschwörung gegen ihn.

Die Geschichte erzählt von der Sorge ihres Vaters und dem Verkauf Yusufs in die Sklaverei.

Die Leserinnen und Leser werden in eine Welt der Macht und Begierde mitgenommen, erfahren aber auch Treue, Reinheit, Geduld und Bescheidenheit. Es werden die schwierigen Regierungsangelegenheiten eines Landes aufgezeigt und die Schönheit von Frömmigkeit und Wahrheit durch das beständige Gedenken Allahs trotz der Erreichung einer hohen Position im Leben. Zum Schluss winkt das größte Geschenk Gottes, das er seinen Geschöpfen zukommen lässt, wenn sie alles mit Unbeirrbarkeit ertragen.

 

Prolog

 

Prophet Jakob hatte zwölf Söhne. Als sein zweitjüngster Sohn Yusuf etwa sechs Jahre alt war, verstarb seine Frau Rahel nach der Geburt ihres zweiten Sohnes Bünyamin.

Jakobs Schwester Inas nahm Yusuf zu sich, weil Jakobs erste Frau Lea, die ältere Schwester von Rahel, sich um das Neugeborene kümmerte. Wie eine Mutter sorgte Inas für Yusuf. Sie pflegte ihn und ließ ihm die schönsten Gewänder schneidern. Ihre Liebe und Fürsorge für den Jungen ging so weit, dass sie ihm den Gürtel Isaaks anlegte, welcher nach der Tradition der Kanaaniter nur dem ältesten Sohn zustand.

Yusufs Brüder erkannten den Gürtel an seiner Taille und Neid stieg in ihnen hoch. Nachdem auch Inas verstarb und Jakob seine ganze Liebe Yusuf und Bünyamin zukommen ließ, wuchs die kleine Flamme des Zornes in den Herzen der Brüder zu einer Flammensäule. Als Yusuf zu dem noch himmlische Träume empfing, wandelte sich diese Säule schließlich in Hass, Verachtung und Rachegefühle. Sie beschlossen, ihn mit List in ihre Gewalt zu bringen und ihn zu töten.

Doch einer unter ihnen warnte davor, sich die Hände mit dem Blut ihres Bruders zu beschmutzen. Er schlug vor, Yusuf in einen Brunnen zu werfen, damit Durchreisende ihn mitnahmen.

Raila

 

 

 

Ich traf einen Mann im Traum, der mich meiner Seele beraubte.

 

 

Etwa 2000 Jahre vor Christi gab es im Osten ein Königreich, das nach seinem König benannt Taymus hieß. Dieser König hatte eine Tochter, der er den Namen Raila gab und die nach dem frühen Tod der Mutter in der Obhut einer Amme aufwuchs. Raila war ein fröhliches Mädchen, das viel und gern lachte und jedermanns Herz erfreute. Und obwohl sie noch als ein halbes Kind zählte, war sie bereits mit einer anmutigen Schönheit gesegnet, die sich von Mund zu Mund herumsprach. Brautwerber aus vielen Ländern, von fern und nah, strömten in dem Ansinnen herbei, ihre Hand zu erbitten. Doch der König war der Meinung, dass seine Tochter für eine Vermählung zu jung sei, und schickte sie alle wieder fort.

In jener Nacht, in der Railas Schicksal besiegelt wurde, war der Himmel in ein samtiges Schwarzblau gehüllt. Die Sterne funkelten wie verstreuter Diamantenstaub, der Mond übergoss die Wiesen mit sanftem Schimmer und tauchte das dämmrige Schlafgemach in das schummrige Licht eines weißen Opals. Lauer Wind wehte mild, beinahe die Gemüter streichelnd, und ließ leise die Schatten des sich wiegenden Laubes vor dem offenen Fenster über das zarte Gesicht wandern, welches in dem weichen Kissen ruhte. Tief und fest schien die Prinzessin zu schlafen; ihre Lider bewegten sich, als wanderte sie durch das Land der Träume.

Seitlich am Rand des Seerosenteiches liegend, den Ellbogen auf den Boden, den Kopf in die Hand gestützt und die Beine leicht ausgestreckt, lauschte sie verträumt dem Klang der Laute, über deren Saiten eine Frau sanft strich. Einige junge Frauen um sie herum, auf weichen Kissen sitzend, bewegten den Körper nach der Melodie und sangen mit halber Stimme ein leises Lied. Versonnen betrachtete das Mädchen die Seerosen, die sich mit den nahenden kleinen Wellen, die sie mit der Hand erzeugte, hin und her wiegten.

Plötzliche Stille erregte ihre Aufmerksamkeit. Kein Gesang der Frauen mehr, keine lieblichen Töne der Laute, als wären sie allesamt mit einem Fingerschnippen weggefegt. Leicht richtete sie ihren Oberkörper auf, zog die Beine ein wenig an und blickte erstaunt um sich.

»Kari-Ma? Wo seid ihr?«

Als sie zur anderen Seite des Teiches sah, erkannte sie einen in weiße Gewänder gehüllten Mann. Ein goldener Schmuckkragen lag um seine Schultern, ein kostbarer Reif schmückte seine Stirn und Armbänder symbolisierten die höchste Rangstufe, die nur den engsten Vertrauten von Ägyptens Königen zustanden. Ein Nimbus, so hell wie bei sonst keinem, umgab ihn. Raila glaubte, er müsse ein Engel sein. Oder war er gar ein Dschinn, der die schönste Gestalt eines Menschen angenommen hatte, um sie in Versuchung zu führen? Verwirrt und gleichzeitig neugierig erhob sie sich von ihrem Platz. Erst sahen sie einander einige Herzschläge lang an, dann, wie von fremden Händen geführt, bewegten sie sich langsam und fließend aufeinander zu und blieben nur wenige Schritte voneinander entfernt stehen.

Raila öffnete leicht die Lippen, um ihr Gegenüber nach seinem Namen zu fragen, doch die Worte erreichten nicht ihre Kehle.

Lächelnd trat der Mann einen Schritt näher. Sie erkannte erste graue Strähnen in seinem Bart, die ihm einen besonderen Glanz und Ansehen verliehen. Ein fesselnder Duft, der von ihm ausging, stieg in ihrer Nase auf. »Ich bin der Wesir des Königs von Theben. Das Schicksal hat uns füreinander bestimmt. Warte auf mich, bis wir einander finden, und heirate keinen anderen«, sagte er und steckte ihr einen Verlobungsring an den Finger.

Raila verspürte einen heftigen Ruck in ihrem Herzen und glaubte, es würde für einen Augenblick aussetzen. »Wie ist dein Name?«, fragte sie und streckte die Hand nach ihm aus, um sein Gesicht zu berühren.

Das ungestüme Schlagen ihres Herzens riss sie aus ihrem Traum. Sie öffnete die Augen und sah sofort auf ihre Hand. Ein Schatten der Enttäuschung legte sich über ihr Gesicht. Dabei hatte sich doch alles so echt angefühlt. Sogar der angenehme Duft, der von ihm ausging, war noch gegenwärtig. Einen Moment lang verweilte ihr Blick nachdenklich an der Zimmerdecke. Es war dreimal derselbe Traum gewesen, den sie in drei aufeinanderfolgenden Nächten geträumt hatte. Ob das eine göttliche Botschaft war? Ihre Gefühle gerieten vollends durcheinander, sodass sie an Schlaf nicht mehr denken konnte. Sie schlug die Decke zur Seite und schwang die Beine aus dem hohen Bett. Ein kalter Schauer rieselte durch ihren Körper, als ihre nackten Füße den Steinboden berührten. Barfuß schritt sie auf den Zehen zum Altan hinaus. Der Wind säuselte leise und fuhr in ihr weißes, feingewebtes Nachthemd, das im Licht des Vollmondes ihre mädchenhaften Konturen freigab. Fröstelnd schlang sie die Arme um ihren Körper und hob den Blick zum Himmel, der sternenklar war, die Nacht jedoch umso kühler. Tiefe Stille herrschte um sie herum, die nur durch das Rauschen des Springbrunnens im Garten und das unaufhörliche Zirpen der Zikaden durchbrochen wurde. Kurz darauf vernahm sie das ängstliche Schreien eines Esels, dem das Bellen einiger Hunde folgte, die sich dann in der Ferne verloren.

Ihr Blick glitt über die brennenden Fackeln an den Mauern und verweilte dort für einen Augenblick. Fasziniert beobachtete sie, wie die gelborangen Flammen sich von der Schwärze der Nacht abhoben und die im Dunkeln liegenden Wälle besprenkelten. Sie legte die Hände auf die Balustrade und ließ den Blick ostwärts über die Dächer der Häuser und über die Kämme der niedrigen Berge wandern, die Taymus umgaben. Weit dahinter am Horizont konnte sie das zarte Licht ausmachen, das die Erstdämmerung ankündigte.

Während der leichte Wind mit ihrem Haar spielte und sanft ihre Wangen berührte, reizte der Duft der Akazien ihre Geruchsnerven und ließ sie unwillkürlich niesen. Sie schloss für einen Moment die Augen, um in träumerischen Gedanken zu verweilen und öffnete sie wieder, als der leise Wortwechsel zweier Wachen auf der Mauer ihre Aufmerksamkeit erregte. Den Blick auf die beiden gerichtet, lauschte sie eine Weile dem Gesang der Zikaden und dem Plätschern des Wassers. Schließlich ging sie zurück ins Bett, legte sich seufzend auf die Seite und überließ sich dem Schlaf – dieses Mal in fester Hoffnung, den Namen des Wesirs zu erfahren. Der Gedanke an ihn zauberte ein versonnenes Lächeln um ihre Mundwinkel, denn noch immer war seine Erscheinung gegenwärtig und seine sanften Worte hingen in der Luft.

Unermüdlichen Geduldens wartete sie auf sein Kommen. Tage, Wochen und Monate vergingen. Und selbst nach einem Jahr war der Herbeigesehnte weder in Railas Träumen erschienen, noch hatte er bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten. Neue Brautwerber kamen und gingen. Voller Hoffnungen saß Raila an einem mit Ornamenten geschnitztem Fenster, schaute durch die Verzierungen und weinte bitter enttäuscht, nachdem der letzte Bewerber sich bei ihrem Vater vorgestellt hatte.

Aus der lebensfrohen Raila wurde ein stilles, trauerndes Mädchen, das sein Gemach nun selten verließ und wenn, zog es sich in die Einsamkeit zurück und war in Wehmut vertieft. Selbst bei den Mahlzeiten stocherte sie lustlos auf ihrem Teller herum und schien mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein. Das Lächeln auf ihrem Antlitz wandelte sich in Trübsinn und jeder in ihrer Nähe war bestrebt, den Grund ihres Sinneswandels herauszufinden.

Mit der Zeit wurde Raila schwer liebeskrank und König Taymus ließ voller Besorgnis Heiler und Magier von nah und fern kommen. Er versprach demjenigen große Belohnungen, der seine Tochter zu heilen vermochte. Doch zu seiner Enttäuschung erzählte jeder von ihnen etwas anderes. Manch einer sagte, ein Fluch läge auf der Prinzessin, und versuchte, das Unheil mit Zaubertränken und Räucherungen aufzuheben. Andere glaubten, der böse Blick von Menschen mit Neid in den Herzen, hätte sie getroffen, und gossen Blei aus. Wiederum andere behaupteten, finstere Mächte hätten Besitz von ihr ergriffen und nur hohe Priester wären imstande, der Prinzessin zu helfen. Es waren jedoch nur nichtssagende Worte, die sie bemäntelten, weil sie den Zorn des Königs fürchteten.

Tief in Gedanken versunken verweilte Raila auf einem Diwan unter dem Baldachin im Palastgarten und starrte mit leeren Blicken zu den jungen Frauen hinüber, die sich am Teich mit Wasser bespritzten und dabei herzlich lachten.

Ihre Amme Kari-Ma hatte Raila nun lange genug beobachtet und ließ sich neben ihr nieder. In ihrem Gesicht waren Spuren von Sorge zu lesen. »Raila, meine schöne Rose. Was hast du denn auf dem Herzen? Möchtest du es nicht deiner Kari-Ma verraten?«

Ohne den Blick vom Teich abzuwenden, seufzte das Mädchen tieftraurig.

»Du warst noch ein kleines Mädchen, als deine Mutter, die Königin von uns ging«, sprach Kari-Ma weiter und glaubte für einen Augenblick, die verstorbene Königin in Raila wiederzuerkennen.

»Ich habe immer das Gefühl, als stünde sie leibhaftig vor mir, wenn ich dich so betrachte.«

Raila sah wehmütig auf. »Was, Kari-Ma, was habe ich außerdem von ihr?«

»Du hast die gleichen dunklen Gazellenaugen und ihre feinen Gesichtszüge. Das Lächeln deiner Mutter war ebenso wundervoll wie vormals deines«, sagte sie und hob sanft mit dem Finger ihr Kinn, um in ihre Augen hineinzuschauen.

Raila senkte die Lider, dabei wurden ihre rötlichen Wangen von dichten, schwarzen Wimpern beschattet.

»War sie in Vater verliebt, als sie ihn heiratete?«

Kari-Ma lächelte kaum merklich. Allgemein nahm man an, sie wäre steif, kalt und gefühllos. Meist schien ihr Lächeln verkniffen, doch wenn man genauer hinsah, erkannte man das Leuchten in ihren Augen. »Deine Großväter hatten der Vermählung der beiden zugestimmt, ohne dass sich das Paar vorher gesehen hatte. Aber sie hat sich über diese Heirat nie beklagt und schien immer glücklich.«

Raila hielt kurz inne und fasste schließlich all ihren Mut zusammen, um sich ihrer Amme zu öffnen. »Kari-Ma … wie – wie fühlt es sich an, wenn man verliebt ist?« Ein Hauch zarter Röte stieg ihr in die Wangen; sie senkte verlegen den Blick.

Kari-Ma lächelte mehrdeutig, denn die Errötung in Railas Gesicht wies darauf hin, dass sie bereits verliebt sein musste. »Kind, sag bitte, ist es eine Herzensangelegenheit, die dir die Freude genommen hat?«

Traurig erwiderte Raila den Blick ihrer Amme.

Die jungen Frauen horchten auf und scharten sich sofort um sie und ließen sich zu ihren Füßen auf den weichen Kissen nieder. Die Ellbogen auf die Kante des Diwans gestützt und die Gesichter in die Hände gelegt, sahen sie versonnen zu ihr auf.

»Bitte, erzähle, mein Kind, was ist es, was dir so schwer auf dem Herzen liegt?«

Railas Lippen bebten, als sie zu sprechen versuchte. Sie bemühte sich um Beherrschtheit, doch dann legte sie schluchzend den Kopf an die Brust ihrer Amme.

»Oh, Kari-Ma, wie soll ich es nur sagen? Was nützt es, wenn ich selbst keine Hoffnung mehr darin sehe?«

»Also ist es eine Herzensangelegenheit? Wer ist es? Ist es ein Prinz, der um deine Hand geworben hat?«

Sie wischte sich schniefend die Tränen fort und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Es ist so … Ich traf einen Mann im Traum, der mich meiner Seele beraubte.«

»Im Traum?«, riefen sie alle wie aus einem Munde.

»Wie sah er aus, der Mann aus deinen Träumen?«, fragte eine von ihnen.

Raila lehnte sich etwas zurück und atmete tief durch. Sie begann nervös mit den Fingern zu spielen, während ihr tränenverhangener Blick die Ferne suchte, als wolle sie sich das in ihrer Erinnerung verborgene Bildnis vor Augen holen. »Ein Mann von stattlicher Erscheinung und von großer, schlanker Statur. Gehüllt in das weiße, lange Gewand eines ägyptischen Herrschers. Seine leicht gelockten schwarzen Haare berührten sanft seine Schultern, ein goldener Reif, mit Diamanten besetzt, schmückte seine Stirn. Doch am wundervollsten waren seine honigfarbenen Augen in dem selten schönen Gesicht, das von einem leuchtenden Nimbus umgeben war«, erzählte sie, als stünde er in diesem Augenblick vor ihr.

»Oh, wie romantisch!« Der Ruf freudigen Erstaunens entfuhr ihren Lippen, ein schwärmerischer Ausdruck legte sich in ihre Augen.

»Er sagte, er sei der Wesir des Königs von Ägypten, und dass wir füreinander bestimmt wären.«

Erneut seufzten ihre Freundinnen schwärmend. »Was hat er noch gesagt?«

»Er steckte mir einen Verlobungsring an den Finger und sagte: Ich solle niemand anderes heiraten und auf ihn warten. Als ich aufwachte … war der Ring nicht da, aber ich konnte seinen Duft wahrnehmen. Ist das nicht seltsam, dass ich drei aufeinanderfolgende Nächte denselben Traum geträumt habe?« Warme Tränen wie kleine Perlen stiegen ihr in die Augen, als sie zu ihrer Amme sah. »Oh, Kari-Ma. Egal wohin ich mich auch wende, er ist allgegenwärtig.«

Kari-Ma strich ihr liebevoll über das samtige Haar. Nun war die geheimnisvolle Krankheit der Prinzessin enthüllt. Das kleine Herz hatte seine Pforten der Liebe geöffnet.

Schon bald jedoch merkte jeder im Palast, dass Railas Gemüt sich von Tag zu Tag verschlimmerte und sie wie eine Rose in der Wüste verblühte. Sie weinte nur noch und sprach nicht mehr. Der König glaubte, dass seine Tochter tatsächlich von finsteren Mächten besessen war. Er ließ sie Tage lang bei Brot und Wasser in Ketten legen, in der Hoffnung, die dunklen Mächte würden verhungern und von ihr ablassen.

Schließlich ertrug es Kari-Ma nicht länger. Sie konnte das Geheimnis der Prinzessin nicht mehr für sich behalten und erzählte dem König den Grund der Krankheit seiner Tochter. Dieser tobte vor Enttäuschung, weil er den Wesir von Theben kannte. Niemals hätte er erwogen, einem wie ihm seine Tochter anzuvertrauen, da er eben nur ein Wesir war und als Heerführer in den Diensten des Königs von einem Krieg zum nächsten zog. Zornesröte zog sich über sein Gesicht; er verlor die Beherrschung und schlug vor Wut schäumend mit der Handfläche auf den Tisch, sodass Kari-Ma und die Wachen zusammenzuckten. »Er ist zu alt für meine Raila! So viele Prinzen und junge Könige haben mich um ihre Hand angefleht und was will meine eigensinnige Tochter? Einen Wesir heiraten, den sie im Traum gesehen hat und der ihr Vater sein könnte. Da steckt doch der Teufel dahinter!«

Als er jedoch sah, wie das Leben langsam aus seiner Tochter schwindete, erlaubte er ihr nur schweren Herzens die Heirat mit dem Wesir von Theben und schickte einen Boten nach Ägypten. Ohne die Folgen in Betracht zu ziehen, gab Wesir Potifar sein Ja-Wort, weil er von der Schönheit der Prinzessin gehört hatte.

Die Hochzeit wurde nicht lange hinausgezögert. Eine Karawane aus mehreren Lasttieren wurde zusammengestellt und die Kamele mit Railas Mitgift beladen. Gemeinsam mit Kari-Ma machte sich die Prinzessin in Begleitung von Potifars Leibwächtern auf den Weg nach Ägypten.

Die Hochzeitsfeier fand im Palast des Königs statt und das Mädchen wurde zum Altar geführt, ohne den Wesir vorher gesehen zu haben.

Als Potifar Raila erblickte, entbrannte er in glühender Liebe zu ihrer reizenden Gestalt. Sie jedoch, mit ihren fünfzehn Jahren zur vollen Blüte herangewachsen, sah enttäuscht auf den Auserwählten, der viel zu alt für sie war. Die Welt brach über ihr zusammen, Schatten der Verzweiflung ließen sich auf ihrem Gesicht nieder und sie vergoss bittere Tränen. Selbst Kari-Ma, die stets an ihrer Seite stand, vermochte sie nicht zu trösten.

Doch auf einmal lauschte sie einer Stimme, tief in ihrem Herzen, die ihr sagte, dass diese Heirat nur eine notwendige Vorstufe wäre, um zu dem Mann in ihren Träumen zu gelangen.

Zu ihrem Glück stellte sich zudem heraus, dass sich Potifar im Krieg eine Verletzung zugezogen hatte, die es ihm unmöglich machte, intim bei ihr zu liegen. Dies behielt Raila jedoch für sich, um nicht ins Vaterhaus zurückkehren zu müssen und Potifars Ruhm und Ehre keinen Schaden zuzufügen.

Die Hoffnung in sich tragend, dass der Mann aus ihrem Traum eines Tages kommen würde, wartete Raila mit der Geduld eines Engels und so vergingen acht lange Jahre.

 

 

 

Der Brunnen

 

 

Wenn man wertvoll ist für den Schöpfer, erregt man den Neid des Teufels.

 

Kanaan etwa 1910‒1800 Jahre vor Christi ‒ Yusuf mit zwölf Jahren

 

Bleib immer in der Nähe deiner Brüder, weiche ihnen nicht von der Seite und höre auf ihre Worte«, sagte der Vater, während er ihm ein buntes Hemd überzog. Danach kämmte er ihm das Haar und vertraute ihn dem sanftmütigsten der Brüder an. »Versprecht mir, Yusuf wie eure Augäpfel zu hüten.«

Sie versprachen hoch und heilig und strichen Yusuf liebevoll über den Kopf. Schließlich setzten sie ihn auf den Rücken des Esels und brachen mit der Herde voran auf.

Yusufs Brust erfüllte sich mit Stolz, weil er davon überzeugt war, dass seine Brüder ihn von Herzen liebten. Sie ließen weitgestreckte karge Landschaft, Hügel und Täler hinter sich und erreichten eine grüne Weide.

»Wann werden wir da sein?«, fragte Yusuf aufgeregt und blickte sich bewundernd um.

»Wir sind schon da«, antwortete der zornigste unter den Brüdern und zog ihn völlig unerwartet vom Rücken des Esels. Yusuf fiel mit dem Gesicht voran in den Staub und sah erschrocken zu seinem Bruder auf. »Warum hast du das getan? Ich hätte mir etwas brechen können.« Sein verständnisloser Blick wanderte von einem Bruder zum anderen. Sie starrten ihn hasserfüllt an.

»Brüder, was ist mit euch los?«, fragte er. Panik ergriff ihn, als die Hand des Zornigen ihn am Kragen packte und hochzog. »Schluss mit Freundlichkeit!« Wütend schubste er ihn zu den anderen, die ihn auffingen und wie einen Spielball von einem zum anderen stießen. Um Yusuf seinen Hass richtig spüren zu lassen, schlug der Zornige mit der Faust so lange auf ihn ein, bis er kraftlos zu Boden sackte.

»Brüder! Was habe ich getan, dass ihr mich derart hasst?« Sein Blick war verschwommen, ein Auge geschwollen und die Braue darüber war aufgeplatzt, genau wie seine Lippen. Er schmeckte das Blut im Mund und wandte sich Hilfe suchend zum nächsten Bruder.

»Du willst unser Herr sein und wir deine Untertanen?« Der stämmige und deutlich schwerere Bruder warf sich mit einem heftigen Sprung auf ihn, sodass ihm die Luft wegblieb. »Das ist die gerechte Strafe für Hochmütige, wie du es bist!«

Aus ihren Herzen sprach die Wut, aus ihren Augen die Verachtung und aus ihren Stimmen der Hass. Und ihre Seelen waren voller Bosheit, dass sie nicht bemerkten, wie ihre Tritte und Fausthiebe ihn am ganzen Körper trafen. Das Letzte, was Yusuf sah, war die Faust des Zornigen, die nach vorn schnellte und ihm das Nasenbein brach. Und alles um ihn herum versank in Dunkelheit.

Eine Weile später, vernahm er Stimmen – laut – durcheinander, wirr. Er wusste nicht, wie lange er dagelegen hatte, als er die Augen öffnete.

»Was machen wir mit ihm?«

»Wir töten ihn.«

»Das war nicht so abgesprochen.«

»Hast du eine bessere Idee?«

»Wir werfen ihn in den Brunnen.«

Er hustete so heftig, als würde seine Lunge zerreißen. Verzweifelt streckte er die Hand nach ihnen aus, in der Hoffnung, dass wenigstens einer sich seiner erbarmte. Ein Bruder, von dem er glaubte, er würde ihm helfen, beugte sich über ihn, sodass er dessen Atem auf seiner Haut spürte. »Na los, ruf doch die elf Sterne hierher, sie sollen dir zur Hilfe eilen!« Es war die Stimme des Zornigen. Er kniete sich auf seinen Bauch und zog auf einmal sein Kurzschwert, um es ihm in die Brust zu rammen.

»Nein!« Ein Schreckensschrei ertönte.

Durch seinen noch immer vernebelten Verstand war er nicht in der Lage, einzuordnen, zu welchem seiner Brüder die Stimme gehörte. Nur schwer erkannte er den Sanftmütigen, der dem Geschehen bislang unbeteiligt von Weitem zugesehen hatte, auf seinen Bruder zustürzen, um ihn an seinem Vorhaben zu hindern.

»Ihr habt mir versprochen, ihn am Leben zu lassen! Wenn ihr ihn tötet, dann müsst ihr mich auch töten, denn sonst werde ich Vater alles erzählen.«

 

Sein Schädel brummte, als wäre er gegen einen Felsen gerannt, und der metallische Geschmack des Blutes breitete sich in seinem Mund aus. Sein rechter Fuß war gebrochen und die Kräfte versiegt.

»Wir werfen ihn in den Brunnen!« Das Stimmengewirr seiner Brüder drang nur noch dumpf in seine Ohren, als ihre eisernen Griffe ihn immer weiter von zu Hause fortzerrten.

»Brüder, bitte! Ich habe Angst vor dem Brunnen. Er ist sehr tief und dunkel. Lasst mich fortgehen. Irgendwohin, wo Vater mich nicht finden kann«, flehte er vergeblich, als sie ihm sein Hemd auszogen und seine Hände fesselten.

Seine Brüder aber warfen ihm nur ein spöttisches Lächeln zu.

»Bitte, bindet meine Hände los! Ich habe Angst, dass sich unten Schlangen und Skorpione befinden. Wie soll ich sie vertreiben, wenn meine Hände gefesselt sind? Und gebt mir mein Hemd zurück, damit ich meine nackte Haut bedecken kann!«, schrie er, als er langsam heruntergelassen wurde.

»Lade die Sonne, den Mond und die Sterne ein, damit sie dir Gesellschaft leisten! Und bitte sie darum, dir den überirdisch schönen Mantel zu bringen!«, echote die spottende Stimme seines Bruders, der ihn übel zugerichtet hatte.

Plötzlich fiel er rasend schnell in die Tiefe. Das Seil, an dem er gerade noch hing, war durchschnitten worden. Bevor sich der Schrei von seinen Lippen löste, plätscherte es laut und er verschwand in der Finsternis.

Mehrere Köpfe beugten sich über den Brunnenrand. Mit angehaltenem Atem lauschten sie und als sie nichts hörten, riefen sie nach ihm. Als ihr Ruf unbeantwortet blieb, beschlossen sie, sich irgendwohin zurückzuziehen, um die Dunkelheit des Abends abzuwarten, damit sie ihre Tat verschleiern konnten.

Stille legte sich über den Brunnen. Schwaches Licht fiel aus der schmalen Öffnung auf das Wasser. Die Wasseroberfläche vibrierte wie vom Wind erfasst und zog Kreise, als ein Felsblock sich darin erhob. Einen Augenblick später tauchte der kleine Körper langsam auf. Die Finger tasteten nach dem Felsgestein mit der glatten Oberfläche, das einen halben Meter aus dem Wasser ragte. Ächzend zog sich der Junge mit letzter Kraft hinauf und hustete die klare Flüssigkeit aus seinen Lungen. Keuchend legte er sich auf den Rücken. Seine Beine hingen über dem Rand des Gesteins, die Brust hob und senkte sich unter seinen schnellen Atemzügen. Was er jetzt dringend brauchte, war etwas Schlaf, der ihn schließlich einholte.

Der Körper des Jungen zuckte. Seine Züge verzogen sich schmerzhaft, als wäre er in einem Albtraum gefangen. Wütende Stimmen – laut und durcheinander – hallten in seinen Ohren. Seine Lider bewegten sich unruhig, als schien er das, was ihm widerfahren war, noch einmal zu erleben.

Verachtung lag in ihren Augen, als sie ihn auf den Brunnenrand setzten, ihm sein Hemd nahmen und ein Seil um seine Taille schlangen. Er versuchte, sich zu wehren, als sie ihm die Hände fesselten, aber er war klein und zu schwach und sie groß und kräftig. Er war allein, und die anderen zu zehnt.

»Vater!« Ein hilfloses Flüstern verließ seine Lippen. Das Bild vor seinem Auge lief weiter.

Er war durch einen Traum wach geworden, den er seinem Vater erzählte:»Vater, ich sah, dass sich die Pforten des Himmels öffneten und ein Licht daraus erstrahlte. Ich sah, dass mir ein Mantel angezogen wurde, dessen Schönheit und Leuchten sich über die Erde ergoss. Dann legte man mir die Schlüssel für die Schätze des Erdreiches in die Hand. Schließlich saß ich auf einem Thron und eine Krone wurde mir aufgesetzt. Zuletzt sah ich elf Planeten¬ und mit ihnen die Sonne und den Mond vom Himmel hinabgleiten, die sich vor mir niederwarfen.«

Voller Glück hatte sein Vater ihn in die Arme geschlossen und ihm dann fest in die Augen geschaut. »Eines Tages wirst du mein Nachfolger als Prophet Gottes und du wirst über uns allen stehen. Erzähle deinen Traum nicht deinen Brüdern, denn ich fürchte, dass sie dir etwas Böses antun werden.«

Tief aus seinem Innern stieg ein Winseln auf. Seine flache Brust hob und senkte sich unter schweren Atemzügen.

Mit einem Mal bewegten sich seine langen Wimpern, er blinzelte und sah das Licht, das durch die runde Öffnung hineinfiel. Einige Augenblicke verharrte er so und versuchte, sich kurz an die Bilder zu erinnern, die in seinem Kopf erschienen waren.

Langsam klärte sich sein Verstand, während er den Blick über die dunkle Felswand wandern ließ. Verängstigt setzte er sich auf und sah sich orientierungslos um. Er befand sich auf einem Felsblock, umgeben von Wasser. Der Brunnen war nach unten hin breiter und etwas entfernt gab es eine trockene Stelle. Seine Zehen hatten sich verkrampft, er fröstelte und sah an sich herunter. Bis auf einen dünnen Stoff, der seinen Unterleib bedeckte, war er nackt.

Mühsam richtete er sich auf und maß die Entfernung mit prüfenden Blicken. Dann sah er auf den Felsblock, der nicht breit genug für einen Anlauf war, um zu der trockenen Stelle zu springen. Mit eisernem Willen versuchte er, die Fesseln mit den Zähnen zu lösen. Das Seil um seine Handgelenke war jedoch zu fest geknotet, sodass es ihm nicht gelang.

»Sie wollten mich töten«, murmelte er den Tränen nahe. »Was habe ich ihnen getan, dass sie mich derart hassen? Dass sie mir sogar das Hemd vom Leibe gerissen und meine Hände gefesselt haben?« In seiner Verzweiflung rief er schluchzend ihre Namen. »Ruben, Juda, Levi, Simeon! Brüder, holt mich hier raus! Brüder! Bitte, ich habe Angst!« Doch nur der Widerhall seiner eigenen Stimme kam zu ihm zurück. Sie mussten fortgegangen sein.

Erschöpft setzte er sich hin und weinte bitterlich. Was würden seine Brüder dem Vater erzählen, warum er nicht bei ihnen war?

Seine Erinnerungen führten ihn zu dem Moment zurück, als sich seine Brüder untereinander besprachen und darauf einigten, ihrem Vater eine Lügengeschichte aufzutischen. Sie wollten ihm berichten, dass Yusuf von einem Wolf angegriffen und gefressen worden war. Der stets ungestüme und jähzornige Bruder hatte ihm als Beweismittel das Hemd ausgezogen, um es mit dem Blut eines Tieres zu beschmieren.

Erneut schossen warme, von Herzschmerz erfüllte Tränen aus seinen Augen. »Vater,«, sagte er nach oben blickend, »ich lebe, aber deine Söhne haben mir Schlimmes angetan, weil sie eifersüchtig waren. Du hättest deine Liebe für mich nicht so offen zeigen sollen.«

Die Zeit verging schleppend, bis die Sonne endgültig hinter den Bergen versank und die blaue Stunde herannahte. Der Junge fiel in einen unruhigen Schlaf und erwachte wenig später, weil es im Brunnen merklich kühler geworden war. Völlig erschrocken horchte er auf, als auf einmal Flügelschläge zu ihm drangen. Doch dann überkam ihn eine Welle der Erleichterung, als er zwei Tauben erkannte, die hier unten ihr Nest gebaut hatten.

»Yusuf ...«, rief plötzlich eine klare Stimme.

Furchtsam blickte er nach oben. Die Dunkelheit verblasste unter einem weißen Licht, das alles überflutete. Er verbarg sein Gesicht in der Armbeuge.

»Yusuf ...«

Zögerlich öffnete er zuerst das eine Auge, dann das andere. Doch das, was er jetzt sah, übertraf seine Vorstellungskraft bei weitem. Eine männliche Gestalt, in weiße Gewänder gehüllt, schwebte langsam zu ihm herab. Sein Antlitz leuchtete wie die machtvoll strahlende Sonne, die schwarzen, schulterlangen Haare waren zur Hälfte mit einem Tuch bedeckt. Ein goldener Reif zierte seine Stirn und ein feiner, kurzer Bart umrahmte sein schmales Gesicht. Er setzte vor dem Jungen eine Schale mit Früchten ab.

»Der Friede des Allmächtigen sei mit dir, Yusuf«, sprach er in einem sanften Ton und ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

»F ... Friede sei mit dir«, brachte Yusuf mit einem Stottern hervor. »Wer ... wer bist du?«

»Ich habe die Pflicht, dich zu beschützen.« Er hob Yusuf auf die Arme und setzte ihn auf trockenem Boden ab. Schließlich löste er mit einer Berührung die Fesseln und holte unter seiner Gewandung einen silbrig glänzenden Stoff hervor. »Dies hier ist das Hemd deines Urgroßvaters Abraham, das ich ihm gebracht hatte, als Nimrod ihn ins Feuer werfen ließ«, sagte er und zog es ihm über. Danach setzten sie sich einander gegenüber. »Ich bin Gabriel, der Bote des einzigen Herrn. Erzähle, Yusuf, wie geht es dir?«

Die Lippen des zwölfjährigen Jungen zitterten, dicke Tränen stiegen ihm in die Augen. »Meine Brüder trachteten nach meinem Leben«, klagte er bitter weinend. »Sie haben mich geschlagen und getreten und dann in diese Zisterne hineingeworfen. Sie haben mir sehr wehgetan.«

Engel Gabriel nickte verstehend. »Siehe hin. Der Herr hat all deine Wunden geheilt und das salzige Wasser in Süßwasser verwandelt, damit du daraus trinken kannst. Und Er hat dir ein Mahl zukommen lassen«, sagte er und deutete auf die Schale mit den verschiedenen Früchten.

Yusuf schöpfte Wasser mit einer Hand und probierte es mit der Zungenspitze. Es war tatsächlich süß. Dann beugte er sich darüber und betrachtete sein Spiegelbild. Völlig überrascht tastete er mit den Fingern nach den Verletzungen in seinem Gesicht. Seine Haut war glatt und fühlte sich geschmeidig an wie zuvor. Von den Blessuren, die er gehabt hatte, fehlte jede Spur. Auch sein Fuß war wieder geheilt und er verspürte keine Schmerzen mehr. Obwohl er voller Dank war, seufzte er bekümmert auf.

»Und was ist mit der Wunde, die sie meiner Seele zugefügt haben? Wird sie ebenfalls heilen? Meine Brüder waren sehr grausam zu mir. Sie hatten Vater versprochen, mich unversehrt nach Hause zu bringen, doch sobald wir aus seiner Sicht verschwunden waren, stießen sie mich vom Rücken des Esels zu Boden. Sie schlugen mich und traten in mein Gesicht. Immer und immer wieder, und keiner von ihnen hatte Mitleid mit mir!«

Engel Gabriel hörte ihm mit vor der Brust verschränkten Armen geduldig zu. Fragend hob er eine Braue. »Möchtest du, dass sie bestraft werden?«

»Nein, nein, auf keinen Fall!«, sagte Yusuf und hob abwehrend die Hände. Er hatte von der Strafe gehört, die über Noahs und Lots Volk gekommen war. »Obwohl sie alle mir feindlich gesinnt sind, liebe ich sie.«

Engel Gabriel atmete tief ein und sah ihm fest in die Augen.

»Yusuf, deine Brüder haben etwas Schlimmes getan und sie werden fortan keine Ruhe finden, bis sie dich um Vergebung gebeten haben. Von nun an wird die Herde der Söhne Israels von Wölfen gerissen werden, die Fruchtbarkeit des Bodens wird sich verringern und die Ernte sich vermindern.«

»Ich sorge mich um sie. Sie müssen Reue tun. Wenn mein Vater erfährt, was sie mir angetan haben, wird er sie für immer aus seinem Herzen verbannen.«

Engel Gabriel richtete sich auf. »Yusuf, höre gut zu«, sagte er und hob beschwichtigend die Hand. »Der Tag wird kommen, an dem du deinen Brüdern gegenüberstehen und ihnen erzählen wirst, was sie dir angetan haben, ohne dass sie wissen, wer du bist. Der Herr wird dich erwählen und dich die Deutung der Träume lehren und Sein Ansehen an dir vollenden.«

Angst zeichnete sich in Yusufs Augen ab, als er merkte, dass Engel Gabriel sich verabschieden wollte. Er richtete sich auf. »Gottes Bote, lass mich nicht allein. Ich fürchte mich hier.«

Ein mildes Lächeln erschien auf dem Gesicht des Engels. »Yusuf, du musst deine Furchtsamkeit überwinden und dich den Schwierigkeiten stellen. Vergiss nicht«, sagte er mit erhobenem Finger, um den nächsten Worten mehr Gewicht zu verleihen, »ohne vorher zu fallen, wird es dir nicht gelingen, emporzusteigen. Du bist wie das Samenkorn, das im Verborgenen wächst und mit Geduld darauf wartet, zu sprießen, um sich dann langsam herauszukämpfen und zu gedeihen. Wisse! Der Herr hat dich nicht erschaffen, um dich in einem Brunnen festzuhalten, sondern damit du die Stellung eines Propheten erlangst.«

Als der Engel Gabriel seinen Satz beendet hatte, löste er sich auf und mit ihm das Licht, das ihn umgab.

Erneut umfing den Jungen die Dunkelheit. Furchtsam blickte er sich um. »Bote des einzigen Herrn, wo bist du?« Sein Ruf hallte von den schroffen Wänden des Brunnens wider. Er horchte auf, aber erhielt keine Antwort. Es blieben nur die Tauben zurück, die gurrend zu ihm aufsahen.

Er setzte sich wieder auf den Boden und nahm eine der Früchte in den Mund. Kaum hatte er die Feige verspeist, hörte er mehrstimmiges Zischen und sprang erschrocken auf. Kleine, etwa einen halben Meter lange weiße Schlangen, abzählbar an einer Hand, standen aufrecht auf ihren Schwanzspitzen und starrten ihn an. Panisch presste er seinen Rücken an die Wand, während sein Blick von den Schlangen zum Felsblock inmitten des Wassers irrte.

»Hab keine Angst, Yusuf. Wir sind hier, um dir Gesellschaft zu leisten und mit dir zu spielen«, sprach einer der Schlangen mit kindlicher Stimme.

»Du … du kannst sprechen!«, erwiderte Yusuf staunend.

»Ja, aber nur du kannst uns hören und verstehen«, antwortete sie. »Wir bleiben so lange bei dir, bis man dich aus diesem Brunnen herausholt.«

Ohne sie aus dem Blick zu lassen, setzte er sich wieder hin.

Eine der Schlangen glitt zu ihm. »Weißt du? In diesem Brunnen leben viele Skorpione und andere Ungeziefer. Heute kam der Engel Gabriel und jagte sie fort. Er sagte: Hinfort mit euch, denn sogleich wird Gottes Prophet hier hineingeworfen. Daraufhin verschwanden sie alle. Als wir Engel Gabriels Stimme hörten, baten wir den Herrn uns zu erlauben, dir Gesellschaft leisten zu dürfen, bis du befreit bist und Er gestattete es uns. Nun, wenn du deine Angst abgelegt hast, werde ich dir die Geschichte über Shahmaran, der Königin der Schlangen erzählen. Hast du schon mal von ihr gehört?«

Yusuf verneinte ihre Frage mit einem Kopfschütteln.

»Dann höre gut zu, denn diese Königin wurde von einem Menschenjungen verraten, so, wie deine Brüder dich verrieten«, begann die Schlange und fuhr sogleich fort. »Shahmaran ist oberhalb des Nabels eine wunderschöne Frau und abwärts des Bauchnabels eine Schlange. Einst nahm sie sich eines Menschenkindes an, das von seinen Freunden in einer steil nach unten führenden Höhle zurückgelassen worden war. Er war hinuntergestiegen, um die Honigwaben heraufzuholen, die sie verkaufen wollten. Der Junge schickte ihnen die Waben an einem Seil befestigt hoch, aber seine Freunde ließen das Seil nicht mehr hinunter und gingen fort.« Sie verstummte, weil sich Yusufs Lider schlossen und sein Kopf zur Seite fiel. Er war eingeschlafen.

 

 

 

 

 

 

 

¬ Im heiligen Qur‘an wird von Planeten gesprochen.

Das Hemd

 

 

Unheil entsteht durch das Wort,

das über die Lippen geht. Prophet Mohammed (sav.)

 

 

Tiefste Trauer legte sich über das Haus von Jakob. Eine Stille beherrschte die Nacht – eine bedrückende Stille, die nur durch das leise Knistern des Feuers im Kamin durchbrochen wurde. Doch schon bald wurde es von Jakobs herzzerreißendem Weinen übertönt, während er immer wieder das blutige Hemd seines verlorenen Sohnes an sein Gesicht presste. Die Tränen, die unaufhörlich aus ihm herausströmten, benässten den blutbeschmierten Stoff und färbten seine Wangen in ein tiefes Rot. Seine Söhne, denen er Yusuf anvertraut hatte, waren in der Dunkelheit nach Hause gekommen. Laut jammernd und falsche Tränen vergießend hatten sie dem Vater das blutige Hemd gegeben und ihm berichtet, dass, während sie um die Wette liefen, ein Wolf Yusuf gefressen habe. Diese schreckliche Nachricht hatte Jakob so tief erschüttert, dass er glaubte, man hätte ihm das Herz herausgerissen, der Himmel wäre über ihm eingestürzt und hätte ihn zu Boden gedrückt. Dann war er in eine erlösende Ohnmacht gefallen.

Nachdem er wieder zu sich gekommen war, hatte er festgestellt, dass das Hemd unbeschädigt war, und seine Söhne darauf angesprochen: »Was für ein sanfter Wolf muss es sein, der meinen Sohn frisst, aber sein Hemd verschont.«

Völlig überrascht über diese Erkenntnis, leuchtete es ihnen ein, dass sie in ihrer Rachsucht nicht daran gedacht hatten, das Hemd zu zerreißen. Sie stellten sich ahnungslos und unwissend, ihre erfundene Geschichte blieb unverändert und die begonnene Lüge wurde weitergeführt.

Jakob erinnerte sich an den Albtraum in der Nacht zuvor. Es war stockdunkel gewesen. Er stand auf einem Felsplateau und sah, wie ein Rudel Wölfe einem Jungen, der die Körpergröße von Yusuf hatte, hinterherjagte. Dieser rannte, nach seinem Vater schreiend, und stürzte schließlich in die Schlucht.

Er hatte befürchtet, dass dieser Traum eine Vorwarnung war. Das Bild von jener Nacht, als Yusuf ihm seinen Traum erzählte, spielte sich vor seinen Augen ab. Er hatte ein Geräusch aus dem Zimmer nebenan vernommen, in welchem die Magd Bilha schlief, die seinerzeit für Rahel die Söhne Dan und Naftali ausgetragen hatte. Am Morgen danach erfuhr er, dass Bilha das Gespräch belauscht und es aus purem Neid an die Brüder weitergetragen hatte, weil ihr sehnlichster Wunsch es war, einen ihrer Söhne als Jakobs Nachfolger zu wissen. Damit war die kleine Zornesflamme in den Herzen der Brüder zu einer Flammensäule gewachsen und diese Säule wandelte sich schließlich in Hass, Verachtung und Rachegefühle. Aus diesem Grund wollte Jakob seinen Söhnen Yusuf nicht anvertrauen, doch sie flehten ihn immer wieder an, Yusuf mit ihnen gehen zu lassen.

»Ich fürchte mich nur davor, dass der Wolf ihn frisst, wenn ihr nicht auf ihn Acht gebt«, hatte er seine Sorge begründet und ihnen damit unbewusst die Antwort gegeben, wie sie Yusufs Verschwinden erklären konnten.

»Ich weiß nicht, was meinem Sohn Yusuf zugestoßen ist«, erzählte er seiner Frau Lea weinend. »Aber ich weiß, dass ihn kein Wolf gefressen hat, denn sonst wäre sein Hemd zerrissen. Es waren die Wölfe im Schafspelz – es waren seine Brüder.«

»Denke nicht sofort Böses«, sagte Lea, um ihn zu beruhigen, obwohl sie selbst an ihren Worten zweifelte. Mehr als einmal hatte sie erlebt, wie ihre eigenen Kinder dem kleinen Jungen verachtende Blicke zuwarfen, weil der Vater ihm mehr Zuwendung schenkte als den anderen. »Ein Suchtrupp ist unterwegs. Vielleicht ist Yusuf irgendwo eingeschlafen und hat nicht mehr nach Hause gefunden.«

»Nein, nein«, widersprach Jakob wehklagend. »Es waren seine Brüder. Sie haben ihm etwas angetan. Warum sonst haben sie keine Ruhe gegeben, bis ich einwilligte, ihn mitgehen zu lassen?«

Während er vom Herzschmerz gequält weinte, saßen seine Söhne draußen in der Dunkelheit und brachten sich den Ernst der Lage wieder vor Augen.

»Ihr habt gesehen, wie unser Vater auf unsere Lüge reagiert hat, weil das Hemd nicht beschädigt ist. Wenn ihr wollt, dass er uns Glauben schenkt und aufhört, uns zu tadeln, dann lasst uns zum Brunnen gehen und Yusuf herausholen. Wir zerstückeln ihn und bringen die Reste unserem Vater«, schlug der zornige Bruder vor.

»Beim Allmächtigen, wenn ihr tut, was er von euch verlangt und ihr Yusuf tötet, erzähle ich Vater, was ihr mit ihm gemacht habt«, ermahnte der Sanftmütige seine Brüder, indem er sich ihnen entgegenstellte.

»Was sollen wir sonst tun? Vater wird sich uns nicht zuwenden, solange Yusuf nicht gefunden worden ist«, konterte der Zornige zähneknirschend.

»Lasst uns einen Wolf einfangen und ihn unserem Vater bringen«, schlug ein anderer vor.

Sie einigten sich darauf, sich am kommenden Tag in zwei Gruppen aufzuteilen. Die eine sollte so tun, als würde sie in der entgegengesetzten Richtung nach Yusuf suchen, um einen Wolf zu fangen, und die andere sollte sich dem Suchtrupp anschließen. Zufrieden mit der Idee drehten sie sich zum Hofeingang, als brennende Fackeln ihre Umgebung erhellten.

»Wir haben Yusuf nicht gefunden«, berichtete ein Mann, dessen silberweißer Bart ihm bis auf die Brust herabhing. »Beim ersten Licht des Tages werden wir mit der Suche fortfahren«, sagte er und wandte sich den Dorfbewohnern zu. »Geht alle nach Hause und ruht euch aus! Unser Treffpunkt ist wieder hier.«

Trauernd zogen sich die Dorfbewohner in ihre Häuser zurück.

Nach und nach verdunkelten sich die Fenster und die Finsternis legte sich über die Siedlung. Nur die unzähligen Sterne am Himmel leuchteten schwach und das Zirpen der Grillen durchbrach die Stille, die sich wie ein erdrückender Alb über das Dorf gelegt hatte.

Weder Jakob noch seine Familie fanden Schlaf in jener qualvollen und nur langsam zur Neige gehenden Nacht. Voller Zuversicht hatte Jakob seine Frau Lea immer wieder zu seinen Söhnen geschickt, damit sie ihr die Wahrheit sagten. Aber Lea brachte ihm jedes Mal dieselbe hoffnungsraubende Antwort.

Beim Einsetzen der Morgendämmerung, als von draußen brennende Fackeln das Zimmer beleuchteten, nahm er seinen Stab und Bünyamins Hand und ging mit ihm hinaus, um gemeinsam mit den anderen die Suche nach Yusuf fortzusetzen.

Auch die Brüder brachen auf. Während sich eine Gruppe mit dem Suchtrupp auf den Weg machte, zog die andere mit Stricken und Stöcken in die Steppe, um einen Wolf zu fangen. Es war nicht schwierig, einen zu finden, da in dieser Gegend viele Rudel lebten. Sie erspähten einen einsamen Wolf, der womöglich aus dem Rudel ausgeschlossen war, und jagten ihn.

Zur gleichen Zeit war Engel Gabriel an Yusufs Seite. Er hielt kurz inne, lauschte in die Ferne und vernahm die Rufe der Männer.

»Yusuf, ich habe eine gute Nachricht für dich. Schon bald wird man dich aus dem Brunnen herausziehen. Du solltest jetzt schlafen, damit du bei Kräften bleibst«, sagte er und fuhr mit der Hand über das Gesicht des Jungen.

Müdigkeit überkam Yusuf, seine Lider wurden schwer und sanken nieder. Er legte sich auf die Seite und schlief ein.

»Es ist die Entscheidung des Herrn. Du darfst nicht in den sanften Schoß deines Vaters zurückkehren, denn der Herr hat Großes mit dir vor.« Nachdem er die Worte ausgesprochen hatte, verschwand er und mit ihm die Schlangen.

Der Suchtrupp war kaum mehr als einen Speerwurf von der Zisterne entfernt. Während die Männer sich dem Brunnen näherten, blieben die Brüder stehen. Eine Blässe der Angst zog sich über ihre Gesichter.

»Wir sind erledigt. Vater wird uns mit einem Fluch belegen und der Allmächtige wird uns bestrafen«, gab der Zornige angsterfüllt zu.

»Mit dieser Schande können wir nicht mehr in Kanaan bleiben, wir werden niemandem in die Augen schauen können«, setzte der Sanftmütige nach. Mit flatternden Herzen sahen sie zu, wie die Männer den Namen des Vermissten in den Brunnen hineinriefen. Es war nur eine Frage der Zeit, dass Yusuf sich bemerkbar machte –, falls er noch lebte.

»Der Brunnen ist zu tief, man kann nichts sehen«, sagte einer der Suchenden. »Wenn er hineingefallen wäre, hätte er sich gemeldet. Lasst uns weitergehen.«

Eine große Last fiel von den Schultern und den Seelen der Brüder. Erleichterung überkam sie, als die Männer weiterzogen.

»Ob er tot ist?«, fragte einer der Brüder und eilte den anderen voraus zum Brunnen.

Sie warteten, bis sich die Männer weit genug entfernt hatten, und schrien hinein. Ihre Stimmen brachen an den Schachtwänden und stiegen zu ihnen wieder hinauf.

Yusuf vernahm die Rufe bereits im Schlaf und öffnete erstaunt die Augen.

»Yusuf!«

Der Gerufene richtete sich auf und sah nach oben. Er erkannte die Stimmen. »Brüder! Ich lebe! Holt mich hier raus! Ich fürchte mich vor der Dunkelheit.«

Ein Gemurmel der Enttäuschung erhob sich unter den Brüdern. »Er lebt noch. Lasst uns Steine auf ihn werfen, damit wir ihn endgültig los sind«, schlug der Zornige vor.

»Wenn ihr das tut, dann schreie ich so laut, bis die Leute es mitbekommen«, drohte der Sanftmütige und beugte sich wieder über den Brunnenrand. »Yusuf! Hörst du mich, mein Bruder? Ich werde dir etwas zu essen hinunterwerfen! Fang es auf!« Er warf einen in ein Tuch gewickelten Laib Brot hinunter.

Yusuf sprang auf den Felsbrocken und fing es auf. Er blickte nach oben und erkannte den sanftmütigen Bruder. »Holt mich hier raus! Wie könnt ihr das übers Herz bringen und mich hier unten lassen?«

»Das geht nicht! Deine grausamen Brüder würden dich töten. Yusuf, wir müssen jetzt gehen, aber ich komme wieder zurück und werde dir etwas zu essen bringen!«

»Nein! Lasst mich nicht zurück! Bitte, holt mich hier raus!« Sein Blick blieb unbeirrt nach oben gerichtet. Erneute Stille umfing ihn, traurig ließ er sich auf dem Felsbrocken nieder und weinte leise.

Es dämmerte bereits, als Jakob und die Suchtruppe ins Dorf zurückkehrten. Seine anderen fünf Söhne, die allein losgezogen waren, warteten bereits auf ihn.

»Vater!«, riefen sie und liefen ihm entgegen. »Wir haben den Wolf gefangen, der Yusuf gefressen hat. Seht, sein Maul ist noch vom Blut verschmiert.«

Voller Neugier folgten die Männer und Frauen Jakob auf den Hof. Jakob sah den Wolf an, der an den Stab gefesselt auf dem Boden lag. Das Tier war verletzt, seine Zunge hing im Staub und es hechelte, während sich seine Rippen hoben und senkten.

»Löst seine Fesseln!«, wies Jakob seine Söhne an.

Blankes Entsetzen spiegelte sich in den Augen der Leute. Sie wichen mit einem Gefühl der Angst zurück.

»Aber Vater, er ist gefährlich. Er könnte euch angreifen«, warnte der Zornige.

»Tut, was ich euch sage! Er wird mir nichts antun«, erwiderte Jakob entschlossen.

Die Brüder zogen ihre Kurzschwerter für den Fall, dass der Wolf bedrohlich werden sollte. Der Sanftmütige schnitt die Fesseln durch und trat einige Schritte zurück.

»Was hat Vater vor?«, fragte einer. »Glaubt er, der Wolf würde mit ihm sprechen?«

»Ich glaube, so langsam verliert er den Verstand«, sagte ein anderer.

Doch Jakob wusste genau, was er tat. »Komm her!«, befahl er dem Wolf und deutete mit dem Finger zu seinen Füßen.

Mühsam erhob sich das Tier auf alle viere und sah nach rechts und nach links. Schließlich trottete er durch die Menschengasse zu Jakob hin und blieb mit gesenktem Kopf vor ihm stehen.

»Sag mir im Namen Gottes, Wolf«, sprach Jakob mit Tränen in den Augen, »hast du meinen Sohn, der die Frucht meines Herzens war, gefressen, um mich mit langer Trauer zu beschenken und mir einen tiefen Schmerz zuzufügen?«

Jeder, der dort anwesend war, war darauf bedacht, kein Geräusch von sich zu geben und wartete gespannt auf die Reaktion des Wolfes. Und da sprach er vor allen Augen und Ohren: »Nein, Prophet Gottes! Bei der Wahrheit deiner grauen Haare. Ich habe deinen Sohn nicht gefressen. Das Fleisch sowie das Blut der Propheten ist uns Wölfen verboten. Ich bin einer, der ungerecht behandelt wird, und über den man Lügen erzählt.«

Jakob ließ seinen vorwurfsvollen Blick über seine Söhne wandern, die völlig fassungslos den Wolf anstarrten. »Ich glaube dir und hoffe, du kannst mir verzeihen, dass du meinetwegen leiden musstest. Geh jetzt!«, sagte er, woraufhin sich der Wolf mit schweren Schritten entfernte.

Als die Brüder dem vorwurfsvollen Blick ihres Vaters begegneten, senkten sie beschämt die Köpfe. Für die Wahrheit war es nun zu spät, denn die Angst, vom Vater ausgestoßen zu werden, war zu groß. Doch noch mehr fürchteten sie, von ihm verdammt zu werden.

 

 

 

 Frage nicht des Nachts, wenn du etwas brauchst, denn die Scham ist in den Augen, und entschuldige dich nicht am Tag für etwas Hässliches, das du getan hast. Denn du stotterst, wenn du dich entschuldigst, und kannst nicht zu Ende reden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Karawane

 

Am dritten Tag nach Yusufs Verschwinden war eine schwer beladene Karawane aus Midian nach Ägypten unterwegs. Die Kaufleute hatten nur noch wenig Wasser und die nächste Wasserstelle lag in weiter Ferne. Sie zogen gerade durch das Wüstenmeer, das im Licht der Sonne wie ein Land aus goldenem Staub leuchtete. Dornenbüsche, vom Wind über den Sand und das Geröll getrieben, hatten sich an Vorsprüngen festgekrallt, zumindest bis der nächste Sandsturm kam und sie wieder mitnahm. Trockene Luft wehte ihnen entgegen und strich ihnen heiß über die Gesichter.

Schlagartig nahm der Wind an Stärke zu und Dunkelheit legte sich über die Wüste.

»Malik! Sieh mal! Ein Sandsturm naht«, sagte der Wegführer Pheli dem Karawanenführer und deutete zu der auf sie zurasenden Sandwalze von der Höhe eines Turmes und der Breite eines Festungswalls. »Ein Sandsturm kommt auf uns zu!«, rief Pheli dem Zug hinter sich zu. »Haltet eure Tiere gut fest und bleibt dicht beieinander, damit wir nicht getrennt werden!«

Ein gewaltiges Dröhnen ertönte über der Wüste. Der Wind gewann immer mehr an Stärke und verwandelte sich zu einem tosenden Sturm, der die Dornenbüsche und den Sand vor sich her trieb, als wolle er alles verschlucken. Die Lasttiere gerieten in Panik und liefen schreiend, ihren Artgenossen folgend, in eine unbestimmte Richtung. Es dauerte nur wenige Wimpernschläge, bis die Sandwalze sie einholte. Grollend fegte sie über sie hinweg und peitschte den Sand wie einen Hagelschauer auf sie zu. Die Händler schützten sich, so gut es ging, und konnten kaum mehr etwas sehen. Die aufgewirbelten Sandkörner trafen sie mit der Wucht taubeneiergroßer Hagelkörner.

Dann herrschte eine plötzliche Stille, als sei dies alles nicht passiert. Sie streiften die Schleier von den Gesichtern und lauschten. Der Sturm schien endgültig vorbei zu sein. Sie schwangen sich aus den Sätteln, husteten den Staub aus ihren Lungen und schüttelten den Sand von sich ab.

Noch immer hustend sah sich Malik überrascht um. Das Sandmeer, in dem sie sich vor einigen Augenblicken befunden hatten, war wie fortgefegt, dafür dehnte sich eine dürre Landschaft vor ihnen aus. Es war, als hätte eine unsichtbare Macht den Boden unter ihnen weggezogen und sie in eine andere Richtung gelenkt.

»Pheli, wo sind wir hier?«, fragte Malik. In seinen dunklen Augen spiegelte sich das Entsetzen.

Der Wegführer hielt die Zügel seines Pferdes. Mit gerunzelter Stirn ließ er den fassungslosen Blick über die Landschaft wandern. »Wir sind vom Weg abgekommen. Wie konnte das nur passieren? Der Sturm war nur für einige Augenblicke da.«

»Es geht nicht mit rechten Dingen zu«, merkte Malik beunruhigt an.

Während sie überlegten, welchen Weg sie einschlagen sollten, ertönte das Kreischen mehrerer Vögel über ihnen. Große schwarze Vögel zogen geradeaus.

»Schau! Dort, wohin diese Vögel fliegen, muss es auch Wasser geben. Lasst uns ihnen folgen«, schlug Malik vor.

»Und was ist, wenn es die falsche Richtung ist?«, fragte Pheli.

»Wir finden es nicht heraus, wenn wir es nicht versuchen.«

Pheli kratzte sich nachdenklich den Bart. »Wir haben wohl keine andere Wahl, als es zu versuchen.«

Fast am Verdursten und vor Erschöpfung die Köpfe gesenkt, gab es für die Tiere nur noch ein Vorwärts und einen mühevollen Schritt nach dem anderen.

Als sie eine karge Hügellandschaft erreichten, zügelte Malik sein Pferd und durchkämmte mit dem Blick unruhig die Umgebung. Seine Brauen zogen sich zusammen, als ob er ernsthaft verwirrt wäre. »Ich bin schon einmal hier gewesen. Wir sind in Kanaan.«

»Kanaan?«, wunderte sich Pheli. »Aber Kanaan liegt in einer anderen Richtung. Wie kamen wir hierher?«

Noch bevor Malik ihm antworten konnte, kam ein schmächtiger Mann auf sie zugelaufen, der seinem Aussehen nach, dem Nomadenvolk der Arier angehörte. Er hatte langes zerzaustes Haar, sein Bart war in zwei Zöpfe geteilt. Er machte sie auf ein Gemäuer auf der Anhöhe aufmerksam.

»Mein Herr Malik. Seht, dort! Ein Brunnen!«

Malik nickte. »Ich weiß über den Brunnen Bescheid, Khitmir. Sein Wasser ist salzig!«

»Lasst uns wenigstens eine Verschnaufpause einlegen. Die Tiere sind erschöpft, und die Männer ebenfalls«, schlug Pheli vor. Er deutete auf die Lasttiere, die kaum noch Kraft hatten, auf den Beinen zu stehen. Pheli holte seinen Wasserschlauch hervor und schüttelte ihn. »Viel ist nicht mehr drin, aber ich muss den Staubgeschmack in meinem Mund herunterspülen.«

»Wir werden nur unnötig Zeit verlieren«, wandte Malik ein. Er war ruhelos, als säße er auf glühenden Kohlen. »Ich kann mich vage daran erinnern, dass es eine Tagesreise von hier eine Wasserstelle gibt.«

Er drückte mit den Fersen sanft in die Flanken des Pferdes, um es anzutreiben. Das Tier warf trotzend den Kopf nach hinten. »Was ist los mit dir? Nun beweg dich schon!«, rief Malik und versuchte, es erneut voranzutreiben. Das Pferd weigerte sich nach wie vor, auch nur einen weiteren Schritt zu tun. Zornig brummte es aus der Brust heraus und tänzelte rückwärts.

»Was ist mit den Tieren los?«, fragte Pheli, als sich selbst die Kamele blökend auf den Boden hockten und die Maulesel laut schrien, als peitschte man sie.

»Hört auf, die Tiere zu schlagen«, rief Malik den Kaufleuten zu, die gewaltsam versuchten, sie auf die Beine zu bringen. »Wir haben keine andere Wahl, als abzuwarten, bis sie sich wieder beruhigt haben.«

»Mein Herr Malik, die Tiere brauchen Wasser. Vielleicht trinken sie das aus dem Brunnen und führen uns anschließend zu einer Wasserstelle«, schlug der Diener Khitmir vor.

Malik überlegte einen Augenblick und zeigte schließlich sein Einverständnis mit einem Nicken.

Der Durst und die sengende Hitze hatten allen stark zugesetzt. Erschöpft ließen sie sich im Schatten der Felsen nieder.

Khitmir indes nahm den Kübel aus Ziegenhaut und marschierte auf die Anhöhe. Er sah in den Brunnen, der zu tief und zu dunkel war, um irgendetwas zu erkennen. Er hob einen faustgroßen Stein vom Boden auf, warf ihn hinein und horchte. Ein leises Plätschern drang in seine Ohren und er ließ das Gefäß hinab.

Nicht nur Khitmir hatte das Plätschern gehört, sondern auch Yusuf. Er sah nach oben; sein Herz pulsierte auf einmal schneller. Ein Behälter wurde langsam herabgelassen, tauchte ins Wasser und füllte sich. Von seinem Instinkt gesteuert sprang er auf und umklammerte das Seil mit beiden Händen, um sich mit hochziehen zu lassen. Doch dann überkam ihn die Angst, dass seine Brüder oben sein könnten, um das, was sie nicht geschafft hatten, zu Ende zu bringen. Schweren Herzens ließ er das rettende Seil los und sah betrübt zu, wie der Behälter hochgezogen wurde.

Khitmirs Durst verstärkte sich, als er das kühle Nass vor sich hatte. Seine Kehle war bereits trocken, die Zunge rau und fühlte sich wie ein Fremdkörper an. Er schöpfte mit der Hand etwas von dem Wasser aus dem Kübel und probierte es vorsichtig. Ein unbeschreibliches Leuchten legte sich in seine Augen. »Es ist süß«, murmelte er außer sich vor Freude und schmeckte es noch einmal. »Es ist tatsächlich süß.«

Er hätte vor Begeisterung einen Freudentanz vollführt, wenn die anderen nicht ebenfalls am Verdursten wären. Sofort drehte er sich zu den Leuten um und wedelte mit dem Arm.

»Mein Herr Malik! Mein Herr Malik! Das Wasser ist süß! Hört Ihr mich? Das Wasser ist nicht salzig!«

Pure Überraschung legte sich auf das Gesicht des Karawanenführers. Er warf Pheli einen ungläubigen Blick zu. »Das ist unmöglich.«

Sie erhoben sich und eilten den Hügel hoch. »Jeder Karawanenführer weiß, dass das Wasser des Brunnens salzig ist, und meidet ihn.« Er schöpfte mit der Hand Wasser und kostete es zögerlich. »Wie ist das möglich?«, wunderte er sich, schöpfte noch einmal und trank gierig. Schließlich drehte er sich zu den Kaufleuten um, die sich zum Ausruhen hingelegt hatten. »Kommt alle her! Das Wasser ist süß!«

Die Männer horchten auf. Plötzlich kam Leben in ihre Beine. Stolpernd liefen sie auf die Anhöhe zu. Nur auf das eigene Wohl bedacht, stürzten sie sich auf den Kübel. Jeder steckte die Hand hinein, um etwas von der kühlenden Erfrischung zu bekommen.

Hochgestimmt wandte sich Malik seinem Diener zu. »Khitmir, ziehe mehr Wasser hoch! Und ihr! Holt eure Gerbas© und tränkt die Tiere!«, sagte er zu den Kaufleuten.

Den Blick aufwärtsgerichtet, lauschte Yusuf den Stimmen und sah, dass der Kübel erneut herabgelassen wurde. Sein Herz flatterte unruhig; er war hin- und hergerissen und konnte sich nicht entscheiden, ob er sich doch daran festhalten sollte.

Da erklang die vertraute Stimme des Engel Gabriels: »Yusuf, halte dich an dem Seil fest und lass dich hinaufziehen. Du hast die Aufgabe, vielen Menschen das Leben zu retten, und die Männer oben haben den Auftrag, dich aus dem Brunnen zu befreien.«

»Werden sie mich zu meinem Vater zurückbringen?«

Der Engel verneinte dies mit einem leichten Kopfschütteln.

»Du musst mit ihnen mitgehen. Das ist Gottes Wille.«

»Aber ich möchte zurück zu meinem Vater. Er macht sich bestimmt schon große Sorgen um mich«, sagte Yusuf mit Tränen in den Augen. »Und ich vermisse ihn.«

»Yusuf«, sprach Gabriel in einem sanften Ton weiter und hob beschwichtigend die rechte Hand, »es ist deine Bestimmung, mit der Karawane fortzugehen, denn ansonsten werden dich deine Brüder töten, bevor du bei ihm bist. Und mach dir keine Sorgen um deinen Vater. Er wird mit der Hilfe des Herrn die lange Trennung verkraften. Noch eins: Verrate ihnen nicht dein Elternhaus, wenn sie dich danach fragen. Sage ihnen, dass du der Sohn des Brunnens bist. Und nun lass dich hinaufziehen.«

Yusuf wischte sich die Tränen fort und klammerte sich an dem Seil fest. Er stieg auf das Gefäß und wurde langsam nach oben gezogen. Als er zurückblickte, versank der Felsblock im Wasser und auch der Engel Gabriel verschwand, nachdem er ihm noch einmal liebevoll zugenickt hatte.

Viele Gedanken liefen dem Jungen durch den Kopf, als er sich der Freiheit Stück für Stück näherte. Er hoffte inständig, nicht auf seine Brüder zu treffen, bis er fort war.